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Aktuelle Themen

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Antike für Anfänger Festvortrag zur Eröffnung des Altphilologenkongresses in Göttingen, 25. März 2008

Sehr geehrte Würden- und Amtsträger, sehr Kolonos“ von Sophokles . Und der Blick schweift geehrte Philologinnen und Philologen, sehr weiter: Wissensmagazine bringen spannende Ent- geehrte Damen und Herren! deckergeschichten und zugängliche historische Orientierung; große Ausstellungen dramatisie- Es herrscht eine gewisse Hochstimmung. Die ren die Pracht und den Untergang alter Reiche alten Sprachen sind doch nicht tot, und die und werden rege besucht; die großen Zeitungen Antike ist in der Kultur des neuen Jahrtausends debattieren seitenweise über die Lage Trojas und lebendiger, als mancher gedacht hätte. Diese über die Herkunft des Dichters der „Ilias“: ja, Lage erlaubt es, dass die Freunde des Altertums der literarische und historische Abenteurer, der sich wenigstens einen Moment lang von ihrem meint, das Rätsel Homers gelöst zu haben, schafft Kampf ausruhen. Sie können die Instrumente es nicht bloß ins Radio, sondern sogar ins „heute- der Rechtfertigung, mit denen sie in den letzten journal“. Jahrzehnten hantieren mussten, sie können ihre Ist das eine Renaissance? Wer, wie viele hier, Defensivtechniken einmal kurz beiseite lassen die schulische Praxis kennt, der wird mit einem und als Zuschauer auf die Gesellschaft blicken. solchen Urteil natürlich vorsichtiger sein. Die Wie sieht da das Geschehen aus? In den Verankerung der alten Sprachen im Kanon der Gymnasien wollen immer mehr Schüler Latein Bildungsfächer ist weiterhin prekär und kommt lernen; Latein scheint jetzt vielen Eltern generell leicht ins Wackeln; ich nenne nur den Fall noch für eine gewisse Qualität der Schulbildung meiner Heimatstadt Bochum, die im Dezember zu bürgen; Schulen und Behörden betreiben ein gegen viele Proteste beschlossen hat, ihre ein- regelrechtes Headhunting, um die frisch ausge- zige altsprachliche Schule, das „Gymnasium am bildeten Lateinlehrer aus anderen Bundesländern Ostring“, zu schließen; demnächst wird es dort abzuwerben. Der populäre Schriftsteller Robert wahrscheinlich einen Bürgerentscheid darüber Harris schreibt einen CiCERO-Roman nach dem geben. Latein als Anfangssprache gerät unter anderen; ein Buch eines deutschen Professors Druck, Griechisch wird, trotz leicht wachsender über die lateinische Sprache erobert die „Spie- Zahlen, weiter marginalisiert; die Schulstunden gel“-Bestsellerliste. Während Hollywood und die sind weniger geworden; es gibt heute für Überset- Fernsehanstalten sich mit Monumentalfilmen zungen eine „Eins“, für die es vor gar nicht langer und aufwendigen Serien mit antiken Stoffen über- Zeit vielleicht eine „Drei“ gegeben hätte; Europa schlagen, tun es ihnen die Theaterbühnen gleich leidet insgesamt an einer neuen Sprach-Faulheit; mit einer beispiellosen Dichte von Tragödienauf- die sogenannte „Gemeinschaftsschule“ rüttelt an führungen; Hellmut Flashar , der gerade an den Mauern des Gymnasiums, das hier und da einer Neuauflage seines Buches „Inszenierung auch von innen mitrüttelt; und auch die Ände- der Antike “ arbeitet, kommt kaum hinterher. rungen des Lehramtsstudiums, die den Namen Dabei beschränkt man sich nicht mehr auf die der schönen und gelehrten Stadt Bologna tragen zeitweise beliebte Trias des Protestes, nämlich müssen, verheißen wenig Gutes. Und doch: Das auf die drei Gegen-Stücke „Antigone“ (gegen Interesse ist da, es gibt viele neue, junge, enga- den Staat), „Troerinnen“ (gegen den Krieg) und gierte Lehrer, und es gibt allerlei didaktische „Medea “ (gegen die Männer) - nein, man wagt Konzepte, die dazu gemacht sind, mit der sich sich sogar, wie unlängst an den Münchner Kam- wandelnden kulturellen Lage umzugehen, Kon- merspielen geschehen, an ein vergleichsweise zepte für einen lebendigen, aber trotzdem nicht handlungsarmes Stück wie den „Ödipus auf oberflächlichen altsprachlichen Unterricht, die

148 auf dem Ideenmarkt der nächsten Tage hier in deplatz bekommt: beweisen wir damit nicht, dass Göttingen vermittelt und zur Diskussion gestellt uns unsere Kultur noch wichtig ist, oder gar wich- werden. tiger als zuvor? Ist es nicht bemerkenswert, dass Zunächst aber will ich den Blick nicht auf die die Werke und die Geschehnisse der Vergangen- Schule lenken. Sondern darauf, was das eigentlich heit, auf die wir immer wieder zurückkommen, für eine Antike ist, die sich da gerade im Kultur- in der Zeit des Internets und der Globalisierung betrieb und in der gesamten Öffentlichkeit so und der Spezialisierung des Wissens trotz allem machtvoll darbietet. Man könnte das, was da vor eine solche Anziehungskraft haben? Dieser ganze sich geht, so meine ich, unter drei Begriffen zu vermeintliche Krempel aus dem alten Europa? fassen versuchen: nämlich: Kompensation, Nun, bemerkenswert ist das schon - doch der A r c h a i k und G e h e i m n i s . Schluss auf die allgemeine Relevanz, auf ein neues und konstantes Interesse des Publikums, der 1. Kompensation. Wir beobachten ganz allge- scheint mir ganz trügerisch zu sein. Nicht, dass mein einen Zuwachs an historischer Information, es da kein Bedürfnis gäbe; nicht, dass das ganze an historischer Erinnerung in der Öffentlichkeit. Gedenken und Kanonisieren ausschließlich in der Geschichtsausstellungen, Geschichtsmagazine, verschärften Konkurrenz zwischen den Medien Geschichtskanäle suchen und finden ihr Publi- und den Verlagen seinen Grund hätte - auch kum. Runde oder auch nur halbrunde Jubiläen, wenn diese Medienkonkurrenz dabei durchaus Geburtstage und Todestage werden in unge- eine gewisse Rolle spielt: So wird in den Redak- kannter Ausdehnung und in steigender Frequenz tionskonferenzen gefragt: „Hat der Mitbewerber abgefeiert. Hinzu kommen groß inszenierte Neu- schon seine Sonderseiten zu Karajan gebracht? “ übersetzungen von Klassikern, hinzu kommen ... Aber dieses Bedürfnis nach öffentlicher Unter- auch immer weiter ausgefächerte Reihen von richtung, das tatsächlich existiert, bedeutet nicht, kompakter Einführungsliteratur sowie histori- dass diese Unterrichtung direkt an eine vorhan- sche Aufklärungs- und Besinnungsbeiträge zu dene Bildungswelt anschließt. Die Funktion ist verschiedenen Gelegenheiten des traditionellen eine ganz andere: Es ist die der Kompensation. Festkalenders wie Weihnachten, Ostern oder Und zwar nicht in dem Sinne, wie es Odo Mar - auch zu Papstbesuchen. - Wochenzeitungen quard meinte, als er die Geisteswissenschaften durchmessen „das Wissen dieser Welt“ in einem mit ihren Themen zu einer Kompensation der „Bildungskanon “ und reisen von der Athener Dynamik der Moderne erklärte. Sondern in dem Agora zum Tübinger Stift. Einzelne Wissensfrag- einfachen Sinne, dass das History-Special und mente aus alter Zeit tauchen auch immer wieder die MozART-Beilage das kompensieren, was in an entscheidender Stelle in den beliebten Quiz- Schule, Elternhaus und Universität nicht mehr Shows von Günther Jauch und anderen auf. All geleistet wird. Wenn heute Schillers Geburts- dies sind Gelegenheiten, gerade die klassischen tag gefeiert wird, dann dient das nicht mehr wie Bildungsgüter wieder aufscheinen zu lassen, sie einst der gelebten nationalkulturellen Erinne- gebündelt zu reaktivieren, sie zum besonderen rung, nicht mehr der Selbstbestätigung eines mit Ereignis zu machen, ob es nun Homer ist oder den gefeierten Gegenständen oder Ereignissen Rubens oder Mozart oder Schiller - der eng vertrauten Bildungsbürgertums. Es wird Schiller, dem gleich nach dem Schillerjahr 2005 meistens nicht ein neuer Aspekt des Werkes, (zu seinem 200. Todestag) das nächste Schiller- nicht ein individueller, aus unserer Zeitgenos- jahr 2009 (zu seinem 250. Geburtstag) gewidmet senschaft kommender Zugang zu dem Klassiker sein wird. erschlossen, ein Zugang also, der die Kenntnis der Vordergründig könnte man aus der gestei- kanonischen Kultur, der den alltäglichen Umgang gerten Präsenz dieser Inhalte auf ein wachsen- mit ihr zur Voraussetzung hätte. Nein, wenn des Interesse ihrer Empfänger schließen. Wenn wir in den Medien heute Schillers Geburtstag unsere Bildungstradition im „Spiegel“ und im feiern oder über Troja streiten, dann fangen wir Fernsehen wieder einen breit abgesteckten Sen- ganz von vorne an. Dann gibt es Info-Kästchen

149 und Einführungstexte: Wer war dieser Schiller? wir annehmen müssten, das seien nur Nottriebe, Wann hat er gelebt? Was sind seine Hauptwerke? was wir gerade in der Öffentlichkeit erleben. Die Warum ist sein Name so berühmt? Oder: Worum verantwortungsvolleren Medien müssen also geht es eigentlich in der „Ilias“? sehen, wie sie das Beste daraus machen, und es Das heißt: Die Medien - auch die anspruchs- wäre sicher dumm, wenn die Altsprachler und volleren - sind zu Schullehrern geworden. Das die Altertumswissenschaft die gegenwärtige Situ- ist gar keine schlechte Aufgabe, auch wenn sie ation, wenn sie die öffentliche Aufmerksamkeit manchem, der sich darauf umstellen muss, noch nicht nutzten. Die Kategorie der Kompensation lästig sein mag. Es ergeben sich damit übrigens kann jedoch, so meine ich, dabei helfen, aus dem auch ganz neue Betätigungsfelder für historische Boom der Themen nicht immer gleich ein nach- Experten. Aber man muss sich eben klar machen, haltiges Interesse in der Gesellschaft abzuleiten. dass gegenwärtig, zugespitzt gesagt, eine Verlage- rung der Volksbildung hin zu den Medien stattfin- 2. Archaik. Friedrich N ietzsche hat einmal det. Der Informationssektor übernimmt mit rasch geschrieben: „Humanität ist ein ganz ungriechi- verglühenden Feuerwerken die Orientierung scher Begriff.“1 Dieser Befund lässt sich, schaut über die traditionellen Hauptinhalte der Kultur. man auf die Darstellungen unserer Tage, auf das Und wie es in der Pädagogik seit alters bewährt gesamte Altertum ausdehnen. Denn was sehen ist, scheut die neue Info-Bildung ebenfalls nicht wir jetzt, wenn wir antike Stoffe in Aktion sehen? das Mittel der Wiederholung. Und die Kompen- Schwerter, Blut und Schreie, Machtspiele, Intri- sationsfunktion zeigt sich auch daran, dass das gen, Aberglauben, ein Regiment der ungezügelten Publikum wirklich gerne zuhört. Denn auch wer Triebe, unbedingten Kampfeswillen, urtümliche Schubert und Schumann nicht unterscheiden Formationen der Gewalt. Ob Russell Crowe im kann, hat doch das unbestimmte Gefühl, dass „Gladiator“, ob Brad Pitt als Achilles in „Troja“, irgendetwas fehlt. Er nimmt die Nachlieferung ob Oliver Stones „Alexander “, ob der exzessive, also für einen Moment lang gerne entgegen. Und brutale Opferwille der Spartaner in dem martia- so geht es auch mit dem klassischen Altertum: lischen Film „300“, der von der Schlacht bei den Wenn es spannend aufbereitet wird, hat es eine Thermopylen erzählt, ob die skrupellose Ober- Chance, denn der Rezipient fühlt: Das sind Dinge, schicht in der Fernsehproduktion „Rom“ - immer die etwas bedeuten, von denen ich in einer besse- schlagen die Schwerter, die Gefühlswallungen ren Welt eigentlich etwas wissen müsste. Dinge, und die unerbittlichen Interessen aufeinander die die Leerstelle füllen, die von der Herkunft her in einer Staubwolke aus menschlicher Archaik zu mir gehören, die den Phantomschmerz stillen. und orffianisch-mystischer Chormusik. Landauf, Je flüchtiger übrigens das Tages- und Sekunden- landab huldigen die Theater in Inszenierungen geschäft der Information wird, desto mehr ist der „Bakchen “ von Euripides dem Dionysischen, man geneigt, alte bleibende Inhalte dagegen zu dem Irrationalen; Michael Thalheimer macht setzen, um sich daran festzuhalten - gewisserma- die „Orestie “ des Aischylos , das Muttermörder- ßen als verlässliche Zeichen der analogen Welt: stück, am Berliner Deutschen Theater zu einer In der Werbung und andernorts werden etwa die Blutorgie, und er verzichtet auf die Demokratie- Informationsmöglichkeiten des Internets gerne und Sinnstiftung des letzten Teils der Trilogie, er mit Bildern von alten Bibliotheken illustriert. lässt also die Einhegung von Schuld und Gewalt Verstehen Sie mich jetzt bitte nicht als einen durch die Installation des Rechtsstaates gleich kulturpessimistischen Schwarzmaler; das Ganze ganz weg. Diese Antike ist wild, fremd und phan- ist erst einmal nur eine Beobachtung. Man tastisch, exotisch und primitiv; und auch dort, wo kann in der Analyse unserer Gesellschaft sogar sie einfach nur bruchstückhaft erscheint, ergibt durchaus die Perspektive einnehmen, dass gar sich bloß aus der fragmentarischen Existenz nicht die Defizite so erstaunlich sind, sondern schon etwas Fremdes, das sich nicht mehr zu die Beharrungskräfte der alten Kultur. Diese etwas Vernünftigem, Zivilem oder gar Musterhaf- Beharrungskräfte sind offenbar stärker, als dass tem zusammensetzen lässt. Wenn die Moderne,

150 wie es die Kasseler Documenta des vergangenen US-Forscher eine lange verschollene Handschrift Jahres behauptet hat, unsere neue Antike sein soll, des größten Mathematikers der Antike. Doch dann sind die einstigen Zivilisationsstifter, die das Sensationsmanuskript umgibt ein Schatten. antiken Völker, unsere neuen Barbaren. Aber es Wurde es aus einem Kloster in Istanbul gestoh- sind nicht die Barbaren von einem anderen Stern; len?“4 es sind die Barbaren in uns, in unserer eigenen So entsteht es, das Atlantis- und Tutencha - Geschichte. Sie bergen laut Peter Sloterdijk MUN-Gefühl, und es ist dieser Gestus, mit dem unsere „thymotischen Energien“.2 Fasziniert wir uns immer öfter auch dem klassischen Alter- und verstört schauen wir auf diese Ursprünge; tum nähern. wir tun das auf dieselbe Weise, so hat es Simon Gewiss, schon seit der Renaissance hat es die Goldhill ausgedrückt, „wie Heranwachsende, Faszination der Ausgrabung gegeben. Und das die glauben, sie seien die ersten, die schmutzige Freilegen und das Verrätseln sind dabei schon Wörter und Sex für sich entdecken, und die nur länger Geschwister. Auch Goethe , der „auf mit Unverständnis auf die Begierden ihrer Eltern klassischem Boden begeistert “ war, ließ sich starren können “.3 Im alten Kampf zwischen der trotzdem nachts bei Fackelschein über das Forum archaischen, mythisch-ursprünglichen und der Romanum führen, um den touristischen Schauer klassizistischen Antike, so scheint es, hat in der der Ruinenromantik zu empfinden. Groß war die allgemeinen Wahrnehmung heute die Archaik Spannung in Europa, als geschickte Tiefenboh- gesiegt. Gerade nicht mehr das Modellhafte ist rungen durch den vulkanischen Tuffstein in Her- vom Altertum gegenwärtig - also die Leistungen culaneum die Schätze der Villa dei Papiri zu Tage der Griechen und Römer auf den Feldern der brachten; nicht weniger reizvoll als das Entdeckte Demokratie, der Rhetorik, der ausgewogenen war und ist dabei die Imagination, was wohl alles Kunstschönheit, des Handels, der Staatsverwal- noch verborgen sein könnte. Heinrich Schlie - tung, der Wissenschaft. Sondern es ist umgekehrt mann und Howard Carter wurden zu Heroen das Wilde, das Kultische, das Brutale. der historischen Exploration, der jeweils immer auch ein Rest von Geheimnis innewohnt. 3. Geheimnis. Die geschilderte Lage bringt Und doch ist heute etwas ganz anders. Die auch eine besondere Stellung des Geheimisses Entdeckung ist nämlich nicht mehr eine Ergän- mit sich. Die Antike wird immer mehr zu einer zung oder Verlebendigung dessen, was einem lieb abenteuerlichen Entdeckung. Man findet sie und teuer ist. Nicht mehr vor dem Hintergrund in einer verschütteten Grabkammer, in einer der verinnerlichten Livius- oder HoMER-Lek- unbekannten, unentzifferten Handschrift, in türe schaut das interessierte Publikum auf das einer verschwundenen Statue. Wenn Altertums- neue Romulusgrab auf dem Palatin oder auf den experten auf etwas Neues, auf etwas Unerwartetes Deutungskampf um die Größe der Mauern von stoßen, dann bietet diese Erzählform eine ganz Troja. Wir laufen eifrig Nachrichten hinterher, besondere Mischung aus moderner Wissen- die uns vermelden, dass irgendwo in den frühe- schaft und Abenteurertum: Es begegnen sich ren Provinzen des Römischen Reiches ein neuer die unergründliche historische Kontingenz und Marmorkopf oder ein neues Mosaik gefunden der rastlose Spürsinn menschlicher Erkenntnis- wurde. Das ist schön für jeden Archäologen, suche; es treffen rätselhafte Papyri und modernste aber kurios daran ist, dass sich gleichzeitig die Infrarot-Analysen aufeinander. Rationalität und großartigsten Kunstwerke der Antike, die in den Methode sind reizvoll eingefärbt mit Dunkelheit ständigen Sammlungen unserer Museen stehen, und Verschwörung. Zahlreiche Wissensmagazine kaum noch jemand anschaut. Genauso geht es mit und populäre Darstellungen funktionieren so dem neuen Papyrus, der gespannt durchleuchtet - eine Überschrift aus dem „Spiegel“ mag dafür wird, während die gut edierten und übersetzten als Beispiel dienen; sie lautet: vollständigen Werke der Alten in den Bibliothe- „Kodex aus dem Keller - Über 2000 Jahre ken unberührt bleiben. Es gibt Zeitgenossen, die nach dem Tod des Archimedes entschlüsseln jedem Fall von Raubkunst gründlich ihre Auf-

151 merksamkeit schenken, deren Interesse für die beschreiben, der die Herkunft Homers und den alte Kunst selbst, für die Kunst im ungeraubten Schauplatz der „Ilias“ neu identifiziert haben will. Zustand aber bei Null liegt. Was da passiert, ist gleichsam „Terra X“ für den Wenn wir diese Phänomene erklären wollen, Kulturbetrieb. Für ein paar Fachkundige wird von dann reicht es, so glaube ich, nicht aus, auf den der Behauptung: „Homers Geheimnis ist gelüftet “ herkömmlichen Reiz des Neuen zu verweisen, ein wissenschaftlich fragwürdiges Buch übrig auf den generellen Vorsprung der Nachricht vor bleiben 5 sowie vielleicht die Anregung, sich die dem Vorhandenen und den alten Nimbus des vielfältigen Kulturkontakte der frühen Griechen Schatzgräbers. Nein, die Entdeckung im Reich im Bereich des östlichen Mittelmeers genauer des Rätselvollen hat heute überdies den Vorteil, anzusehen, die Kontakte also, die die Forschung dass der Kanon des Klassischen dabei unbesehen seit einigen Jahren intensiver untersucht; hier leis- bleiben kann. Die Entdeckung verschafft eine tet Raoul Schrott also etwas, was wohlwollende willkommene Entlastung von der Tradition. Betrachter eine „Bereicherung der Perspektiven “ Denn im Moment des Auffindens von Unbekann- genannt haben. Für das allgemeine Publikum tem nehmen der Entdecker und das Publikum hingegen bleibt nur die Faszination eines Aben- eine Zeitlang dieselbe Stufe ein; die Distanz zwi- teurers zwischen den Welten, der den ohnehin schen Kennerschaft und versäumter Bildung ist eher fremden, aber vom Namen und Nimbus aufgehoben; der Experte und die Laien staunen her noch vertrauten Traditionsbestand der „Ilias“ gemeinsam wie die Kinder; und das schlechte Homers mit exotischen assyrischen Namen und Gewissen, das wir alle wegen mangelnder Bele- hethitischen Schauplätzen neu erklärt und damit senheit haben, verfliegt. So kann das Publikum den angeblichen Euro-Chauvinismus der Homer- am neu freigelegten Altertum teilhaben, und es experten zerschmettert. Sehr spannend, aber wir bleibt zugleich befreit von dem bedrohlichen werden es nie genau wissen ... Anspruch, den das unermesslich große Archiv der Vergangenheit an uns stellt. Meine Damen und Herren, Kompensation, Der übliche Aufbau der Entdeckergeschichten Archaik und Geheimnis - dies könnten also kommt dem sehr entgegen: In der Regel beginnen Begriffe sein, um den neuen Aufschwung der diese Geschichten mit dem Zufall des Auffindens, Antike zu beschreiben und vielleicht auch ein also mit einer Szene, die vom Dunkel ans Licht wenig zu relativieren. Denn man darf sich wohl führt; dann gibt es einen Mittelteil, der vom wegen einer konjunkturellen Besserung nicht überraschten Experten erzählt, der die nötigen einbilden, es gebe keine strukturellen Schwierig- Sachinformationen bringt und berichtet, mit wel- keiten. Aber es wäre doch zu einfach, wenn als chen raffinierten Methoden die Wissenschaftler Destillat schlicht übrig bliebe, dass es eben eine das Gefundene zu entschlüsseln versuchen; das Krise gebe wegen der mangelnden Kenntnis der bringt ein bisschen Aufklärung, aber regelmäßig Klassiker. Solche Krisen wurden oft genug ausge- endet dann die Geschichte wieder damit, dass rufen, und es ist immer doch noch etwas lebendig gleichwohl noch große Teile des jahrtausende- geblieben. Nein: An der neuen Wahrnehmung alten Rätsels ungelöst seien, und dass die Sache der Antike ist, bei allen tektonischen Verschie- die Forschung auch fortan noch Jahrzehnte oder bungen in der Bildungslandschaft, zugleich auch Jahrhunderte beschäftigen wird. Und Leser und etwas Wahres. Wenn die Antike geheimnisvoller Zuschauer nehmen am Ende befriedigt zwei und archaischer wird, dann ist das mehr als nur Dinge mit: Erstens die Nachricht - das ist ja wirk- Lust an der Sensation und an menschlichen lich eine spannende Geschichte! Und zweitens die Extremen. Es ist zugleich, ob gewollt oder nicht, Beruhigung - wir werden es nie genau wissen! der Nachvollzug eines Wandels, den die Alter- Mit diesem Muster des geheimnisvollen Ent- tumswissenschaft selbst vollzogen hat. Denn deckertums lässt sich wohl auch die Wahrneh- im Zuge der verschiedenen Kulturtheorien und mung der jüngsten Diskussion über die Thesen der anthropologischen Forschung nicht zuletzt des Dichters und Komparatisten Raoul Schrott französischer Prägung, im Zuge der religionswis-

152 senschaftlichen und ethnologischen Zugänge ist schieben möchte; nur deshalb führt man junge auch die Antike der akademischen Wissenschaft Leute hinzu, damit sie human werden. “ (...) „Ich in den letzten Jahrzehnten bekanntlich wilder bin überzeugt, hätte es [sc. das Altertum] nicht geworden, blutiger und fremder. Das Singuläre, diese traditionelle Verklärung um sich, die ge- das Vorbildliche, das Ideale der klassischen Epo- genwärtigen Menschen würden es mit Abscheu chen, zu denen wir eine special relationship zu von sich stossen: die Verklärung also ist unächt, haben beanspruchten, ist schon länger passe. Und von Goldpapier.“ aus dem ethnologisch-vergleichenden Ansatz So weit also Nietzsche. Die Antike ohne ergeben sich manche Anknüpfungspunkte zu dieses Goldpapier aber ist natürlich keineswegs dem übergreifenden Thema dieses Altphilologen- eine Privatidee von Nietzsche, dem „das Brutal- kongresses, „Antike und Kulturen der Welt“ - das Selbstbewusste “, so sein Ausdruck, sympathisch wird erfreulicherweise in mehreren Vorträgen war. Nein, das Nicht-Rationale, das Urtümliche anklingen. war ja schon immer ein Unterstrom unter der Hören wir dazu einmal Friedrich N ietzsche , klassizistischen Marmoroberfläche. Dafür bietet der in den Notizen zu seiner nicht ausgeführten passenderweise der große Christian Gottlob Schrift mit dem Titel „Wir Philologen“ aus dem Heyne ein gutes Beispiel, der 1763 hier in Göt- Jahr 1875 Folgendes schreibt: 6 tingen Professor für eloquentia et poesis wurde „Es ist schwer, die Bevorzugung zu rechtfer- und der mit seinem Seminarium Philologicum tigen, in der das Altertum steht: denn sie ist aus im Anschluss an Vorurtheilen entstanden: die glänzende Geschichte der Göttinger Alter- 1) aus Unwissenheit des sonstigen Altertums, tumswissenschaft begründete - jene Geschichte, 2) aus einer falschen Idealisirung zur Humani- angesichts derer es für mich eine sehr große Ehre täts-Menschheit überhaupt; während Inder ist, hier überhaupt zu Ihnen sprechen zu dürfen, und Chinesen jedenfalls humaner sind, eine Geschichte, die mit Namen verbunden ist wie 3) aus dem Schulmeister-Dünkel, Karl Otfried Müller , Hermann Sauppe , Leo, 4) aus der traditionellen Bewunderung, die vom Wilamowitz , Reitzenstein , Kurt Latte und Römerthum ausgegangen ist, Alfred Heuss , um nur die zu nennen. Dieser 5) aus Widerspruch gegen die christliche Kirche, Heyne, das nur nebenbei, erwarb sich auch große oder zur Stütze, Verdienste um die Reform des Schulwesens und 6) Eindruck, den die Jahrhunderte lange Arbeit um die Göttinger Bibliothek, er stammte aus sehr der Philologen gemacht hat, und die Art ihrer ärmlichen Verhältnissen, und er schrieb in den Arbeit: es muss sich doch um Goldbergwerke Göttingischen Gelehrten Anzeigen, so schätzt handeln, meint der Zuschauer. man, zwischen 7000 und 8000 Rezensionen. 7) Fertigkeiten und Wissen, von dort her gelernt. Christian Gottlob Heyne nun war einer- Vorschule der Wissenschaft. seits, wenn es um die entwickelte römische und In Summa: theils aus Ignoranz, falschen Urthei- griechische Kultur ging, durchaus vom idealen len und trügerischen Schlüssen, auch durch das Vorbild der klassischen Schönheit überzeugt, und Interesse eines Standes, der Philologen. er entzündete den Funken des Neuhumanismus (...) Thatsächlich ist nun allmählich Grund in so prominenten Schülern wie Wilhelm von für Grund zu dieser Bevorzugung beseitigt, und Humboldt oder den ScHLEGEL-Brüdern. Auch wenn es die Philologen nicht merken sollten, so Goethe wollte bei ihm studieren, aber sein merkt man es sonst ausser ihren Kreisen so stark Vater bestand darauf, dass er nach ging. wie möglich. “ Ich möchte eine paradigmatische Formulierung Und weiter Nietzsche in denselben Notizen: zitieren, in der jenes Denken zum Ausdruck „Das Menschliche, das uns das Altertum zeigt, ist kommt, ein Denken, das ja nicht nur, wie N ietz- nicht zu verwechseln mit dem Humanen. Dieser sche am Ende des 19. Jahrhunderts empfand, Gegensatz ist sehr stark hervorzuheben, die Phi- eine unglückliche Idealisierung mit sich brachte, lologie krankt daran, dass sie das Humane unter- sondern das ja auch ein großartiger Motor der

153 Kultur in Deutschland gewesen ist. Deshalb soll solche schönen idealistischen Ideen verbreitete, Friedrich Creuzer zu Wort kommen, der nicht hatte ganz andere Vorstellungen, wenn es um die direkter Schüler Heynes war, aber von ihm viel Frühzeit von Kultur und Religion ging. So machte Anregung und Unterstützung erfuhr. Creuzer Heyne den höchst innovativen Vorschlag, man schrieb 1807 in seiner Schrift „Das akademische solle die frühe Mythologie der klassischen Völker Studium des Alterthums“:7 mit anderen primitiven Völkern auf Grund von „Exemplarisch nennen wir die Wissenschaft Reisebeschreibungen vergleichen - solchen des Alterthums, insofern sie uns Einsicht gibt in Beschreibungen etwa, wie sie sein weltreisender diejenigen Schriften der Alten, die in Form und Schwiegersohn 1778 veröffent- Inhalt, in Gedanken und Vortrag ewige Muster lichte. Dieser Ansatz, das Archaische der Antike alles Denkens und aller Rede sind. Diesen Werth im Kulturvergleich anthropologisch-ethnologisch legt ihnen das übereinstimmende Zeugniss der verständlich zu machen, wurde erst sehr viel einsichtsvollsten Menschen aller Zeiten bei, und später von der Forschung systematisch verfolgt. nennt sie classisch. Sie sind die gereiften Früchte In seinen „Beobachtungen zu Apollodors Biblio- von der Bildung der Alten, welche nicht zufällig, thek “ von 18038 sprach Christian Gottlob Heyne nicht individuell, wie die Bildung der Neuern von den „naturae mythorum primitivae“, von den in so mancher Beziehung ist, vielmehr, in freier „primitiven Ursprüngen der Mythen“. Er führte Nothwendigkeit, ein Werk der Natur erscheinet. aus, im Mythos sehe man zwar auch die Anfänge So sind nun auch jene Werke nothwendig gebildet des philosophischen Denkens, aber ebenso sehe nach dem unwandelbaren Gesetze der Schönheit, man dort „religionum et superstitionum miras frei von dem Manirirten, Interessanten, Charak- ambages, ritus, initia, fraudes, deliria, ludibria “ teristischen. Darum heißen sie classisch; wobei - also: „die wundersamen Irrwege, Riten, Myste- man demnach eben sowohl auf die Bestimmtheit rien und Frevel, den Wahnsinn, Spott und Hohn und Richtigkeit des Gedankens, auf die Schärfe der Religionen und des Aberglaubens “. und Feinheit des Urtheils, auf den Tiefsinn und Kurzum: Das Archaisch-Fremde, das nicht die Universalität des unbewusst wirkenden klassisch Einzuengende der Griechen und Römer Genius sieht, als auf das Gewand, worein er seine - in der Religion, im Krieg oder in der Alltags- Gedanken hüllet, die reine Form des Vortrags, die kultur - und auch ihr kultureller Austausch mit schöne Einfalt, die plastische Gediegenheit und anderen Völkern, denen sie viel zu verdanken die sich selbst vergessende Unschuld und stille haben: all dies hat eine längere Vorgeschichte Größe seines Ausdrucks. In so fern sieht sich in der Altertumswissenschaft, und es ist nur also der betrachtende Geist des Neueren hier in angemessen, wenn dieser Blick auf die Antike eine Welt versetzt, wo einfältiger und klärer, als zunehmend auch die öffentliche Wahrnehmung in den Schriften seiner Zeitgenossen, die Ideen prägt. des Wahren, Guten und Schönen ausgeprägt sind, und er empfängt aus einer Zeit, wo die Götter In einer Gesellschaft nun, die derzeit selbst eine menschlicher waren, das Bild einer göttlicheren Begegnung der Kulturen zur Aufgabe hat, ist Menschheit.“ es willkommen, dass dieses nicht-idealisierte Welch ein schönes Glaubensbekenntnis - da und nicht bloß autochthone Antikenbild in der ist wirklich alles drin, von Winckelmann bis Schule seinen Platz bekommt. Das heißt nicht, Schiller ! Das müsste man mal in den heuti- dass die abendländische Tradition mit dem gen Broschüren für den altsprachlichen Unter- Geiste ihrer Renaissancen und Humanismen richt abdrucken! Doch nicht nur eckte Creuzer in der Bildung versteckt werden müsste. Aber nachher selber bei dem Idealgriechentum der das Nicht-Moderne, Nicht-Aufgeklärte in den Klassizisten an, weil er die Mythen bei Homer antiken Kulturen kann ebenso zum Thema und Hesiod auf Ursprünge in der Religion des gemacht werden wie die verschiedenen kulturel- Orients zurückführen wollte. Sondern auch len Überformungen und Vermischungen in der schon Heyne hier in Göttingen, derselbe, der homerischen Zeit, im Hellenismus oder in der

154 römischen Kaiserzeit. Man kann fragen, warum wie man bildungspolitisch gerne beteuert und die römischen Kaiser irgendwann anfingen, wie es oft auch der sozialen Realität entspricht, keine Römer mehr zu sein, sondern aus den keine Elitenfächer mehr sein; Massenfächer sind ausländischen Provinzen zu kommen. Man kann sie trotzdem nicht, und nicht jeder kann in ihnen fragen, wie sich die Geschichte von Phädra und gut sein. Hippolytus, die auch in neueren Lateinbüchern Nein, ein Hindernis für das offene Antiken- vorkommt, zum modernen Inzestverbot verhält, bild in einer Einwanderungsgesellschaft, das das das Bundesverfassungsgericht gerade wieder ich angedeutet habe, sehe ich an anderer Stelle: bestätigt hat; man kann fragen, wer im Gallischen nicht in den Stoffen des Unterrichts selbst, denn Krieg eigentlich die Barbaren sind. dort gibt es genug menschlich Dunkles, genug Und natürlich liegt schon in der Begegnung existenzielle Konflikte oder Grenzüberschrei- mit der fremden, nicht mehr gesprochenen Spra- tungen. Ein Hindernis könnte es vielmehr sein, che als solcher schon ein Angebot zur Reflexion wenn die Legimationsrhetorik des altsprachlichen über die Unterschiede von Sprachen und Kultu- Unterrichts demgegenüber nur von der Lichtseite ren. Man darf zwar sicher nicht die Defizite der spricht. Wenn also nur das Helle, das Humanis- Deutschbeherrschung, die vielen Schulen heute tische, das Mustergültige im Mund geführt wird. Schwierigkeiten machen, verharmlosen. Der Ich sehe die Gefahr, dass diese Rhetorik einfach Lateinunterricht kann gewiss nicht das Deutsch- nur unter einer neuen Chiffre immer noch fort- lernen ersetzen. Dennoch ist es ermutigend, dass geführt wird, und diese Chiffre lautet seit einiger Latein bei vielen Migrantenkindern so beliebt Zeit „Europa“. ist - bei ihnen hat sich herumgesprochen, dass In einer neutralen Form der Selbstauskunft auch die Deutschen oft erst im Lateinunterricht ist gegen dieses „Europa“ natürlich nichts ein- ihre Muttersprache richtig lernen. Damit erfüllt zuwenden - wenn es heißt, dass im Latein- und der Lateinuntericht schon an vielen Orten in Griechischunterricht europäische Grundtexte Deutschland eine wichtige integrative Funktion, gelesen werden. Das stimmt natürlich. Mir ist sprachlich wie gesellschaftlich. Auch die Ausein- auch klar, dass die Schule anders funktioniert andersetzung mit der lingua franca Englisch kann als die Wissenschaft; ein gewisser Anspruch auf für das Lateinische produktiv gestaltet werden. Normativität liegt ja schon in der Tatsache, dass Dieser Kongress wird sich ja mehreren von diesen etwas nach Lehrplan obligatorisch gelehrt wird. Fragen widmen. Schule soll, ja muss auch kanonisch organisiert sein. Auch ist einsichtig, dass „Europa“ von den Die Möglichkeiten also sind da. Die Themen und Verteidigern der alten Sprachen als taktischer die Unterrichtspraxis zeigen es. Aber es gibt auch Begriff eingesetzt wird. Wenn man nämlich dem Hindernisse. Damit meine ich nicht etwa das Bildungspolitiker sagt: Wir machen Abendland Beharren auf der Beherrschung der komplexen und Grammatik, dann sagt der Bildungspolitiker: lateinischen (oder griechischen) Sprache, ein Ach so, Abendland und Grammatik. Klingt nicht Beharren, das manchen wie eine unüberwind- unbedingt so, als hätte das eine Zukunft. Wenn bare Hürde vorkommt. Denn dieses Beharren ist man aber sagt: Wir machen Europa - wer wollte trotzdem richtig. Zwar ist es gut, wenn jetzt der dann etwas dagegen haben? Spracherwerb stärker in inhaltliche, in kulturelle Problematisch indes wird es, so meine ich, Zusammenhänge eingebettet wird. Aber man wenn der Europa-Begriff von den Freunden des kann nur davor warnen, in Latein und Griechisch Altertums übermäßig normativ aufgeladen wird. den Sprach- und Literaturunterricht, der diese Dann wird das Wort zur Fiktion, zum Abgren- Fächer ausmacht, in einen Kulturunterricht zu zungs- oder gar zum Kampfbegriff, der den verwandeln. Dann kann man es gleich lassen. zersplitterten Identitäten in Europa keineswegs Dieses Beharren auf der Sprache bedeutet auch, gerecht wird. Diese normative Aufladung, die ja dass die Anforderungen nicht grenzenlos verrin- auch die Kultur des Altertums zwischen Sappho gert werden können; die alten Sprachen mögen, und Augustinus ganz fiktiv in eins setzt, findet

155 sich etwa in dem sonst nützlichen kleinen Band Nein, ich würde stattdessen lieber sagen: Lassen mit dem Titel „Warum Latein? Zehn gute Gründe “, wir die wilde Antike ruhig hinein in die gute den Friedrich Maier soeben bei Reclam vorge- Stube. Die Zucht durch die Sprache ist schon legt hat.9 Die Aufladung besteht darin, dass Maier groß genug, da brauchen wir nicht noch die den Europa-Begriff mit Dingen wie „Werten“ Zucht durch einen moralisierenden Überbau. und „Identität “ vermengt. So heißt es, Lateinun- Das Großartige der Kulturen und der Literaturen terricht habe den Wert, „ein Bewusstsein dafür des Altertums ist ja gerade, dass sie Identitäten zu schaffen, was europäische Identität meint“. transzendieren. Dass sie, wie dieser Kongress sagt, „Aneignung eines Europa-Bewusstseins“, so wird Horizonte eröffnen. an anderer Stelle eine Funktion des Lateinunter- richts benannt. Außerdem schreibt Maier: „Latein Meine Damen und Herren, wir wissen, dass Göt- kann und will auch zu einer Werteerziehung tingen auf eine großartige Vergangenheit in der ... einen entscheidenden Beitrag leisten.“ Und Philologie zurückblicken kann. Dass Göttingen dann werden gar unser Kontinent und der derart jetzt auch für die Zukunft der alten Sprachen humanistisch zu erziehende Mensch in einer Art einen kräftigen Impuls gibt, das wünsche ich Unio mystica zusammengedacht und verschmol- Ihnen, das wünsche ich uns von Herzen. zen: „Der große Reifungsprozess, der sich in der Entwicklung Europas zu einem gemeinsamen Anmerkungen: Kulturraum vollzieht, wiederholt sich bei jedem 1) Nietzsche, KSA 7, 127. Menschen gewissermaßen im Kleinen, wenn er 2) Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit, Frankfurt am zu einer gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit Main 2006. heranwächst.“ Bei allem Respekt vor Friedrich 3) Simon Goldhill, Love, Sex, and Tragedy. How the Ancient World Shapes Our Lives, Chicago Maier, ich glaube, hier ist die Grenze zum huma- 2004. nistischen Kitsch überschritten, und selbst zu 4) Der Spiegel 25/2007 (18.6.2007). Zwecken der Propaganda, die das Fach zur Zeit 5) Raoul Schrott, Homers Heimat. Der Kampf um gar nicht so verzweifelt nötig hat, sollte man von Troia und seine realen Hintergründe, München einem solchen altsprachlichen Werte- und Iden- 2008. titätskomplex namens Europa lieber Abstand 6) Nietzsche, KSA 8, 14ff. nehmen. Wie könnte man denn glaubhaft ver- 7) Friedrich Creuzer, Das akademische Studium sichern, dass die rudimentären Europa-Gefühle, des Alterthums, herausgegen und eingeleitet von die die Nationen des Kontinents zu entwickeln in Jürgen Paul Schwindt, Heidelberg 2008. der Lage sind, nur durch den Ablativus absolutus 8) Christian Gottlob Heyne, Ad Apollodori Biblio- herbeizuführen seien? thecam observationes, Göttingen 1803. 9) Friedrich Maier, Warum Latein? Zehn gute Gründe, Stuttgart 2008. Johan Schloemann , München

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