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Verzeichnis der untersuchten deutschsprachigen Operetten

Adieu Mimi Die lustige Witwe Die Bajadere Die lustigen Nibelungen Eine Ballnacht Madame Pompadour Der Bettelstudent Mädi Die blaue Mazur Majestät Mimi Die Blume von Hawaii Der Mann mit den drei Frauen Eine Nacht in Venedig Bruder Straubinger Der Opernball Brüderlein Fein Der Orlow Casanova Paganini Cloclo Prinzeß Gretl Die Csárdásfürstin Der Rastelbinder Die Dollarprinzessin Die Rose von Stambul Das Dorf ohne Glocke Rund um die Liebe Das Dreimäderlhaus Die schöne Galathée Die Faschingsfee Schützenliesl Fatinitza Schwarzwaldmädel Der fidele Bauer Die spanische Nachtigall Der süße Kavalier Frasquita Die süßen Grisetten Frau Luna Die Tanzgräfin Friederike Der tapfere Soldat Das Fürstenkind Der Tenor der Herzogin Gasparone Der unsterbliche Lump Die geschiedene Frau Das Veilchen vom Montmartre Giuditta Der Vetter aus Dingsda Die gold’ne Meisterin Viktoria und ihr Husar Der Graf von Luxemburg Der Vogelhändler Gräfin Mariza Ein Walzertraum Ein Herbstmanöver Im weißen Rössl Die Herzogin von Chicago Wiener Blut Das Hollandweibchen Wiener Frauen Die Juxheirat Das Wirtshaus im Spessart Die Kaiserin Der Zarewitsch Lady Hamilton Der Zigeunerbaron Das Land des Lächelns Zigeunerliebe Der letzte Walzer Der Zigeunerprimas Der liebe Augustin Die Zirkusprinzessin 2 Prolegomena

Prolegomena

Im Kontext der Entwicklung des komischen musikoliterarischen Theaters im 19. Jahr- hundert entsteht eine neue bürgerlich geprägte Gattung: die Operette. Sukzessiv gene- riert sie unterschiedliche nationale Ausprägungen, so z. B. die französische Operette ei- nes Florimond Hervé, oder Alexandre Charles Lecocq, spanische Zarzuelas, die englische Operette eines William Gilbert und Arthur Sullivan oder Sid- ney Jones, die ungarischen Népszínmu˝ oder die amerikanische Frühform des klassi- schen Musi cals von Richard Rodgers und Oscar Hammerstein. Ausgehend von den Werken Jacques Offenbachs und ihrer von Johann Nestroy geförderten Verbreitung und Popularisierung in Wien, etabliert sich schon bald eine eigenständige deutschspra- chige Gattung, die während ihrer rund 80-jährigen Blütezeit zu den wichtigsten For- men der zeitgenössischen Unterhaltung1 zählt.

Forschungsstand

Obwohl sich die deutschsprachige Gattung neben der englischen und französischen Spielart weltweit durchzusetzen vermag und obwohl sie im rezeptionsgeschichtlichen Rückblick ein vitales, fortschrittliches und stimulierendes Genre ist, gilt die Operette lange als zu leichtgewichtig und kurzlebig, um sich ernsthaft als Forschungsgegenstand in den klassischen Themenkanon der Musik-, Theater-, Kultur- und Literaturwissen- schaften einzureihen. Eine Tatsache, die darauf zurückzuführen ist, daß ihr gesellschafts- kritisches Potential in Verbindung mit zeitgenössischen ideologischen Entwicklungen in der gesellschaftstragenden Schicht des Bürgertums als zu gering eingeschätzt wurde und wird. Dieser scheinbare Mangel an Substanz führt dazu, daß der Gattungsbegriff dieses neuzeitlichen Massenmediums in heftig geführten publizistischen Diskussionen wirkungs-, rezeptions- und gattungshistorisch seit den 1880er Jahren als ästhetische Urteilsinstanz verwendet wird.2 Die Operette wird hierin im allgemeinen »mit der Etikette eines Vorbehalts […] versehen, der weder einer gerechten Beurteilung ihrer unterschiedlichsten musikalischen Ausdrucksmittel, ihrer Formensprache, noch ihrer sozialhistorischen Einordnung dienlich sein kann.«3 Erst in der Zwischenkriegszeit bemüht sich eine sich allmählich entwickelnde in- terdisziplinäre Operettenforschung darum, den Kernbereich, die Analyse klassischer deutschsprachiger Meisterwerke, aufzubauen und damit die Operette per se als For- schungsgegenstand ernst zu nehmen. Die ideologische Überbordung sämtlicher Kul- tur zur Zeit des Nazi-Regimes führt zu einer tiefen Zäsur in allen Forschungsgebieten, so daß das oberste Anliegen der Operettenforschung nach dem Krieg ist, zu eben jener zentralen Kompetenz zurückzukehren und sie fortzuführen.

1 Allein in Wien sind in der Zeit zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg mehr als 700 Ope- retten ur- bzw. erstaufgeführt worden. (S. Linhardt, »Ausgangspunkt Wien«, S. 171). 2 Die hitzigen journalistischen Debatten (s. Linhardt Warum es der Operette so schlecht geht?, passim, Stimmen zur Unterhaltung, passim) erreichen mit dem Tode der Komponisten Johann Strauß Sohn, Franz von Suppé und Carl Millöcker am Ende des 19. Jahrhunderts ihren vor- läufi gen Höhepunkt. 3 Csáky, Ideologie der Operette, S. 17. Forschungsstand 3

Im Anschluß an die Zeit der 1968er ›Kultur-Revolution‹ wird die deutschsprachi- ge Operette als repräsentatives Beispiel einer »überholten, zudem mit kulinarischem Konsum und bürgerlichem Establishment identifi zierten Gattung«4 gesehen. Maßgeb- lich für die Sichtweise dieser säkularisierten Kunst sind die wissenschaftstheoretischen Einschätzungen Theodor W. Adornos in seiner 1962 erschienenen Einführung in die Musiksoziologie sowie Walter Benjamins kunstkritische Positionen in seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit von 1935. Nach langer Zeit wissenschaftlicher Vernachlässigung erfährt die deutschsprachi- ge Operette seit gut 25 Jahren ein neues interdisziplinäres Forschungsinteresse, das durch ein breitgefächertes Publikationsspektrum gekennzeichnet ist. Grundsätzlich liegen weitgehend disparate Forschungsansätze zur Operette vor, die an die Gattung Fragestellungen der Mentalitätsgeschichte, der historischen Anthropologie oder der Geschichte des Theaters als Institution herantragen. Das Gros dieser Arbeiten defi - niert sich oft vor dem Hintergrund normativer Prinzipien, die von der poetologischen Qualität des Operettenlibrettos weitgehend oder sogar vollständig abstrahieren. Die Frage, ob es eine spezifi sche Poetik bzw. Dramaturgie des Operettenlibrettos gibt, ist kaum diskutiert. Christian Glanz (1989) beobachtet den Aspekt des Osmanischen bzw. Balkanischen in der Gattung;Thorsten Stegemann (1995) versucht durch die detaillierte Interpretation ausgewählter französischer, englischer und deutscher Libretti das Verhältnis von Operette und Gesellschaft im europäischen Vergleich zu bestimmen und das daraus resultierende zeitkritische Potential ihres Wesens zu ermitteln. Moritz Csáky (1996) sieht die Ver- wurzelung des Genres im Unterhaltungsbedürfnis des großstädtischen Publikums und betont die Funktion der deutschsprachigen Operette als Träger einer Gesamtstaatsidee. Marion Linhardt (1997) untersucht die Rolle der Frau in der Operette des 19. Jahr- hunderts und die Art und Weise, wie das weibliche Geschlecht präsentiert wird. In einem anderen Konvolut stellt sie 2006 die Entwicklung der Operette in direkten Zu- sammenhang mit »institutions- und rezeptionsgeschichtlichen Rahmenbedingungen, die durch die besonderen politischen, wirtschaftlichen und bevölkerungsstrukturellen Gegebenheiten in Wien ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etabliert wurden.«5 Über die Analyse dieser theatralischen Topographie kommt sie zu dem Schluß, daß sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts zwei Formen der deutschsprachigen Operette gegenüberstehen, die idealtypisch von zwei Darstellern verkörpert werden: Die »Re- sidenzstadt-Operette« eines Alexander Girardi und die »Metropolen-Operette« eines Louis Treumann. Ferner fi nden sich in ihrer publizistischen Arbeit zur Gattung Studien zur Körperinszenierung bzw. zur Tanzdramaturgie (2000/2005), zur komischen (Ope- retten-)Figur (2003), zur Judenrolle (2008) sowie zwei Sammelbände (2001/2009) zu ideologischen Diskursen und Debatten bezüglich des musikalischen Unterhaltungs- theaters im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert. Vergleichbar interessant erweisen sich Aufsatzsammlungen zu bestimmten Einzelphänomenen wie der Musik-Konzepte Band 133/134 zur Operette Im weißen Rössl (2006) oder der Sammelband Glitter And Be Gay (Kevin Clarke, 2007), dessen Aufsätze sich dem Thema der Homoerotik und Homosexualität in der Operette widmen.

4 Dümling, »Wiederentdeckung«, S. 200. 5 Residenzstadt und Metropole, S. 3. 4 Prolegomena

Stefan Frey präsentiert umfassende Lebensbilder und Werkverzeichnisse der Kom- ponisten Franz Lehár (1995/1999), Emmerich Kálmán (2003) und Leo Fall (2010) und untersucht exemplarische Einzelwerke. Ähnlich verfahren Norbert Rubey (2012), Fritz Hennenberg (2009), Hans-Dieter Roser (2007), Eugen Semrau (2002), Norbert Linke (2001), Anton Mayer (1998) und Albrecht Dümling (1992) mit ihren biogra- phischen Arbeiten zu Johann Strauß Sohn, Ralph Benatzky, Franz von Suppé, Robert Stolz, Franz Lehár und Leon Jessel. Kevin Clarke erfaßt in seiner Kálmán-Biographie (2007) das Genre der deutschsprachigen Operette erstmals aus der Perspektive des US-Musicals und untersucht die Verbindungslinien zwischen Kálmáns Spätwerken und Walt Disneys Silly Symphonies, den Ziegfeld Follies, Cole Porter, Rudolf Frimls Broadway-Operette Rose-Marie und Josephine Baker. Bieten diese Hagiographien hin- sichtlich ihres beschränkten Rahmens und Materialkanons keinen allgemeinen Über- blick über die Gattung, sondern nur eine spezifi sche Sichtweise, präsentieren sie im Vergleich zu den zumeist nur anekdotenhaft gehaltenen Komponistenbiographien der Nachkriegszeit (Ernst Decsey, Franz Lehár, 1930, Robert Maria Prosl, Edmund Eysler, 1947, Maria Peteani, Franz Lehár, 1950, Franz Mailer, Oscar Straus, 1985 oder Rudolf Österreicher, Emmerich Kálmán, 1988 sowie mehrere vermeintliche Autobiographien von Robert und Einzi Stolz) in jedem Fall eine gründliche Aufarbeitung der Nach- lässe. Mehrere Arbeiten beleuchten die Gattung unter musikwissenschaftlichen Aspek- ten. Dieter Zimmerschied (1988) und Michael Klügl (1992) beschreiben die Ent- wicklungsgeschichte der Operette über die unterschiedlichen Schlagerformen und die Herrschaft der verschiedenen Tänze; Norbert Linke beschäftigt sich mit der komposi- torischen Arbeitsweise von Johann Strauß Sohn (1992). Der Historiker und Filmwissenschaftler Richard Traubner (1983) und die Musik- wissenschaftlerin Camille Crittenden (2000) setzen sich in den USA mit der deutsch- sprachigen Operette auseinander. Während Crittenden sich speziell um Johann Strauß Sohn und dessen Einfl uß auf die Kulturpolitik der österreichisch-ungarischen Mon- archie bemüht, versucht Traubner eine umfangreiche Darstellung der Gattung hin- sichtlich deren Entwicklung im internationalen Kontext und deren Rezeption in den USA. Andràs Bátta untersucht den ungarischen Einfl uß auf die deutschsprachige Ope- rette sowohl aus volkstheatralischer als auch musikalischer Sicht (1992). Ingrid Grün- berg (1984), Volker Klotz (1990/2007), Ingo Fulfs (1995), Philip Flottau (1999) und Christoph Dompke (2011) erfassen Varianten der Operette aus der NS-Zeit. Abseits der akademischen Arbeit tragen unterschiedliche Stiftungen und Gesell- schaften Sorge, die wissenschaftliche Aufarbeitung und künstlerische Pfl ege der Ope- rette zu fördern. Dem Œuvre der Strauß-Familie widmen sich gleich zwei Gesell- schaften im deutschen Sprachraum: Die 1936 gegründete Johann Strauß Gesellschaft Wien, Peter Widholz, und die 1975 ins Leben gerufene Deutsche Johann Strauß Gesell- schaft Coburg, Ingolf Roßberg. Die Internationale Franz Lehár Gesellschaft (Vera Svobo- da-Macku) bemüht sich seit 1949 um die künstlerische Pfl ege und wissenschaftliche Erforschung der Werke Lehárs; die Jacques-Offenbach-Gesellschaft Bad Ems (Ralf-Olivier Schwarz) sieht sich seit 1979 verpfl ichtet, das Werk Offenbachs weit über die Gren- zen bekannt zu machen. Die Europäische Stiftung zur Pfl ege und Erneuerung der Operette (E.S.O., Marguerite Kollo) verfolgt seit 2004 den Zweck, öffentliche wie private Ope- rettenprojekte zu fördern und in Kooperation mit den Musikhochschulen und Thea- Operette in der Literaturwissenschaft? 5 tern operettenspezifi sche Bühnenfächer auszubilden. Die Erfassung und Bereitstellung neuester wissenschaftlicher Publikationen zum Genre hat sich das 2006 gegründete Research Center Amsterdam (ORCA, Kevin Clarke) zum Ziel gemacht; die Deutsche Sullivan-Gesellschaft e.V. (Albert Gier, Meinhard Saremba) engagiert sich seit 2009 für die Verbreitung der Werke Arthur Sullivans in der deutschsprachigen Kultur- landschaft, insbesondere seiner Savoy Operas. Und die im August 2011 gegründete Bayerische Kammeroperette e.V. (Iris Steiner) will als Verein die Operette ins Bewußtsein der Kulturinteressierten zurückrufen, um sie auf diese Weise neu zu beleben. Ein erstarkendes Interesse an der Gattung Operette zeigt sich auch darin, daß sich die Label Cantus und CPO bemühen, durch Neuerscheinungen von Gesamtaufnah- men viele ›verschollene‹ Werke zu neuer Blüte erwecken.

Operette in der Literaturwissenschaft?

Überblickt man die neuere und neueste Forschung zur deutschsprachigen Operette, treten nur vereinzelt Beiträge unter librettologischen bzw. literaturwissenschaftlichen Blickwinkeln in den Vordergrund. Quantitativ herausragend erweisen sich dabei die einzelwerkzentrierten Analysen des Stuttgarter Literaturwissenschaftlers Volker Klotz, vor allem sein Hauptwerk, die Monographie Operette, Portrait und Handbuch einer uner- hörten Kunst von 1991 und deren wesentlich erweiterte 2. Auflage von 2004 sowie Martin Lichtfußens Standardwerk, Operette im Ausverkauf aus dem Jahr 1989. Klotz, der ›Operettenpapst‹ des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts, stützt sich in seiner Arbeit zur Gattung zwar auf eine recht umfangreiche Materialgrundlage, aus der er die »durchgängigen charakteristischen Eigenschaften«6 der behandelten Werke herausar- beitet. Unter dem Eindruck des ästhetischen Diktums unterscheidet er allerdings zwi- schen ›guten‹, weil kritischen und ›schlechten‹, weil affirmativen Operetten. Seinem Verdikt fallen dabei eine ganze Reihe bis heute populärer Stücke zum Opfer, weshalb er einen »Gegen-Spielplan«7entwirft, der zum großen Teil aus »vergessenen« Werken besteht. Da für Klotz Jacques Offenbach der einzig ›authentische‹ Operettenkomponist ist, wird der Eindruck erweckt, alle Operetten, die nicht dessen Modell folgen, seien keine richtigen Operetten. Daß diese Definition fast so problematisch ist wie die ge- schichts- und zeitlose Etikettierung der deutschsprachigen Operette in eine künstle- risch überlegene »goldene Ära« und eine ästhetisch minderwertigere »silberne Ära«, bemerkt nicht nur Kevin Clarke treffend.8Auch Albert Gier hegt angesichts dieser sub- jektiven Darstellungsmethode berechtigte Zweifel, weist er doch gerade bei den von Klotz so hoch geschätzten Offenbach-Einaktern nach, daß sich durchaus konträre Les- arten entwickeln lassen.9 Lichtfuß bemüht sich zwar um die Darstellung gattungssyste- matischer Elemente im Operettenlibretto. Indem er den Werkskanon jedoch auf den Untersuchungszeitraum der 1920er Jahre beschränkt, sind seine Ergebnisse nur be- dingt gattungsübergreifend.

6 Operette, S. 13. 7 Ebd., S. 17. 8 »Aspekte der Aufführungspraxis«, S. 28. 9 Vgl. »Operette als Karneval«, S. 271/272. 6 Prolegomena

Linhardt spricht der Erforschung des Genres unter literaturwissenschaftlichen Ge- sichtspunkten und Blickwinkeln gar die grundsätzliche Sinnhaftigkeit ab:

Muß eine literaturwissenschaftliche Analyse von Texten des Musiktheaters schon im allge- meinen problematisch erscheinen, so ist ihre Anwendung auf Operettenlibretti, deren Struktur am allerwenigsten von literarischen Kriterien bestimmt ist, besonders fragwürdig. 10

Das eigenständige musikdramatische Genre Libretto, wie die führende Studie von Al- bert Gier dokumentiert, bezeichnet bekanntermaßen nicht nur den zur Vertonung und Aufführung bestimmten, sondern jeden vertonbaren dramatischen Text.11 Ein Li- bretto wartet deshalb »nicht darauf, in Musik gesetzt zu werden, sondern enthält als Text bereits (virtuelle) Musik, so wie jedes Werk des Sprech- und Musiktheaters eine (virtuelle) Inszenierung enthält.«12 Auch hinsichtlich der Verwendung von musikali- schen Nummern gibt es in dieser musikoliterarischen Gattung erfahrungsgemäß keine bindenden Vereinbarungen. Die »semantische Unterdetermination«13 des Librettos be- stimmt die musikalische Ästhetik, so daß innerhalb eines zu vertonenden Textes das, was die Musik an Information zu ergänzen hat, zumindest angedeutet sein muß. Dabei fügt die Musik nichts hinzu, was nicht schon im Text enthalten wäre, sondern verdop- pelt dessen Aussage nur, indem sie ihn deutet und modifiziert, bewertet und interpre- tiert.14 Der Librettotext stellt insofern die »conditio sine qua non« im Musiktheater dar, was sich auch dann nicht ändert, wenn der Komponist musikalisch zuerst die Farbe und die Dramaturgie beschreibt.15 Daneben kommt dem Text rezeptionsästhetisch ein hoher Stellenwert zu. Da es mittlerweile verbreitet ist, den Inszenierungstext einer Operette im Programmheft abzudrucken, hat der Zuschauer während der Vorstellung grundsätzlich die Möglichkeit, Dialog und Gesangstext Wort für Wort zu verfolgen. Dementsprechend kann das Operettenlibretto die gleichen literarischen Regeln in Anspruch nehmen wie ein Schauspieltext. Als literarisches Phänomen muß es folglich sehr wohl »vor dem Hintergrund des Systems literarischer Gattungen […] mit den Methoden der Literaturwissenschaft«16 analysiert werden. Der Text mit seiner spezifi- schen Form von Poetizität erhält bei der Erforschung des Genres also bedeutungstra- gende Funktion, so daß sich in diesem Zusammenhang die Frage erhebt, warum das Libretto als eigenständige literarische Gattung immer noch keine geeignete Position in

10 »Ausgangspunkt Wien«, S. 168. S. auch Linhardt, »Der Wiener Stoff«, S. 215. 11 Gier, Das Libretto, S. 20. 12 Gier, »Die Musik im Kopf«, S. 16. 13 Beck, S. 17 ff . 14 Daß die Musik nichts hinzufügt, ist für die Operette und allgemein Stücke mit narrativer Dramaturgie und deutlich ausgeprägter Nummernstruktur richtig. Auf Werke des experimen- tellen Musiktheaters trifft es nicht zu. S. dazu ausführlich Gier, Das Libretto, S. 363–374. 15 Gier, Das Libretto, S. 17. 16 Ebd., S. 37. Allein die Tatsache, daß Linhardt zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffs ›Li- teratur‹ zusammenbringt – »literaturwissenschaftlich« liegt dem wertneutralen Begriff von Li- teratur zugrunde, »literarisch« ist normativ wertend – und damit Verschiedenes zu vereinbaren versucht, widerlegt ihre These. Anna Amalie Abert formuliert bereits 1960, daß das Libretto ein zur »Kompos[ition] bestimmte[r] Text [sei], dessen Inhalt und Form entscheidend durch die Rücksicht auf diese Bestimmung geprägt werden«, und daß das Libretto deswegen lediglich »den Eindruck einer literarischen Gattung [erwecke], aber mit literarischen Maßstäben nicht zu messen« sei, weil es nichtliterarischen, also musikalischen Zwecken diene. (Zit. nach Gier, Das Libretto, S. 53). Operette in der Literaturwissenschaft? 7 der (deutschen) Literaturwissenschaft gefunden hat. Es ist daher dringend geboten, sich mit dem Text der Operette, mit seinen besonderen Merkmalen und Möglichkeiten so- wie mit den Zwängen, denen er unterliegt, zu beschäftigen. Desgleichen sind Aufgabe und Rolle der Librettisten – der Textproduzenten – bei Untersuchungen zum Thema wesentlich zu berücksichtigen, denn daß nur die Kom- ponisten eines musikalischen Werkes Anerkennung fi nden, beklagt noch 1924 Alfred Grünwald, der zusammen mit seinem kongenialen Partner Julius Brammer als ver- sierter Meister seines Faches fast alle führenden Komponisten der deutschsprachigen Operette mit Texten versorgte: Dem Librettisten flicht die Mitwelt keine Kränze/Sein Schaffen bleibt verborgen in der Gänze./Wer Mozart ist, das weiß ein jeder,/Doch niemand kennt den Schikaneder!/Man merkt sich nur die Komponisten,/Kein Mensch gedenkt der Librettisten!/Der Komponist genießt die Huld/Wenn’s durchfällt, sind die Dichter schuld/So war’s schon anno Offen- bach,/Die Nachwelt macht es einfach nach./Dabei wär’n selbst die größten Komponi- sten/Von Gott verlassen ohne Librettisten!17 Die hier angeführte Wort-Ton-Problematik geht offenbar auf die seit dem 17. Jahr- hundert in schwelenden Debatten zur Programmatik der Oper gestellte Frage nach dem Vorrang von Musik oder Text und der daraus resultierenden ästhetischen Bewer- tung der Gattung zurück.18 Dennoch geht es in Oper wie Operette weniger um das Verhältnis der Bedeutungsebenen von Text und Musik, sondern vielmehr um das Ver- hältnis zwischen den Produzenten selbst. Die Operettenherstellung entwickelt sich überwiegend aus marktorientierten Produktionsmechanismen, die sie schon bald zu einem florierenden Zweig der zeitgenössischen Unterhaltungsindustrie machen, in der erfolgreiche Librettisten Operettentexte am ›Fließband produzieren‹ und sich ›ihre‹ Komponisten mehr oder weniger aussuchen können.19 Die Forschung spricht dabei von einer regelrechten »Operettenindustrie«20 oder gar vom »Warenhaus Operette.«21 Die quasi industrielle Herstellung einer Operette beruht auf Arbeitsteilung und Zu- sammenarbeit meist mehre rer Librettisten und eines (selten auch mehrerer) Komponi- sten, die Dialogtext, Gesangstext und Musik in einem dynamischen Prozeß des ›work in progress‹ zusammenfügen. Dieses »Prinzip der literarischen Partnerschaft«22 führt dazu, daß »alle Gesetze von einheitlicher Konzeption und einheitlicher Ausführung«23 außer Kraft gesetzt und somit solche Gemeinschaftswerke »eher Spiegel sozialer Ver- hältnisse als Ausdruck künstlerischer Individualität«24 sind. In jedem Fall entsteht aus der Zusammenarbeit ein Zeichengebilde, das aus sich heraus verständlich ist. Eine detaillierte Untersuchung zur kompositorischen Arbeitsweise von Johann Strauß Sohn25 weist beispielsweise nach, daß in den Partituren seiner Werke zahlreiche

17 Zit. nach Frey, Unter Tränen lachen, S. 178. 18 S. Gier, Das Libretto, S. 45 ff. 19 S. Herz, Die Librettisten der Wiener Operette, o. S. 20 Lichtfuß, S. 40–64, 70–83, hier S. 47. 21 Frey, Franz Lehár, S. 45/61. Scheit erläutert ausführlich die Produktionsweise der ›Musikfabrik Strauß‹. 22 Lichtfuß, S. 54. 23 Arntzen, »Vom Lustspiel zum Singspiel«, S. 114. 24 Gier, »Die Musik im Kopf«, S. 15. 25 Linke, Es mußte einem was einfallen. 8 Prolegomena

Eintragungen von Richard Genée enthalten sind, wenn dieser dort auch als Libret- tist verantwortlich zeichnet. Zusammengefaßt läßt sich die Zusammenarbeit zwischen Strauß und Genée deswegen folgendermaßen beschreiben: Strauß lieferte Melodien an Genée, die dieser zu einem ›Teamwork-Particell‹ ausarbeitete, das von Strauß wiederum korrigiert und ergänzt wurde. Dieses Particell wurde von Genée weiter ausgearbeitet, dramaturgisch zubereitet, um eigene Melodievorschläge erweitert, textiert und in den Streichern instrumentiert. Danach brachte Strauß wiederum Korrektu- ren an und registrierte die Bläser. Genée vervollständigte dann die Instrumentation, Strauß übernahm die Schlußredaktion.26 Genée und Zell nannte man deshalb nicht zu Unrecht die »Librettofabrik für die Musikfabrik.«27 Ähnlich intensive Zusammenarbeit zwischen Textdichtern und Kom- ponisten fi ndet sich später sowohl bei Leo Fall, der zu Beginn seiner Operettenlauf- bahn mehr an den musikalischen Aufbau als an eine dramaturgische Verarbeitung des Textes dachte und daher auf die Führung seiner Librettisten angewiesen war28, als auch bei Emmerich Kálmán und seinen Librettisten Julius Brammer und Alfred Grünwald.29 Das wohl markanteste Beispiel einer »synthetischen Produktion«30 stellt aber unzwei- felhaft die Operette Im weißen Rössl dar. Ihr Libretto hat drei Autoren: Hans Müller-Ei- nigen, Erik Charell und Robert Gilbert, der die Gesangstexte schrieb und an der Mu- sik sind nicht weniger als sechs Komponisten beteiligt: Ralph Benatzky, Robert Stolz, Bruno Granichstaedten, Robert Gilbert, Hans Frankowski und der nicht genannte Eduard Künneke, der für Orchestrierung und Arrangements der Chöre zuständig war.31 Dennoch gilt sie als Hauptwerk Ralph Benatzkys und fi rmiert auch nur unter dessen Namen. Umgekehrt gilt allerdings auch der Einfl uß von Komponisten auf die Arbeitsweise der Librettisten als nicht unerheblich bei der Erstellung eines Textbu- ches.32 Innerhalb der Produktionsmechanismen sind Librettisten wie Komponisten also in gleichem Maße für die Herstellung einer Operette verantwortlich, so daß eine Trennung der Kompetenzen bezüglich Text und Musik höchst problematisch ist:

Im Zuge der gemeinsamen Arbeit entstandene Varianten, Korrekturvorschläge des Kom- ponisten etc. sind in ihrer Bedeutung mit Entwürfen zu vergleichen, die verschiedene Pha- sen der Entstehung eines Schauspieltextes dokumentieren. Über den biographisch-anek- dotischen Aspekt hinaus ist die Partnerschaft von Librettist und Komponist ein auch in psychologischer Hinsicht interessanter Sonderfall künstlerischer Kreativität. 33

In der Ausführung dieser Arbeit wird nun der Versuch unternommen, anhand ausge- wählter Operettenlibretti gattungssystematisierende Definitionselemente, d. h. eine Reihe konstanter formaler Eigenschaften wie auch inhaltlicher Strukturen in ihrer Komplexität herauszuarbeiten und zu kategorisieren. Diese sollten den angesichts der

26 Didion, S. 91. S. außerdem dazu Panagl, Die Fledermaus, S. 96–100. 27 Roser, Franz von Suppé, S. 146. 28 S. Frey, Leo Fall, S. 47. 29 S. Clarke, Im Himmel, S. 106–116, Frey, Unter Tränen lachen, S. 173–178. 30 Arntzen, »Vom Lustspiel zum Singspiel«, S. 114. 31 Zur ursprünglichen Fassung und zum Herstellungsprozeß s. Arntzen, »Vom Lustspiel zum Sing- spiel«, S. 111 ff., Hennenberg, Ralph Benatzky, S. 105–127 und Clarke, »Zurück in die Zukunft«, S. 113 ff. 32 S. bzgl. Offenbach: Kracauer, S. 164; Stegemann, S. 19. 33 Gier, Das Libretto, S. 36. Methodik 9

Veränderungen der Gattung in ihrer rund 80-jährigen Wirkungsgeschichte unter- schiedlichen Erscheinungsformen des bis heute umstrittenen Genres gerecht werden und ihnen zugleich die Möglichkeit der Abgrenzung von Nachbargattungen geben. Um das Operettenlibretto mit Hilfe der ihm eigentümlichen Wesenselemente an ei- nem bestimmten gattungssystematischen Ort zu positionieren, ohne jedoch dabei ei- nen vermeintlich repräsentativen Idealtypus der Gattung zu schaffen, ist es substantiell nötig, ideologisch, ästhetisch und gattungshistorisch frei von allem Normativen zu ar- beiten sowie Zusammenhänge und Wechselwirkungen von Gattungsmerkmalen be- wußt zu machen. Die Operette kann aufgrund der Fülle ihres Materials niemals in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Andererseits ist es in der Tat wenig sinnvoll, Operettentexte isoliert zu betrachten, denn ohne Zweifel ist eine angemessene Untersuchung der Gattung nur möglich, »wenn die Werke als theatralische Ereignisse begriffen werden, die erst aus dem Zusammenspiel von notierter Musik, formuliertem Text, choreographierter Bewegung, zeitspezifi schen Bühnenkonventionen, Ausstattung sowie individueller In- terpretation durch die vorhandenen Darsteller entstehen.«34 Es versteht sich von selbst, daß angesichts der ungeheuren Materialgrundlage eine Auswahl an bibliographischen Referenzen getroffen werden muß, die dennoch groß genug ist, um mögliche Klassifi - zierungen zu begründen. Die Auswahl der Primärliteratur, die zur konkreten Illustra- tion von Strukturtypen dient, erstreckt sich deshalb auf einen Textkorpus von ca. 80 Operettenlibretti, deren Textgrundlagen (Regie- bzw. Souffl ierbücher und Klavieraus- züge) den Materialien bzw. Ausgaben der einschlägigen Bühnen- und Theaterverlage entsprechen. Dabei wurde darauf geachtet, daß möglichst viele Werke nicht dem gän- gigen Aufführungskanon angehören, um eine gewisse Repräsentativität zu erreichen. Die Analysen von Einzellibretti haben exemplarischen Charakter. Die Beziehungen der Gattung zur lebendigen Wirklichkeit des Theaters muß ausgeklammert bleiben, ebenso wie ein Überblick über die Gattungsgeschichte nicht beabsichtigt ist und im gesteckten Rahmen auch nicht möglich gewesen wäre.

Methodik

Vorderhand befinden wir uns auf der Suche nach einem textorientierten Systematisie- rungsverfahren, aus dem sich Rückschlüsse auf konstante Strukturen und Definitions- elemente der Gattung ziehen lassen. Es stellt sich also die Frage, mit welchen methodi- schen Mitteln und unter welchen Voraussetzungen das Wesen des deutschsprachigen Operettenlibrettos unter literaturwissenschaftlichen/librettologischen Aspekten ad- äquat zu erfassen ist. Zu bedenken gilt es, daß der zu definierende dramaturgische Bau- plan keinesfalls den Anspruch auf Allgemeingültigkeit besitzt, sondern die folgenden Bausteine gewissermaßen als Säulen zu verstehen sind, deren infinite und unfeste Spielräume stets mit anderweitigen Strukturen variabel ausgefüllt werden können. Der epistemologisch-diachrone Gattungsbegriff35 erscheint weder allein durch den diachronen noch den synchronen Aspekt in einem bestimmten Gattungssystem aus-

34 Linhardt, »Ausgangspunkt Wien«, S. 170. 35 Hempfer, S. 122–127 und 192 ff. 10 Prolegomena gebildet, sondern ist nur anhand der Gattungsgeschichte insgesamt zu beschreiben. Einzelne Komponenten eines Genres unterliegen dabei einer Hierarchie und sind unterschiedlich stark ausgeprägt, so daß diskursive Kategorisierungskonventionen sy- stematisch immer nur über Einzelkompetenzen der Komponenten beschreibbar sind. Historische Entwicklungen innerhalb eines spezifi schen literarischen Diskurses werden »einerseits durch normbildende Werke (Prototypen) bestimmt und sind andererseits geprägt durch die wechselseitige Komplementarität von Gattungserwartungen und Werkantworten.«36 Die Darstellung einer Gattungspoetik ist konsequenterweise beim Einzelwerk anzusetzen, das als Bestandteil einer Reihe aufzufassen ist, deren Glieder sich wegen ihres »inkompatiblen« bzw. »äquivalenten« Charakters sowohl auf verschie- dene Zeiträume und Orte in der näheren oder weiteren Vergangenheit beziehen als auch zukünftige Glieder präjudizieren können.37 Darüber hinaus wäre die Reihe »als sich diachron entwickelndes System in Beziehung zu setzen zum synchronen System der literarischen Gattungen einer Epoche und zu den ebenfalls als System aufgefaßten soziokulturellen Rahmenbedingungen.«38 In diesem Zusammenhang müßten über die Komponentenanalyse von Einzellibretti gattungssystematisierende Defi nitionselemen- te ermittelt werden können, die in verschiedene Referenzsysteme eingebunden sind, auf distinktive und deskriptive Strukturelemente verweisen (im durchaus konstruk- tivistischen Sinne gemeint) und in einem Traditions- und Wirkungszusammenhang zu Merkmalskomplexionen anderer zeitgenössischer komischer musikoliterarischer Gattungen stehen. Das neu zu formulierende entwicklungs- und gattungsgeschichtliche Systematisie- rungsverfahren der musikoliterarischen Kategorie Operette wäre daher am geeignet- sten in Anlehnung an die diskursive Differenzanalyse Michel Foucaults zu beschrei- ben, in der anstelle von historischen Kontinuitätenbeschreibungen die Differenz als grundlegende Kategorie der Sachverhalte eingeführt wird. Um sich der tektonischen Aufteilung des Operettenlibrettos zu nähern, soll darüber hinaus auf das transforma- tionsgrammatische Modell des Linguisten Noam Chomsky zurückgegriffen werden. Anhand übergeordneter, allgemeiner Grundmuster können auf diese Weise erste kon- stitutive gattungssystematische Bausteine in der Tiefenstruktur herausgearbeitet wer- den, die dank des Metacharakters des Librettos unter den Gesichtspunkten der formal-

36 Gier, »Schreibweise«, S. 50. Obwohl »es durchaus nicht immer die literarisch bedeutendsten Werke [sind], die den Status von Gattungsvorbildern erhalten, [weil] der künstlerische Rang [wichtiger ist als] die Eignung zur Nachahmung« (Suerbaum, »Text und Gattung«, S. 92), setzt in der Zeit der klassischen Operette der Stil und die Musik-Dramaturgie der Fledermaus zweifel- los erfolgsgarantierende Maßstäbe. Im Hinblick auf die moderne deutschsprachige Operette des 20. Jahrhunderts entwickelt sich die Die Lustige Witwe auf inhaltlicher und (musik-)dra- maturgischer Ebene zu einer ebenfalls erfolgsversprechenden »systemprägenden Dominante« (Juri Tynjanow, zit. nach Köhler, S. 10): »Der gigantische Erfolg dieses Stückes, das den jungen Lehár mit einem Ruck zur Spitze hinaufschnellte, beeinfl ußte das Genre. […] Sein Libretto diente von da an, versteckt oder offen, als Vorbild für die meisten Erzeugnisse.« (Bernauer, S. 217). Maßgeblich läßt sich apriorisch also kein Kriterium dafür angeben, »warum bestimmte [Werke] als besonders ›reine‹, vorbildliche Repräsentanten einer bestimmten Gattung anzu- sehen sind« (Hempfer, S. 133/134), zumal durch Kanonbildung stets Minderheitenliteraturen ausgegrenzt werden. 37 S. Foucault, S. 96. 38 Gier, »Schreibweise«, S. 51. Vgl. dazu Warning, »Pragmasemiotik«, S. 320. Methodik 11 dramaturgischen sowie inhaltlichen Dispositionen und Konstanten des Operettenli- brettos weiter konkretisiert werden können. Gattungen bewegen sich in ihrer Funktion innerhalb des theoretischen als auch praktischen Diskurses vielfach in Feldern, die eigentlich von anderen Diskursen be- setzt sind.39 Literarische Formen können somit entweder ihre Konstanz bewahren, sich weiter ausbilden oder aber auch ein Ende fi nden. Eine synchrone Gattungssy- stematik der deutschsprachigen Operette wäre also nicht nur innerhalb eines literar- historischen Kontinuums darzustellen, sondern es müßten sich über die Differenzen der einzelnen Werke erwartungsgemäß mehrere zeitlich diskontinuierlich verlaufende Spielarten innerhalb der Wirkungsgeschichte der Operette herausarbeiten lassen. In der Oberfl ächenstruktur wären in dieser Hinsicht die distinktiven Merkmale der ein- zelnen Werke zu fi gurieren, die sich als konkrete Wiedergabe durch vielfältige Trans- formationen beobachten lassen und unterschiedliche positionierte Spielarten und Va- rianten konkretisieren und kategorisieren. Folgerichtig gilt es, eine quasi-synchrone Gattungssystematik in diachroner Abfolge zu entwickeln, in der nicht nur einzelne Merkmalskomplexionen, sondern auch die sie verbindenden Kontinuitäten zu an- deren Texttypen berücksichtigt werden. Die Ermittlung von gattungssystematischen, formal und inhaltlich konstanten Defi nitionselementen auf der Grundlage tiefenstruk- tureller Untersuchungen ist deshalb vorrangig und füllt den ersten Teil der Arbeit aus. Ziel des zweiten Teils ist es, anhand von exemplarischen Einzelanalysen den Nachweis der Konstanz zu erbringen und die Tragfähigkeit der herausgearbeiteten Merkmale auf diachroner Ebene zu überprüfen.

39 S. Foucault, S. 99. 13

I. Das deutschsprachige Operettenlibretto – Elemente einer Defi nition

1. Der Operettenbegriff

Aus den vielfältigsten und komplexesten kulturellen, sozial- und rezeptionsgeschichtli- chen, musik- und literaturhistorischen, biologischen und gesellschaftlichen Verände- rungen erklärt sich der Bedeutungswandel des Begriffs »Operette«, der als Terminus zunächst lediglich ein Kunstbegriff der Verleger ist. Im Laufe des 17. Jahrhunderts ent- wickelt sich der deutsche Ausdruck zu einem Gattungsbegriff für Bühnenwerke, wo- bei er primär als literarischer Teil derselben verstanden wird. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts findet sich die Bezeichnung dann im musikalischen Kontext als Di- minutiv im Sinne eines kleinen Singspiels respektive als kleine Oper gebraucht. Seit dem 18. Jahrhundert erweitert sich die Begriffsnutzung summarisch auf unterschied- liche Arten des musikalischen Theaters mit gesprochenem Dialog. Gewinnt das Merkmal »Komik« Ende des 18. Jahrhunderts für die Bestimmung der Operette zunehmend an Bedeutung, dehnt sich der Begriff demgemäß auf Werke des komischen Musiktheaters aus. Der Begriff wird gleichbedeutend auf das deutsche Singspiel und die deutsche Spieloper übertragen. Gerade auch zur Unterscheidung zwischen deutschen und italienischen oder französischen Opern spielt die Verwen- dung des Begriffs »Operette« eine nicht unbedeutende Rolle. Bereits 1782 verwendet Wolfgang Amadeus Mozart den Begriff »Operette« als Gattungsbezeichnung für seine Oper Die Entführung aus dem Serail (nach Christoph Friedrich Bretzner/Gottlieb Ste- phanie). Die Diminutivform grenzt sie als musikalisches Bühnenwerk sowohl von der zeitlich-räumlichen Konzeption als auch von der musikalischen Gestaltung der weit- verbreiteten Opera seria ab. August Wilhelm Schlegel defi niert 1817 die Operette ge- genüber den international verbreiteten italienischen und französischen Grand Opéras als nationale Gattung, was sich sowohl auf Sprache als auf Lokalkolorit und Komik bezieht.

Bei bescheidneren Ansprüchen befriedigt die komische Oper oder Operette die für sie gültigen Kunstforderungen besser. Schon in Absicht auf die Komposition, weil diese hier mehr als einen bloß nationalen Ton anstimmen darf und soll. 1

1840 setzt sich auch Richard Wagner mit dem Operettenbegriff auseinander: Dieses deutsche Singspiel, oder Operette, hat eine unverkennbare Ähnlichkeit mit der älte- ren französischen Opéra comique. […] In Wien, wo alle Volksstücke ihren Ursprung hat- ten, gedieh dann auch das volkstümliche Singspiel am besten, […] hatte es schon eine ge- wisse selbständige Höhe erreicht, und man sieht mit Verwunderung, daß zu derselben Zeit,

1 Zit. nach Spohr »Inwieweit«, S. 50. 14 1. Der Operettenbegriff

wo Mozarts italienische Opern sogleich nach ihrem Erscheinen in das Deutsche übersetzt und dem gesamten vaterländischen Publikum vorgelegt wurden, auch jene Operette eine immer üppigere Form annahm, indem sie Volkssagen und Zaubermärchen zu Sujets nahm. 2 Noch bis mindestens 1850 versteht man unter einer Operette eine »einaktige Oper, im weiteren Sinne auch mehraktige Oper mit gesprochenen Dialogen und geringem personellen und technischen Aufwand, und im noch weiteren Sinne eine deutschspra- chige Oper.«3 Ausgehend von den Werken Offenbachs verfestigt sich der Wortgebrauch »Operet- te« nach 1855 im Kontext der Entwicklung des komischen Musiktheaters als Bezeich- nung für eine eigenständige Gattung, die »durch ein kompliziertes Zusammenwirken verschiede ner Theatertraditionen im gesellschaftlichen Umbruch«4 und aus der »Infra- gestellung aller Gattungskonventionen«5 neu entstanden ist. Allmählich beginnt der Begriff durchweg unterschiedslos auch abendfüllende Stücke mit großem Personal und Orchester zu beschreiben. Für die erste Johann Strauß Operette, Indigo und die vierzig Räuber (Maximilian Steiner, 1871), fi ndet der Musikkritiker Eduard Hanslick zum ersten Mal eine Art Defi nition des Operettenbegriffs: »Strauß’sche Tanzmusik mit unterlegten Worten und verteilten Rollen.«6 Im selben Sinn beurteilt Hanslick auch die beiden folgenden Operetten Carneval in Rom (Joseph Braun/Richard Genée, 1873) und Die Fledermaus (Carl Haffner/Richard Genée, 1874): »Voll hübscher Einfälle, tra- gen aber trotzdem beide Opern den Charakter von großen Potpourri’s aus Walzer und Polkamotiven.«7 Nicht zufällig spricht Hanslick weiterhin von ›Opern‹, war das neue Genre zu der Zeit als solches eben noch gar nicht erkennbar, zumal die Gattung in den fünf europäischen Kulturzentren Paris, Wien, Berlin, London und Budapest völlig un- terschiedliche, weil von der gesellschaftshistorischen Konstellation beeinfl ußte und abhängige Entwicklungen durchläuft. Wann genau sich der Begriff »Operette« von der (dimensional gemeinten) diminutiven Bezeichnung für »kleine Oper« zur »beiläufi gen, der Zerstreuung dienenden, nicht allzu ernst zu nehmenden Oper«8 etabliert hat, ist nicht näher belegbar. Grundsätzlich ist die Gattung als eine in Wechselwirkung mit der zeitgenössischen Realität des 19. und 20. Jahrhunderts stehende Spielart des seiner Natur nach antiillu- sionistischen »musikalischen Lachtheaters«9 zu sehen. Dieser relativ konstante Werk- typus setzt sich »über die Gattungsgrenzen von komischer Oper, Operette und Musical«10 hinweg und wird durch die Merkmale »niederer Stil«, »Dominanz der ko-

2 Zit. nach ebd., S. 49. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 31. 5 Gier, Das Libretto, S. 378. 6 Zit. nach Spohr, »Inwieweit«, S. 49. 7 Ebd. 8 Ebd. S. 50, Anm. 65. 9 Gier, Das Libretto, S. 384. Osolsobeˇ prägt 1970 den Begriff des »singenden-tanzenden-und- sprechenden Theaters (STST)«, der auf die Operette bezogen allerdings dem tradierten ästhe- tischen Diktum von der Überlegenheit der ›goldenen Ära‹ verfällt. Klotz wählt 1980 den Terminus »bürgerliches Lachtheater«, mit dem er die Operette an die volkstümliche Tradition von Posse und Lokalstück anschließt. 10 Ebd.