Nr. 23 / 1.6.2019 Deutschland € 5,30 Slowakei € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Kc € 6,80 Spanien Tschechien in Printed Slowakei 0 € 6,50 Slowenien Spanien/Kanaren € 7,00 Ft 2490,- Ungarn Germany Rezoluzzer Die neue APO: Wie die Generation YouTube die deutsche Politik aufmischt BeNeLux € 6,40 Finnland € 8,30 Griechenland € 7,30 ZL 33,– NOK 86,– Norwegen (ISSN00387452) Polen Dänemark dkr 57,95 € 6,80 Frankreich Italien € 6,80 € 6,00 Österreich (cont) € 6,8 Portugal

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Hausmitteilung Betr.: Titel, Erntehelfer, Hochstaplerin

Eigentlich wollte sich der YouTuber Rezo, nach eigenen Angaben Ende zwanzig, eine Zeit lang von den Medien fernhalten, weil ihm der Hype um sein Anti-CDU-Video zu viel wurde. Für die SPIEGEL-Titelge- schichte machte er eine Ausnahme. Redak- teur Alexander Kühn traf ihn am Mittwoch zu einem vierstündigen Gespräch in einem Aachener Hotelzimmer, da Rezo öffent- liche Cafés derzeit meidet und seine Woh- nung für Journalisten tabu ist. Auf dem Weg durch die Stadt hatte er sich mit Müt- ze und Kapuze getarnt. Am Tag darauf wurde er – zusammen mit einigen Pro - tagonisten der Titelgeschichte – für das Cover fotografiert. Seine Haare, Farbton Lagunenblau, die im Stress der vergange- nen Wochen etwas vernachlässigt wirkten,

NICK HARWART / DER SPIEGEL NICK HARWART hatte er extra nachkoloriert. In dem Titel- Rezo, Kühn komplex beschreiben zwölf SPIEGEL-Kol- leginnen und -Kollegen eine neue Protest- generation, die spätestens bei der jüngsten Europawahl ihr politisches Potenzial demonstriert hat. Die »19er«, wie Titelautor Lothar Gorris die Vertreter dieser Gruppe in Anlehnung an die »68er« nennt, haben den Klimaschutz zur Existenz- und Ge- rechtigkeitsfrage erklärt, und ihr Einfluss reicht, auch dank des Internets, weit über ihre Altersgruppe hinaus. Union und SPD wurden bei der Wahl massiv abgestraft, vor allem bei den Sozialdemokraten wankt nun die Parteichefin. Seite 12

Wie leben eigentlich unsere Bauern? Also die, die uns auch im Januar mit Erdbeeren und Tomaten versorgen? SPIEGEL-Redakteur Nils Klawitter reiste ins spanische Almería, um dieser Frage nachzugehen. Im Plastikmeer der Gewächshäuser traf er erschöpfte Arbeiter und Tagelöhner. Menschen wie die Marokkanerin Charifa Essamraoui, die in schiefer Haltung und mit ruiniertem Rücken Salat schneidet, der auch in deutschen Läden im Regal liegt. Oder den Rumänen Iulian Vaduva, der die vergangenen zwei Jahre lang mit einem kleinen Trecker Pestizide unter den Plastik- planen ausbrachte und dem nun chronisch schlecht ist. Für viele dieser Erntehelfer, so Klawitter, stehe Almería für die Hoffnung auf ein normales Leben in Europa. »Aber es ist auch der Ort, wo dieser Traum zerplatzt.« Seite 74

Es gebe da eine erfolgreiche Bloggerin, die sich eine fiktive jüdische Identität be- sorgt habe – mit dieser Information begann Redakteur Martin Doerry seine Recher- chen über die in Dublin lebende deutsche Historikerin Marie Sophie Hingst. Der Fall scheint paradox in einer Zeit, in der der Anti- semitismus überall in Europa wieder deutlich zutage tritt. Doch Hingst verschafft sich mit dieser Legende Aufmerksamkeit, die wichtigste Währung im Netz. Bei einem Treffen in Dublin in der vergangenen Woche stellte Doerry die junge Frau erstmals zur Rede. Zunächst bestritt sie entschieden, dass sie Fälschungen verbreitet hätte, später behauptete sie, ihr Blog sei nur Literatur, weit entfernt von jeder Realität. »Marie Sophie Hingst hat sich in eine Parallel- welt hineinfantasiert«, sagte Doerry nach dem

Gespräch, »zuweilen glaubt sie wohl sogar das, CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL was sie sich ausgedacht hat.« Seite 112 Doerry, Hingst

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 5 Inhalt

73.Jahrgang | Heft 23 | 1.Juni 2019

Titel Militär Ein Soldat warnte vor Rechtsextremen in der Truppe, Bewegungen Eine junge jetzt will man ihn feuern . . . . 42 Protestgeneration kämpft gegen den Klimawandel – Finanzen Dem Fiskus könnten sie erinnert an die 68er, Milliarden entgehen, weil ist aber viel wirkmächtiger 12 Steuerdaten nicht verarbeitet werden können ...... 45 Jungwähler Sechs junge Erwach- sene berichten, welche Anliegen Zeitgeschichte Abhörpro- sie in der Politik haben ...... 22 tokolle der Alliierten zeigen, wie deutsche Soldaten die Schlacht in der Normandie Deutschland vor 75 Jahren erlebten ...... 46

Leitartikel Noch hat die SPD Umwelt In Städten sollen im Konkurrenzkampf mit Kleingärtner ihre Lauben den Grünen nicht verloren . . . 8 verlieren, damit neue Wohnungen gebaut werden Meinung Der gesunde können ...... 52 Menschenverstand / So gesehen: Neue Regeln Studium Zwei Hochschulen gegen Meinungsmache . . . . . 10 bilden Mitarbeiter EMMANUELE CONTINI / IMAGO EMMANUELE CONTINI für Geheimdienste aus ...... 56 Missbrauchsopfer fordern Mil- liarden von katholischer Kirche / Die Demontage Altmaier schont Bauherren / Gesellschaft AfD-Büro in Russland ...... 24 ’ einsame Entscheidung, sich vorzeitig erneut zur SPD-Fraktionschefin wählen Früher war alles schlechter: SPD Wie hart die Bundestags- zu lassen, verstört ihre Partei. Das Manöver Tote in der Formel 1 / abgeordneten nach der Wahl- Sollten unsere Kinder mehr schlappe mit ihrer Chefin spaltet die Sozialdemokraten im . In Serien gucken? ...... 60 Andreas Nahles umgingen 28 dieser Woche kam es zur Abrechnung. Seite 28 Eine Meldung und ihre Union Schuld an der schlech- Geschichte Wie ein ten Performance von CDU- kleiner Junge aus Ohio Chefin Annegret Kramp- zum Helden wurde ...... 61 Karrenbauer ist auch ihr Team in der Parteizentrale ...... 32 Rhetorik SPIEGEL-Gespräch mit Philip Collins, ehemaliger Wahlen Porträt des Satirikers Redenschreiber von Tony Blair, Nico Semsrott, der ins EU- über die Sehnsucht nach der Parlament gewählt wurde 34 großen politischen Rede . . . . 62

CSU SPIEGEL-Gespräch mit Kolumne Leitkultur ...... 67 über die Lehren der Europawahl und die Angst der Union vor Wirtschaft Blamagen im Netz ...... 36 / KPA / PICTURE-ALLIANCE TOPFOTO Kohlekraftwerk Datteln soll Parteien Die bei der EU-Wahl Berichte aus der Hölle ans Netz gehen / UFO-Chef erfolgreichen Ostverbände Baublies macht Lufthansa der AfD fordern mehr Macht Vor 75 Jahren landeten die West-Alliierten in schwere Vorwürfe ...... 68 in der Bundespartei ...... 39 Frankreich, mit dem D-Day begann die Schlacht um Handel die Normandie. Abhörprotokolle von Gesprächen Der Zollstreit zwischen Europa Streit um Spitzenperso- den USA und China nal in der EU belastet deutsch- deutscher Soldaten in Gefangenschaft zeigen, durch eskaliert zu einem ökono - französisches Verhältnis . . . . 40 welche Hölle die Männer damals gingen. Seite 46 mischen Kalten Krieg ...... 70

6 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Landwirtschaft Auf spanischen Wissenschaft Feldern werden Migranten ausgebeutet, deutsche Ver- Wie Schimpansen neue braucher profitieren ...... 74 Techniken erfinden / 5G-Sendemasten aus Holz? / Medien Der Axel-Springer- Einwurf: Kluger Eltern- Konzern will sich von der streit tut Kindern gut ...... 100 Börse zurückziehen, mithilfe des Investors KKR ...... 77 Verkehr Mit Biogas auf hoher See – Kreuzfahrtreeder ent- Finanzindustrie Die Deutsche decken die Nachhaltigkeit 102 Bank sucht verzweifelt nach einem Befreiungsschlag . . . . 78 Luftfahrt Der erste Nonstop- Atlantikflug zweier britischer Piloten vor 100 Jahren geriet Ausland zum Höllenritt ...... 105

Damaskus und Moskau ver- Religionssoziologie Eine neue letzen im Kampf um Idlib das Großstudie erforscht den humanitäre Völkerrecht / Der Glauben der Ungläubigen 106 chilenische Außenminister X / I-IMAGES POLARIS /STUDIO ANDREW PARSONS Am puero zur Venezuelakrise 80 Astronomie Der Himmels - Der große Verführer archäologin Anna Frebel gelang Großbritannien Der Tory es, Licht ins Dunkel des jungen Boris Johnson ringt mit sich Polit-Hallodri Boris Johnson ist Favorit Universums zu bringen . . . . 108 und anderen um die Nachfolge für die Nachfolge der britischen Regierungschefin 82 von Theresa May ...... Theresa May. Mit ihm würde ein harter Brexit Kultur SPIEGEL-Gespräch mit wahr scheinlicher. Aber der Volksverführer war schon Oxford-Professor Danny immer für eine radikale Wendung gut. Seite 82 Mystery-Thriller »Burning« / Dorling über die Schuld Der Schauspieler Joachim der britischen Eliten am Meyerhoff wechselt nach Brexit-Desaster ...... 84 Berlin / Kolumne: Zur Zeit 110

Analyse Kann es der gestürzte Gleichgewicht des Schreckens Hochstapler Die Bloggerin Kanzler Sebastian Kurz Marie Sophie Hingst hat sich zurück ins Amt schaffen? . . . 87 In den USA ist von einem neuen Kalten Krieg eine jüdische Familiengeschich- die Rede: Seitdem Präsident Trump den te erfunden – inklusive falscher USA Die Demokraten streiten, Technologie riesen Huawei von Teilen des US-Marktes Opferdokumente, die sie ob ein Amtsenthebungsverfah- in Yad Vashem einreichte 112 ren gegen Trump ihnen helfen ausgeschlossen hat, eskaliert der Kampf der oder schaden würde ...... 88 Wirtschaftsmächte Washington und Peking. Seite 70 Literatur Düsterer Roman des russischen Schriftstellers Emanzipation Warum Hunderte Jewgeni Wodolaskin über das arabische Frauen jedes sowjetische Jahrhundert . . . 116 Jahr vor ihrer Familie aus den Golfstaaten fliehen ...... 90 Ausstellungen Eine umfassende Schau widmet sich der neuen Welt der Drohnen 118 Sport Kunstmarkt Johann König Ansturm auf den Mount ist fast blind – und einer Everest / Magische Momente: der erfolgreichsten deutschen Trainer Ljubomir Vranjes über Galeristen ...... 120 ein perfektes Handballspiel 93 Filmkritik Die französische Sommerspiele Olympia-Gast - HENDEL / DER SPIEGEL C. ILJA Gesellschaftskomödie geber Tokio leidet unter »Zwischen den Zeilen« . . . . 123 der Explosion der Kosten . . . 94 Auf Ökokurs

Fußball SPIEGEL-Gespräch Kreuzfahrtreedereien wollen sich vom Stigma Bestseller ...... 122 mit Bayern-München-Vorstand des Umweltschädlings befreien, helfen sollen Impressum, Leserservice . . . 124 Nachrufe 125 Karl-Heinz Rummenigge über Hybridantriebe und Biogas als klimafreundlicher ...... den Umgang mit Trainer Personalien ...... 126 Niko Kovač und die Zukunft Kraftstoff. Doch die Technik ist sehr Briefe ...... 128 der Bundesliga ...... 96 teuer – und noch lange nicht ausgereift. Seite 102 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelfoto: Nick Harwart für den SPIEGEL; von links: Simon Sumbert, Josy Zülke, YouTuber Rezo, YouTuberin Mirella, Sophie Thomas 7 Das deutsche Nachrichten-Magazin

Klimawandel

Leitartikel Sind die Grünen die neue SPD?

s gehört zum Drama der SPD, dass sie nicht aus ih - Insofern ist der Erfolg der Grünen verdient. Sie sind ren Fehlern lernt. Der Aufstieg der Grünen Anfang die einzige Partei, die beim Thema Klimaschutz nicht E der Achtzigerjahre ist nicht denkbar ohne einen gewackelt hat, sie waren konsequent proeuropäisch, sie Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Glaube an zeigten eine Geschlossenheit, die man so zuletzt vor Jahr- die abschreckende Wirkung von nuklearen Sprengköpfen zehnten in der Hessen-CDU bewundern durfte. Wird der nur noch übertroffen wurde von der Zuversicht, dass Atom- Erfolg andauern? Es ist noch nicht ausgemacht, ob die kraftwerke der Republik eine blühende Zukunft bescheren. Republik auf die Geburt einer neuen linken Volkspartei Wer sich vor strahlendem Müll oder Havarien fürchtete, blickt – oder auf das Entstehen einer politischen Spekula - dem sagte Schmidt einmal: Nichts im Leben sei ohne Risiko, tionsblase. Im Bund sitzen die Grünen seit mehr als 13 Jah- »nicht einmal die Liebe«. Schmidt hat viele Verdienste, aber ren in der Opposition. Das erlaubt ihnen, jede Fantasie zu mit seiner beeindruckenden Ignoranz für die Gefahren der bedienen. Wer sein Umweltgewissen nach einem Flug auf Umweltzerstörung verprellte die Seychellen erleichtern er eine ganze Generation will, wählt die Partei genau- und wurde, wenn auch un- so wie Klimaaktivisten, die freiwillig, zum Gründungs- in jedem Rinderfilet ein Ver- vater der Ökopartei. Das gehen an künftigen Genera- Jahr 1983 markierte die erste tionen sehen. Sie alle finden große Zäsur in der Geschich- bei den Grünen gerade eine te der deutschen Parteien- Heimat. landschaft, damals zogen die Die einen blicken auf Grünen in den Bundestag den grünen Ministerpräsi- ein. Die Europawahl des Jah- denten Winfried Kretsch- res 2019 ist wieder ein Wen- mann, der die SUV-Produ- depunkt: Erstmals haben die zenten Daimler und Por- Grünen in einer bundeswei- sche im Südwesten hegt und ten Wahl die SPD überholt. pflegt wie einen Kräuter- Der Niedergang der SPD garten. Die anderen halten hat viele Gründe: Da wäre sich an dem Satz von Partei- Gerhard Schröder, der im chef Robert Habeck fest,

Frühsommer 2005 die Ner- / GETTY IMAGES BERRY ADAM wonach »radikal das neue ven verlor und Neuwahlen Grünenpolitiker nach der Europawahl Realistisch« sei. ankündigte, sodass seine Die SPD wird zerrieben Nachfolgerin von ihren inneren Wider- die Früchte seiner Reformen ernten konnte. Da wäre die sprüchen. Den Grünen steht der Tag der Wahrheit noch pathologische Neigung, die eigene Führung zu diskredi - bevor. In der Vergangenheit waren ihre Wähler durchaus tieren, was sich gerade wieder am Umgang mit Andrea nachsichtig, wenn es darum ging, das Wahlprogramm an Nahles zeigt. Vor allem aber wird die SPD aufgerieben die Realität anzupassen. Die Grünen gründeten sich als zwischen einer AfD, die von der Angst vor Überfremdung Partei des Pazifismus und schickten dann unter Gerhard profitiert, und den Grünen, die zur neuen Heimat des städ- Schröder die ersten Bundeswehrsoldaten in den Krieg. tischen, aufgeklärten Publikums geworden sind. In Hessen gaben sie – Klimawandel hin oder her – ihren Natürlich ist es nicht mehr so einfach wie in den Zeiten Widerstand gegen den Bau eines dritten Terminals am Willy Brandts, den Bogen vom Kohlekumpel in Duisburg Frankfurter Flughafen auf. bis zum Oberstudienrat in Freiburg zu spannen – schon Nun aber profitieren sie von einer Bewegung, die ihre allein weil der Kumpel von damals heute Päckchen für Kraft aus der Dringlichkeit des Anliegens zieht. Wer darf Amazon ausfährt, während der Freiburger Oberstudienrat noch Kompromisse machen, wenn das Haus schon in Flam- nun die Grünen als intellektueller erscheinende Alternative men steht, wie Greta Thunberg meint? Die Grünenspitze hat. Die Fragmentierung der Gesellschaft setzt beiden wird sich nicht mehr damit herausreden können, dass eine Volksparteien zu. Aber die SPD hat ein morbides Talent, kleine Partei eben nur ein Korrektiv sei. Manche glauben in schweren Zeiten auch die wenigen Chancen zu verspie- bereits, die Grünen könnten den nächsten Kanzler oder die len, die sich ihr bieten. Zu Beginn der Legislatur periode nächste Kanzlerin stellen. Aber sie wären nicht die Ersten, besetzte sie das Umweltressort mit Svenja Schulze. Kaum die zum Opfer jener Erwartungen werden, die sie selbst im Amt, wurde die Ministerin zur tragischen Figur, weil sie geweckt haben. René Pfister gegen Wände lief, die ihre eigene Partei mit errichtet hatte. Twitter: @rene_pfister

8 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 kfw.de

Mehr zum nachhaltigen Engagement der KfW: kfw.de/stories/plastik Weiterdenker bekämpfen künstliche Feinde: Tüten, Becher, Folien.

Die KfW fördert nachhaltige Projekte zur Reduzierung von Plastikmüll. Durch die Finanzierung von Meeresschutzzonen und innovativem Abfallmanagement leistet die KfW einen wichtigen Beitrag gegen die Verschmutzung der Meere. Schließlich bieten sie Nahrung für zwei Milliarden Menschen und sind von elementarer Bedeutung für unser Klima und die Artenvielfalt. Plastik gefährdet dieses sensible Ökosystem – und damit uns alle. Als nachhaltige und moderne Förderbank unterstützt die KfW Weiterdenker, die zukunsweisende Lösungen zur Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung in die Tat umsetzen. Weitere Informationen unter kfw.de/stories/plastik So gesehen Meinung LOL @AKK

Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand Wie die CDU das Internet Dalai Habeck regeln möchte G Zur Vermeidung allgemeiner Kom- munikationskatastrophen (AKK) Nach dem guten Abschnei- Selbst Rosamunde Pilcher wäre bei sol- und zur Wiederherstellung langfristi- den der Grünen bei der chen Sätzen übel geworden. ger Loyalität (LOL) zur Parteivorsit- Europawahl haben die Verliebt zu sein ist ein wunderbares zenden ergehen folgende klarstellen- Robert-Habeck-Festspiele Gefühl, ich gönne es jedem. Idealer- de Weisungen an alle Gliederungen im deutschen Journalis- weise sollte man Berufliches und Priva- der Christlich Demokratischen Union mus einen neuen Höhe- tes aber trennen. Jedenfalls müssen Deutschlands (CDU) bezüglich punkt erreicht. »Was ist dieser Journalisten nicht gleich hinaustrompe- der Regulierung von Meinungsäuße- Habeck-Faktor?«, fragte verzückt die ten, wenn sie sich verknallt haben. rungen im Internet vor Wahlen, ja »Süddeutsche«. »Ist der nächste Kanz- Geht es um die Grünen, ist nicht nur oder nein: ler ein Grüner?«, die »WAZ«. Der eine Verkitschung, sondern auch eine 1. Die CDU ist für die Meinungs- »Stern« machte seinen Traum vom Infantilisierung der Berichterstattung freiheit, allerdings sind nicht alle »Kanzler Habeck« gar zum Titel und zu beobachten. Zum Beispiel wenn die Meinungen gleich wertvoll. Unsere bereicherte die Debatte um neue Argu- Kollegen von »Bild am Sonntag« eine in den Gremien abgestimmte For - mente (»trennt den Müll, grüßt im Nachrichtenfassung eines Habeck- derung hierzu lautet daher: Internet- Treppenhaus«). Habeck wird in deut- Interviews (mit Sperrfrist) verschicken, meinungen hierarchisch ordnen schen Medien inzwischen alles zuge- in der, ohne Quatsch jetzt, folgende (IMHO)! traut. Geht es so weiter, wird er bald Überschriften stehen: »Grünen-Chef als US-Präsident ins Spiel gebracht. Habeck muss seit der Geburt seiner Oder wenigstens als Dalai-Lama. Kinder bei kitschigen Filmen weinen«. Schon vor der Europawahl konnten Und: »Für das Styling seiner Frisur die Grünen nicht über einen Mangel braucht er ›zwei Sekunden‹«. an Zuneigung klagen. »Er strahlt eine Die Grünen haben bei der Europa- stabile Kuhwärme aus«, lobte die wahl 20,5 Prozent geholt, sie sind nun »Süddeutsche« Habeck. Von einem zweitstärkste Kraft. Sie haben sich eine »grünen Traumpaar« an der Spitze erwachsene Berichterstattung redlich schwärmte die »taz«. Der »Stern« wur- verdient: einen Journalismus, der Fra- de konkreter: »Als gen an ihre Inhalte hat, gern auch kriti- sich zum Paartanz mit Robert Habeck sche – und nicht zu ihrer Frisur oder 2. IMHO wird durchgeführt entschied, war das wie ein Trommel- ihrem Grußverhalten im Treppenhaus. von neu zu gründenden subnationa- wirbel, so unkonventionell, so uner- len Anstalten für Überwachung schrocken und entschlossen, dass viele An dieser Stelle schreiben Jan Fleisch hauer und (SNAFU). Vornehmlich sollen hier spürten: Da fängt etwas Neues an.« Markus Feldenkirchen im Wechsel. junge Menschen Anstellung finden, denn, so unsere zweite Forderung: Wir wollen ihre werthaltige Teilhabe fördern (WTF)! 3. Aus rechtlichen Gründen ist stets darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Umsetzung von IMHO und SNAFU mangels Kompatibilität mit dem Grundgesetz um eine »Rege- lung ohne festen Legalitätsbezug« (ROFL) handelt. 4. Studien belegen, dass junge Leute im Internet besonders gut mit Abkürzungen zu erreichen sind. Zur flächendeckenden Verbreitung unserer Haltung in der jungen Generation schreiben (»posten«) alle Gliederungen der CDU unver- züglich auf allen verfügbaren Kanä- len folgende internetaffine Botschaft: »CDU: IMHO SNAFU! Junge Leute WTF! ROFL LOL @AKK«. 5. Bitte vergessen Sie nicht, das Internet nach Benutzung ordnungs- gemäß abzuschalten. Stefan Kuzmany

10 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019

12 Dutschke aufVietnam-DemoinBerlin1968 (3. v. r.) aufKlima-DemoinBerlin2019, Studentenführer Jugendrevolten

STEFAN BONESS / IPON Aktivisten Thunberg (M.), Neubauer Neubauer Aktivisten Thunberg(M.), Kinder derApokalypse i i 8rwle i rtsirne e aiae adl–unddas Wie die68erwollen dieProtestierenden denradikalen Wandel – Bewegungen lautstarke Generation machtdasKlimazur neuensozialen Frage. Netz machtsiewirkmächtiger alsihre Vorgänger. Die Europawahl war nurderAnfang:Einejunge, politische, Titel s gibt ein Foto, das Ende März Koch verglich die Klima-Demos mit dem bei einer »Fridays for Future«-De- Einzug Jesu in Jerusalem, Greta in der Rol- E monstration in Berlin aufgenom- le von Jesus Christus. Andere feiern sie men wurde. Zu sehen sind junge als eine neue Jeanne d’Arc, stark in ihrer Leute, auffallend mehr Mädchen als Jungs, Schwäche, weise in ihrer Naivität. die Münder sind weit geöffnet, sie schreien Demonstrationen können Spaß machen, Slogans, ein paar von ihnen haben noch sie können Feste der Ekstase sein, manch- Zahnspangen. Ein Mädchen hat, so wirkt mal auch Exzesse der Gewalt, aber dieses es zumindest, voller Inbrunst die Augen Bild zeigt keine Fröhlichkeit, keine Lust geschlossen. Vor sich her tragen sie ein an der Rebellion oder der Gewalt, sondern Spruchband: »Our house is on fire.« Unser eher einen Moment der Verzweiflung, der Haus brennt. Angst und Ohnmacht, der existenziellen Nur eine der Demonstrantinnen scheint Bedrohung: Diese Welt muss gerettet wer- nicht so richtig dazuzugehören, sie ist klei- den, unbedingt und absolut und sofort. ner als alle anderen. Sie bildet das Zen- 25000 Menschen nahmen im März an trum des Bildes. Wie sie da so steht, mit- dieser Demonstration teil, es war ein tendrin und doch allein, erinnert es ein we- machtvoller Auftritt, aber herrje, es waren nig an Leonardo da Vincis Gemälde »Das ja nur Kinder. Jetzt jedoch, nach diesem Abendmahl«. Ihr Blick ist abgewandt, ihr europäischen Wahlsonntag, wirkt dieses Mund geschlossen, das Haar zu Zöpfen ge- Foto anders – als Prophezeiung und Mani - flochten. Es ist Greta Thunberg mit ihrem festation einer neuer Protestbewegung, die Greta-Thunberg-Gesicht, erhaben und ent- mit großer Wucht und Schnelligkeit das rückt und fremdelnd und auch ein wenig Parteiensystem durcheinanderwirbelt und spöttisch in ihrer heiligen Ernsthaftigkeit: deren Radikalität größere Antworten for- Das hier, sagt dieses Gesicht, ist nur der dert als irgendeine CO²-Steuer oder ein Anfang, und besser ist, ihr glaubt mir. mühsam in der Großen Koalition beschlos- Es kann einem viel einfallen zu Greta senes Klimaschutzgesetz. Thunberg. Der Berliner Erzbischof Heiner This house is on fire. Und dieses Land nun auch. Es gibt ein Bild von Rudi Dutschke, das 1968 bei einer Vietnamdemonstration in Berlin aufgenommen wurde. Dutschke trägt einen Helm in der einen Hand, in der anderen lustigerweise eine Aktentasche, als ob der Wortführer der Studenten nach der Revolution noch ins Büro müsste. Er läuft vorweg, angriffslustig, hinter ihm die Reihen der jungen Männer, es sind fast aus- schließlich Männer, die sich unterhaken. Man hört sie geradezu laut rufen auf die- sem Foto: Ho, Ho, Ho Chi Minh. Ein Foto, das Geschichte erzählt, vom Aufbruch und vom radikalen Umbau einer Gesellschaft, es ist die Geschichte von der Neuerfindung eines Landes. Das Dutschke-Foto erzählt: So war das damals im Februar 1968. Und so ist das nun im Frühjahr 2019. Die Analogie zu 1968 ist noch relativ frisch. Alte Fahrensmänner des Protests wie der Ur-Grüne Ralf Fücks, er ist Jahr- gang 1951, war also erst 17, als die Straße erobert wurde, sehen die Ähnlichkeiten. Er betreibt heute einen Thinktank in Berlin und war einer der Ersten, die sich an 1968 erinnert fühlten. Und es waren Hamburger Aktivisten von »Fridays for Future«, die sich vor ein paar Wochen selbst als Nachfolger der 68er-Generation ausriefen.

WOLFGANG KUNZ / ULLSTEIN BILD / ULLSTEIN KUNZ WOLFGANG Eigentlich gehört es zur Folklore dieses Landes, ein neues 68 auszurufen, wann immer eine Generation junger Leute auf die Straße geht. Das war so bei den Pro- testen gegen die Atomkraft und bei den

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 13 Titel

Friedensdemonstrationen der Achtziger- weich, klug, zurückhaltend, so seltsam das Frage sein, wie sehr man auf den Erfin- jahre, auch wenn die eher ein Ausläufer bei YouTube-Größen klingen mag. Er dungsreichtum der Menschheit baut und der 68er waren. Oder bei der Attac-Bewe- wirkt durch die Effekte des Netzes, die ei- der Idee von Fortschritt vertraut. Aber gung, die in den Nullerjahren gegen die nem Menschen ohne Funktion und Titel wahrscheinlich ist es das Recht der Jugend, Globalisierung und den Kapitalismus auf- über Nacht ungeheure Macht geben kön- radikal zu sein und in Panik zu verfallen. begehrte, aber genauso schnell wieder ver- nen. Mit einem Schlag gab er die CDU der In elf Jahren geht die Welt unter. gessen wurde wie die »Occupy«-Bewe- Lächerlichkeit preis. Sie spricht weder die Es gab 68er, die ernsthaft glaubten, in gung, die nach der Finanzkrise entstanden Sprache der Jugend, noch versteht sie die einem faschistischen Staat zu leben. An- war. Die Suche nach den Nachfolgern von Kanäle, durch die diese Generation kom- ders aber als die Altvorderen, die eher Kin- 68 ist Ausdruck eines Wunschdenkens, ei- muniziert, sich organisiert. Die Effekte des der des Aufbruchs waren, sind die 19er die ner Hoffnung, dass sich endlich etwas tut. Netzes sind es, die diese Generation so Kinder der Apokalypse, aufgewachsen in Wahrscheinlich gibt es eine Art inneren schnell so stark und mächtig machen wie einem verrückten Jahrzehnt. Einem Jahr- Drang, die Geschichte als Abfolge von keine zuvor. zehnt, das mit einer weltweiten Finanz- Generationen zu erfassen, als einen sich Wenn die 68er den Aufstand gegen die krise und Rezession begann. Einem Jahr- immer neu aufladenden Konflikt der Jun- Naziväter wagten, eine Rebellion gegen zehnt, in dem die Flüchtlingskrise von gen gegen die Alten. Aber als sich im ver- die autoritären Strukturen der Nachkriegs- 2015 einen rechten Populismus produzier- gangenen Jahr der Protest von 68 zum zeit, gegen den Muff und den Kleingeist te, eine Krise, die die Demokratien des 50. Mal jährte, blieb es seltsam still. Keine der Wirtschaftswunderjahre, und das alles Westens eher von innen als von außen Feier der Revolte mehr und auch kein gro- auch ein Schrei war, nach Freiheit und bedroht. Einem Jahrzehnt, in dem ein neu ßes Klagen über eine Jugend, die anschei- mehr Demokratie und mehr Sex, wer ge- gewählter amerikanischer Präsident sein nend nichts will und nichts tut. nau sind dann die 2019er? Woher kommen Land in den Irrsinn treibt. Einem Jahr- Millennials nennt man die Generation sie auf einmal – kamen sie überhaupt so zehnt, in dem die sexuellen Gewalttätig- der jüngeren Leute, die ab den frühen überraschend, wie es vielen scheint? Und keiten eines amerikanischen Filmprodu- Achtzigerjahren geboren wurden. Sie ha- können sie dieses Land, vielleicht den gan- zenten einen neuen Feminismus erzeugte, ben nicht den besten Ruf. Sie galten als zen Westen, verändern? der Männlichkeit als solche infrage stellt. ambitionslos, als ein wenig narzisstisch in Einem Jahrzehnt, in dem die digitale Tech- ihrer angeblich dauerhaften Selbstbespie- Manchmal ist es nur eine Erkenntnis, die nologie eine neue Art von Öffentlichkeit gelung und vor allen Dingen als desinte- alles in Gang bringt. Ein kleiner Satz, ein hat entstehen lassen, die neben viel Wissen ressiert an politischen Prozessen und En- kurzer Fakt, eine kühne Prognose. In die- und Information und Austausch auch Hass gagements. Es gibt auch schon eine Nach- sem Fall lautet dieser Satz: Entweder die und Fake News und Empörung im Über- folgegeneration, Generation Z wird sie CO²-Emissionen sinken dramatisch bis maß produziert. genannt oder auch iGen. Das sind die Jahr- 2030, oder die Welt wird nicht mehr zu Man muss weder besonders jung noch gänge ab Ende der Neunzigerjahre. retten sein. besonders alt sein, um das alles ziemlich Es ist die erste Generation, die mit dem Der Meeresspiegel steigt jetzt schon, Ex- beunruhigend zu finden. Smartphone aufgewachsen ist, und auch tremwetter werden häufiger, Landstriche Angesichts der globalen, technologi- sie hatte bislang keinen besonders guten werden nicht mehr bewohnbar sein, Hun- schen und gesellschaftlichen Umbrüche Leumund: Teenager, die den ganzen Tag derte Millionen Menschen könnten in den wäre es eher erstaunlich, wenn es das nicht am Handy daddeln oder Selfies auf Insta- Jahrzehnten danach ihre Heimat verlieren gäbe, eine überall in der westlichen Welt gram posten. und sich auf die Flucht begeben. vorzufindende Protestbewegung, die eher Und nun das – diese Jugend steht auf, Es ist ein ziemlich steiler Satz, er beruht weiblich ist und links, eher jung und digital und sie hat Galionsfiguren, in denen sich auf Modellrechnungen einer höchst kom- und feministisch, gegen Rassismus und für ihre Träume, Ängste, Wünsche bündeln: plexen Wissenschaft. Die Frage ist natür- Gerechtigkeit. Jede Ära hat den Protest, Greta Thunberg, die 16 Jahre alt ist, in nur lich, wie absolut dieser Satz ist und was den sie verdient. wenigen Monaten weltberühmt wurde, man aus ihm macht. Es könnte auch eine vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Es ist schwierig, Greta Thunberg nahe- spricht, vom Papst empfangen wird, für zukommen. Sie tut sich schwer im Um- den Friedensnobelpreis vorgeschlagen ist 31 Grüne Verheißung gang mit Menschen. Vor ein paar Wochen und Hunderttausende junge Menschen Wahlergebnis bei der Europawahl ist in Deutschland ein Buch über die Ge- unter den 18- bis 29-Jährigen, mobilisiert. Luisa Neubauer, 23 Jahre alt, in Prozent schichte der Familie Thunberg erschienen. Mitinitiatorin der deutschen »Fridays for Es ist ein Selbstporträt. Geschrieben hat Future«-Demos, so schlau und rhetorisch es Gretas Mutter Malena Ernman, im Na- geschickt, dass Berufspolitiker wie CDU- men ihrer beiden Töchter und ihres Ehe- Wirtschaftsminister im manns. »Szenen aus dem Herzen – Unser Schlagabtausch (SPIEGEL 12/2019) nicht Leben für das Klima« heißt es. gut aussehen. Die Thunbergs sind eine moderne Und dann Rezo, keine 30 Jahre alt, In- 14 schwedische Familie mit den modernsten formatiker und YouTuber aus Aachen, des- Ansichten in einem der modernsten Län- sen Video »Die Zerstörung der CDU« über der dieser Welt. Was nicht heißen muss, 9 das Versagen der Volksparteien in der Kli- 8 dass man unbedingt mit ihnen tauschen mapolitik kurz vor der Europawahl veröf- 7 7 7 möchte. Denn ihre Geschichte ist auch fentlicht und fast 14 Millionen Mal ange- ein modernes Martyrium, die Geschichte Zum Vergleich: Ergebnis in allen Altersgruppen klickt wird. Es hat wohl dazu beigetragen, einer Überforderung, eines Leidens an die Grünen zum Gewinner der Europa- 20,5 28,915,8 5,4 2,4 5,5 11,0 der Welt. wahl in Deutschland zu machen. Die Mutter ist Opernsängerin, Ehe- Grüne CDU/ SPD FDP Die Linke AfD Rezo war Tage nach der Wahl ver- CSU Partei mann Svante Schauspieler und Produzent. schwunden, der SPIEGEL hat ihn am Mitt- Sie besaßen einen Volvo, sind aufgewach- woch aufgetrieben, einen jungen Mann, Quelle: Forschungsgruppe Wahlen Sonstige: 17 sen im liberalen Geist der Sechzigerjahre,

14 steigen und die Atmosphäre in eine gigan - tische unsichtbare Müllhalde verwandeln. Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser. Und wir sind alle nackt.« Der Klimawandel, der Landstriche ver- dorren und pazifische Inseln untergehen lässt, die Stresserkrankungen, die Unge- rechtigkeiten dieser Welt, die Krisen un- serer ökonomischen und politischen Sys- teme, die immer längeren Schlangen vor den Kinder- und Jugendpsychiatrien, sie alle seien Teil einer großen Nachhaltig- keitskrise, die »zum Kern des Gesundheits- zustands der Menschen« führe. Wir alle sind krank, lautet die Diagnose, sind Opfer einer falschen Welt, die wir uns erschaffen haben. Und Greta ist das Kind der Apokalypse, vor der sich die Mensch- heit nur retten kann, wenn aus einem Mäd- chen wie Greta, einem Opfer, eine Heldin wird. Die Geschichte der Thunbergs ist eine moderne Erlösungsgeschichte, in der erst die Krankheit dafür sorgt, dass Menschen die Dinge so sehen, wie sie sind. Was rich- tig ist und was falsch: Flugzeuge benutzen, Volvo fahren, Fleisch essen, Kohlekraft- werke laufen lassen, weil sie Arbeitsplätze sichern – also all das, was zum Lebensstil der Elterngeneration gehört.

»Die jungen Menschen«, sagt der Münch- ner Soziologe Armin Nassehi, »kämpfen heute nicht gegen ihre Eltern, sie versu- chen, die Eltern auf ihre Seite zu ziehen und mit ihnen gemeinsam zu kämpfen.« Sie mahnen ihre Väter, nicht mehr mit dem SUV zum Biosupermarkt zu fahren. Sie fordern ihre Mütter auf, für Dienstreisen auch mal die Bahn zu nehmen. Eben darin liegt für Nassehi die Symbolkraft der Geschichte Greta Thunbergs: Dass sie als Erste ihre Eltern über- Der YouTuber Rezo, Informatiker aus Aachen. zeugt hat – und nun mithilfe ihrer Eltern den Rest der Welt bekeh- NICK HARWART / DER SPIEGEL NICK HARWART Sein Video zur CDU wurde fast 14 Millionen Mal angeklickt. Er sagt: »Ich bin kein Aktivist.« ren will. Viele der 68er sind auf die Stra- sie reisten um die Welt, die ße gegangen und haben es genos- Mutter ist Mitglied der Königlich sen, sich als Bürgerschreck zu in- Schwedischen Musikakademie, szenieren. Es war Teil ihrer Stra- sie besuchten klassische Konzerte in Ber- die alles richtig machen wollten, auch tegie, der Fachbegriff: subversive Aktion. lin, und als Malena mit Greta schwanger nicht, und so entschieden sich die Thun- »Die jungen Aktivisten wollen kein Bür- wurde, entschied sich Svante, Hausmann bergs, die Welt dort draußen zur Verant- gerschreck sein«, sagt Nassehi. »Der Bür- zu werden. wortung zu ziehen: den schwedischen So- gerschreck kommt heute eher von rechts.« Sie machten alles richtig, dann kam Gre- zialstaat, der versagt, eine Gesellschaft, Früher griffen Jugendliche ihre Eltern ta in die fünfte Klasse und entwickelte eine die krank ist, eine Welt, die aus den Fugen an, deren politische Überzeugungen, Wert- Essstörung. Nachdem sie eine Dokumen- geraten ist. »Greta«, schreibt ihre Mutter, vorstellungen, Lebensweisen. Sie entwi- tation über eine riesige Plastikansamm- »hat eine Diagnose gestellt bekommen, ckelten ihre eigene Identität in Abgren- lung gesehen hatte, die im Südpazifik aber das schließt nicht aus, dass sie recht zung zu Vater und Mutter. Zum Mythos treibt, größer als Mexiko, wurde sie de- hat und wir anderen so falschliegen, wie der 68er-Generation gehört es, dass sie da- pressiv. Die Diagnose für das aus der Bahn man nur falschliegen kann.« Greta sehe rin besonders radikal war. Junge Men- geworfene junge Mädchen: Asperger-Syn- Dinge, die andere nicht sehen wollten. Das schen heute verstehen sich besser mit ih- drom, hochfunktionaler Autismus, Zwangs- Mädchen gehöre zu den wenigen, die ren Eltern. Der Erziehungsstil ist nicht störungen mit perfektionistischem An- unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge mehr autoritär, sondern verhandlungsba- spruch. erkennen könnten. »Sie sieht, wie die siert, Papa und Mama als beste Freunde. Irgendjemand muss Schuld haben. Das Treibhausgase aus unseren Schornsteinen Wie schon andere Proteste kritisiert Kind kann es nicht sein, die Eltern selbst, strömen, mit dem Wind in den Himmel auch der aktuelle Aufstand der Jugend die

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 15 Titel bestehenden Verhältnisse – und wird als Und die Rüge geht weiter. »In der einen hungswissenschaftlerin an der Universität Kampf gegen tief empfundenes Unrecht Sekunde sagen Politiker: ›Der Klimawan- Hildesheim. »Der Protest wird innerfami- legitimiert. Neu hingegen ist die Reaktion del ist wichtig, wir tun alles Denkbare, um liär und gesamtgesellschaftlich nicht als der Eltern, der Lehrer und der etablierten ihn aufzuhalten.‹ Im nächsten Augenblick Generationenkonflikt ausgetragen, son- bürgerlich-akademischen Kreise, die ihre aber wollen sie Flughäfen erweitern, neue dern ins Abstrakte ausgelagert: Die Politi- aufständischen Kinder unterstützen und Kohlekraftwerke errichten, mehr Autobah- ker haben die großen Themen verschlafen, gern auch Entschuldigungen für die Schule nen bauen, und die Firmenchefs fliegen die etablierten Parteien sind erstarrt.« schreiben, wenn das Kind am Freitag de- im Privatjet zu ihren Meetings am anderen Manche, die früher für Frieden und gegen monstrieren geht. Obwohl der Protest die Ende der Welt. So handelt man nicht in Atomraketen demonstriert haben, sähen Lebensweise und den Konsum der Eltern- einer Krise!« sich gewissermaßen selbst wieder protes- generation in Zweifel zieht, fühlen sich die Sie spricht zehn Minuten lang, genau so tieren. In Greta Thunbergs Familie, aber Alten nur selten angegriffen. Dabei ist die hat es das Programm vorgesehen. Kaum auch in weniger prominenten Familien be- Anklage der Jungen fundamental: Ihr zer- ist das letzte Wort gesprochen, läuft Thun- obachten Eltern wohlwollend, wie ihr stört unsere Zukunft! berg von der Bühne, klettert auf ihren Stuhl, Kind nun eine Idee des Politischen entwi- versinkt hinter der massigen Schulter ckelt, als wichtigen Entwicklungsschritt Dass es trotzdem funktioniert, sah man Schwarzeneggers. »Greta«, ruft die Mode- auf dem Weg zu einer eigenständigen Per- am vergangenen Dienstagmorgen, 10.20 ratorin von der Bühne, »wenn du dich um- sönlichkeit. Sie fühlten sich in ihrem Er- Uhr, Hofburg Wien, Klimagipfel R20 Aus- drehst, kannst du sehen, dass alle Menschen ziehungsbemühen bestätigt: aufgeklärte trian World Summit. Greta Thunberg sitzt hier im Saal für dich aufgestanden sind.« Eltern, die engagierte, couragierte und bei dieser Veranstaltung in der ersten Rei- Doch Greta dreht sich nicht um. selbstbestimmte Kinder großziehen. De- he, zu ihrer Linken: Arnold Schwarzen - »Diese breite Unterstützung ist erstaun- ren Protest sei der Nachweis des eigenen egger, der die Konferenz organisiert hat. lich«, sagt Meike Sophia Baader, Erzie- Erfolgs. Zu ihrer Rechten: Alexander Auch dass so viele Mädchen bei dem Van der Bellen, Österreichs Bun- Aufstand den Ton angeben, lasse sich als despräsident, der gekommen ist, Folge einer Post-68er-Erziehung interpre- obwohl er zurzeit andere Sorgen tieren, sagt Baader. »Darin spiegelt sich haben dürfte: »Ich danke dir für die Überzeugung, dass man Mädchen stär- die Hoffnung, die du in so vielen ken müsse, damit sie einen gleichberech- von uns geweckt hast«, sagt Van tigten Platz in der Gesellschaft einnehmen. der Bellen in seinem Grußwort, Nun bestimmen sie als Aktivistinnen die es gilt der jungen Schwedin. Richtung des Protests. Die Mädchen ha- Der Österreichische Rundfunk ben den Klimawandel auch als ein soziales überträgt, es gibt einen Live - Thema auf die Agenda der öffentlichen stream im Internet. Die Kamera Aufmerksamkeit gesetzt.« schwenkt zu Thunberg, die Es ist ein Aufstand, der keineswegs aus schaut ruhig geradeaus, das dem Nichts kam. Ulrich Schneekloth, Mit- Greta-Thunberg-Gesicht. Autor der »Shell Jugendstudien«, beob- Schwarzenegger hatte sie nach Wien eingeladen. Am Abend zuvor twitterte er, er sei »starstruck«, fasziniert nach ei- ner Begegnung mit ihr. Als wäre nicht er der Hollywood-Promi, sondern sie. Sehr viele der rund 1200 Menschen im Publikum könnten Thunbergs Eltern, man-

che sogar ihre Großeltern sein. GÜNTER ZINT / PANFOTO Sie tragen randlose Brillen und Doktortitel. »Hi«, begrüßt Thun- berg ihre Zuhörer. Sie trägt Turnschuhe und eine Bluse in Fuchsia. Uno-General- sekretär António Guterres ist da, der As- tronaut Scott Kelly. »Die meisten Men- schen haben keine Ahnung, in welcher Notlage wir uns befinden«, sagt sie. Sie spricht langsam und deutlich, geschliffenes Englisch mit skandinavischem Akzent. Der Zettel in ihrer Hand zittert etwas. »Viele von Ihnen hier im Saal sind Füh- rungspersönlichkeiten. Hier sitzen Präsi- denten, Politiker, Firmenchefs, Prominen- te, Journalisten. Die Menschen hören Ih- nen zu, sie werden von Ihnen beeinflusst. Das Erbe von 68 Protestierende Studenten in Paris Deshalb tragen Sie eine gewaltige Ver- 1968, Familienbild der Thunbergs: Der Protest antwortung. Und wenn wir ehrlich sind, der Kinder ist der Nachweis des eigenen Erfolgs. haben die meisten von Ihnen diese Ver - antwortung bisher nicht übernommen.«

16 Die Politikerin US-Demokratin Alexandria Ocasio- achtet schon seit einigen Jahren Cortez, Idol mit fast viereinhalb Millionen die Repolitisierung der Jugend – Followern auf Twitter: Ihre Partei braucht sie, wenn man »Politik« nicht mit aber sie braucht ihre Partei kaum noch. »Parteipolitik« gleichsetzt. Die Mitgliederzahlen der Ju- gendorganisationen der Parteien gehen seit Jahren zurück, die Wahlbeteiligung bei Studierendenparla- menten ist seit Jahren extrem niedrig. 13 Prozent waren es zuletzt etwa an den Uni- versitäten Köln, Greifswald und Hamburg, an der FU Berlin nur magere 9 Prozent. »Politisierung beginnt immer mit per- sönlichem Betroffensein«, sagt Schnee- kloth. Mit Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken. Mit einem Eisbären in der Ark- tis, dem die Eisscholle unter den Pfoten wegschmilzt. Mit hungernden Kindern nach Dürreperioden in Afrika. Doch die etablierten Parteien sind kein Ort für Betroffenheit. Erst mal Mitglied werden, dann Netzwerke spinnen, einen Posten ergattern und irgendwann vielleicht mal etwas verändern. Genau das schreckt die allermeisten jungen Leute ab. Das Interesse an »Zukunftsthemen« sei seit der letzten Shell-Studie 2015 noch ein- mal gewachsen, sagt Schneekloth. Dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit an Be - deutung gewonnen haben, liege an einer gewissen ökonomischen Sorglosigkeit der Jugend. »Es gibt eine Entlastung, was die wirtschaftliche und soziale Situation jun- ger Menschen angeht«, sagt Schneekloth. »Sie fühlen sich sicherer – und deshalb ver- lagert sich die Sorge von der Gegenwart auf die Zukunft.« Es geht vielen nicht mehr so sehr um Geldsorgen, um Jobs, um soziale Gerech- tigkeit im herkömmlichen Sinn, ihr eigenes Hier und Jetzt. Die Jungen stellen die Ge- rechtigkeitsfrage neu. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Umverteilung von Vermö- / REUTERS ROBERTS JOSHUA gen. Im Mittelpunkt steht das Klima. Die Klimafrage ist die neue Systemfrage. Wie kaum jemand im Politikbetrieb ver- sio-Cortez sucht Zuspruch durch Likes, sie Die Europawahl hat gezeigt, dass die Ge- körpert AOC, wie sie genannt wird, die hat sich eine mächtige Basis aufgebaut. Sie neration YouTube die Agenda zunehmend Ungeduld der Millennials und, ja, auch de- ist ein Idol geworden, eine globale Marke: prägt: Bei der Bundestagswahl 2017 stimm- ren Narzissmus. AOC. ten noch 25 Prozent der 18- bis 29-Jährigen Ocasio-Cortez ist die perfekte Politike- Mitte Mai trat Ocasio-Cortez auf eine für die Union. Bei der Europawahl waren rin des Digitalzeitalters, teils linke Aktivis- Bühne der Howard University in Washing- es nur noch 14 Prozent. Die Grünen hin- tin, teils Entertainerin. Mit ihren fast vier- ton, um für den »Green New Deal« zu gegen haben ihr Ergebnis in dieser Alters- einhalb Millionen Followern auf Twitter werben – ein Klimaschutzprojekt und gruppe mit 31 Prozent fast verdreifacht. und dreieinhalb Millionen bei Instagram gleichzeitig ein gigantischer Investitions- Junge Leute brauchen die Parteipolitik erreicht sie mehr Menschen als viele Fern- plan. Kritiker sagen, es sei das größte Ver- längst nicht mehr, um sich Gehör zu ver- sehsender. Fast jeder ihrer öffentlichen staatlichungsprogramm in der Geschichte schaffen. Das Internet ist die größte Bühne Auftritte wird von Kameras festgehalten der Vereinigten Staaten. der Welt, YouTube, Instagram, Twitter. und verbreitet, und wenn nicht ihre An- An den Deal glauben viele ihrer Partei- Themen, Mitstreiter, auch Vorbilder fin- hänger filmen, macht sie es selbst. freunde nicht, viel zu groß, unrealistisch. den sich in aller Welt. Die Figur, die sie auf Twitter und In sta - Trotzdem werben etwa Präsidentschafts- Die Amerikanerin Alexandria Ocasio- gram spielt, ist nahbar, unsicher bis ver- bewerber um ihre Unterstützung, denn Cortez ist seit Januar mit 29 Jahren die letzlich, man kann sich mit der Ocasio- AOC hat die Jugend hinter sich, es ist fast, jüngste Abgeordnete der US-Geschichte, Cortez im Netz leicht identifizieren. Sie als brauchte sie ihre Partei kaum noch – sie spricht für eine trotzige Jugend. In nicht kocht Nudeln oder Suppe, fotografiert die Partei hingegen sie. mal einem Jahr hat sie es geschafft, zur ihren Einkaufskorb oder teilt das Video Für deutsche Politiker, vor allem für sol- politischen Ikone aufzusteigen, die eine eines älteren Mannes, der ein Lied über che von Union und SPD, hat sich bei der Bewegung anführt – dank sozialer Medien. sie und gegen den Klimawandel singt. Oca- Europawahl einerseits gerächt, dass sie

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 17 Neubauer ist Mitglied bei den Grünen. Sie postet über den Klimawandel, aber auch über Mikroplastik in Kosmetika; sie ist in diversen anderen Netzwerken aktiv, von proeuropäischen Aktionen bis hin zu Naturschutzblogs. Sie ist schon um die halbe Welt geflogen, hat etwa in Tansania Wasserleitungen installiert. Wegen der vielen Reisen verpassten Kritiker ihr den Spitznamen »#LangstreckenLuisa«. »Die Europawahl war eine Schicksals- wahl für uns junge Menschen«, sagt Neu- bauer. Schülern, die noch zu jung zum Wählen waren, riet sie zu einem Deal mit den Großeltern – diese sollten doch ihre Enkel entscheiden lassen, wo sie ihr Kreuz setzen. Sie machte dabei keine Werbung für die Grünen, aber sie schrieb: »Wählt für das Klima.« Und: »Lasst uns die Wahl- beteiligung von jungen Menschen einfach so krass nach oben ziehen, dass sich alle umdrehen und wünschten, diese jungen Menschen wären wieder so bequem passiv, wenn es ums Wählen geht.« So funktionieren soziale Medien: Ein Trend wächst exponentiell, sobald andere einsteigen, die wieder andere mitziehen. Bis sogar Modebloggerinnen mitmachen: Auf einmal schien ein blauer EU-Hoodie das Must-have der Frühjahrskollektionen zu sein. Die Beauty-und-Fashion-Bloggerin Dia- na zur Löwen – 751000 Instagram-Follo- wer – unterstützte die Kampagne des EU- Parlaments #diesmalwähleich und veröf- fentlichte mehrere Videos, in denen sie ihre Zuschauer aufforderte, wählen zu gehen – zwischen Videos über Neuheiten der Drogeriekette DM. Auch Mirella Precek, 25, You- Tuberin des Kanals mit dem schö- Die Studentin Luisa Neubauer, Mitorganisatorin nen Namen »Mirellativegal«, die

MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA MICHAEL KAPPELER / PICTURE der deutschen »Fridays for Future«-Proteste: sich früher nur um Mode und Un- Die Jungen stellen die Gerechtigkeitsfrage neu, terhaltung kümmerte, beschäftigt im Mittelpunkt steht das Klima. sich inzwischen auch mit Natur- kaum Zugang zu jungen Wählern schutz und solidarisierte sich mit finden. Das gilt besonders für den Rezo. Sie habe sich inspiriert ge- neuen CDU-Generalsekretär, der fühlt von Klimademonstranten, als ehemaliger Vorsitzender der Jungen Rolle. Dabei waren die Zeichen klar zu die noch jünger seien als sie: »Wir haben Union eigentlich diese Gruppen anspre- sehen, etwa auf dem Instagram-Account gedacht, die wachsen mit dem Smart- chen sollte. Auch den technologischen von Luisa Neubauer. phone auf, die werden nie etwas zustande Wandel haben die großen Parteien immer Neubauer, 23, ist in Deutschland das Ge- kriegen. Jetzt legen sie das Smartphone noch nicht verstanden. Noch zu Beginn sicht der »Fridays for Future«-Proteste. Sie beiseite und gehen auf die Straße.« der Legislaturperiode gab es nicht einmal initiierte die ersten Demos in Berlin und Selbst jene, die mitverantwortlich ge- in allen Büros rund um den Reichstag funk- kümmert sich immer noch wöchentlich um macht werden für die Klimakrise, haben ein- tionierendes WLAN, aber irgendwo einen den Zusammenhalt, wenn auch ganz an- gesehen, wie mächtig etwa die Instagram- Schredder für Disketten; Jungwähler ken- ders als das Mädchen aus Schweden. Frau Neubauer durch die Effekte des Netzes nen die höchstens noch aus den Erzählun- Man sieht die Göttinger Geografiestu- werden kann. Als Rednerin bei der letzten gen ihrer Eltern. dentin auf Instagram mit selbstbewussten Hauptversammlung des Energiekonzerns Posen, die Haare fallen ihr locker über die RWE, der viele Kohlekraftwerke betreibt, Wer eher im Gestern lebt, kann im Heute Schultern, auf ihren Lippen ein geheimnis- forderte sie: »Schalten Sie ab, noch dieses alles verpassen. Die Christ- und Sozialde- volles Lächeln. Mehr als 34000 Menschen Jahr!« Als wäre ihr ziemlich egal, dass das mokraten räumten nach der Wahl ein, dass folgen Neubauer auf Instagram, auf Twit- so schnell kaum geht – auch das typisch für sie unterschätzt hatten, wie sehr der Kli- ter sind es noch ein paar mehr. Die Akti- die neue Bewegung: Um den Kleinkram sol- mawandel Jungwähler bewegt. Und dann vistin kettet sich nicht an Bäume oder Bag- len sich gefälligst die Profis kümmern. viele zu den Grünen trieb, denn im Wahl- ger, sie postet. Meistens steht dabei sie Noch schlagkräftiger als Instagram ist kampf der Union spielte das Thema keine selbst im Vordergrund. wohl YouTube, wo eben nicht nur Musik-

18 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Titel

videos laufen. Die populärste Video- mand soll sein Gesicht sehen, auch nicht Rezo war schon vor der Europawahl plattform der Welt ist zugleich die zweit- seine Haare. »Ich ducke mich auf der Stra- abgetaucht, auch medial, seither hat er kei- größte Suchmaschine – und damit ein zen- ße weg«, sagt Rezo später, er ist Ende ne Interviews gegeben. Ihm war alles zu traler Informationskanal. 90 Prozent der zwanzig, viel mehr will er nicht verraten. viel geworden. Die Aufmerksamkeit, die Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren Rezo, das ist der YouTuber mit dem Presseanfragen. Mitte Mai war er noch nutzen YouTube mehrfach in der Woche. orangefarbenen Hoodie und den blauen ein gewöhnlicher YouTuber gewesen, der 23 Prozent geben an, dass sie sich dort Haaren. Der mit dem Zerstörungsvideo. Karaoke sang oder seine Expertise in Mas- mehrmals pro Woche über Nachrichten in- Der die CDU als Haufen von Dilettanten turbation kundtat. Nun ist er der Mann formieren. und Lügnern beschimpft und Studien der Stunde, Plasberg, Lanz, Will, alle Welche Mobilisierungsmacht die Video- zum Klimawandel und zur Bildungspolitik wollen ihn haben. Berichte in der »Tages- plattform hat, zeigt sich vor allem, wenn zitiert. Fast 14 Millionen Mal wurde schau«, Prügel von der »FAZ«, Verständ- es sich um Themen handelt, die der Gene- dieses Video bisher aufgerufen. Theore- nis von der »taz«. Dazu Verschwörungs- ration YouTube nahegehen, die Regulie- tisch wäre das jeder sechste Bürger dieses theorien, er sei gesteuert, von guten Kräf- rung des Netzes etwa. Dazu gehört Artikel Landes. ten, von bösen Kräften, von wem auch im- 13, der inzwischen Artikel 17 heißt und Er selbst sagt, sein Einfluss auf die Eu- mer. »Mein erster Impuls war: Ich würde Teil einer EU-Urheberrechtsnovelle ist. Es ropawahl sei gering gewesen: »Ich denke gern einen großen Schild über mich halten, geht darum, wer wann haftet bei Urheber- nicht, dass ich viel bewegt habe. Ich habe bis es vorbei ist. Aber ich habe verstanden, rechtsverstößen im Netz, ein scheinbar nicht viel Energie aufgebracht. Wenn eine dass das nicht drin ist«, sagt er. dröges Thema, das viele Erwachsene gar Bowlingkugel auf dem Schrank liegt, reicht Rezo will Missverständnisse ausräumen. nicht verstanden. Entsprechend über- ein kleiner Schubs für eine krasse Auswir- Das Treffen findet in einem Hotelzimmer rascht waren die Politiker von der Wucht kung.« Er habe nur ein Video drehen wol- statt. Er will nicht, dass man weiß, wo er der Angriffe, schließlich wollten sie doch len, mehr nicht. wohnt. Und wie. nur Urheberrechte schützen. Rezo sagt, er habe Angst, »dass ein YouTube-Stars mit zahlreichen Spinner bei mir zu Hause die Scheiben ein- Abonnenten wurden zu einfluss- schmeißt.« In der WhatsApp-Gruppe sei- reichen Polit-Influencern und nes Abiturjahrgangs hat er darum gebeten, Aktivisten, die zu Demonstratio- dass niemand mit der großen Zeitung spre- nen aufriefen und dort auftraten. chen möge, die gerade sein Privatleben Während Konservative die auskundschafte. Wütenden als ahnungslose Ma- Quasi über Nacht ist Rezo zum Gesicht rionetten darstellten, begegneten der Generation der unter Dreißigjährigen immerhin die jungen Europapo- geworden. Einer, den man mit der »Fri- litiker Tiemo Wölken (SPD) und days for Future«-Bewegung zusammen- Julia Reda (Piraten) ihnen mit bringt, auch wenn er mit ihr nichts zu tun Respekt: Auf YouTube erklärte hat. »Ich bin kein Aktivist, ich klettere Wölken etwa, wann genau über nicht im Hambacher Forst auf Bäume oder die Reform debattiert wird und marschiere jeden zweiten Tag bei Demos wie es danach weitergeht. Reda gab Hinweise, wohin die Nutzer scrollen mussten, um den über- setzten Gesetzestext zu finden. Dann kam Rezo und sein Vi- deo. Wenige Tage vor der Wahl legte er nach, in einem zweiten Video sprach er zusammen mit Dutzenden anderer YouTuber eine Wahlempfehlung aus:

»Wählt nicht CDU, und wählt MEHNER / BERLINPRESSSERVICES.DE KLAUS nicht die SPD, und wählt schon gar nicht die AfD.« Die Reaktio- nen der Politik waren desaströs. Die CDU stellte eine elfseitige PDF-Datei als Ant- wort auf Rezos erstes Video ins Netz, ihre Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbau- er brachte mit wirren Sätzen über »Mei- nungsmache« im Internet die jungen Leute weiter gegen sich auf. Es gibt in Berlin die Angst, dass am vergangenen Sonntag nicht nur eine Wahl verloren wurde, sondern eine ganze Ge- neration. Aachen, am Mittwoch dieser Woche. Eine gebückte Gestalt huscht über eine Die Medien Zerstörte Autos vor dem Springer- Straße. Den Blick gesenkt, auf dem Kopf haus in Berlin 1968, YouTuber Rezo im Video »Die Zerstörung der CDU«. Er hat Angst, »dass eine Kappe, darüber eine Kapuze, sicher / GETTY IMAGES SEAN GALLUP ist sicher. Es ist der Mann, der sich Rezo ein Spinner bei mir Scheiben einschmeißt«. nennt. Er trägt seine Tarnkleidung. Nie-

19 in der ersten Reihe mit. Ich glaube, dass Jüngste. »Es war manchmal ein ziemlicher Schmerzen spüren. Man kann sich auch ich der Gesellschaft mehr diene, wenn ich Struggle«, sagt er. Mitschüler steckten ihn bei der Arbeit verausgaben.« In den ver- meinen Job gut mache.« Er bezeichnet im Klassenzimmer in den Papierkorb oder gangenen zehn Jahren habe er nur einmal sich als Unterhalter. Er sagt, dass er sich warfen seine Turnschuhe in die Toilette. Urlaub gemacht. Er arbeite fast jeden Tag, nie die Frage gestellt habe, ob er ein poli- Als Teenager habe er daran gedacht, sich selbst am Wochenende. Von morgens um tischer Mensch sei. umzubringen. Einmal habe er auf einem neun oft bis zum Schlafengehen. Am Com- Rezo ist der perfekte Vertreter seiner Dach gestanden und überlegt zu springen. puter, vor der Kamera. Generation. Ein Veganer. Einer, der findet, Rezo sagt, er erzähle das alles, weil es Es gibt einen Moment an diesem Nach- dass man Plastikmüll vermeiden und zu ihm gehöre. Er wolle aber nichts über- mittag, da überwältigen ihn die Gefühle. Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten solle. Als er erzählt, dass er einmal im Jahr in Er liest weder Zeitung, noch sieht er Fern- die Kirche gehe, an Heiligabend. Er be- sehnachrichten. Er schaut Netflix. Was in »Abstand, damit die zeichnet sich nicht als christlich, aber die der Welt passiert, erfährt er auf Twitter christlichen Werte bedeuten ihm etwas: oder Instagram. Interessiert ihn etwas nä- Gesellschaft nicht nur aus »Ich habe stark verinnerlicht, was Jesus her, googelt er. Manches bekommt er nur Menschen besteht, die für ein Dude war.« Rezo kommt aus einer so ungefähr mit. Was die CDU-Chefin Theologenfamilie. Vater: Pfarrer. Mutter: über sein Video gesagt hat, wie die Kanz- gerettet werden müssen.« Pfarrerin. Großvater, zwei Tanten, zwei lerin danach die CDU-Chefin verteidigt Onkel ebenso. Und am Ende des Weih- hat. Ungewöhnlich ist allenfalls seine nachtsgottesdiensts singen alle »O du Obsession für die Bundespressekonferenz, dramatisieren, zumal es glücklich ausge- fröhliche«, was ihn jedes Mal in Strömen deren Übertragung er, wie er sagt, seit Jah- gangen sei, »ich stell mich jetzt nicht als weinen lasse. »In diesem Moment frage ren regelmäßig anschaut. »Weil sie etwas Opfer dar«. Er sei in Behandlung gewesen, ich mich immer: Ist das Leben, das ich Menschliches hat: Du siehst dort sofort, nicht lange, »ein paar Talks mit Psycholo- führe, das richtige? Will ich das Ding wenn dich jemand verarscht.« gen«. Gerettet habe ihn die Musik, er fing durch ziehen? Ich weiß, meine Videos ge- Und noch etwas an Rezo ist typisch an, in Bands zu spielen. Die Lust auf ben vielen Leuten etwas. Aber ist es das für seine Generation: dass er an sich Selbstzerstörung veränderte sich, eine Zeit wert? Übers Jahr baut sich extrem viel auf, und der Welt leidet – und es, anders als lang habe er sich noch geritzt. »Irgend- was sich an diesem Abend löst.« Rezo Männer es früher gewohnt waren, auch wann habe ich gemerkt, dass ich das über- fängt an zu weinen. zugibt. Rezo stottert, was in seinen flott tragen kann auf andere Bereiche. Man Rezo sagt, er liebe seine Eltern. »Sie geschnittenen Videos nicht auffällt. In der muss sich nicht schneiden, um sich zu ver- sind offene, warmherzige Menschen, die Schule war er häufig der Kleinste und letzen. Man kann auch auf andere Weise mir viel Liebe gegeben haben.« Kein 68er

1982 Flüssigkristalle bringen dem Computer das Fahrradfahren bei: im Display des ersten digitalen Tachometers. 1888 1992 Eine reife Leistung: Das Macht Gegenwind zum lauen Vulkanisationsverfahren Lüftchen: Der Nickel-Cadmium- macht luftgefüllte Gummi- Akku im ersten Pedelec gibt reifen möglich und so das Radlern Extraschub. Fahrradfahren bequemer.

Die Chemie macht das Rad zum Titel

hätte so über seine Eltern geredet, das ist New Yorker Liberaler. Ihm war aufgefal- Bewegung wurde verbeamtet, dasselbe ein wesentlicher Unterschied zu damals. len, dass sich ab 2013 das Klima an den wird auch dieser Bewegung widerfahren.« Deren Ansatz ist Rezo auch »zu anti«. An- amerikanischen Universitäten änderte. Sie zwingt die Gesellschaft nur dazu, die ders als die Revolutionäre damals habe er Als die ersten iGener auf die Colleges politischen Rahmenbedingungen zu ver- die Gesellschaft nicht gespalten, sagt er. kamen. Einige von ihnen versuchten zu ändern. »Die Gesellschaft braucht manch- Hat er Träume? Oh ja. »Ein Haus, zwei, verbannen, was ihnen nicht gefiel, sie mal solche Anstöße.« drei Kinder, einen Hund.« So leben auch wünschten sich »trigger warnings«, »safe Ist ihm das sympathisch? »Viele Mei- klassische CDU-Wähler. »Uns muss ja spaces« und dass politisch nicht konforme nungsäußerungen der jungen Protestler nicht alles trennen«, sagt Rezo. Gastredner ausgeladen würden. Eine von sind wahnsinnig naiv«, sagt Nassehi. Haidts Thesen lautet, dass die iGener »Aber wenn ich ehrlich bin: Ich möchte Die 68er haben das Land neu erfunden, nicht nur das Produkt der Smartphone- nicht mit allem konfrontiert werden, was in dem wir heute leben, jedenfalls zum Welt sind, sondern auch das ihrer Eltern. ich in dem Alter gesagt habe. Das ist ja Teil. Ein aufgeklärtes, freies Land. Die Par- Einer Elterngeneration, die ihre Kinder der Segen: dass bei uns nicht alles aufge- teien veränderten sich, die Grünen wurden zu ewig Schutzbedürftigen erzogen hat, zeichnet wurde.« gegründet. Es ging alles langsamer, aber die keine anderen Meinungen ertragen. Doch vielleicht ging es damals, 1968, nicht alles war nur dufte. Der Dogmatis- Was er meint: Ein bisschen Abstand und und heute nur so: laut sein, damit sich mus der K-Gruppen, die in den Siebziger- Generationskonflikt mit den Eltern könn- etwas tut. jahren die politische Subkultur prägten. te ganz sinnvoll sein, damit eine Gesell- Laura Backes, Tobias Becker, Der Terrorismus der RAF, deren Mitglie- schaft nicht nur aus Menschen besteht, die Lothar Gorris, Judith Horchert, der ihre Morde damit begründeten, dass gerettet werden müssen, vor dem Klima- Anna-Lena Jaensch, Alexander Kühn, ein neuer Faschismus drohe. wandel, den Andersdenkenden, dem Ann-Katrin Müller, Miriam Olbrisch, Die 19er sind womöglich genauso wir- Bösen. Maximilian Popp, Marcel Rosenbach, kungsmächtig, nur mit dem Unterschied, Das erklärt einen Teil der Rigorosität Christoph Scheuermann, Katja Thimm dass alles nun viel schneller geschieht. Der der neuen Bewegung, ihren Hang, die Mail: [email protected] New Yorker Psychologe Jonathan Haidt Welt einzuteilen, hypermoralisch, in Gut hat im vergangenen Jahr ein Buch über die und Böse. Video Generation Z geschrieben. Es heißt »The Aber dass die Revolte, wie schon 1968, Wie politisch ist die Coddling of the American Mind«, die Ver- tatsächlich einen Zug ins Totalitäre be- Generation YouTube? hätschelung der amerikanischen Seele. kommt, dafür sieht der Soziologe Nassehi spiegel.de/sp232019jugend Haidt, Jahrgang 1963, ist keiner dieser keine Gefahr: Auch die 68er seien am oder in der App DER SPIEGEL neuen rechten Intellektuellen, sondern ein Ende sozialdemokratisiert worden. »Die

2015 Mit der Chemie als Tandempartner Hält die Hände am Lenker: wird das Fahrradfahren dank neuer Der Fahrradhelm mit integrierter Funktechnologie macht das Werkstoffe und Verfahren immer Smartphone auch unterwegs komfortabler und sicherer. Das Ziel: nutzbar – dank Mikrochips aus hochreinem Silizium. eine gesunde und nachhaltige 2018 Mobilität, die Spaß bringt. Gibt richtig Kette ohne Kette: Entdecken Sie mehr Der Prototyp mit hocheffi zientem Antriebssystem durch Kugellager unter www.ihre-chemie.de. aus technischer Keramik gewinnt einen EUROBIKE AWARD.

Renner. Titel

den Klimaschutz. Ich habe das Gefühl, wenn wir Jugendlichen nicht für unsere »Nehmt uns ernst!« Zukunft kämpfen, tut es niemand. Es ist das erste Mal, dass ich mich engagiere, Jungwähler Sie demonstrieren, sie machen Politik, auch das erste Mal, dass ich demonstrie- ren gehe. Mir ist wichtig, dass jeder, der sie bringen ihre Anliegen auf die Agenda: etwas verändern will, bei sich selbst an- Junge Erwachsene erzählen, welche Themen sie umtreiben. fängt. Ich versuche, weniger Plastikmüll zu verursachen, ordentlich zu recyceln und weniger Fleisch zu essen. Die Frei- tagsdemos können etwas verändern, wenn wir Jungen das konsequent durch- ziehen. In eine Partei einzutreten kann ich mir nicht vorstellen, nicht mal bei den Grünen. Ich bin sonst nicht so an Politik interessiert.«

»Politik mit Satireansatz« Hellen Siewert, 24 Jahre, studiert Compu- terlinguistik in Potsdam und arbeitet als Hilfskraft an einem Forschungszentrum für künstliche Intelligenz »Vor der Bundestagswahl 2017 habe ich zum ersten Mal von Der Partei gehört – und fand es sehr witzig, wie anders sie Poli- tik macht, mit Satire. Gut gefallen haben mir die Aktionen gegen die AfD, die ja hier in Brandenburg recht präsent ist. Auf Face - book haben Partei-Anhänger rechte Grup- pen infiltriert und heimlich umbenannt, ›Heimatliebe‹ in ›Hummusliebe‹ zum Bei-

Simon Sumbert / DER SPIEGEL ERIC VAZZOLER spiel. Durch die Facebook-Posts und Vi- deos von Martin Sonneborn, dem EU-Spit- zenkandidaten, habe ich erfahren, wie der nauso der Umgang mit Geflüchteten. Ich Alltag im Europaparlament funktioniert – »Die Älteren haben oft das Sagen« habe ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer und wie sehr er von Lobbyisten bestimmt Simon Sumbert, 21 Jahre, studiert Politik- Flüchtlingsunterkunft gemacht, und es wird, die überall auftauchen und Politiker wissenschaften und Volkswirtschaftslehre macht mich traurig, wenn ich höre, wie beeinflussen möchten. Das war mir in dem in Freiburg, auf dem Titelbild links. unwürdig einige konservative und natio- Ausmaß nicht bewusst. Ich finde es toll, »Ich freue mich gerade sehr: Vor einer nalistische Politiker über diese Menschen dass Sonneborn diese Einblicke gewährt. Woche wurde ich in den Stadtrat von Frei- sprechen. Wenn sie sagen, Seenotrettung Europapolitik kommt mir sonst sehr abge- burg gewählt, ich bin das jüngste neue Mit- im Mittelmeer sei ein Verbrechen, macht schottet vor. Im Oktober bin ich aus Neu- glied. Unser Bündnis heißt ›Junges Frei- mich das wütend. Die Grünen stehen in gier zu einem Stammtisch des Kreisver- burg‹ – wir vertreten die Interessen der dieser Frage für Humanität und Mitgefühl. bands Potsdam gegangen, die lockere Stim- jungen Menschen. In der Vergangenheit Trotzdem bin ich unsicher, ob ich richtig hatte ich oft das Gefühl, dass meine entschieden habe. Wenn die Grünen jetzt Josy Zülke Altersgenossen und ich von den anderen so groß werden, rücken sie vermutlich im- Parteien nicht ernst genommen werden. mer weiter in die Mitte, um möglichst viele So geht es mir auch bei den ›Fridays for Wähler zu erreichen. Nicht, dass die ir- Future‹, bei denen ich regelmäßig mitlaufe. gendwann werden wie die CDU.« ›Ihr seid die Zukunft‹, heißt es dauernd. Und dann werden unsere Anliegen trotz- dem kleingeredet. Wenn wir selbst in den »Vom Lehrer motiviert« Stadtrat einziehen, dachten wir, wird uns Josy Zülke, 18 Jahre, auf dem Titelbild Zwei- das nicht mehr so schnell passieren. Ich te von links, war vor zwei Monaten erstmals würde aktuell nicht in eine der traditionel- bei »Fridays for Future«. Sie besucht die len Parteien eintreten. Dort haben oft die zwölfte Klasse einer Schule in Berlin. Älteren das Sagen, das nervt mich. Es war »Mein Lehrer im Biologie-Leistungs- schon merkwürdig, mein eigenes Gesicht kurs hat uns motiviert, an den Demos teil- auf Wahlplakaten zu sehen. Ein bisschen, zunehmen. Er hat uns schon vor Jahren wie wenn man beim Friseur zu lange in erklärt, wie CO²-Emissionen und Klima- den Spiegel schaut, irgendwann war ich wandel zusammenhängen, das hat mich von mir selbst genervt. sehr beeinflusst. Wir haben ein Plakat ge- Bei der Europawahl habe ich meine malt: ›Schule schwänzen kann man ver- Stimme den Grünen gegeben. Nachhaltig- kraften, Klimawandel eher nicht so.‹ Die

keit und Klimaschutz sind mir wichtig, ge- Parteien kümmern sich nicht genug um / DER SPIEGEL NICK HARWART

22 mung und die witzigen Ideen ha- so privilegiert zu sein wie ben mir gefallen. So hatte ich mir ich? Diese Menschen gilt Politik nicht vorgestellt. Seitdem es um jeden Preis zu bin ich regelmäßig dabei und habe schützen. auch im Wahlkampf mitgeholfen, Das versuche ich unter Plakate aufzuhängen. Auch wenn anderem durch Aufklä- viele denken, Die Partei mache vor rungsarbeit in den Insta- allem Späße und wenig ernsthafte storys auf meinem Instag- Politik, finde ich sie wichtig: Durch ramkanal, dem Podcast den Satire ansatz bekommen Men- ›Deine Homegirls‹ und in

schen Zugang zu politischen Dis- Helen Fares / DER SPIEGEL DJURIC MILOS Diskussionen im echten kussionen, die sich sonst wenig da- Leben. Gegen Unwissen, für interessieren. Das galt lange Ängste, Rassismus, Sexis- Zeit auch für mich. Ich hatte in der Vergan- mus und andere ›-ismen‹ vorzugehen steht genheit das Gefühl, dass junge Menschen im Zentrum meiner Arbeit.« in der Gesellschaft eh nicht ernst genom- men werden. Die Reform des Urheber- »Lachen, tanzen, feiern« rechts mit dem Artikel 13, inzwischen 17, SIMAITIS / DER SPIEGEL MARCUS Moritz Bayerl ist so ein Beispiel. Viele junge Menschen Sophie Thomas, 18 Jahre, auf dem Titelbild haben über die sozialen Netzwerke ihre rechts, geht in Berlin zur Schule. Sie wurde Bedenken geäußert und Argumente vorge- am Tag nach dem Wahlsonntag volljährig. da kann man schon mehr bewegen als nur bracht, die allesamt ignoriert wurden. Und »Dass ich ausgerechnet am Tag nach der ein einzelner Schüler. Aber insgesamt ist bei den ›Fridays for Future‹-Demonstratio- Europawahl 18 wurde, hat mich natürlich es leider so, dass man als junger Mensch nen heißt es dann, die jungen Leute sollten ziemlich geärgert. Ich wäre gern wählen kaum ernst genommen wird. Bisher wurde mal lieber in die Schule gehen. Das macht gegangen, ich hatte auch die Programme immer gejammert, die Jugend sei so unpo- mich wütend – zumal die Bewegung von verschiedener Parteien durchgelesen und litisch. Als wir dann auf die Straße gingen, vielen Wissenschaftlern, insbesondere Kli- den Wahl-O-Mat ausprobiert. Das Ergeb- bei ›Fridays for Future‹, sollten wir plötz- maforschern, unterstützt wird.« nis hat mich nicht sonderlich überrascht, lich doch lieber in die Schule. Aber wieso die Grünen waren bei mir ganz oben, da- sollte ich zur Schule gehen, wenn ich weiß, nach die Linke. Nachdem ich auf einigen dass es in ein paar Jahrzehnten keine Schu- »Gegen Rassismus und ›-ismen‹« Demos von ›Fridays for Future‹ war und len mehr geben wird – wenn wir jetzt nicht Helen Fares, 24 Jahre, aus Leipzig studiert über YouTube viel erfahren habe, hätte auf die Straße gehen? Schülerinnen und Psychologie und arbeitet als Moderatorin auch ich die Grünen gewählt, wenn ich hät- Schüler werden systematisch benachteiligt, und Journalistin. te wählen dürfen. Dass man unser politischer Einfluss ist ge- »Ich habe Die Linke gewählt. Das ist für erst ab 18 zur Wahl gehen ring, weil nur ein Bruchteil von mich die einzige Partei, die Themen, die darf, finde ich ungerecht- uns überhaupt wählen darf. mir wichtig sind, in den Mittelpunkt stellt: fertigt. Es geht doch um Dass wir laut werden, wird jetzt Fluchtursachen bekämpfen durch den unsere Zukunft, warum wer- von vielen unterstützt. Meine Stopp von Waffenexporten, die Seenot- den 16-Jährige ausgeschlos- Mutter würde am liebsten gleich rettung entkriminalisieren, sichere Flucht- sen? Dass Jugendliche weni- mitdemonstrieren, so toll findet wege schaffen und den schnellen Kohle- ger vernünftig oder schlech- sie das. Ich habe bei der Euro- ausstieg in ganz Europa vorantreiben. Ich ter informiert sind, ist nicht pawahl die Grünen gewählt, da fühle mich von der Politik in Deutschland wahr. sie klimapolitisch und sozial et- in einigen Punkten alleingelassen, ich den- Jede Nacht lässt unsere was bewegen wollen. Dass die

ke da an Rassismus bei der Polizei. Aus Schule alle Lichter an, das Sophie Thomas / DER SPIEGEL NICK HARWART CDU von jungen Menschen kei- Bayern und Sachsen gibt es viel zu oft Be- ganze Gebäude ist erleuch- ne Ahnung hat, hat sich ja an ih- richte über Racial Profiling und rassistisch tet. Mich regt das total auf, rer Reaktion auf das Rezo-Video motivierte Beleidigungen. Es enttäuscht das ist so unnötig! Dass Erwachsene bes- gezeigt. Ein elfseitiges PDF-Dokument – mich, dass der SPIEGEL früher Titelstorys sere Entscheidungen treffen, ist also kein ernsthaft?! Das liest sich doch kein junger wie ›Mekka Deutschland‹, ›Blutiger Islam‹ gutes Argument. Vielleicht nehmen die Er- Mensch durch. Wir brauchen Politik, die oder ›Der heilige Hass‹ gebracht hat. Un- wachsenen uns nicht ernst, weil wir eine uns zuhört und auf uns eingeht. Denn es terlegt von furchteinflößenden Bildern andere Form gefunden haben, Politik zu ist unsere Zukunft, über die sie entschei- schüren solche Berichte ohne Rücksicht machen. Auf den Freitagsdemonstrationen den. Da war ich von den Grünen auch ein auf Muslime Ängste, Hass und infolgedes- wird gelacht, getanzt, gefeiert. Das heißt wenig enttäuscht, als ich hörte, dass sie sen Rassismus. nicht, dass uns die Klimakrise weniger am sich nicht entschlossen gegen einen Uplo- Dass jetzt in Sachsen so viele Menschen Herzen liegt, aber warum sollte man beim adfilter aussprechen. Viele unter 30 sind die AfD gewählt haben, macht mich be- Protestieren keinen Spaß haben dürfen?« gegen Artikel 13, jetzt 17, und trotzdem troffen, überrascht mich aber nicht. Ich wird er durchgesetzt. Ich hoffe, dass wir verstehe, dass viele AfD-Wähler frustriert Schüler in Zukunft noch mehr bewegen und deswegen empfänglich für Populismus »Meine Mutter findet das toll« können. Bei dem Rechtsruck, den es gera- sind. Ich bin Deutschsyrerin, studiere, ar- Moritz Bayerl, 18 Jahre, besucht die zwölfte de in Europa gibt, ist es wichtig, einen Ge- beite, zahle Steuern. Ich fühle mich, um- Klasse eines Gymnasiums in Köln. genpol zu bilden. Und das tun wir. In mei- geben von 25,3 Prozent AfD-Wählern in »Für mich war die Europawahl ein ech- nem Freundeskreis gibt es niemanden, der Sachsen, unwohl und missachtet, und ich ter Lichtblick. Endlich konnte ich auch nicht gewählt hat.« habe vor allem eines: Angst. Wie soll sich wählen gehen, mich ins politische Gesche- Aufgezeichnet von Laura Backes, also jemand fühlen, der nicht das Glück hen einbringen. Das versuche ich bereits Anna-Lena Jaensch, Miriam Olbrisch hatte, in Bezug auf Bildung und Sicherheit bei der Landesschüler*innenvertretung,

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 23 »Gebot derFairness« es derdeutsche Episkopat nachderVeröffentlichung derbischöf - Entschädigungsverfahrens fürkirchliche Missbrauchsopfer, wie zu gegen. DerWorkshop giltalsAuftakt zurÜberarbeitung des Vertreter derDBKwar derKölner Weihbischof Ansgar Puff beiter desMissbrauchsbeauftragten derBundesregierung. Als fenen auchWissenschaftler, psychologische Berater undMitar - nebenBetrof- Bonn nahmen28ExpertinnenundExperten teil – gefordert. Am»Kick-off-Workshop« vergangenen Montag in gungszahlungen inMilliardenhöhe von derkatholischen Kirche brauchsopferverbänden nacheigenem Bekunden Entschädi- nisierten Arbeitstreffen habenprominente Vertreter von Miss- Pflichtverteidigung lichen Missbrauchsstudie imvergangenen Herbst zugesagt hatte. 24 ein beiBedarf vom Staatbezahlter Pflicht- die Polizei« Prozesskostenhilfe und damit spätestens vor einer Befragung durch vorsieht. Danachsoll »unverzüglich und wohl eineEuropäische Richtliniedas Anspruch aufeinenPflichtverteidiger, ob - lose Beschuldigte nichtvon Anfangan Nach deutschem Strafrecht habenmittel- Bei einemvon derDeutschen Bischofskonferenz (DBK)orga- »Wer quält,wird Kleingärtner abgewählt«, isteinSlogan, derindenGartenkolonien kolportiert wird. Missbrauchsopfer fordern Milliarden Ruf nachhohenEntschädigungen wegen psychischer Folgekrankheiten Deutschland »Die Pflichtverteidigung abderersten Stun- digte elementar und sollte rechtsstaatliche de isteinGebot derFairness, fürBeschul- die kostspieligen EU-Vorgaben gewehrt. einräumte. DieLänderhatten sichgegen Bundestagsabgeordneten Stephan Thomae ministerium (BMJV)aufAnfrage desFDP- aber nichtgeschah, wiedasBundesjustiz- was Recht umgesetzt werden müssen – linie hätte biszum 25.Maiindeutsches verteidiger bewilligt werden. Diese Richt - Katholische Kirche Experten seit Langem kritisiert,genauso wiedasbisherintrans- ten Leids«von inderRegel maximal 5000 Euro werden von von derKirche gewährten »Leistungen inAnerkennung zugefüg- psychischer Krankheiten nurbedingtarbeitsfähig.Diebislang pro Opfer. Viele Missbrauchsbetroffeneschädigung sindinfolge – Euro alsEnt- derten Betroffene Einmalzahlungen von 300000 Geschädigten aus.Bei demTreffen inBonn for-mehr als100000 missbraucht. Wissenschaftler gehen von einerDunkelziffer von 3677 Kinderund Jugendliche von 1670 katholischen Klerikern Der Studiezufolge wurden inden vergangenen Jahrzehnten sion überdieGewährung derEinmalzahlungen entscheiden. nenvertreter soll künftig eineinterdisziplinäre Expertenkommis- parente Entschädigungsverfahren. Nach demWunsch derBetroffe- »keinesfalls etwas, worauf sicheinBeschul- Thomae dasVersäumnis. Zwar könnten oder inderUntersuchungshaft. in derRegel erstnachAnklageerhebung zessordnung gibt eseinenPflichtverteidiger digter verlassen kann«.Nach derStrafpro- sei dies aber, so Thomae, wendet werden – Verankerung imdeutschen Gesetz ange- das BMJVbetont, von derJustiz auchohne einzelne Vorschriften derRichtlinie,wie Selbstverständlichkeit sein«, kritisiert ‣S. HIP 52 BHR ARNE DEDERT / DPA Sicherheitskonferenz heitskonferenz, vorausgegangen. Die eigentum Ischingers, der seine Anteile Bund zahlt zwei Millionen gemeinnützige GmbH, die die Sicherheits- inzwischen als Schenkung in die neue konferenz ausrichtet, war bisher Privat- Stiftung eingebracht hat, an der auch der Die Bundesregierung will sich voraus- Freistaat Bayern mit einer Million Euro sichtlich mit zwei Millionen Euro an der beteiligt ist. Sobald die Bundesregierung neuen Stiftung Münchner Sicherheitskon- gezahlt hat, kann die Bundeskanzlerin ferenz beteiligen. Berlin sichert sich damit den Vorsitzenden des Stifterkreises nomi- ein Mitspracherecht bei dem diplomati- nieren. Die neue Konstruktion sieht vor, schen Großereignis, zu dem in jedem Fe - dass Ischinger, 73, selbst über den Zeit- bruar auch Dutzende Staats- und Regie- punkt seines Abgangs bestimmen kann. rungschefs in die bayerische Landeshaupt- Er nominiert seinen Nachfolger, allerdings stadt kommen. Dem geplanten Einstieg im »Einvernehmen« mit dem Vorsitzen- des Bundes waren monatelange Gesprä- den des Stifterkreises und damit der Bun- che zwischen dem Politischen Direktor desregierung. Der Ex-Staatssekretär und des federführenden Verteidigungsministe- frühere Botschafter in Washington hat

riums Géza von Geyr und Wolfgang / DPA GEBERT ANDREAS klargemacht, dass er vorerst nicht die Ischinger, dem Vorsitzenden der Sicher- Ischinger in München Absicht habe, sich zurückzuziehen. HAM

Bundestagsabgeordneter In seiner Antwort vom 15. Mai weist Klimaschutz AfD-Büro in Russland Risse den AfD-Mann darauf hin, dass Regierung schont Häusle- Abgeordnetenbüros nur im Geltungs - Der AfD-Bundestagabgeordnete Robby bereich des Grundgesetzes zulässig seien. bauer und Eigentümer Schlund will in Russland eine eigene Zudem verstoße die Einrichtung eines Repräsentanz aufmachen. Ende April Büros »zur Kontaktpflege mit offiziellen Ein Entwurf von Bundeswirtschafts- schrieb der Parlamentarier aus Thüringen Stellen ausländischer Staaten« gegen die minister Peter Altmaier zum Gebäude- an den Direktor des Bundestags, er Zuständigkeit der Bundesregierung für energiegesetz erspart Bauherren be absichtige, »auf dem Gebiet der Russi- den »Verkehr mit anderen Staaten«. Ein mehr Aufwand für den Klimaschutz. schen Föderation ein persönliches Ab - persönliches Büro im Ausland sei eine Der Entwurf sieht entgegen der Erwar- geordneten-Büro zu eröffnen«. Als Mit- »rein private Angelegenheit«. Dabei sei tung vieler Umweltschützer keine höhe- glied der Deutsch-Russischen Parlamen- die Verwendung des Bundesadlers »in ren Standards für die Isolierung und tariergruppe liege ihm das Verhältnis der jedweder Form« untersagt und jeder Hin- Beheizung von Neubauten vor. Auch Länder am Herzen. Er wolle daher »mit weis auf die Mitgliedschaft im Bundestag will Altmaier keine verpflichtenden offiziellen russischen Stellen« sowie in geschäftlichen oder beruflichen An - Energiesparmaßnahmen für die beste- »gesellschaftlichen Organisationen und gelegenheiten unzulässig. Schlund, der henden Wohn- und Gewerbeimmo - Privatpersonen« Beziehungen unterhal- mit einer Russin verheiratet ist, reiste bilien. »Eine weitere Steigerung der ten. Die Kosten für dieses Büro würde er 2018 als einer von neun AfD-Wahlbeob- Bau- und damit auch der Wohnkosten nicht aus Abgeordnetenbezügen bestrei- achtern auf Einladung Moskaus zu den wollen wir unbedingt vermeiden«, ten, so Schlund, und bat den Chef der dortigen Präsidentschaftswahlen. »Wir erklärt der CDU-Politiker. »Wohnen Parlamentsverwaltung, Staatssekretär machen uns im Bundestag stark für Russ- muss bezahlbar sein.« Damit sich Mie- Horst Risse, um Hinweise, »falls mein land«, zitiert die russische Propaganda- ter und Kaufinteressierte darüber infor- Vorhaben bundestagsseitig auf zwingen- Agentur »Sputnik« den Orthopäden und mieren können, wie klimafreundlich de rechtliche Hindernisse stoßen sollte«. früheren NVA-Offizier. HAM eine Immobilie ist, muss künftig in den Energieausweisen auch deren CO²-Aus- stoß angegeben werden. Eigentümer, die auf ihrem Grundstück Solarenergie gewinnen, werden zudem bessergestellt als bisher. Werden in einem Neubau - gebiet Wärme und Strom zentral gewon- nen, so soll sich dies künftig noch stär- ker positiv auf die Energiebilanz der Gebäude auswirken. Der Chef der Deut- schen Unternehmensinitiative Energie - effizienz, Christian Noll, vermisst im Entwurf Anreize für die Sanierung von Altbauten sowie die Kontrollpflicht, ob Gebäude die im Energieausweis ausge- wiesenen Werte tatsächlich erreichen. Noll: »Ähnlich wie in Schweden könnte die Regierung anordnen, dass nach Fertig - stellung des Hauses der tatsächliche Ener- gieverbrauch gemessen wird.« Derzeit reicht in Energieausweisen lediglich ein errechneter Wert, der vom echten Heiz-

ROBBY-SCHLUND.DE bedarf einer Wohnung abweichen und Farbenfrohe Schlund-Eigenwerbung für Niederlassung in Russland neue Mieter böse überraschen kann. GT

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 25 Messerverbot Gentechnik Bedrohte Brotzeit Streit um Sicherheit Bayern macht negative Auswirkun- Am Freitag muss der Bundesrat über gen auf sein Brauchtum geltend, falls schärfere Sicherheitsstandards bei der Bundesrat eine von Niedersachsen bestimmten gentechnischen Arbeiten und Bremen angestrebte Verschärfung entscheiden. Vorab gibt es Streit um die des Waffengesetzes beantragen sollte. Empfehlungen der Agrar- und Umwelt- »Von einer derartigen Regelung wären ausschüsse zur Novelle der entsprechen- bereits Brotzeitmesser betroffen«, sagt den Sicherheitsverordnung. In einem der Leiter der Staatskanzlei Florian Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt, Herrmann (CSU). »Das ist ideologischer meldet Hermann Onko Aeikens, Staats - gesetzgeberischer Aktivismus, den ich sekretär im CDU-geführten Bundes- entschieden ablehne.« Die Nord-Bun- landwirtschaftsministerium »fachliche desländer wollen verbieten, Messer mit Bedenken« gegen die Empfehlungen an. einer feststehenden Klinge ab mehr als Ihnen zufolge sollen Experimente mit sechs (bislang zwölf) Zentimetern mit- »Gene-Drive-Organismen« einer höhe- zuführen; Ausnahmen für die Brauch- ren Labor-Sicherheitsstufe unterliegen, tumspflege sollen bestehen bleiben. als die Regierung vorsieht. Der Bund Trotz der Klausel ist der Bayerische möchte den Tagesordnungspunkt ver- Trachtenverband besorgt. Die Trachtler tagen. Eine höhere Sicherheitsstufe leiden nach eigenen Angaben bereits dürfte Mehraufwand für Gene-Drive- unter den verschärften Sicherheitsvor- Experimente bedeuten. Mit der Methode schriften auf Volksfesten. »Ein Trachten- wird das Erbgut von Organismen so ver- messer ist keine Waffe«, so Andreas ändert, dass sie bestimmte Erbinforma- Oberprieler, Geschäftsführer des Ver- tionen an sämtliche Nachkommen weiter- bands, »es hat Schmuckcharakter.« geben. Damit könnten ganze Popula-

Minister Herrmann erklärt, dass sich tionen etwa von Malaria- oder Gelb - / DPA JIM GATHANY schon nach geltendem Recht Messerver- fiebermücken aus gelöscht werden – Malariamücken botszonen einrichten ließen, es in indem zum Beispiel weibliche Exemplare Bayern dafür aber noch keinen Bedarf unfrucht bar gemacht werden. »Die experte der Grünen. Es sei »erschre- gegeben habe. Es drohe »ein Mehr an bisher geltenden Regeln können nicht ckend, dass dem Minis terium vorder- Bürokratie«, so Herrmann. Der Innen- zuverlässig verhindern, dass solche Aus- gründige Interessen der Biotech- ausschuss des Bundesrats hat das Thema rottungsorganismen in die Umwelt gelan- Industrie offenbar wichtiger sind als auf Anfang September vertagt. FRI gen«, warnt , Gentechnik- der Schutz des Ökosystems«. JKO

Justiz befehl akzeptiert, weil die dortigen Staats- nahme besteht. Das Weisungsrecht wird »Politische Einflussnahme« anwaltschaften von der Exekutive un - hierzulande zwar nur in den seltensten abhängig seien. Wie ist das in anderen Fällen ausgeübt. Die Kritik daran ist trotz- Helmut Satzger, 52, Mitgliedstaaten der EU geregelt? dem nicht unberechtigt – gerade weil Strafrechtsprofessor Satzger: Dort sind Staatsanwälte ent- es diese Option gibt, ist Einflussnahme in München, zum weder wirklich unabhängig, oder jedenfalls nicht ausgeschlossen. Urteil des Europäi- die Entscheidung liegt bei einem Richter. SPIEGEL: Das bayerische Justizministerium schen Gerichtshofes, SPIEGEL: Auch der innerdeutsche Haft - hat SPIEGEL-Informationen zufolge wonach deutsche befehl wird von einem Richter ausgestellt. veranlasst, dass Staatsanwälte künftig die Staatsanwälte nicht Er wird ja nur vom Staatsanwalt zum Euro- Ausstellung solcher Haftbefehle bei EU-Standards päischen Haftbefehl erweitert, wenn der Gericht beantragen. Ist das ein Ausweg? genügen Beschuldigte im Ausland vermutet wird. Satzger: Vorerst – auch wenn ich daran Satzger: Das genügt dem Gericht aber zweifle, dass dabei nun wirklich in jedem SPIEGEL: Deutsche Staatsanwälte dürfen nicht. Vor allem geht es um die Frage, ob Fall eine tiefschürfende Prüfung erfolgt. laut dem neuen Luxemburger Urteil keine im konkreten Fall eine Auslieferung Wird ein solcher Antrag vom Richter aber Europäischen Haftbefehle mehr ausstel- wirklich angemessen ist. Das hätte ein nur abgenickt, ist das kein rechtsstaat - len, weil sie politischer Einflussnahme Richter zu prüfen. licher Gewinn. unterliegen können. Ist unsere Justiz nicht SPIEGEL: Zuletzt gab es Diskussionen um SPIEGEL: Was wird aus bereits bestehen- rechtsstaatlich genug? den Europäischen Haftbefehl aus Spanien den Haftbefehlen? Satzger: So pauschal kann man das nicht gegen den katalanischen Politiker Carles Satzger: Sie sollten schnellstmöglich von sagen. Allerdings hat das Gericht klar - Puigdemont. Ein deutsches Gericht hatte einem Richter bestätigt werden. Irritatio- gemacht, dass ein Europäischer Haft - seine Auslieferung wegen des Vorwurfs nen im Ausland, vor allem wenn man dort befehl nur von einer strikt unabhängigen der Rebellion abgelehnt. Dabei war der bereits auf Basis des in Deutschland ausge- Justizbehörde ausgestellt werden darf. Haftbefehl in Spanien von einem Richter stellten Haftbefehls tätig wurde, sind pro- Und das ist die deutsche Staatsanwalt- ausgestellt worden. grammiert. Langfristig sollte man deshalb schaft nicht, weil die Politik ein sogenann- Satzger: Gerade da wurde der politische bei uns an eine Reform der Stellung der tes Weisungsrecht hat. Kontext solcher Verlangen deutlich. Umso Staatsanwälte denken. In den meisten Mit- SPIEGEL: Die Luxemburger Richter wichtiger ist, dass zumindest keine recht - gliedstaaten der EU sind die Staatsanwalt- hatten 2016 einen ungarischen EU-Haft- liche Möglichkeit zur politischen Einfluss- schaften unabhängig organisiert. HIP

26 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 TISSOT heritage visodate. INSPIRIERT VON DER TISSOT VISODATE KOLLEKTION AUS DEM JAHR 1950.

#ThisIsYourTime

TISSOTWATCHES.COM TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION XINHUA / ACTION PRESS / ACTION XINHUA Vorsitzende Nahles: »Eine glasklare Frage, die ich beantwortet haben will«

28 Deutschland »Das bringt uns alle um« Sozialdemokratie Am Mittwoch wurde Parteichefin Andrea Nahles ins Gesicht gesagt, dass sie es nicht kann: Über Stunden hörte sie sich an, was die eigene Fraktion von ihr hält. Chronik eines brutalen Tages, der die SPD noch beschäftigen wird. Von Christoph Hickmann und Veit Medick

s ist etwa Viertel vor fünf, als Sa- Vorsitzenden stünden, schreibt Groß. Der Chancen sondiert hat, verschickt eine Mail scha Raabe das Wort ergreift. Die Brief verbreitet sich, wird öffentlich. an alle SPD-Abgeordneten: »Ich werde E SPD, sagt Raabe, sozialdemokra- Nahles sieht darin eine Attacke, mit der nicht für den Fraktionsvorsitz kandidie- tischer Bundestagsabgeordneter sie schon länger gerechnet hat. Seit Wo- ren«, schreibt er. Das habe er Nahles kürz- aus dem Wahlkreis Hanau, habe nach chen kursieren Gerüchte, im Fall schlech- lich in einem Vieraugengespräch gesagt. außen vor allem zwei Gesichter: Andrea ter Wahlergebnisse drohe ihr ein Putsch. Über das Gespräch hat der SPIEGEL be- Nahles und – und er erlebe Noch am Montagabend geht sie in die Of- richtet (22/2019), seither laufen in der SPD nun einmal in seinem Wahlkreis, »so leid fensive: Sie will die für Ende September die Spekulationen, wer geplaudert habe, es mir auch tut«, dass die beiden dort nicht geplante Wahl in der Fraktion vorziehen. Schulz oder Nahles oder beide. In seiner ankämen. Sie sucht den Showdown, gegen den Rat Mail bezichtigt Schulz nun Nahles indirekt Raabe sagt das am Mittwochnachmittag führender Genossen. Es ist ein Alleingang der Indiskretion: Er selbst habe sich an das in der Sondersitzung der SPD-Bundestags- mit hohem Tempo. Sie will ihren Gegnern vereinbarte Stillschweigen gehalten. Da- fraktion. Als er redet, läuft die Sitzung die Zeit zur Vorbereitung nehmen. mit erklärt er ihr offen den Krieg, doch für schon eine Weile, es geht um den Plan von Der Bundestag hat sitzungsfrei, die Ab- die Runde im Jakob-Kaiser-Haus ist ent- Andrea Nahles, in der kommenden Woche geordneten halten sich in ihren Wahlkrei- scheidend, dass Schulz seine Ambitionen die Machtprobe zu suchen und die Wahl sen auf, doch für Mittwoch werden sie zur beerdigt hat. Der Abgeordnete Karamba zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Sondersitzung der Fraktion geladen. Die Diaby äußert sich in der Sitzung verärgert: Raabe wendet sich an Scholz, Vizekanz- Diskussionen, die an diesem Tag geführt warum der Martin das nicht schon letzte ler und Finanzminister: »Du wirst wahrge- werden, sind exemplarisch für den Zu- Woche klargestellt habe. nommen als kaltherziger Technokrat.« stand dieser Partei, für das, was sie seit Dann sprechen die Abgeordneten wie- Er wendet sich an Nahles, Partei- und Jahren bewegt, bedrückt. Aber auch dafür, der über Nahles’ Plan. Viele sind dagegen, Fraktionsvorsitzende: »Ich mag dich von sie fürchten, dass die Vorsitzende mit ih- Herzen gern, und ich werde immer sagen, rem Vorstoß die Fraktion erst recht spalten dass du ’ne tolle Arbeitsministerin warst, »Was kommt dann? wird. Manche sind regelrecht verzweifelt ’ne tolle Fraktionsvorsitzende. Aber es ist Was kommt danach? angesichts der Sturheit ihrer Chefin. halt deine Tragik, dass du das nicht ver- »Ich halte die Entscheidung, nächste Wo- kauft bekommst.« Was heißt das che die Entscheidung herbeizuführen, für Was Raabe da sagt: Es ist vorbei. Ein für die Fraktion?« falsch«, sagt Fraktionsvize Sören Bartol Bruch muss her, ein Neuanfang. So kann aus Hessen nach übereinstimmenden An- es nicht weitergehen. gaben. »Machtpolitisch entspricht das dem Andrea Nahles, 48, hat schon viel hinter wie gnadenlos die SPD mit ihrem Füh- Lehrbuch. Ich glaube aber, dass das Ergeb- sich. Sie hat einen Parteivorsitzenden ge- rungspersonal umgeht. nis uns alle umbringt.« stürzt, Wahlniederlagen erlitten, persön- Die Diskussionen haben hinter ver- Er höre in fast allen Beiträgen »das Un- liche Demütigungen ertragen. Aber dieser schlossenen Türen stattgefunden. Um sie behagen über diesen Prozess«, sagt Bartol. Mittwoch dürfte einer der härtesten Tage zu rekonstruieren, hat der SPIEGEL mit »Was kommt dann? Was kommt danach? in ihrer Karriere sein. mehr als zwei Dutzend Personen gespro- Was heißt das für die Fraktion?« Er könne Als die SPD bei der Europawahl am chen, die an den Sitzungen beteiligt waren, »nur noch mal eindringlich appellieren, Sonntag auf 15,8 Prozent abstürzte, hinter hat ihre zum Teil schriftlichen Schilderun- dass wir nächste Woche nicht diese Aus- den Grünen auf Platz drei landete und erst- gen mit anderen Versionen abgeglichen, einandersetzung haben«. mals in ihrem Stammland Bremen geschla- Widersprüche hinterfragt, Formulierungen Um 14.45 Uhr verlässt Andrea Nahles gen wurde, standen sofort wieder die Fra- überprüft. Herausgekommen ist das Pro- kurz den Saal. Sie sieht einen Reporter gen im Raum, die die SPD-Führung einen tokoll eines Tages, der die SPD noch be- draußen stehen und sagt: »Die Geier krei- Wahlkampf lang zu verdrängen versucht schäftigen wird. sen.« Dann geht sie weiter. hatte: Stehen noch die richtigen Leute an Mittwoch, 13 Uhr, Sitzungssaal 1302 im Kurz nach Nahles’ Rückkehr ist die der Spitze? Stimmt die Programmatik? Jakob-Kaiser-Haus, einem Gebäude, das Abgeordnete an der Rei- Und hat es noch Sinn, in der Großen zum Bundestagskomplex gehört. Der he – ebenfalls aus Hessen. Schmidt hasst Koalition zu bleiben? Fraktionsvorstand tritt zusammen, er soll Illoyalitäten und Durchstechereien, wie es Vor allem die Frage nach dem Personal Nahles’ Plan absegnen, die Wahl auf nächs- sie in den Wochen zuvor zuhauf gegeben wollten Nahles und der Rest der Parteifüh- ten Dienstag vorzuziehen. hat, sie sagt: »Wenn wir so weitermachen, rung umgehen, doch Michael Groß, ein Ihre Mitarbeiter sitzen mit todernsten bewegen wir uns absolut in den Abgrund.« Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet, verei- Gesichtern draußen. Drinnen geht es um Aber auch sie ist mit Nahles’ Plan telt das. In einem Brief fordert er am Mon- die Frage, ob sich der Showdown nicht nicht einverstanden: »Irgendeine Macht- tag nach der Wahl eine Sondersitzung der doch noch abwenden lässt. Da platzt in demonstration wird uns nicht weiterhel- Fraktion. Es müsse »klargestellt werden«, die Runde eine Nachricht: , fen«, sagt sie. Deshalb habe sie »große ob die Abgeordneten noch hinter ihrer der in den vergangenen Wochen seine Sympathie dafür«, noch einmal nachzu-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 29 Deutschland denken. »Wir sagen alle, es soll keine Per- und das »Netzwerk«, dessen Mitglieder Man brauche »einen Neuanfang ohne sonaldebatten geben. Und dann kommt sich als pragmatisch bezeichnen. Parallel Andrea«, sagt ein Abgeordneter aus Nord- am Abend das Gegenteil«, kritisiert sie. tagen auch noch Landesgruppen. rhein-Westfalen. »Das sind Entscheidungen, die die Partei Die Seeheimer tagen im Europasaal des Ein Kollege, Axel Schäfer aus Bochum, nicht zusammenführen in dieser Krise, Paul-Löbe-Hauses. Eigentlich sind sie stolz sagt, er könne Nahles nur raten, aus freien sondern weiter orientierungslos zurück - darauf, stets loyal zur Führung zu stehen, Stücken den Übergang zu organisieren – lassen.« selbst wenn es sich um eine Linke wie Nah- am besten mit einer Doppelspitze. Ein paar Unterstützer von Nahles mel- les handelt. Seeheimer-Chef Johannes Kein Redner stellt sich vorbehaltlos und den sich zu Wort, sie argumentieren etwa, Kahrs hat in den Tagen zuvor klargemacht, klar hinter Nahles, obwohl hier eigentlich dass die Vorsitzende nach ihrer Ankündi- dass sich daran nichts ändern werde. Doch ihre Verbündeten sitzen. Sie kommt aus gung nun ohnehin nicht mehr zurückkön- es kommt anders. diesem Flügel. Tatsächlich dürften die Re- ne. Doch ist anderer meldet sich zu Wort, debeiträge in der hastig abgehaltenen Sit- Meinung. Miersch, Chef der Parteilinken Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen. zung nicht repräsentativ für die gesamte in der Fraktion, gilt als möglicher Kandidat Seit 1994 sei sie nun dabei, sagt Freitag, Gruppe sein. Aber in diesen wenigen Mi- für Nahles’ Nachfolge. Er sagt nun, dass sie habe viele Fraktionsvorsitzende kom- nuten ist es nach Schilderungen von Teil- er in der nächsten Woche nicht gegen Nah- men und gehen sehen. »Aber ich habe nehmern nur , Staatsminister les kandidieren werde. Er sagt aber auch, mich noch nie so unwohl in der Fraktion im Auswärtigen Amt, der sich voll für Nah- dass er ihr Vorgehen für falsch halte. gefühlt.« Dass Nahles eine solche Ent- les reinhängt. Wie solle er denn aussehen, »Andrea hat recht: Es braucht eine Klä- scheidung treffe und über die Medien der Neuanfang, hält er den Kritikern ent- rung. Aber eine Klärung bis Dienstag mit kommuniziere, empfinde sie »als völlig gegen. Wie es denn jetzt weitergehen solle, Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß wird der inakzeptable Geringschätzung der Frak- ruft er dazwischen. Fraktion nicht guttun«, sagt Miersch. Man tionsmitglieder«. Um kurz nach 16 Uhr trifft sich die ge- solle sich mehr Zeit nehmen, alle sollten Freitag macht klar, was sie generell von samte Fraktion in ihrem Saal unter der »miteinander sprechen und zu einer Klä- Nahles hält. Deren öffentliche Auftritte sei- Reichstagskuppel. Viele Abgeordnete feh- rung kommen, bis September oder wann en »Gegenstand jeder Diskussion mit Bür- len, sie haben es nicht nach Berlin geschafft. auch immer«. gern und Mitgliedern an der Basis mit dem Nahles eröffnet, leitet noch einmal ihre Am Ende bedankt sich Nahles für die Tenor: Das geht gar nicht«. Entscheidung her. Seit Wochen und Mo- »intensive und ehrliche Debatte«. Sie er- naten schon sei sie infrage gestellt worden, klärt noch einmal ihre Entscheidung, sie sagt sie, hinter ihrem Rücken. Viele hier sagt, sie stelle »eine glasklare Frage, die Man brauche wüssten, von wem sie rede. Einzelne Ab- ich beantwortet haben will«. Die Situation »einen Neuanfang ohne geordnete hätten ihren Rücktritt sogar öf- müsse jetzt aufgelöst werden. fentlich gefordert. Sie würde sich wün- Es ist 15.23 Uhr, als abgestimmt wird. Andrea«, sagt schen, diese Kollegen würden nun auch in Nahles fragt, wer dafür sei, die Wahl auf ein Abgeordneter. der Sitzung mal den Mund aufmachen. Dienstag vorzuziehen. 19 Hände gehen Gemeint ist , Abgeordneter hoch. »Wer ist dagegen?« 9 Abgeordnete aus München, der sich seit Monaten so melden sich. 3 Enthaltungen. »Dann be- Der Brandenburger Abgeordnete Ul- furcht- wie ruchlos an Nahles abarbeitet. danke ich mich für die Unterstützung«, rich Freese bekennt: »Aus Überzeugung Er meldet sich als Zweiter zu Wort. sagt Nahles. Ende der Sitzung. und aus strategischen Gründen habe ich Er habe im Europawahlkampf mit vie- Nahles ist blass, als sie aus dem Saal sie damals nicht gewählt, und ich werde len Menschen gesprochen. »Kein einziger kommt. Ihre Leute eilen zu ihr hin und das auch diesmal nicht tun.« hat die Meinung ausgedrückt, dass es mit verschwinden mit der Chefin im Aufzug. , gelernter Hafenfacharbei- dir an der Spitze gut läuft.« Post fordert Spätestens jetzt muss ihr klar sein, auf wel- ter aus Bremerhaven, erzählt, er habe neu- Nahles zum Rücktritt auf. ches Wagnis sie sich eingelassen hat: Neun lich bei einem missglückten Wahlkampf- Das weckt Widerspruch, einige Kolle- Gegenstimmen in einem Gremium, das an- auftritt hinter Nahles gesessen. Er habe sei- gen fallen regelrecht über Post her. Ein Ab- sonsten loyal zu ihr steht. Wie viele wären ne Sonnenbrille nicht abgenommen – »weil geordneter legt Post nahe, aus der Fraktion es gewesen, wenn die Abstimmung geheim ich nicht erkannt werden wollte«. auszutreten. »Das wird keiner bedauern. gewesen wäre? Auch im Europasaal sitzt ein Mann mit Es wird jeder sagen: Gott sei Dank, jetzt Für den Widerstand gibt es zwei Haupt- Sonnenbrille. Es ist Martin Schulz. Hinter ist gut.« motive. Da sind die einen, die sich schon der Brille sehe er aus »wie der Termina- Dann spricht . Er länger vorstellen können, Nahles zu stür- tor«, sagt er Kollegen. In seinem Auge sei- ist Nahles’ Vorgänger und als Vizepräsi- zen, allerdings erst im September, mit Zeit en Adern geplatzt, man sehe nur noch Blut dent des Bundestags mittlerweile so etwas zum Planen, Sammeln und Sortieren. De- und Pupille. wie der Elder Statesman der Fraktion. Er ren Plan ist nun durchkreuzt, sie haben Am Ende der Sitzung, nach einem Wort- schlägt einen großen Bogen und redet über nur noch eine Woche. Andere sind solcher beitrag von Kahrs, fährt Schulz aus der die Große Koalition. Es laufe nicht gut. Putschgedanken unverdächtig. Sie treibt Haut. Kahrs hat gerade einen Vorschlag »Erfolge werden uns nicht zugeordnet«, die Sorge um, dass die Fraktion und mit vom Tisch gewischt, wie sich der Show- sagt er. »Uns werden alle Misserfolge zu- ihr die Partei bei einer offenen Abstim- down noch vermeiden ließe, nun geht gerechnet.« In den nächsten Monaten müs- mung noch tiefer gespalten werden. Schulz ihn an, ein Wort gibt das andere, se man hart mit der Union verhandeln – Die Abgeordneten verlassen den Sit- bis Schulz brüllt: »Du bist ein Arschloch!« und noch niemand habe behauptet, dass zungssaal, sie haben es eilig. Sie wollen zu Die Parlamentarische Linke trifft sich Nahles schlecht verhandeln würde. den Sitzungen der sogenannten Strömun- ebenfalls im Paul-Löbe-Haus, Raum E400. »Wir müssen Trophäen einfahren, oder gen, die sich vor dem Treffen der Gesamt- Seit 14 Uhr sitzen die meisten Abgeordne- wir werden Konsequenzen ziehen müs- fraktion noch rasch beraten wollen. ten hier und warten darauf, dass ihre Kol- sen«, sagt Oppermann. »Das heißt, wir Drei Strömungen oder Flügel gibt es in legen aus dem Fraktionsvorstand dazu- stehen vor der Frage: Gibt es die GroKo der Fraktion: die »Parlamentarische Lin- kommen. Die treffen gegen 15.30 Uhr ein, Weihnachten noch?« In einer solchen ke«, den konservativen »Seeheimer Kreis« die Sitzung wird nicht lange dauern. Situation sei es »keine schlaue Idee, die

30 Führung auszuwechseln«. Zumal sich Aber wer soll das sein? Schulz selbst Minister müsse sich Sorgen um seinen Pos- dann sofort die Frage stelle, wie es an der hat abgewinkt, ebenso Matthias Miersch. ten machen. Parteispitze weitergehe. Er bitte um »ein Bleibt der nordrhein-westfälische Abge- Damit ist endgültig klar: Für Nahles bisschen Fairness« im Umgang mit der ordnete , dessen Name in den geht es nun um alles oder nichts. Fraktionsvorsitzenden. jüngsten Wochen immer wieder gefallen Es ist halb neun am Abend, die Sitzrei- Doch der Ärger über Nahles’ Vorstoß ist. Der Abgeordnete aus hen sind ausgedünnt. Viele Abgeordnete ist groß, und er entlädt sich. Rheinland-Pfalz fragt ihn direkt: ob er kan- aus Nordrhein-Westfalen sind vor Ende »Ich fühle mich vergewaltigt«, sagt der didieren werde? der Sitzung zum letzten Zug in die Heimat hessische Abgeordnete . Post drückt sich um eine Antwort he- gehastet. Manche Abgeordneten über- aus Niedersachsen rum. Er sagt, es gehe nun um die Zukunft nachten in Berlin. Und der Parteivorstand nimmt Nahles zunächst in Schutz: Andrea der SPD als Volkspartei, er referiert die berät in einer Telefonschaltung über die- sei eine Kämpferin, sagt sie. Es dürfe nicht Lage der sozialdemokratischen Parteien sen Tag. In der Schalte verkündet Nahles gelten, dass der Erfolg viele Väter habe, in Europa. Zu seinen Ambitionen, so wird laut Teilnehmern, sie sehe in der Fraktion der Misserfolg aber nur eine Mutter, näm- es geschildert, sagt er demnach nichts. eine klare Mehrheit für sich. lich Andrea Nahles. Sollte Nahles aber bei Zwischendurch ergreift Nahles das Wie geht es nun weiter? ihrem Plan bleiben, sagt De Ridder, fühle Wort. Sie liest aus der Onlineausgabe der Nach diesem Mittwoch ist kaum vorstell- sie sich »genötigt«, würde sich zurückzie- »Bild«-Zeitung vor. »Es geht nicht mehr bar, wie die SPD mit Nahles weitermachen hen und mit Nein stimmen. darum, wer es wird, sondern nur darum, soll, wie man all diese Verletzungen heilen könnte, wie die Genossen zurückfinden wollen in eine Art Arbeitsmodus. Nur: Was wäre daran anders, wenn sich ein Gegenkandidat durchsetzen würde? Die Spaltung bliebe ja die gleiche, nur dass ein anderes Lager enttäuscht wäre. Dieser Tag wird auch über die SPD hinauswirken. Ganz gleich, was in den nächsten Tagen passiert, die Große Koali- tion wird nicht mehr dieselbe sein wie vor Nahles’ Alleingang. Vielleicht setzt Nahles sich noch einmal durch, mit Machtpolitik alter Schule. Doch die Aussprache in der Fraktion, in den Strömungen und im Vorstand hat offenge- legt, wie leid viele Abgeordnete die ewige Rationalität, die Disziplinierung sind, das Basta, mit dem schon Gerhard Schröder und Peter Struck durchgriffen. Diese Er- fahrung wird den Regierungsalltag prägen. Am Donnerstag, an Christi Himmel- fahrt, geht es schon los, es kommen erste Rufe, das Bündnis zu beenden. Sie dürften lauter werden, spätestens nach den drei

MICHAEL KAPPELER / DPA Landtagswahlen im Osten, nach der Som- Galerie der SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag: Es geht nun um alles oder nichts merpause. Allerspätestens. Fiele Nahles am Dienstag, wäre die Gro- ße Koalition womöglich noch schneller am Es folgt Martin Schulz. Er entschuldigt wer es nicht bleibt: Andrea«, so wird dort Ende. Verliert Nahles den Fraktionsvor- sich für seinen »überemotionalen Wortbei- während der laufenden Sitzung anonym sitz, kann sie den Parteivorsitz gleich mit trag« beim Seeheimer-Treffen. Auch bei ein Abgeordneter zitiert. Nahles’ Kom- niederlegen, ihre Machtbasis wäre weg – Kahrs persönlich hat er sich da schon ent- mentar: »So viel zu unserer Vertrauens- und damit ein Eckpfeiler dieser Koalition. schuldigt. Er wehrt sich noch einmal dage- kultur.« Auch Vizekanzler Olaf Scholz, den viele gen, dass ihm ein Putschversuch und Indis- Aber sie hat auch Unterstützer. Der Ab- Genossen als Teil des Problems wahrneh- kretionen unterstellt wurden. Er werde ja, geordnete René Röspel erklärt, er werde men, müsste dann um sein Amt fürchten. sagt Schulz laut Teilnehmern, von manchen sie wieder wählen. Und Außenminister Nahles’ Unterstützer streuen das drohen- mittlerweile mit verglichen. wirft die Frage auf, ob man mit de Ende der Koalition als Schreckens- Bei allem Respekt, aber das treffe ihn sehr, einem Mann auch so umgegangen wäre szenario. Doch es löst in der SPD immer sagt Schulz. Klar, sagt Schulz, »ich quatsche wie mit Nahles. Nein, befindet Maas – be- weniger Schrecken aus. manchmal auch dummes Zeug«. Aber seit stimmte Auftritte hätte man einem Mann In der Fraktionssitzung am Mittwoch hat seinem Rücktritt habe er versucht, »hier nicht so vorgehalten. Dafür gibt es kräfti- sich auch ein junger, aufstrebender Abge- loyal mitzuarbeiten«. gen Applaus. Den gibt es ansonsten kaum. ordneter zu Wort gemeldet, , Es gehe, sagt Schulz, um eine Grund- Die Stimmung bleibt gedämpft. 34, aus Wolfsburg. Alle schauten auf den satzentscheidung: Bekäme Nahles in der Das Schlusswort hat natürlich Andrea Dienstag, sagte Mohrs. Aber wie gehe es nächsten Woche eine Mehrheit, hätte sie Nahles. Da kursiert bereits die nächste Zei- weiter? »Ich frage mich die ganze Zeit, was Anspruch auf Unterstützung. Bekäme je- tungsmeldung, wonach sie einen Ausweg eigentlich am nächsten Mittwoch passiert.« mand anderes eine Mehrheit, hätte auch finden und als Ministerin ins Bundeskabi- Wie, fragte er, wolle die SPD danach wie- der darauf Anspruch. »In der Demokratie nett wechseln könnte. Das könne sie aus- der einen »Teamgeist« entwickeln? setzt sich eben immer jemand durch.« schließen, sagt Nahles in der Fraktion, kein

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ie Analyse der Wahlniederlage war D schonungslos. Die Partei sei derzeit Wahnsinn und Klimbim weder inhaltlich noch organisato- risch noch personell in der Lage, einen Union Wahlkampf zu führen, sagte Annegret Annegret Kramp-Karrenbauer ist erst ein halbes Kramp-Karrenbauer am Montag vor den Jahr im Amt, doch die Zweifel an der CDU-Vorsitzenden wachsen. Führungsgremien der CDU. Dann listete Ausgerechnet ihr engster Vertrauter verschärft die Krise. sie nach Angaben von Teilnehmern eine Reihe von Fehlern auf: Die Reaktion auf das Video des YouTubers Rezo gegen die CDU sei nicht gut gewesen. Beim Thema Klimaschutz gebe die Union keine konsis- tente Antwort. Und auf personeller Ebene habe die Partei ebenfalls kein attraktives Angebot, das Köpfe mit wichtigen The- men verbinde. Damit schob sie einen Teil der Verant- wortung ihrer Vorgängerin zu, die 18 Jahre lang für die Partei verantwortlich war. Angela Merkel ließ sich jedoch nicht wi- derspruchslos zur Mitschuldigen für das schlechte Ergebnis bei der Europawahl ma- chen. Mit Formulierungen wie »Gender- wahnsinn« und »Sozialklimbim« gewinne man keine jungen Leute, sagte sie in der Präsidiumssitzung der CDU. Sozialklimbim ist ein Wort des CDU- Wirtschaftspolitikers , das auch in den eigenen Reihen Kritik ausge- löst hatte. »Genderwahnsinn« verstanden manche Anwesende als Anspielung Mer- kels auf einen Scherz Kramp-Karrenbau- ers, die sich bei einem Karnevalsauftritt im Februar über Toiletten für das dritte Geschlecht lustig gemacht hatte. Beide Frauen haben recht, das ist das Problem der CDU. Merkel hat ihrer Partei die inhaltlichen Konturen abgeschliffen. Zu den großen Themen, neben dem Klima auch die Digitalisierung, hat die CDU we- nig zu sagen, und Kramp-Karrenbauer hat es nicht geschafft, der Partei wieder mehr Profil zu verleihen. Bei der Europawahl rutschte die Union um 6,5 Prozentpunkte ab, auf nur noch 28,9 Prozent. Knapp ein halbes Jahr nach ihrer Wahl ist in der CDU eine Debatte darüber ent- brannt, ob Kramp-Karrenbauer eine ge- eignete Nachfolgerin Merkels ist. Bei dem Versuch, die Partei von der Kanzlerin zu emanzipieren, hat die neue Vorsitzende Fehler über Fehler gemacht. Unter Merkel war klar, dass die Union vor allem die Wähler der liberalen Mitte ansprechen wollte. Das fanden viele falsch, die sich einen konservativeren Kurs gewünscht hät- ten. Unter Kramp-Karrenbauer ist unklar, ob es überhaupt eine Linie gibt. Es habe sich der Eindruck verfestigt, es gebe einen Rechtsruck in der CDU, sagte die Parteivorsitzende am Montag. Das sei aber eine Fehlwahrnehmung. Zu dieser hat sie selbst viel beigetragen. Ihr wichtigster Beitrag zur Programm- debatte war ein sogenanntes Werkstattge- STOCKI / ACTION PRESS / ACTION STOCKI spräch zur Flüchtlingspolitik in der Partei- Parteichefin Kramp-Karrenbauer: Was schiefgehen kann, geht schief zentrale, das ein Signal der Distanzierung

32 von Merkels Linie sein sollte. Kramp-Kar- »vermeintlicher Rechtsruck bei der JU so- halten ihn viele für ungeeignet. Hochran- renbauer war das wichtig, um eine Spal- wie die medial sehr präsente, sogenannte gige CDU-Politiker haben dies Kramp- tung der Partei zu verhindern und auch WerteUnion« hätten neben anderem zu Karrenbauer in den vergangenen Tagen den Flügel an sich zu binden, der sich einer deutlichen Abkehr unter 30-jähriger auch mitgeteilt. Die Entscheidung, eigent- Friedrich Merz an der Parteispitze ge- Wählerinnen und Wähler geführt, heißt es lich für die Klausurtagung des Vorstands wünscht hatte. dort. Lange verärgerte damit gleichzeitig am Sonntag geplant, wurde verschoben. Als sie weiter so agierte, als wollte sie die Konservativen und die Parteijugend. In Langes Wahlanalyse findet sich der vor allem den Konservativen in der Partei Das Papier war auch eine Selbstrecht- Satz: »Bei dieser Europawahl trat erst- gefallen, ärgerte das auch ihre Unterstüt- fertigung. Die Europawahlkampagne mit malig der zu erwartende Effekt eines Wahl- zer. Das Gender-Witzchen fanden viele den Schlagworten »Wohlstand«, »Sicher- kampfes ohne Ausspielen des Bevölke- Unionspolitiker unangemessen. »Wir dür- heit«, »Frieden« hat Lange konzipiert. Die rungsrückhaltes der Bundeskanzlerin ein.« fen nicht den falschen Eindruck erwecken, Bedeutung des Themas Klimaschutz hatte Das kann man so lesen, als sei es ein Fehler dass die CDU nach rechts rückt«, sagte die er unterschätzt. gewesen, Merkel durch Kramp-Karrenbau- schleswig-holsteinische Bildungsministe- Es war nicht sein erster Schnitzer. Die er zu ersetzen. Die Kanzlerin sieht das rin Karin Prien schon im April. Die Inte- missglückte Antwort der Partei auf das möglicherweise so. grationsbeauftragte Annette Widmann- Video des YouTubers Rezo geht auf sein Merkel empfand das Werkstattgespräch Mauz beschwor Kramp-Karrenbauer im Konto. Lange soll es gewesen sein, so be- als unnötig. Hätte Kramp-Karrenbauer kleinen Kreis, endlich die Positionen zu richten Eingeweihte, der Bundestagsabge- eine mögliche Schließung der Grenzen als vertreten, für die sie gewählt worden sei. ordneten davon erzählte, dass die CDU mit offizielle CDU-Position formuliert, hätte Noch mehr schadete der Parteivor - einem Video des jungen Merkel sich öffentlich dagegengestellt, sitzenden ein programmatischer Artikel auf Rezo antworten werde. Er gab auch ein heißt es in ihrer Umgebung. Im Lager der zu Europa, den sie im März in der »Welt Foto der Aufnahmen an die »Bild«-Zeitung. Parteichefin nimmt man Merkel dagegen am Sonntag« als eine Antwort auf die Vor- übel, dass sie sich aus den Wahlkämpfen schläge des französischen Präsidenten Em- der Partei heraushält. manuel Macron veröffentlichte. Mit For- 41,5% Zeitenwende Die Schwäche Kramp-Karrenbauers derungen wie der, das EU-Parlament nicht CDU/CSU hat die Machtverhältnisse verändert. Vor mehr in Straßburg tagen zu lassen, pro- 32,9% wenigen Wochen debattierte die Partei vozierte sie die Franzosen und verärgerte die Frage, ob die Vorsitzende Merkel zum die Europapolitiker in den eigenen Reihen. 28,9% Rückzug als Kanzlerin zwingen werde. Kramp-Karrenbauer handelte bislang 25,7% Nach dem Wahldesaster vom Sonntag vor allem taktisch. Sie denkt als Partei- SPD bekannte sich Kramp-Karrenbauer im vorsitzende. Der hätte man einen unaus- 20,5% 20,5% Präsidium zur Fortsetzung der Großen gegorenen Zeitungsartikel oder einen Koalition. Merkel hatte keinen Zweifel da- missglückten Karnevalsscherz vielleicht ran gelassen, dass sie bis zum Ende der verziehen. Aber Partei und Öffentlichkeit Grüne Legislaturperiode regieren will. 8,9% 15,8% interessiert die Frage, ob diese Frau auch 8,4% Das bedeutet, dass Kramp-Karrenbau- Kanzlerin könnte. Toilettenwitze gelten ers Dilemma sich verschärfen wird. Sie vorläufiges dabei nicht als Qualifikation. amtliches kann sich nicht von der beliebten Kanzle- Kramp-Karrenbauer muss nun eine Endergebnis rin absetzen, weil die eigenen Unterstüt- Erfahrung machen, die ihre Amtskollegen zer das nicht mitmachen würden. Aber von der SPD seit Jahren kennen: Wenn Bundestags- Bundestags- Europawahl wie soll sie dann Akzente setzen? Bislang es erst einmal schlecht läuft, dann geht wahl 2013 wahl 2017 2019 hat sie auf diese Frage keine Antwort. alles schief, was schiefgehen kann. Eine Eine offene Personaldiskussion will unbedachte Äußerung über Regeln zum die CDU vermeiden. Kritiker äußern sich Wahlkampf im Internet brachte ihr den Kramp-Karrenbauer erreichten bereits nur im Hintergrund. Das könnte sich nach Vorwurf ein, sie wolle die Meinungs - Anrufe besorgter Landeschefs und Gene- den Landtagswahlen in Sachsen, Bran- freiheit im Internet einschränken. Dass ralsekretäre, bevor sie von der Idee des denburg und Thüringen in der zweiten Laschet und der Vorsitzende der Jungen Videos mit Amthor wirklich überzeugt Jahreshälfte ändern, sollte die AfD in ein Union (JU), Tilman Kuban, darauf hinwie- war. Das mag sie auch dazu bewogen ha- oder zwei Ländern stärker als die CDU sen, die Meinungsfreiheit sei ein hohes ben, die Veröffentlichung abzusagen. werden. Gut, ließ sie noch schlechter aussehen. Wäre die Nachricht von dem Video nicht Die Debatte deutet sich bereits an. »Die Viele Fehler sind der Unerfahrenheit dank Lange schon im Umlauf gewesen, Volksparteien haben in der Substanz zu Kramp-Karrenbauers in der Bundespolitik hätte das nicht für Aufsehen gesorgt. So den großen Veränderungen, die vielen geschuldet. Umso wichtiger wäre es für aber wirkte es, als lasse sich die Partei von Menschen Angst machen, kaum etwas an- sie, erfahrene Berater an ihrer Seite zu einem jungen YouTuber vorführen. zubieten. Das schließt auch die CDU ein«, haben. Doch ausgerechnet ihr wichtigster Auch die verhängnisvolle Antwort an sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Aus- Mann, CDU-Planungschef Nico Lange, Macron hat Lange verfasst. Er besprach schusses, Norbert Röttgen.»Schlagwörter wirkt mit dieser Aufgabe überfordert. sich vorher weder mit Abgeordneten und Worthülsen sind keine Konzepte. Das Lange, ein ehemaliger Zeitsoldat, war noch mit der Fachabteilung im Konrad- zu ändern ist die Aufgabe, an der sich die für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Adenauer-Haus, wie Mitarbeiter berich- Zukunft der Partei, aber auch die von An- verschiedenen Ländern tätig. Sein Selbst- ten. Die hätte die Forderung, endlich EU- negret Kramp-Karrenbauer entscheiden bewusstsein übertrifft seine Erfahrungen Beamte zu besteuern, wohl aus dem Text wird.« Dass ein CDU-Politiker, der Kramp- in der Berliner Politikszene. Am Abend gestrichen. Eine Steuer gibt es längst. Karrenbauer gegen Merz unterstützt hatte, der Europawahl verfasste er nach Anga- Lange galt als Favorit für die Nachfolge ihre Zukunft infrage stellt, dürfte ihr end- ben von Mitarbeitern eine spontane Wahl- des scheidenden Bundesgeschäftsführers gültig den Ernst der Lage klarmachen. analyse und verschickte sie an die Partei- Klaus Schüler. Damit würde seine Macht Ralf Neukirch spitze, ein ungewöhnlicher Vorgang. Ein weiterwachsen. Doch im Parteipräsidium

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sieben Jahren vorgestellten Programm gab Die Weisheit des er den Titel »Freude ist nur ein Mangel an Information«. In der Rolle eines weisen, maulwurfs- grummeligen Eremiten kombiniert Sems- Maulwurfs rott die Schilderung von privaten Mise- ren – darunter Studienabbruch, Hilf- Wahlen losigkeit im Liebesleben und eine durch Nico Semsrott wird von vielen jungen Menschen als Satirestar keine Therapie kurierbare Schwermut – verehrt. Nun hat er für »Die Partei« ein Mandat in Brüssel errungen. mit der Schilderung einer pathologischen Gesellschaft. Den Leistungsdruck des Kapitalismus, die mediale Über- an kann womöglich Fort- forderung, vor allem aber die Dau- M schritt dazu sagen. Vor an- ererregung der Rechtspopulisten derthalb Jahren, im Bun- und ihrer Anhänger kontert der En- destagswahlkampf, trat der Satiri- tertainer Semsrott mit maximaler ker Nico Semsrott noch unter dem Lethargie. Motto »Weil ich mir egal bin« an. Sein bislang grandiosester Streich Auf Wahlplakaten blickte er bleich ist ein YouTube-Video, in dem er und traurig, die Schrift verkündete: mit fast schon komatöser Seelen - »Wir geben der Krise ein Gesicht.« ruhe das Weltbild der AfD zerlegt, Es klappte nicht mit dem Mandat. indem er diverse AfD-Parolen vor- Nun aber ist er mit dem Slogan trägt und sie durch Zuspitzung ent- »Besser als nix« tatsächlich ins Eu- zaubert. »Ich sehe was, was du ropäische Parlament gewählt wor- nicht siehst, und das ist die Islami- den. Erbaulicher? Semsrott spricht sierung des Abendlandes«, heißt es mit betont tonloser, leiernder Stim- in diesem Video, das seit August me. »Das ist bei uns jetzt kein opti- 2016 mehr als 2,6 Millionen Mal mistischer Ansatz wie bei den Grü- angeklickt wurde. nen, so in der Art: ›Ey, die Blumen Das Paradoxe am scheinbar völ- sprießen, die Schmetterlinge flat- lig ehrgeizfreien Spiel des Satiri- tern, wir bauen jetzt das neue kers Semsrott, der lieber nicht Co- Europa.‹ Nee, wir sagen: Eigentlich median genannt werden will (»Sa- ist alles im Arsch. Aber wir schauen tire muss wehtun. Alles andere ist mal, was wir noch rausholen kön- belanglos, also Comedy.«), ist der nen, indem wir die letzten Kräfte aufklärerische Ehrgeiz, den er als mobilisieren.« Bühnenheld wie als Politiker offen- Der Unterhaltungskünstler Nico bart. Seine Arbeit als Komiker be- Semsrott, 33, hat bei der Europa- schreibt er so: »Die Figur, die ich wahl eines der beiden Mandate spiele, weiß zwar, dass alles schon für die Satirepartei »Die Partei« er- Semsrott-Plakat verloren ist, aber sie setzt sich trotz- rungen. Das andere ging an Martin »Die Figur, die ich spiele, weiß, dass alles schon verloren ist« dem zur Wehr. Weil sie die Arsch- Sonneborn, 54. Sonneborn hat löcher und das Böse nicht gewin- »Die Partei« im Jahr 2004 mit ein paar dent Sloweniens, ebenfalls ein Comedian – nen lassen will.« Über seine Pläne für die Mitstreitern im Dunstkreis der Zeitschrift wie im Grunde ja auch Donald Trump. An- Abgeordnetenzeit in Brüssel sagt er: »Viel- »Titanic« gegründet. 2,4 Prozent der Stim- tipolitiker sind gerade beliebte Politiker, leicht gehe ich am Ende enttäuscht raus men holte »Die Partei« nun bundesweit und Humor ist eine scharfe Waffe. Oder aus der Politik. Mein Vorteil ist, dass ich bei den Wahlen fürs Europäische Parla- wie Semsrott 2017 für sich warb: »Liebe schon enttäuscht reingehe.« ment. Unter den Wählern, die jünger als Nichtwähler, wenn’s euch egal ist, wer im Solche Sätze sagt Semsrott in schneller 30 Jahre sind, brachte sie es zur viert- Bundestag sitzt, wäre es dann nicht schön, Folge, ohne dass man ihm irgendeine Mühe stärksten Kraft hinter den Grünen, der von jemandem vertreten zu werden, dem’s anmerkt. Er ist in Hamburg aufgewachsen, Union und der SPD, noch vor den Linken. egal ist, dass er im Bundestag sitzt?« hat nach dem Abitur tatsächlich ein Studi- Semsrott selbst sagt bei einem Telefonat Auf der Bühne trägt Semsrott stets um abgebrochen und diverse Praktika, un- am Dienstag nach der Wahl, das er aus einen dunklen Kapuzenpulli. Die Augen- ter anderem bei SPIEGEL ONLINE, absol- Brüssel führt, wo er gerade die Lage er- lider auf halbmast, die Gesichtszüge blei- viert. Mit seinen Poetry-Slam-Auftritten, kundet: »Ich bin ein lebendes Mahnmal ern, die Körperhaltung schlaff, so trägt er für die er bejubelt und preisgekrönt wurde, für die vergessene Jugend in Europa.« vor, was er über eine traurige Welt und sei er »in eine Karriere reingescheitert«, Und so überraschend der Erfolg der seine meist depressive Grundstimmung wie er das ausdrückt. »Partei« ohnehin ist – noch erstaunlicher zu berichten hat. Er selbst nennt sich ei- Der Erfolg der Partei »Die Partei« habe dürfte sein, wie sehr Satiriker gerade die nen »Demotivationstrainer«. Zunächst damit zu tun, glaubt Semsrott, »dass viele europäische Politik verändern: Beppe Gril- bei Poetry-Slam-Wettkämpfen, dann auf der jüngeren Wähler sich einfach nicht von lo und seine Fünf-Sterne-Bewegung in Kabarettbühnen und seit 2017 als wieder- den anderen Parteien repräsentiert fühlen«. Italien, Jón Gnarr, der die isländische kehrender Gast der »heute-show« im ZDF Aber eben auch mit dem Auftreten der Hauptstadt Reykjavík als Bürgermeister hat sich Semsrott ein großes Publikum »Partei«-Kandidaten und ihren Wahlwer- regierte. Wolodymyr Selenskyj, der neue erspielt, das hingerissen seinen Vorträgen bespots, in denen zum Beispiel ein Höchst- ukrainische Präsident ist immerhin ein Se- folgt. Seine Monologe sind fast immer wahlalter für Senioren gefordert wird. Für rienstar, Marjan Šarec, der Ministerpräsi- Katastrophenberichte. Einem erstmals vor einen ihrer Spots zur EU-Wahl hatte »Die

34 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Partei« der Flüchtlingshilfsorganisation Sea-Watch den Sendeplatz freigeräumt, da- mit sie Bilder eines im Mittelmeer ertrin- kenden Jungen zeigen konnte. Semsrott formuliert es so: »Wir machen ernste Poli- tik, die manchmal auch Lust bereitet.« Mit hörbarem Stolz berichtet er von einer Studie, die ihm unter allen deutschen EU-Parlamentskandidaten die größte Reichweite und den größten Impact be- Jetzt im scheinigt habe, was Instagram, Twitter oder YouTube angehe. »Wir haben eine an die Zeit angepasste Kommunikation. Handel Wir sind unterhaltsam. Man guckt sich unsere Sachen freiwillig an, man schickt sie an Freunde weiter.« Die Leitartiklerfloskel, dass der Erfolg der »Partei« ein Zeichen von Politikver- drossenheit sei, bringt Semsrott in Rage. »Das Wort ist falsch. Die Leute sind par- teienverdrossen, aber politisch so interes- siert und engagiert wie sonst was.« Er selbst staune, sagt Semsrott, wie viele Bür- ger in den vergangenen zwei Jahren im Kampf um den Hambacher Forst und ge- gen die schärferen Polizeigesetze, gegen die Klimakatastrophe und gegen rechts den Weg auf die Straße gefunden hätten. »Das ist doch beeindruckend, wie sehr die- se Zivilgesellschaft on fire ist«, findet der Satiriker. »Große Teile der deutschen Be- völkerung sind politischer als die Politiker selbst.« Regelrecht wütend mache ihn die Lei- denschaftslosigkeit der Mächtigen in Ber- lin, die zum Beispiel in der Bundespresse- konferenz demonstriert werde, sagt Sems- rott. »Wie unglaublich langsam unsere Politiker ihre Debatten führen! Wie un- fassbar zäh über erneuerbare Energien www.spiegel-geschichte.de oder die mörderische Grenzpolitik der EU geredet wird!« Ein unter den Fans längst berühmter Satz der Bühnenfigur Semsrott, die sich nur schwer zu irgendeiner Aktion aufraf- fen kann, lautet: »Jede Entscheidung ist X Auch als App für iPad, Android der Tod von Milliarden Möglichkeiten.« sowie für PC/Mac. Hier testen: An der Wählerentscheidung, Sonneborn und ihn nach Brüssel zu schicken, gibt es geschichte.spiegel.de/digital eines, was den Politiker Semsrott, wie er sagt, »aufrichtig deprimiert«. »Die Partei« wird mit zwei männlichen Abgeordneten ins EU-Parlament einziehen, eine erst auf Listenplatz drei gesetzte Kandidatin na- mens Lisa Bombe hat es knapp nicht ge- schafft. »Natürlich ist es nicht gut, dass wir eine männliche Doppelspitze haben«, sagt Nico Semsrott. »Satire hin oder her. Mir Lesen Sie in diesem Heft: ist das peinlich.« Wolfgang Höbel Goethe »Wo die Zitronen blüh’n« Video »Depressive Antifa!« Mafi a Ein Pate aus dem Ruhrpott spiegel.de/sp232019semsrott oder in der App DER SPIEGEL Wenn bei Capri …

35 Der Soundtrack zum Fernweh »Wer auf YouTube zum Battle gefordert wird, muss reagieren«

SPIEGEL-Gespräch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt über die Angst der Union vor Blamagen im Internet, seine Vorstellungen von ambitioniertem Klimaschutz und zu der Frage, wie lange Annegret Kramp-Karrenbauer im Schatten der Kanzlerin stehen kann

Dobrindt, 48, Vorsitzender der CSU-Abge- ordneten im Bundestag, eilt verspätet in das Restaurant Vestibül im Wiener Burg- theater. Soeben hat er Gespräche mit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thun- berg und mit Arnold Schwarzenegger ge- führt, der für seine Klimainitiative »R20 Austrian World Summit« nach Wien einge- laden hatte. Dobrindt ist mit dem Flugzeug angereist, aber, das stellt er sofort klar, er hat dafür eine Klima-Ausgleichsabgabe gezahlt. Der CSU-Mann, früher schärfster Kämpfer seiner Partei gegen grüne Ideo- logen, erfindet sich in den Tagen nach der Europawahlschlappe der Union und dem Triumph der Grünen neu – als Klimaretter.

SPIEGEL: Herr Dobrindt, wie alt waren Sie, als Sie in die CSU eingetreten sind? Dobrindt: Ich bin mit 16 Jahren Mitglied bei der Jungen Union geworden. Mitte der Achtzigerjahre lag ich damit nicht wirklich im Mainstream. SPIEGEL: Wie kam es zu diesem Schritt? Dobrindt: Es hat mich fasziniert, wie Hel- mut Kohl mit dem Wechsel zur christlich- liberalen Koalition die politische Wende in Deutschland eingeleitet hat. An einen Sitz im Bundestag habe ich damals nicht gedacht. Ich wollte einfach mitgestalten an politischen Entscheidungen. SPIEGEL: Junge Leute unter 25 fühlen heu- te anders: Nur zwölf Prozent haben bei der Europawahl CDU oder CSU gewählt. Ist die Union ein Klub für alte Leute? Dobrindt: Nein. Wir sind in allen Alters- gruppen ab 35 Jahren die stärkste Kraft und damit nach wie vor breit aufgestellt. Das muss uns jetzt auch wieder bei den Alters- gruppen darunter gelingen. Es ist kein Na- turgesetz, dass wir bei jungen Wählern von den Grünen abgehängt werden. Bei der Landtags- und bei der Bundestagswahl 2013 waren wir als CSU die mit weitem Abstand stärkste Kraft bei den Jungwählern in Bay- ern. Dafür müssen im Wahlkampf die In- halte und die Kommunikation stimmen. SPIEGEL: Sie spielen auf den Umgang der Union mit dem YouTuber Rezo an, der in seinem millionenfach angeklickten Video / DER SPIEGEL PERTRAMER INGO »die Zerstörung der CDU« betreibt? Abgeordneter Dobrindt: »Zur Instagram-Ikone taugen andere besser«

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Dobrindt: Wenn man eine Woche vor dem nen Gesellschaft. Aber Gesellschaften, in SPIEGEL: Sie meinen den Klimaschutz? Wahltermin auf YouTube zu einem Battle denen das Netz komplett staatlich über- Dobrindt: Klimaschutz, Naturschutz, die herausgefordert wird, muss man reagieren. wacht wird, sind solche, in denen wir nicht Bewahrung der Schöpfung – genau diese SPIEGEL: Wo sahen Sie die Gefahr? leben wollen. Themen machen den Gencode christlicher Dobrindt: Das Video verdichtet in einer SPIEGEL: Kann unsere Demokratie Schritt Volksparteien aus. Ausgerechnet hier ha- schnellen Abfolge komplexe Inhalte zu halten mit der Digitalisierung? ben wir aber im Wahlkampf – auf der Stra- sehr einfachen Botschaften, sodass ein ver- Dobrindt: Wir erleben in ganz Europa, ße wie auch im Netz – zu wenig Angebote tieftes Nachdenken über das Gesprochene dass die größten Profiteure von Meinungs- gemacht. beim Zuschauer gar nicht stattfindet. Hän- freiheit und demokratischer Transparenz SPIEGEL: Ist das nicht auch Ihr Erbe? Als gen bleibt, dass die Volksparteien versagen genau diese Werte infrage stellen. Manche CSU-Generalsekretär haben Sie Ökos und oder falsch handeln. In Zeiten einer hoch ganz bewusst, weil sie wie die Rechtspopu- Vegetarier verspottet, als Verkehrsminister dynamischen Kommunikation in den so- listen unsere Demokratie destabilisieren die Autoindustrie gehätschelt. zialen Netzwerken und Plattformen muss und letztlich einen Systemumsturz wollen. Dobrindt: Ich mag Autos, das stimmt. man auf so etwas reagieren, und zwar auf Andere unbewusst, weil ihnen zum Bei- Aber ich mag keine Betrügereien. Da habe dem Feld, wo man attackiert worden ist. spiel die Dynamik des Föderalismus zu ich bei der Automobilindustrie im Diesel- SPIEGEL: Hätte die Union mit einem Vi- langsam ist. Ich glaube, dass in Wahrheit skandal immer einen klaren Strich gezo- deo antworten sollen statt mit einem elf- nur Demokratien in der Lage sind, tech- gen. Und ich finde es geradezu grotesk, seitigen PDF-Dokument? nologische Umbrüche in der Gesellschaft wenn ein Konzern verkündet: Wir bauen Dobrindt: Wenn der Gegner dich zum so zu steuern, dass sie zum Vorteil für alle Elektroautos, wenn die Politik es will. Ich Schachspiel auffordert, kannst du jeden- und nicht zum Nachteil für viele werden. sage, ein Autokonzern hat die verdammte falls nicht antworten: Okay, ich gehe mal SPIEGEL: Sie haben drei Handys vor sich Pflicht, sein Angebot so weiterzuent- meine Würfel holen. Man kann Schlachten auf dem Tisch liegen, sind aber nicht auf wickeln, dass er auch in Zukunft die mo- nur gewinnen, wenn man auf demselben Instagram oder Twitter. Wie weit her ist dernsten, innovativsten und besten Autos Spielfeld steht wie der Angreifer. es mit ihrer Social-Media-Kompetenz? der Welt baut, und nicht einfach auf die SPIEGEL: Wenn die CDU gegen einen Dobrindt: Ich bin auf Facebook, die CSU Ansage der Politik zu warten. Schachgroßmeister aber nur Amateure im Bundestag ist auch auf Instagram und SPIEGEL: Sie haben hier in Wien mit Greta aufbieten kann, dann war es vielleicht Thunberg und Arnold Schwarzenegger zu- klug, dem Duell vorerst auszuweichen. sammengesessen und über Klimaschutz Dobrindt: Wer zaudert, wird Debatten diskutiert. Was sagen Sie denen, welchen nicht gewinnen können. Außerdem teile »Der Wahlkampf hat Beitrag Sie dazu leisten? ich Ihren Vorhalt von Meister und Ama- gezeigt, dass wir beim Dobrindt: Wir haben alle kein Verständnis teuren nicht. für Menschen, die sich einreden, der Kli- SPIEGEL: Warum nehmen Sie die You- wichtigsten Thema zu mawandel würde sich irgendwie von allein Tube-Community als Angreifer wahr und wenig präsent waren.« auflösen. Aufgeklärte Menschen können nicht als Wählerschaft, mit der man viel- eigentlich nur noch über die Frage streiten, leicht besser Frieden schließt? wie schnell und mit welchen Mitteln wir Dobrindt: Ich unterscheide sehr wohl zwi- unseren CO -Ausstoß verringern können. ² schen dem einzelnen Absender, der uns an- Twitter. Aber in einer breiten Volkspartei Und da ist meine Position seit Langem, da- gegriffen hat, und den Millionen Empfän- wie der CSU muss nicht jeder alles bedie- für braucht es Anreize, Zwangsmaßnah- gern, die wir als Wähler erreichen wollen. nen. Zur Instagram-Ikone taugen andere men fruchten nicht. Aus Bürgern, die sich Die Volksparteien haben einen Nachhol- Kolleginnen und Kollegen besser. Doro- von gefühlten politischen Gängelungen für bedarf beim Thema digitale Kommu - thee Bär zum Beispiel, unsere Staatsminis- den Klimaschutz ausgegrenzt fühlen, wer- nikation. Die Dynamik der digitalen Kom- terin für Digitalisierung, leistet einen star- den mit Sicherheit keine überzeugten Kli- munikation kann man nicht beklagen, ken Beitrag für unsere Wahrnehmung in maaktivisten. Die Klimawende gelingt sondern man muss versuchen, sie zu nut- den digitalen Medien. durch Innovationen, nicht durch Verbote. zen, um für unsere Politik zu werben. SPIEGEL: Ein CDU-Abgeordneter twitter- Öko muss Spaß machen, um die Menschen SPIEGEL: Anders als CDU-Chefin Anne- te, dass die Jungwähler schon zur Vernunft in der Breite zu erreichen. Wir brauchen gret Kramp-Karrenbauer sinnieren Sie kommen und konservativ wählen würden, deshalb eine Politik, die Anreize für Inno- nicht über Regeln für die »Meinungsma- sobald sie ihr erstes eigenes Geld verdien- vationen setzt. che« im Internet? ten. Sehen Sie das auch so? SPIEGEL: Sie selbst haben bislang prak- Dobrindt: So habe ich sie nicht verstanden. Dobrindt: Je weniger man sich als junger tisch nichts für den Klimaschutz erreicht. Fortschritt lässt sich auch nicht aufhalten. Wähler mit der Union identifiziert, desto Dobrindt: Schönes Vorurteil. Aber wir ha- Genauso wie sich Arbeitnehmer auf die schwerer lässt man sich später von unseren ben zum Beispiel die größte Dynamik im Veränderung ihrer Arbeitssituation durch politischen Inhalten überzeugen. Wir sind Aufwachsen der erneuerbaren Energien. die Digitalisierung einstellen müssen, muss keine Partei für eine bestimmte Einkom- Bei der Mobilität haben wir die Halbie- auch die Politik zu Veränderungen bei der mensgruppe oder Altersschicht. Wir sind rung der Dienstwagensteuer für Hybrid- Wählerkommunikation bereit sein. eine Volkspartei, und als solche haben wir und Elektrofahrzeuge umgesetzt. Das war SPIEGEL: Hinter der Plattform YouTube den Anspruch, uns nicht von jungen Wäh- meine Initiative, und sie zeigt auch schon steht der Riese Google. Muss eine Regie- lern zu entkoppeln. Wirkung, aber dabei muss es nicht bleiben. rung nicht neue Technologien genau beob- SPIEGEL: Welche Lehre soll die Union also Ich will einen Schritt weitergehen – mit ei- achten und, wenn nötig, regulieren? aus dem Europawahlergebnis ziehen? ner Nullbesteuerung von reinen E-Dienst- Dobrindt: Natürlich darf im Netz nicht al- Dobrindt: Die Erkenntnis kann doch nur wagen. So kann es uns gelingen, dass wir les erlaubt sein. Deswegen gibt es zu Recht lauten: Volksparteien, überprüft eure zügig auch einen breiten Gebrauchtwagen- das Hatespeech-Gesetz, das Beleidigun- Schwerpunkte. Der Wahlkampf hat ge- markt für E-Fahrzeuge bekommen. Das gen, Diskriminierung und Rassismus un- zeigt, dass wir bei dem wichtigsten Thema, Gleiche gilt für steuerliche Förderungen terbinden soll. Das ist der Rahmen für die das uns der Wähler vorgegeben hat, zu we- bei der energetischen Gebäudesanierung. Kommunikation in einer freien und offe- nig präsent waren. Eines darf man allerdings auch nicht ver-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 37 gessen, wir retten in Deutschland das Welt- alle« und »alle Grenzen zu«, zwischen klima nicht allein, Deutschland ist für zwei »Klimaschutz um jeden Preis« und »Klima- Prozent der weltweiten CO -Emissionen wandel gibt es nicht«. Diese Konflikt - ² verantwortlich. dimensionen spalten unser Land. SPIEGEL: Was schließen Sie daraus? SPIEGEL: Was heißt das für die Union? Dobrindt: Die »R20«-Klimaschutzkonfe- Dobrindt: Ich glaube, dass es den bürger- renz hier in Wien zeigt doch, dass das alte lichen Volksparteien CSU und CDU gelin- Motto »Think global, act local« unserer gen kann, das politische Angebot für den Verantwortung als Industrienation nicht gesellschaftlichen Ausgleich zu schaffen. gerecht wird. Wir brauchen ein neues Pa- Wir haben in der zweiten Hälfte des vori- radigma: »Think global, act global«. Denn gen Jahrhunderts den Konflikt zwischen während Staaten wie Deutschland oder Markt und Staat gelöst mit der sozialen Frankreich ihre Emissionen stetig reduzie- Marktwirtschaft und damit eine verbin- ren, verschlechtert sich die weltweite Kli- dende bürgerliche Klammer gebildet, hin- mabilanz, und dafür sind vor allem China, / DER SPIEGEL PERTRAMER INGO ter der sich die Mehrheit in unserem Land Indien und die USA verantwortlich. Dobrindt, SPIEGEL-Redakteurinnen* versammeln konnte. Diese bürgerliche SPIEGEL: Während Greta auf Sie zeigt, zei- »Öko muss Spaß machen« Klammer brauchen wir jetzt auch bei den gen Sie auf China? neuen Konfliktdimensionen Ökologie und Dobrindt: Ich sage ausdrücklich, unsere SPIEGEL: Der alte Alexander Dobrindt Identität. Beide Sehnsüchte, Umwelt- Verantwortung für die Welt ist größer, als hätte die Schüler vielleicht »Klima-Kra- schutz und kulturelle Identität, sind übri- nur auf die deutsche Energiewende zu wallos« genannt. Ihr neues Ich ist geradezu gens im Kern konservative Anliegen, weil schauen. Wir können gar nicht so viele unheimlich verständnisvoll. sie Dinge bewahren wollen. Kohlekraftwerke abschalten, wie gleich- Dobrindt: Letztlich fordern die Schüler SPIEGEL: Warum profitiert die Union zeitig in Afrika neue geplant und gebaut ein, was wir im Pariser Klimaabkommen dann nicht von diesem neuen Zeitgeist? werden. Wenn wir erneuerbare Energien vereinbart haben. Das Klimaabkommen Dobrindt: Vielleicht weil es noch nicht ge- in Dritte-Welt-Ländern fördern und aus- hat auch meine Zustimmung. Ich kritisiere, nügend gelingt, den Wählern zu vermit- bauen, nutzt das der globalen Klimabilanz wenn Ideologie vor der Vernunft steht, teln, dass nur eine Volkspartei beide An- mehr als manche nationalen Maßnahmen. was ich den Grünen immer mal wieder an- liegen versöhnen kann. Zu diesem Kurs SPIEGEL: Ganz schön clever, das Problem laste. gehört auch die harte Abgrenzung von der Klimaschutz zu exportieren. SPIEGEL: Früher haben Sie die Grünen als AfD. Das Wesen der Rechtspopulisten, die Dobrindt: Nein. Das heißt nicht, dass wir »Protestsekte« bezeichnet, als »verlänger- sich ein Land zur Beute machen wollen, unsere Anstrengungen bei der Einsparung ten Arm von Brandstiftern und Steinewer- hat man jetzt auf schockierende Weise bei von CO verringern sollten. Im Gegenteil: fern«. Sind Sie jetzt so diplomatisch, weil der FPÖ in Österreich gesehen. ² Wir sollten schneller werden. Der Kohle- Sie sich den Grünen vielleicht demnächst SPIEGEL: Finden Sie eigentlich, um im ausstieg bis 2038 könnte auch ambitionier- als Juniorpartner andienen müssen? YouTube-Sprech zu bleiben, dass die AfD ter sein. Dobrindt: Gott bewahre. Aber es stimmt, »zerstört« gehört? SPIEGEL: Sie wollen den Kohlekompro- dieses Zitat hat in die damalige Zeit ge- Dobrindt: Ich will sie überflüssig machen. miss wieder aufschnüren? Laufen Sie jetzt passt, ich hab’s in letzter Zeit nicht wieder Wer glaubt, er könne die AfD einfach zer- auch mit bei »Fridays for Future«? verwendet. Zwar habe ich selten einen stören, hat die Dimension dieser Aufgabe Dobrindt: Der Fehler bei diesem Kompro- politischen Fehdehandschuh liegen lassen, nicht begriffen. miss ist, dass er ohne eine breite Debatte aber alles hat eben seine Zeit, und man SPIEGEL: Angela Merkel trat im Europa- zwischen Politik und Gesellschaft stattge- merkt, dass die Bevölkerung vieler Kon- wahlkampf fast nicht auf. Hat sie ihre Par- funden hat. Wenn wir ein Bewusstsein für flikte überdrüssig ist und sich einen ande- tei im Stich gelassen? die große Herausforderung, aber auch die ren Stil wünscht. Und was die Grünen an- Dobrindt: Die Union muss lernen, auch enorme Chance schaffen wollen, dass wir geht – bei den Jamaikaverhandlungen zukünftig Wahlen zu gewinnen, ohne An- als erstes Land der Welt gleichzeitig aus konnten sogar Toni Hofreiter und ich in gela Merkel. der Kernenergie und der Kohle aussteigen der Verkehrspolitik Kompromisse erzielen. SPIEGEL: Die stiehlt als eine Art Königin und die erneuerbaren Energien ausbauen, Ich will nicht ausschließen, dass eine neue von Europa derzeit ihrer Nachfolgerin An- dann brauchen wir eine breite Debatte Jamaikaverhandlungsrunde ganz anders negret Kramp-Karrenbauer die Show. Wie dazu. Das findet bisher nicht statt, weil ausgehen könnte als vor zwei Jahren. lange kann die neue Parteivorsitzende das wir darüber nicht politisch streiten, son- SPIEGEL: Bei der Europawahl lag die durchhalten, bis sie verbrannt ist? dern ein Expertenzirkel entschieden hat. AfD in zwei Bundesländern vorn. Steht Dobrindt: Die Union hat sich für eine Per- SPIEGEL: Es saßen doch alle mit am Tisch. der größere Gegner für Sie rechts oder sonalaufstellung entschieden, zu der ich Politik, Umweltverbände, Industrie und links? nur raten kann, eindeutig zu stehen. Wo Gewerkschaften. Breiter geht es kaum. Dobrindt: Das klassische Links-rechts- man hinkommt, wenn man ständig Spit- Dobrindt: Aber genau dieses Outsourcing Schema ist heute ergänzt worden durch zenpersonal infrage stellt, sieht man bei von politischen Kompromissen an solche zwei neue Konfliktlinien: Ökologie und der SPD. Schuld am dortigen Wahldesas- Runden führt doch dazu, dass Entscheidun- Identität. Auch hier geht es um Extrem- ter ist nicht Andrea Nahles, sondern es gen am Schluss zwar mit allen erdenklichen positionen zwischen »Grenzen auf für sind jene Teile der Partei, die einen weite- Lobbygruppen entstehen, aber nicht im ren Linksruck fordern. Wer Enteignungs- Dialog von Bevölkerung und Poli tik. Ich gedanken und Sozialismusideen diskutiert sehe auch nicht, dass die Anwesenheit von »Die Union muss und sich daraufhin wundert, dass das Wäh- Greenpeace-Vertretern am Verhandlungs- lerstimmen kostet, leidet offensichtlich an tisch die Schüler vom Streiken gegen den lernen, auch zukünftig politischem Realitätsschwund. Kohlekompromiss abgehalten hätte. Wahlen zu gewinnen, SPIEGEL: Herr Dobrindt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. * Melanie Amann und Anna Clauß in Wien. ohne Angela Merkel.«

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schätzen. Das ist jene Organisation rund lament gewählt, formuliert schon Ansprü- Quote für um den Thüringer Landes- und Fraktions- che an die Bundespartei: »Wir streben chef Björn Höcke, die vom Verfassungs- zwei Plätze im Bundesvorstand an«, sagt schutz als »Verdachtsfall« eingestuft wird. er. Aktuell hat Sachsen dort keinen Ver- den Osten Während Jörg Meuthen, Parteichef und treter, es dominieren Parteifreunde aus Europa-Spitzenkandidat aus Baden-Würt- westlichen Ländern, die zum Ärger des temberg, die Partei als wirtschaftsliberal »Flügels« eine Taskforce gegen rechtsex- Parteien Die AfD ist in den und bürgerlich-konservativ bewirbt, wol- treme Umtriebe an der Basis einsetzten. ostdeutschen Ländern stärker len die »Flügel«-Leute noch radikalere An- In der Brandenburger AfD gibt Andreas sagen, »sozialpatriotische« Positionen zur Kalbitz, der auch im Bundesvorstand ist, denn je. Nun wollen die rechten Parteiräson machen und quasi eine Quote den Ton an. Der »Flügel«-Koordinator, oft Landesverbände die Ausrichtung für den Bundesvorstand. als »Mann hinter Höcke« beschrieben, war der Bundespartei verändern. Mittwochabend, Dresden, Landesge- einer der Ersten, die bei der Wahlparty schäftsstelle der AfD: Die Parteispitze sitzt am Sonntag stolz die Ost-Wahlergebnisse zusammen und überlegt, ob man einen zitierten. Auch er meldet nun Ansprüche ino Chrupalla, Bundestagsabge- Ministerpräsidentenkandidaten aufstellen für die Vorstandswahlen Ende November T ordneter und Vizechef der AfD- soll. Teilnehmer der Runde berichten, dass an. Sollte sich , der Fraktion, sitzt im Restaurant Die sie sich am Ende geeinigt hätten, auf den auch Brandenburger ist, vom Parteivorsitz Eins unten im Gebäude des ARD-Haupt- Ausgang der Wahl zum Oberbürgermeis- zurückziehen, will Kalbitz neben seinem stadtstudios und isst Haxe vom Schwein. ter in Görlitz zu warten – denn da ist einer eigenen weitere Posten für den Osten: »Es Wenige Tage nach der Europawahl ist der ihren in der Stichwahl. ist richtig, wenn der Osten angemessen im Chrupalla in Feierlaune: »Die AfD ist im Falls Sebastian Wippel nicht Oberbür- Bundesvorstand abgebildet ist«, sagt er. Osten die Volkspartei, das haben die Wah- germeister wird, heißt es, würde er in Gör- Im Westen Deutschlands brauche es offen- len am Sonntag gezeigt«, sagt bar noch ein bisschen Zeit, bis er und grinst. die AfD so stark verwurzelt sei Es sind gute Zeiten für Chru- wie in seiner Region. palla, der aus Sachsen kommt. Zahlenmäßig sind die Westver- Dort ist die AfD bei der Europa- bände der AfD freilich stärker, wahl mit 25,3 Prozent stärkste deshalb scheiterten ostdeutsche Partei geworden, mit gut zwei Kandidaten und Themen oft auf Prozentpunkten vor der CDU. Parteitagen. Kalbitz wünscht Bei den Kommunalwahlen lan- sich, dass die Kollegen im Wes- dete sie in allen Landkreisen auf ten programmatisch von seiner Platz eins oder zwei – nur nicht AfD-Region lernen: »Der sozial- in den studentischen Groß- politische Fokus, den wir gesetzt städten Dresden und Leipzig. haben, ist das Erfolgsrezept.« Chrupalla, der vor der Politik Vor allem wenn man das mit als Malermeister gearbeitet hat, »klaren, pointierten Zielgruppen- und seine Kollegen im Landes- ansprachen« kombiniere. verband haben nun Großes Ähnlich klingt es bei Höcke. vor – in Sachsen, wo sie am Wo- Nach den Wahlen teilt der chenende direkt ein Regierungs- Thüringer mit, dass die Ergeb- und nicht nur ein Wahlpro- nisse »die erneute Bestätigung gramm verabschieden wollen, unseres Kurses in Thüringen, aber auch auf Bundesebene. der Solidarität und Patriotismus

Die Europawahl, bei der die / AGENTUR FOOCUS DÖRING / DER SPIEGEL SVEN verbindet«, seien. Während AfD bundesweit mit elf Prozent AfD-Abgeordneter Chrupalla: In Feierlaune »das bundesweite Ergebnis der viel schlechter abschnitt als von AfD enttäuscht«, triumphiert ihr selbst erwartet, verschiebt Höcke, habe man in seinem die Machtbalance in der Partei gen Osten. litz zur Landtagswahl antreten dürfen. Land die »starken 22 Prozent« der Bun- Während fast alle guten Europalistenplät- Sollte er aber gewinnen, würde der Bun- destagswahl verteidigen können. ze mit westdeutschen Kandidaten besetzt destagsabgeordnete Chrupalla dort als Noch beschwichtigen die »Flügel«-Ver- waren, schaffte die AfD im Westen nur Direktkandidat antreten – in jenem Wahl- treter, sie planten »keine Machtergreifung« schwache Ergebnisse. In Sachsen und kreis, in dem auch Ministerpräsident Mi- in der Bundespartei. Doch gemäßigte AfD- Brandenburg dagegen war sie stärkste Par- chael Kretschmer kandidiert. Chrupalla Vertreter sehen die Entwicklung mit Sorge. tei, in Thüringen, Mecklenburg-Vorpom- hat Kretschmer schon einmal besiegt und »Der ›Flügel‹ marschiert mit jeder Wahl mern und Sachsen-Anhalt direkt hinter den CDU-Mann aus dem Bundestag ver- mehr ins Zentrum der Partei, quasi wort- der CDU. Da in drei Ostbundesländern im drängt. Dieser AfD-Mann, so die Gedan- wörtlich«, sagt ein Bundesvorstandsmit- September und Oktober auch Landtags- kenspiele, könnte vielleicht als Kandidat glied. Auch Parteichef Meuthen zeigt sich wahlen stattfinden, wächst der Einfluss für die Staatskanzlei aufgestellt werden. schon mal vorsichtig ablehnend, was den der Sachsen, Brandenburger und Thürin- Landeschef Jörg Urban ist sich sicher, Anspruch auf Plätze im Bundesvorstand ger in der AfD – mit erheblichen Folgen dass seine AfD im September die »mit angeht: »Wir haben keinen Regionalpro- für den Kurs der gesamten Partei. Abstand stärkste Partei« in Sachsen wird. porz.« Aber: »Jeder, der sich berufen fühlt, Die drei Ostverbände stehen deutlich Dann werde man im Parlament nach ist frei, dann zu kandidieren.« weiter rechts als ihre Pendants im Westen, Mehrheiten suchen. Ziel sei »eine Re - Ann-Katrin Müller, Steffen Winter und sie werden von Männern angeführt, gierung unter Führung der AfD«. Urbans Mail: [email protected] die dem »Flügel« angehören oder ihn Vize Maximilian Krah, frisch ins EU-Par-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 39 Deutschland

Und eine Kanzlerin im Abgang, die bis zum Schluss die mächtigste Frau Europas Übler Rückfall bleiben will. Anderthalb Stunden lang haben Merkel und Macron am Abend der Europa Europawahlen telefoniert, aber von einer Brexit, Nord Stream, Eurozone: Das Verhältnis zwischen Annäherung beim Streit um das Spitzen- Berlin und Paris ist angespannt. Jetzt droht personal ist nichts zu spüren. auch noch Streit um das europäische Spitzenpersonal. Wenn Macron das Wort »Spitzenkandi- dat« ausspricht, kann jeder hören, wie we- nig er von der Idee hält. Er hastet durch er Raum, in dem die deutsche Kanz- vertreten kann. Sie muss verhindern, dass das lange deutsche Wort, Betonung auf D lerin den französischen Präsidenten ein Kommissionspräsident gegen den Wil- der dritten Silbe, die Konsonanten fallen von ihrem Spitzenkandidaten über- len der Deutschen bestimmt wird. wie kleine Speere in den französischen zeugen will, ist deutsch eingerichtet: eine Macron dagegen hat sich mit den euro- Satz. Aus dem Mund von Macron klingt Sitzgruppe aus braunem Leder, am Fenster päischen Liberalen zusammengeschlossen »Spitzenkandidat« ein wenig wie Stachel- eine einsame Topfpflanze. Auf dem Tisch und will, am liebsten gemeinsam mit den draht. steht eine Plastikflasche mit Mineralwas- Grünen, die Dominanz der großen Blöcke, Nach dem gemeinsamen Essen der ser und eine Thermoskanne mit Kaffee. der Konservativen und der Sozialdemo- Staats- und Regierungschefs erklärt Ma- Kein Zweifel: mehr Kanzleramt als Élysée. kraten, ein für alle Mal beenden. Er lehnt cron zum wiederholten Male, wie wenig Dorthin, in einen der deutschen Delega - das Spitzenkandidatenprinzip ab, vor al- er von diesem Auswahlprinzip hält, nach tionsräume im vierten Stock des neuen lem aber den Mann, für den Merkel kämp- dem nur Kommissionspräsident werden Ratsgebäudes in Brüssel, ziehen sich An- fen muss: Manfred Weber (CSU). kann, wer bei den Wahlen als Spitzenkan- gela Merkel und Emmanuel Macron am So stehen sie sich gegenüber: ein frus- didat angetreten ist. Schon vor Wochen Dienstagnachmittag zurück, bevor sie trierter Präsident, enttäuscht von Kleinmut hat er gesagt, es gebe keine rechtliche 45 Minuten später zu ihren Kollegen beim und Bedenkenträgerei der Deutschen, ent- Grundlage für das Verfahren. Nun, nach informellen EU-Dinner stoßen. Merkels schlossen, Europa notfalls mit anderen Part- den Wahlen, ist das Verfahren für ihn erst Sprecher postet noch davor ein Foto auf nern voranzubringen (SPIEGEL 21/2019). recht nicht mehr zeitgemäß, weil es die al- Twitter, Angela Merkel und Emmanuel Macron, beide lächelnd. Doch der Schein trügt. Das Verhältnis zwischen Berlin und Paris ist so ange- spannt wie lange nicht mehr. Seit Macron vor zwei Jahren in den Élysée-Palast ein- gezogen ist, hat das deutsch-französische Verhältnis eine neue, hitzigere Betriebs- temperatur. Macron will Europa ver- ändern, doch die Deutschen wiegeln ab. Das ist die Ausgangslage. Berlin hat Macrons Reform der Eurozo- ne abgelehnt, man streitet über Rüstungs- projekte und Waffenexporte, beim Brexit gelang es mit Mühe, einen Kompromiss zu finden, ebenso im Streit um die deutsch- russische Gaspipeline Nord Stream 2. Und jetzt, nach den Europawahlen, da die EU ihre wichtigsten Posten neu besetzt, droht wieder Ärger. Im Ringen um das europäische Spitzenpersonal verfolgen Pa- ris und Berlin unterschiedliche Interessen. Macron will den Augenblick nutzen, um die EU zu verändern, sie zu erneuern – wie er es in so vielen Reden angekündigt hat. Dafür braucht er einen tatkräftigen Kommissionschef, der in seinem Sinne agiert. Merkel muss dagegen den deutschen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber unterstützen. Das erwartet ihre Partei, die ihr ohnehin vorwirft, sie im Europawahl- kampf im Stich gelassen zu haben. Seit Merkel den CDU-Parteivorsitz abgegeben und ihren Rückzug aus der Politik ange- kündigt hat, ist sie, was man eine »lame duck« nennt, eine lahme Ente. Um zu ver- hindern, dass ihre Macht weiterbröckelt, muss die Kanzlerin beweisen, dass sie in

Brüssel immer noch deutsche Interessen PRESS PRESS / ACTION SIPA

40 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 ten Machtverhältnisse, die Dominanz der Spitzenkandidatensystems. Sie hält Weber in der EVP, wehrten sich gegen Barnier. einst großen Volksparteien, widerspiegelt. für einen akzeptablen Kandidaten, da ist »Bloß kein Franzose«, laute das Diktum »Diese Wahlen markieren einen Wende- sie von der CSU Schlimmeres gewohnt. aus Berlin, so erzählt es ein führender punkt für Europa«, sagt Macron in Brüssel. Vor allem aber weiß die Kanzlerin: CDU europäischer Konservativer. Als einen Zum ersten Mal seit 1979 könnten die bei- und CSU in der Heimat erwarten von ihr, »üblen Rückfall in Nationalismen«, die den großen Parteien zusammen keine dass sie Weber in Brüssel durchbringt. Die man eigentlich überwunden haben wollte, Mehrheit bilden. »Da können wir nicht harte Opposition Macrons und anderer beschreibt ein Beobachter die Verhand- einfach weitermachen wie gewohnt.« findet sie daher verstörend. lungen. Die Gegenbewegung hat Macron gera- Aus Sicht der Deutschen verstößt Ma- Diese Gefahr sieht man auch in Paris: de beim Dinner zu spüren bekommen, bei cron mit seinem kämpferischen Auftritt »Es geht jetzt zuallererst um Inhalte und Schweinefilet mit Spargel und Bohnen gegen ein ungeschriebenes Gesetz der nicht um Nationalitäten, die Besetzung stellte sich Merkel eindeutig hinter Weber, Gemeinschaft. Die »Chefs«, wie die Gip- des Kommissionsvorsitzes ist kein Kampf die Chefs waren unter sich und konzen- felteilnehmer genannt werden, wissen um eine Landesflagge«, mahnt Amélie de triert, es ging zur Sache, der Handyemp- voneinander, was zu Hause von ihnen Montchalin, Staatssekretärin für europäi- fang war ausnahmsweise blockiert. erwartet wird, jeder kennt die Zwänge aus sche Angelegenheiten im französischen Merkel wehrte sich gegen Macrons Argu- eigener Erfahrung, daher versuchen sie in Außenministerium. »Es geht hier nicht um ment, Weber fehle die nötige Erfahrung. Das der Regel, Kompromisse nicht durch öffent - eine Auseinandersetzung zwischen Frank- habe man über sie selbst auch gesagt, als sie liche Äußerungen unnötig zu erschweren. reich und Deutschland, das hat damit vor 14 Jahren ins Amt gekommen sei, sagte Doch gerade das tut Macron. Er hat die nichts zu tun.« sie. Der Abend endete mit einem Zwischen- Kanzlerin öffentlich unter Druck gesetzt Während Merkels CDU bei den Euro- sieg der Kanzlerin, einer Atempause für We- und die Personalfrage damit zur Machtfra- pawahlen eine Niederlage einstecken ber. Versuche von Franzosen und anderen, ge gemacht. Nun verteidigt Merkel Weber musste und ihrer Regierung durch die bereits am Dienstag einen festen Kriterien- auch deshalb, weil ihr nicht gefällt, wie Selbstzerfleischung des Koalitionspartners katalog für den künftigen Kommissionschef lautstark Macron in Brüssel auftritt. SPD eine Krise droht, kam Macron ge- festzulegen, hatte Merkel abgewehrt. Macron ist der vierte französische Prä- stärkt nach Brüssel. Zwar erreichte La Merkel war, das muss man wissen, ähn- sident, mit dem Merkel es in ihrer Kanz- République en marche, seine Regierungs- lich wie Macron nie eine Anhängerin des lerschaft zu tun hat. Um den zappeligen partei, am Sonntag nur Platz zwei hinter Nicolas Sarkozy zu verstehen, soll sie an- Marine Le Pens Rassemblement National. geblich Louis-de-Funès-Filme angeschaut Aber der Abstand zu den Rechtspopulis- haben, François Hollande wirkte dagegen ten war mit nur 0,9 Prozentpunkten ge- neben der deutschen Kanzlerin wie eine ringer als befürchtet. Schlaftablette. Macron aber bietet Merkel Vor allem aber sieht sich La République Paroli. Er will Europa gestalten, er macht en marche durch die Wahl als neue politi- ihr den Platz als unumstrittene Nummer sche Kraft im Land bestätigt. Die klassi- eins in Europa streitig. sche Rechte, Merkels Verbündete in der Merkel weiß, dass es einen Punkt geben EVP, ging mit 8,5 Prozent unter, ein histo- könnte, an dem sie Weber vielleicht auf- rischer Tiefstand; die Sozialisten kamen geben müsste. Dafür hat sie am Dienstag- knapp über 6 Prozent. Für En marche hat abend vorgebaut: Die EU müsse »hand- dieser Wahlabend bestätigt, dass die Be- lungsfähig« bleiben. Die Dinge, so sieht wegung die französische Parteienland- es die Kanzlerin, dürfen sich beim Perso- schaft unumkehrbar verändert hat. Das nal nicht so verkanten, dass gar nichts hat Konsequenzen auch für Brüssel. Wa- mehr geht. Man solle »pfleglich miteinan- rum, so argumentiert En marche, sollten der umgehen«, mahnt sie beim Gipfel. die Franzosen nun Weber, einem Vertreter Doch Macron scheint entschlossen, das der klassischen Rechten, noch dazu der zumindest befürchten Diplomaten in Brüs- CSU, die Europapolitik anvertrauen? sel, die Mahnung zur Mäßigung als Zeichen Der Streit um die Spitzenposten ist nur der Schwäche auszunutzen und Merkels Nie- einer der vielen Konflikte, die das deutsch- derlage als seinen Sieg zu feiern. Entspre- französische Tandem lähmen. Derzeit neh- chend deutlich mache Berlin in Richtung men Deutsche und Franzosen in Brüssel Paris klar, so ist zu hören, dass Macron nicht immer öfter entgegengesetzte Positionen darauf zu hoffen brauche, einen Franzosen ein. Für Europa, das geben auch Diploma- auf einen der Topjobs zu hieven, wenn Mer- ten kleinerer Länder unumwunden zu, ist kel keinen Deutschen durchbekomme. diese Entwicklung gefährlich. Denn als Alternative zu Weber präfe- Der polnische Ratspräsident Donald riert Macron entweder den Brexit-Unter- Tusk sprach das beim Abendessen am händler Michel Barnier oder die liberale Dienstag hinter verschlossenen Türen aus: Dänin Margrethe Vestager. Barnier ist, wie Eigentlich sähen die kleineren EU-Mitglie- Weber, Mitglied der EVP – also der nach der es nicht besonders gern, wenn der wie vor stärksten Fraktion – und außer- deutsch-französische Motor brumme, dem natürlich: Franzose. denn dann hätten alle anderen nicht mehr Genau das ist das Problem. Vor allem viel zu melden. Jetzt aber würden sich alle die CDU, also die Deutschen, so heißt es wünschen, dass Deutschland und Frank- reich sich endlich mal wieder einig wären. Julia Amalia Heyer, Christiane Hoffmann, Kanzlerin Merkel, Präsident Macron in Berlin Peter Müller, Britta Sandberg »Pfleglich miteinander umgehen«

41 Deutschland Auf verlorenem Posten

Militär Ein Soldat prangert Rechtsextremismus in den eigenen Reihen an, meldet zahlreiche Verdachtsfälle an den Geheimdienst. Jetzt soll er gefeuert werden.

atrick J. wollte Deutschland die- nen, er war bereit, sein Leben zu P riskieren, wenn es denn nötig sein würde. Ihm schwebte vor, als Elite- soldat weltweit im Einsatz zu sein. Doch aus einer Karriere beim streng geheim agie- renden Kommando Spezialkräfte wird wohl nichts. Statt auf verdeckter Mission im Ausland verbringt Patrick J. seine Tage mit Fahrdiensten in Ostdeutschland. Die Bundeswehr hat ihn kaltgestellt. Die Führung wirft ihm unter anderem vor, er habe vor zweieinhalb Jahren einen Untergebenen in der Spezialausbildungs- kompanie in Pfullendorf grundlos stramm- stehen lassen. Vor allem aber habe er Dut- zende Kameraden rechtsextremer Umtriebe bezichtigt. In vielen Fällen hätten sich die Vorwürfe jedoch »als übertrieben und halt- los erwiesen«, heißt es in einem Schreiben des Personalamts der Bundeswehr an ihn. Das allerdings ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn Patrick J. hat neben zahl- reichen Fällen, die in einer Grauzone lie- gen, durchaus handfeste Hinweise auf rechtsextreme Umtriebe in der Bundes- wehr geliefert. So führt der Militärische Abschirm- dienst (MAD), der Geheimdienst der Bun- deswehr, laut einem vertraulichen Schrei- ben des Bundesverteidigungsministeriums mehrere »nachrichtendienstliche Opera- tionen zu Verdachtspersonen, die auf In- formationen des Herrn J. zurückzuführen sind«. Auch das Bundeskriminalamt prüfe die Hinweise auf eine »mögliche strafrecht- liche Relevanz«. Dennoch wird der Unteroffizier vermut- lich nur noch wenige Wochen Teil der Truppe sein. Ende April hat er einen Brief vom Personalamt bekommen, in dem ihm seine Entlassung angekündigt wird. Der Vorgang ist bemerkenswert. Er er- zählt eine Menge über die Bundeswehr und große Teile der militärischen Führung, die Fehlverhalten in den eigenen Reihen gern ohne großes Aufsehen klären würde und regelmäßig als bedauerlichen Einzel- fall abtut. Zugleich illustriert der Fall die erstaun- liche Wendung von Verteidigungsministe- rin . Ihre Entschlos- senheit zur Aufklärung rechter Tendenzen in der Bundeswehr hat die CDU-Politike- rin mittlerweile gegen politischen Pragma- tismus eingetauscht. Sollte die Bundeswehr Patrick J. raus- DOMINIK BUTZMANN werfen, würde das ein fatales Signal an all Unteroffizier J. vor dem Bundestag: »Ziemlich viele Einzelfälle«

42 jene Soldaten senden, die sich trauen, Missstände in der Truppe anzuprangern. Im Bundestag sorgt der Verdacht, dass mit J. ein unliebsamer Whistle blower still und leise entfernt werden soll, bereits für Unruhe. Nächste Woche will das Parlamen- tarische Kontrollgremium beraten, ob man den Soldaten in den abhörsicheren Raum des Geheimdienstgremiums einlädt, damit er seine Sicht der Dinge schildern kann. Patrick J., 31, ein kompakter Mann mit breiten Schultern, erscheint zum Gespräch im Berliner SPIEGEL-Büro mit Gepäck. Darin ist seine Uniform verstaut, akkurat gefaltet. Für die Fotoaufnahmen vor dem Reichstagsgebäude legt er sie stolz an.

Bevor er als Zeitsoldat zur Bundeswehr / DPA SEEGER PATRICK kam, erzählt J., habe er überlegt, Polizist Wandschmuck*: Auf der Suche nach Wehrmachtdevotionalien zu werden. Zwischendurch studierte er für mehrere Jahre Jura. Er habe sich immer eher dem konservativen Lager zugeordnet te, die Poli zei habe Anweisungen, »je- Ähnlich hat Verteidigungsministerin Ur- als dem linken. den, der sich gegen das antideutsche sula von der Leyen noch im Frühjahr 2017 Schon zu Wehrdienstzeiten vor bald Merkel-Regime stellt, hinzurichten«. argumentiert. Damals war gerade der rechts- zehn Jahren habe er aber gemerkt, dass Anstatt den Wirrkopf zurechtzuweisen, radikale Soldat Franco A. aufgeflogen, der einige Kameraden ein rechtslastiges Welt- verlor sich der Soldat selbst in Ver- sich als Flüchtling getarnt und womöglich bild hätten, das über das hinausgehe, was schwörungstheorien: »Das einzigste über einen Anschlag nachgedacht hatte. tolerierbar sei. Durch die Flüchtlingskrise was wir sind, sind dumme Arbeiter, die Schnell stand fest, dass es schon Jahre zu- sei das Problem noch massiver geworden. einer großen GmbH angehören«; vor Hinweise auf die Gesinnung des Solda- Im Sommer 2016 meldete Patrick J. zum ‣ einen Stabsunteroffizier, der schutzsu- ten gegeben hatte, die aber von Vorgesetz- ersten Mal einen Verdacht an den MAD. chende Syrer »Fahnenflüchtige« ge- ten als Spinnereien abgetan worden waren. Patrick J. ist ein Mann mit einer Mission: nannt haben soll. In einer WhatsApp- Von der Leyen blies daraufhin zum »Die Bundeswehr muss ihr Rechtsextremis- Gruppe habe er ein Foto von einem mit Kampf gegen den »falsch verstandenen musproblem endlich ernst nehmen«, sagt Nazitattoos übersäten Oberkörper ge- Korpsgeist«. Massiv unter Druck, attestier- er. Weil sie das aus seiner Sicht bisher nicht postet. SS-Runen sind darauf zu erken- te sie ihrer Truppe ein »Haltungsproblem«. genügend getan habe, begann er auf eigene nen, ein Porträt von Adolf Hitler und Die Befehlshaberin ordnete eine Durch - Faust zu recherchieren, in den Kasernen der Schriftzug »Sieg Heil«. Wer der suchung der Stuben in allen Kasernen an und in den sozialen Netzwerken. Heraus- Mann auf dem Foto ist, ist unklar; und ließ nach Wehrmachtdevotionalien gekommen ist ein mehr als hundert Seiten ‣ einen Stabsunteroffizier, der auf Insta - fahnden. Generäle liefen Sturm gegen die dicker Bericht, der inzwischen im Berliner gram mit rechter Szenekleidung sowie Befehlshaberin, viele Soldaten fühlten sich Regierungsviertel die Runde macht. einem Tattoo posierte, das an einen zu Unrecht pauschal verurteilt. Von dem Patrick J. hat darin zahlreiche Hinweise Reichsadler erinnert. Unter den Face- Vertrauensverlust in der Truppe hat sich auf mögliche rechtsextreme Umtriebe in book-Freunden des Mannes fanden sich von der Leyen bis heute nicht erholt. der Truppe zusammengetragen. Einiges Rechtsextremisten, die das KZ Ausch- Die Ermittlungen gegen Franco A. förder- spielt sich in einem Graubereich ab, ist ver- witz mit Legosteinen nachbauen oder ten auch Verbindungen zu merkwürdigen mutlich weder strafbar noch eindeutig ver- zum Geburtstag Hitlers eine Torte mit Chatgruppen zutage, in denen sich Soldaten fassungsfeindlich. Ansatzpunkte, genauer der Zahl »88« posten, ein Neonazicode und andere Staatsdiener offenbar auf den hinzusehen, liefert sein Dossier aber alle- für »Heil Hitler«. Zusammenbruch der Bundesrepublik vor- mal. So entdeckte er etwa: Patrick J.s Material ist derart umfang- bereiteten. Derzeit untersucht der Geheim- ‣ einen Stabsgefreiten, der auf Instagram reich, dass er den Behörden eine CD er- dienstbeauftragte des Bundestags, ob sich vor der preußisch-königlichen Kriegs- stellte, mehr als hundert Namen meldete ein bedrohliches rechtes Netz gebildet hat. flagge posierte und sich mit seinen er. Einen Auftrag für die Recherchen hatte Die Ministerin aber hält sich seit ihrem Hashtags als »Ibster« outete – als Sym- ihm niemand erteilt. Er ist überzeugt, et- harsch kritisierten Vorstoß öffentlich zu- pathisanten der vom Verfassungsschutz was tun zu müssen, was andere aus fal- rück. Selbst als gut ein Jahr später eine beobachteten »Identitären Bewegung«; schem Kameradschaftsgeist unterlassen. Abschiedsfeier des Kommandos Spezial- ‣ einen Hauptgefreiten, der sich in Chats »Wenn rechtsextreme Vorfälle in der Bun- kräfte öffentlich wurde, bei der rechte Mu- als »durch und durch rechts« bezeich- deswehr bekannt werden, ist oft die Rede sik gespielt und der Hitlergruß gezeigt wor- nete: Er kämpfe »gegen die komplette von bedauerlichen Einzelfällen«, sagt er. den sein sollen, beließ es von der Leyen Selbstaufgabe der weißen Nationen« Natürlich sei nicht die ganze Truppe rechts- bei der lauwarmen Bewertung, das Spek- und »den linken Schwachsinn, der ei- lastig, er erhebe keinen Generalverdacht. takel sei »geschmacklos« gewesen. nem in der Schule, in den Nachrichten »Es sind aber ziemlich viele Einzelfälle.« Dem MAD hat Patrick J. mit seinem und in den Medien eingeprügelt wird«; Report in den vergangenen Monaten viel ‣ einen Oberstabsgefreiten, der auf Face- Arbeit gemacht. Nie zuvor hat der Militär- book mit der »Reichsbürgerbewegung« Vor zwei Jahren blies geheimdienst so viele detaillierte Hinweise sympathisierte, die an der völkerrecht- von der Leyen zum Kampf lichen Legitimität der Bundesrepublik gegen den »falsch ver- * Darstellung eines Wehrmachtsoldaten, Wehrmacht - zweifelt. Im Netz tauschte sich der Sol- maschinenpistole in Aufenthaltsraum der Kaserne dat mit einem Mann aus, der behaupte- stan denen Korpsgeist«. Illkirch 2017.

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 43 auf angeblich rechtsgesinnte Soldaten auf sein will. So soll im Frühjahr 2017, als am Heikel sind auch Grenzüberschreitun- einmal bekommen. Anders als von der Bun- Zaun der Kaserne im thüringischen Son- gen, die Patrick J. in der Staufer-Kaserne deswehr wird Patrick J. beim MAD nicht dershausen eine Gruppe mutmaßlicher in Pfullendorf vor etwa zweieinhalb Jah- als übereifriger Nazijäger abgetan. Der Migranten vorbeilief, ein Oberfeldwebel ren mitbekommen haben will. So habe Dienst prüft laut Ministerium jeden der sinngemäß gerufen haben: »Igitt, wo kom- dort das Gerücht von Scheinerschießun- rund hundert Hinweise, er ermittelt gegen men die denn bloß alle her?« gen die Runde gemacht. Ein Kamerad sieben Soldaten. Die Hinweise sind also kon- Als die Truppe beim Marschieren nicht habe auf seiner Stube rechtsextreme Mu- kret genug, um eine nachrichtendienstliche die Formation eingehalten habe, habe ein sik gehört, zwei andere hätten unter ihrer Beobachtung zu rechtfertigen. Die Hürden Unteroffizier angeblich gesagt: »Was wür- Feldbluse einen Ritteraufnäher mit dem hierfür sind hoch. Zwei weitere Soldaten de Hitler sagen, wenn er euch marschieren einstigen Schlachtruf der Kreuzzügler ge- hat der MAD ohnehin bereits im Visier. sehen würde?« Und ein Gefreiter habe den tragen, »Deus vult«, Gott will es. Und ein In zwei der insgesamt neun Fälle wurde weiterer Soldat habe in der Kantine den der Verdacht auf ein eindeutig rechtsextre- Spruch gemacht: »Wenn du nicht zu Hause mes Weltbild oder fehlende Verfassungs- Will die Truppe mit bist, dann fickt der Neger deine Freundin.« treue seit dem Frühjahr ausgeräumt. Die dem angeblichen Einzelne Teile seiner Aussagen bestätig- anderen sieben Operationen aber laufen ten sich. So hatten Kameraden tatsächlich noch. Daneben hat der MAD Informatio- Querulanten schnellen Kreuzritterabzeichen bei Ebay geordert. nen über mehrere der durch Patrick J. ge- Prozess machen? Auch räumte einer der Männer ein, beim meldeten Zivilisten, die sich in den sozialen Abendessen einen rassistischen Witz ge- Medien als Rechtsextreme geoutet hatten, macht zu haben, allerdings habe er an den Verfassungsschutz weitergereicht. Sprachassistenten Siri auf seinem iPhone »Schwarzer« gesagt, nicht »Neger«. Belege, Für die Bundeswehr und das Verteidi- so eingestellt, dass es ihn mit »mein Füh- dass rechtsextreme Musik gehört wurde, gungsministerium ist Patrick J. unange- rer« angeredet habe. gab es nicht. Und den schwersten Vorwurf, nehm. Wie viele Whistleblower ist er kein Das Verteidigungsministerium teilte auf die angeblichen Scheinerschießungen, konn- ganz einfacher Mensch, er wirkt bisweilen Anfrage mit, man begrüße es, wenn »cou- ten die bundeswehrinternen Ermittler eben- getrieben. Man kann sich vorstellen, dass ragierte Angehörige der Bundeswehr Hin- falls nicht bestätigen. Die Staatsanwalt- in der Truppe manche von seinen zahlrei- weise zu möglichen extremistischen Sach- schaft stellte ihre Ermittlungen ein. chen Schriftsätzen genervt sind. Aber darf verhalten zur Meldung bringen«. Allen Konsequenzen gab es für die Soldaten of- das ein Kriterium sein? Vorwürfen werde nachgegangen. Man fenbar nicht, für Patrick J. allerdings schon. In seinem Bericht führt Patrick J. nicht könne aber zu »einzelnen Verdachtsfall- Bei den Zeugenbefragungen beschuldig- nur Funde aus dem Internet an, sondern bearbeitungen und laufenden Operatio- te ihn einer seiner Kameraden: Er habe auch Vorfälle, deren Zeuge er gewesen nen keine Angaben machen«. ihn auf der Stube im Schlafanzug stramm- stehen lassen, einfach so. Was nach einer Lappalie klingt, ist in der Welt der Bun- deswehr ein »Missbrauch der Befehlsbe- fugnis«. Die Justiz verurteilte Patrick J. zu 1500 Euro Geldstrafe, was er nicht hinneh- men will; er bestreitet den Vorwurf. Patrick J. ist nun ein Soldat auf verlore- nem Posten. Der Abend auf der Stube und seine vielen, angeblich häufig falschen Ver- dächtigungen hätten gezeigt, dass ihm die »charakterliche Eignung« fehle, schrieb ihm die Bundeswehr. Am 15. Juni soll sein letzter Tag in der Truppe sein. Es sei denn, in letzter Minute setzt noch ein Umdenken ein. Nachdem ein Bundes- tagsabgeordneter und der SPIEGEL diese Woche Nachfragen zu dem Fall gestellt hatten, forderte Staatssekretär Gerd Hoofe, die rechte Hand von Verteidigungsministe- rin von der Leyen, umgehend die Akten der Bundeswehr über die geplante unehrenhaf- te Entlassung an. Schon nach einer groben Durchsicht wurde Hoofe misstrauisch, denn die Akten legen nahe, dass die Truppe mit dem angeblichen Querulanten ungewöhn- lich schnellen Prozess machen will. »Der Umgang mit dem Fall J.«, teilte das Verteidigungsministerium einige Stun- den später mit, »wird noch mal über- prüft.« Gleich für Anfang kommender Woche sei ein Gespräch zwischen Hoofe und dem Soldaten angesetzt. Matthias Gebauer, Wolf Wiedmann-Schmidt Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt. Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/uwe 44 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Deutschland

tern vor Ort gelangen, die Steuerhinter- käme, würde zudem auf personell ausge- Teures zieher ausfindig machen sollen. dünnte Finanzämter treffen. Dort fehlen An Daten jedenfalls fehlt es nicht: Das bundesweit rund 6000 Beamte. Bundeszentralamt für Steuern hat für die Sorgen bereiten, zumindest der Oppo- Versäumnis Jahre 2014 bis 2017 knapp vier Millionen sition und dem Bundesrechnungshof, die Datensätze aus EU-Partnerstaaten erhal- Angaben für das Jahr 2014. Es droht Ver- Finanzen ten. Das geht aus der Antwort des Bun- jährung, monieren die Prüfer in einem Bund und Länder tun desfinanzministeriums (BMF) auf eine Gutachten vom Herbst vorigen Jahres. sich schwer, Steuerdaten aus dem Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hervor. Das Scholz-Ministerium wiegelt ab: Für Ausland zu verarbeiten. Die Die Daten geben Aufschluss über Ver- einen Großteil der Fälle verlängere sich mögenswerte von durchschnittlich 47 Mil- die Verjährungsfrist, weil die Steuererklä- Suche nach Betrügern scheitert liarden Euro und Einkommen von 32 Mil- rung nicht immer pünktlich im Folgejahr an der notwendigen Software. liarden Euro, dazu zählen etwa Einkünfte abgegeben wurde. Hätten die Steuerpflich- aus Mieten oder Ruhegehälter. tigen die Einkommen absichtlich oder Hinzu kommen noch einmal 6,5 Millio- leichtfertig verschwiegen, steige die Ver- inanzminister Olaf Scholz (SPD) be- nen Datensätze, in denen Erträge in Höhe jährungsfrist sogar auf bis zu zehn Jahre. F sitzt ein feines Gespür dafür, wann von 478 Milliarden Euro aufgeschlüsselt Alles also halb so wild? Eher nicht. es sich lohnt, ein Thema zu besetzen. werden. Diese Angaben wurden nach Selbst wenn Scholz’ Leute recht hätten, Ob er zuständig ist oder nicht, spielt dabei einem OECD-Standard in rund 80 Län- wären »noch mehrere Hunderttausend keine Rolle. Zur europäischen Datensätze des Jahres 2014« Arbeitslosenversicherung äu- von der Regelverjährung betrof- ßert er sich ebenso wie zur Zu- fen, kritisiert der Rechnungshof. kunft der Rente – Scholz hat zu Am Ende drohen dem Fiskus allem etwas zu sagen. deshalb Steueransprüche in Mil - Leise wird der Minister aller- liardenhöhe zu entgehen. dings, wenn die Dinge in sei- Auch auf die Verlängerung nem eigenen Hause nicht plan- der Verjährungsfrist kann Scholz mäßig laufen. Wenige bis gar nicht bauen. Denn dazu müss- keine Äußerungen von Scholz ten die Finanzbehörden jeden finden sich deshalb zu einem einzelnen Vorgang als Fall für Problem, das Deutschland Mil- die Steuerfahndung anlegen. liarden Euro kosten könnte. Das ist aufwendig, und auch da- Es geht um den »automati- für fehlt das Personal. schen Informationsaustausch« Wahrscheinlich werden sich steuerrelevanter Daten auf in- viele Finanzämter deshalb mit ternationaler Ebene. Um sicher- einem Kniff behelfen, der sich zustellen, dass Steuerpflichtige schon im Umgang mit den Steu- ihr Geld nicht im Ausland vor er-CDs bewährt hat. Sie wollen dem deutschen Fiskus verste- die Steuerzahler anschreiben, sie cken, sind die Behörden auf mit dem Hinweis auf eingelaufe- Informationen aus anderen ne Informationen verunsichern Staaten angewiesen. Auch die und dann auf die Möglichkeit der Abgeltungsteuer ließe sich nur Selbstanzeige verweisen. abschaffen, wenn Klarheit be- Auf psychologische Tricks stünde, wie viel Geld im Aus- wollen sich jedoch nicht alle ver- land noch zu holen ist. Die Steu- lassen. »Steuerdelikte in astro- er ist vor allem unter Genossen nomischen Summen drohen zu verhasst, weil sie viele Kapital- verjähren«, kritisiert Markus erträge pauschal nur mit 25 Pro- Herbrand, Finanzpolitiker der zent belastet. FDP-Bundestagsfraktion. Und

Scholz’ Schweigen hat einen JENS OELLERMANN / BILD das nur, weil sich die Finanz- Grund. Seit einiger Zeit liefern Minister Scholz minister nicht für eine funktio- die Partnerstaaten zwar eine Alles halb so wild? nierende IT-Infrastruktur ein - Flut von Daten. Doch sobald gesetzt haben. »Ein Totalausfall diese in Deutschland anlanden, ist Schluss dern erhoben und betreffen Kapitalerträge für Deutschlands Beitrag im internatio- mit der geplanten Automatik. Seit Jahren aus den Jahren 2016 und 2017. nalen Kampf gegen Steuerhinterziehung« werkeln der Bund und die Länder, die für Die Finanzbehörden in Deutschland sei das, schimpft Herbrand. die Finanzverwaltung zuständig sind, an könnten nun prüfen, ob sich in dem Da- Der Bundesrechnungshof in Bonn will einer einheitlichen Computersoftware. tenwust Hinweise auf Schwarzgeld oder Scholz und seinen Kollegen aus den Län- Die wird zwar aufgebaut, die Schnittstel- unversteuerte Zinserträge finden. Wenn dern nun noch ein paar Monate Zeit geben. len aber funktionieren noch nicht, die Wei- alles glatt liefe. Tut es aber nicht. Im nächsten Jahr werden sich seine Ex- tergabe der Daten stockt. Zwar hat das Bundeszentralamt damit perten das Verfahren erneut anschauen. Das Problem ist nicht neu und auch begonnen, die Informationen an die Län- Es ist davon auszugehen, dass sie wieder nicht allein von Scholz zu verantworten. der weiterzugeben. Bei den Behörden vor etwas zu beanstanden haben. Schon sein Vorgänger schlug sich mit der Ort sind laut Deutscher Steuer-Gewerk- Christian Reiermann Frage herum, wie die Daten vom Bundes- schaft bisher jedoch keine Daten an - Mail: [email protected] zentralamt für Steuern zu den Finanzäm- gekommen. Die Datenflut, wenn sie denn

45 Deutschland Protokolle des Grauens Zeitgeschichte Vor 75 Jahren landeten die Alliierten in der Normandie, um Hitlers Wehrmacht niederzukämpfen. Geheime Abhördokumente von Gesprächen deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft zeigen, wie diese die Normandieschlacht erlebten.

ie leben, aber sie reden vom Ster- ten drehten sich um die eigene Achse, die ben. Wovon auch sonst, so groß hatten das De-Gaulle-Abzeichen drauf war der Schrecken, so alltäglich in Rot, und so ein paar Lausejungens, S vierzehnjährige oder dreizehnjährige, das Grauen. Jetzt, am 17. Novem- ber 1944, sind Georg Hornung und Josef fielen auch auf die Fresse. Lessman in Sicherheit, zwei deutsche Kriegsalltag 1944. Soldaten in US-amerikanischer Kriegs - Die Schlacht um die Normandie zählt gefangenschaft. auch dank Hollywood zu den wohl be- Was die beiden nicht wissen: Die Ame- rühmtesten Waffengängen der Weltge- rikaner hören in Fort Hunt bei Washington schichte. Millionen Menschen haben im mit, was ihre deutschen Gefangenen mit- Laufe der Jahrzehnte Klassiker wie Ste- einander besprechen, und schreiben es auf. ven Spielbergs »Der Soldat James Ryan« Die Schlacht um die Normandie liegt einige (1998) gesehen. Wochen zurück, die Erinnerung ist noch Zum 75. Jahrestag hat der SPIEGEL eini- frisch. Und so erzählt Hornung an diesem ge Tausend Kopien alliierter Abhör proto - Tag dem Kameraden, wie ein Major sei- kolle deutscher Kriegsgefangener aus Som- nem Regiment vorgeschlagen habe, sich mer und Herbst 1944 ausgewertet. Die Ori- den Alliierten zu ergeben, weil die Lage ginale liegen in Archiven in Washington aussichtslos gewesen sei. O-Ton Hornung: und London und sind Teil eines größeren Und unser Regimentskommandeur sag- Bestandes, den die Historiker Sönke Neit- te zu dem Major, was haben Sie gerade zel und Felix Römer vor wenigen Jahren gesagt? Und da hat der Major es ihm auftaten und für ihre Forschungen auswer- wiederholt. Da hat der Regimentskom- teten*. Die Zitate daraus sind hier, um der mandeur ihm mit der Hand eins über besseren Lesbarkeit willen, teilweise ge- den Schädel gehauen. Und dann hat er kürzt wiedergegeben. gesagt: Kameraden, der Mann ist vogel- Manchmal geht aus den Unterlagen frei, den könnt ihr erschießen. Und da der Name des Gefangenen hervor. In an- ist einer von uns hingegangen und hat deren Fällen sind nur der militärische den Major erschossen. Rang, die Einheit sowie Ort und Datum Auch der Kriegsgefangene Nummer DZ der Gefangennahme vermerkt. Die Pa- 7765 (M) – ein Leutnant der Wehrmacht – piere erlauben es in jedem Fall, dicht an hat in der Normandie gekämpft. Er ist in die Wehrmachtsoldaten einem Lager in Trent Park im eng lischen heranzukommen. Middlesex inhaftiert. Die Briten hören ihre Was haben sie – vom »Da fuhren dann die Torpedoboote, Gefangenen ebenfalls ab; laut Protokoll er- Gefreiten bis zum General, zählt der Leutnant seinen Mitgefangenen: von der Marine bis zur Landungsboote, Trossschiffe, Da lag ich mit Unteroffizier Winzel allein Waffen-SS – über die al- man sollte es nicht für möglich halten.« auf der Straßenkreuzung. Ich hatte noch liierte Invasion erzählt? zwei Maschinengewehre und zwei Ma- Damals, als sie unter sich Zitat aus einem Protokoll gazine voll, da kamen auf uns zugerannt, waren, als die Erinnerung vielleicht entfernt noch von uns 200 m, noch frisch war und nicht ungefähr 20 Amerikaner und ungefähr überformt durch Filme oder Angelesenes 5 De-Gaullisten, dabei noch so halbwüch- aus Büchern. sige Jungen. Ich sagte: »Winzel, jetzt ist Es begann im Morgengrauen des 6. Juni die Scheiße am Stinken.« Haben wir bei- 1944 mit der größten Landungsopera- de uns hinter die Mauer gekniet und ha- ben mit einem halben Magazin dazwi- * Sönke Neitzel: »Abgehört«. List; 640 Seiten; 10,95 Euro. schengehalten. Da kullerten ein paar Felix Römer: »Kame raden. Die Wehrmacht von innen«. Amerikaner durcheinander, zwei Zivilis- Piper; 544 Seiten; 12,99 Euro.

46 Alliierte Soldaten am Omaha Beach im Juni 1944 GAMMA / LAIF

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 47 Deutschland tion in der Geschichte der Menschheit. Bundesrepublik, keine Nato, keine US- Allein am D-Day, dem ersten Tag der Präsenz in Europa heute. Es ist also kein Invasion, brachten die Alliierten eine Wunder, dass Wissenschaftler und Jour- Streitmacht aus Großbritannien über den nalisten beinahe jedes Detail der so be- Kanal nach Frankreich, die beinahe so deutenden Kämpfe ausgeleuchtet haben. groß war wie die Bundeswehr heute: Wer hat erfolgreicher gekämpft, Briten mehr als 150 000 Mann und 16 000 Pan- oder Amerikaner? Antwort: am D-Day zer, Jeeps, Lastwagen. Etwa 1,5 Millionen die Briten, später die Amerikaner. Soldaten sollten allein in den nächsten Wie viele alliierte Soldaten brachen psy- acht Wochen folgen – vorwiegend Briten chisch zusammen? Ungefähr 25000. und Amerikaner, aber auch Kanadier, Die Abhörprotokolle zeigen nun, wel- Franzosen, Polen, Tschechen, Belgier, Nie- ches Leid sich hinter den Analysen und derländer, Norweger. Zahlen verbirgt, welche Furcht die Sol- Die Normandieschlacht endete mit daten peinigte. der deutschen Niederlage im Kessel von Wir waren in einem Bunker drin. Wir Fa laise im August 1944. Alle Träume haben fast keine Luft mehr gekriegt; wir Adolf Hitlers, die Westalliierten aus waren 30 Mann. Kannst dir vor- Europa zu vertreiben, hatten sich damit stellen, was wir für Angst hatten. als Illusion erwiesen. Für die Sieger war Wenn die mit den Flammenwer- »Es gab Offiziere, die fanden keinen der Weg nach Paris frei. Und Hitler muss- fern gekommen wären, auf den te nun einen Mehrfrontenkrieg führen, einen Ausgang nur, da wären anderen Weg mehr. Die haben auf den die Wehrmacht nicht gewinnen wir zusammengeschmolzen. ihre eigenen Truppen geschossen.« konnte. (Ein Unteroffizier, abgehört am Zurück blieben Tote über Tote, Ver- 10. Juli) Ein Oberleutnant wundete, eine verwüstete Landschaft. Über den Druck auf Kamera- Die Wehrmacht beklagte den Verlust von den, die nicht kämpfen wollten: 240000 Soldaten; Briten, Amerikaner, Ka - Man musste immer 200 bis 300 Meter nadier verloren ungefähr 225000 Mann. nach hinten flitzen, die Männer, die in- Sie wurden in der Normandieschlacht von zwischen stiften gegangen waren, wie- Bomben zerfetzt, von Maschinengeweh- der ranzuholen, teilweise mit der Pistole. ren niedergemäht, durch Granaten ver- Ich selbst habe das immer peinlichst ver- letzt. Zudem kamen knapp 20000 fran- mieden, obwohl es mir ein paarmal be- waren den Überwachungsprotokollen zu- zösische Zivilisten um. Längst vergleichen fohlen war, von der Waffe Gebrauch zu folge immer die anderen: Marineoffiziere Experten das Sterben am Atlantik mit machen. Aber es gab Offiziere, die fan- schimpften über das Heer (»so eine Plei- dem Grauen von Stalingrad. den keinen anderen Weg mehr. Die ha- te«), Heeresoffiziere über die Marine (»In Noch wichtiger als die militärische war ben auf ihre eigenen Truppen geschossen. jedem Krieg versagen diese Leute«). Und die politische Bedeutung der Normandie- (Ein Oberleutnant, abgehört am 6. Juli) alle ätzten über die Luftwaffe. Gängiger schlacht: Briten und Amerikaner verhin- Über das Plündern der französischen Zivil- Spott: »Wenn du ein schwarzes Flugzeug derten durch ihre Präsenz auf dem euro- bevölkerung: siehst, so ist es ein Engländer, wenn du päischen Festland, dass die Rote Armee Oberst Kessler: »Die Fallschirmjäger ha- ein weißes siehst, so ist es ein Amerika- des Kremldiktators Josef Stalin Deutsch- ben sich benommen wie die Schweine. ner, wenn du gar nichts siehst, ist es die land und möglicherweise sogar Frank- Hinten in Avranches haben die die Tre- Luftwaffe.« reich allein besetzte und befreite. Ohne sore der Juweliere mit Hafthohlladun- Der »Führer« hatte der Landung der die Landung in der Normandie keine gen gesprengt.« Alliierten augenscheinlich gelassen entge- Oberst Reimann: »Um zu klauen?« gengeblickt. Als er am Mittag des D-Day, Oberst Kessler: »Ja.« eines Dienstags, auf seinem idyllisch ge- Oberst Reimann: »Sind das Deutsche?« legenen Berghof bei Berchtesgaden vom Oberst Kessler: »Deutsche Fallschirm- Beginn der Invasion erfuhr, zeigte er sich jäger. Es wird alles gedeckt.« (Abgehört sogar erfreut: »Solange sie in England am 9. August 1944) waren, konnten wir sie nicht fassen. Jetzt Und natürlich über den Frust der Nie - haben wir sie endlich dort, wo wir sie derlage. schlagen können.« Ungefähr 200000 Deutsche ergaben In der Bevölkerung wurde die Neuig- sich in der Normandieschlacht. Nur ein keit »mit großer Begeisterung aufge- kleiner Teil wurde in alliierten Internie- nommen«, wie der Inlandsgeheimdienst rungslagern abgehört, doch nach ihren des Reichssicherheitshauptamtes meldete. Aussagen kann es keinen Zweifel geben, Die Rote Armee näherte sich bereits Ost- dass der Sieg der Alliierten einen Stim- preußen, die Westalliierten hatten Südita- mungsumschwung herbeiführte. »Ich bin lien samt Rom befreit, britische und ame- immer ein Optimist gewesen. Ich habe nie- rikanische Bomber legten Deutschlands mals geglaubt, dass wir den Krieg verlie- Städte in Ruinen. Da hofften viele, ein Er- ren, aber heute bin ich davon überzeugt«, folg an der Westfront könnte das Blatt gestand ein Major, während heimlich ein wenden. Band lief. Hitler hatte dort mit viel Propaganda- Und da nur der Erfolg viele Väter hat, getöse den Atlantikwall bauen lassen. NATIONAL ARCHIVES, WASHINGTON ARCHIVES, NATIONAL begann bald die Suche nach den Gründen Dieser sollte einen alliierten Angriff so Dokument aus Fort Hunt für die Niederlage bei anderen. Schuld lange an der Küste aufhalten, bis Ver -

48 kommen – wohl wissend, dass die Mit - gefangenen vor dem inneren Auge sahen, was gemeint war. Und dann kam die alliierte Flotte. Im Morgengrauen war die Armada vor der normannischen Küste aufgetaucht, mehr als 1000 Kriegsschiffe, darunter Schlacht- schiffe, Kreuzer und Zerstörer, die aus allen Rohren feuerten, und gut 4000 Lan- dungsboote: »Wir sahen die ganze Be- scherung da draußen liegen, Schlacht- kreuzer am Horizont, so ungefähr 20 Ki- lometer Entfernung, und da fuhren dann die Torpedoboote, Landungsboote, Tross- schiffe, man sollte es nicht für möglich halten.« So steht es in einem Abhör- protokoll. Die deutsche Marine verfügte im Lan- dungsbereich über gerade einmal einige Dutzend Boote. Und an den fünf Lan- dungsabschnitten kämpften nach Schät- zungen insgesamt nicht mehr als 2000 An- gehörige der Wehrmacht. Die Offiziere hatten sich vor der Inva- sion schriftlich verpflichten müssen, ihre Stellung bis zum letzten Mann zu vertei- digen. Auch Oberst Ludwig Krug unter-

ALAMY / LOC PHOTO / MAURITIUS IMAGES / MAURITIUS PHOTO / LOC ALAMY zeichnete ein solches Dokument. Sein Kapitulierende deutsche Soldaten bei Ravenoville im Juni 1944 Gefechtsstand war jedoch sofort umzin- gelt, und der enttäuschte Krug (»Ich habe mir die Invasion anders vorgestellt«) bat stärkung aus dem Hinterland eintraf. Die Das Grauen von Omaha Beach ist seinen Vorgesetzten um Weisung. Beide Zahlen waren beeindruckend: Zwischen später vielfach bezeugt worden: die Angst fürchteten offenkundig, vor ein Kriegs- Nordnorwegen und der spanischen Gren- der Männer in den Booten, das Erbrechen gericht gestellt zu werden, und schoben ze hatten Soldaten und Zwangsarbeiter wegen des hohen Wellengangs, die Schutz- einander die Verantwortung zu. rund 17,3 Mil lionen Tonnen Beton in losigkeit am Strand gegenüber den Deut- Laut Krug verlief das Gespräch wie Bunkeranlagen verbaut; allein an den schen, die aus ihren höher gelegenen Stel- folgt: französischen Küsten legten sie 6,5 Mil- lungen auf die GIs feuerten. Krug: »Herr General, ich bitte lionen Minen. Wie sprachen die gefangenen Soldaten um Befehl.« Wie aus den Abhörprotokollen hervor- über den Beginn der Invasion? Der General: »Was soll ich Ihnen geht, wussten die Soldaten vor Ort aller- Viele erlebten am 6. Juni erstmals die befehlen?« dings um die Schwächen des Atlantikwalls. volle Feuerkraft der größten Luftwaffe Krug: »Herr General, ich weise Er wies in der Normandie größere Lücken (USA) und der größten Marine (Großbri- auf diesen Befehl hin, den ich auf. Hitler und die Führung der Wehr- tannien) der Welt. Mehr als 14000-mal unterschrieben habe.« macht hatten vermutet, die Invasion werde überquerten alliierte Bomber oder Jäger Der General: »Tun Sie, was Sie für mehr als 200 Kilometer nordöstlich am im Laufe des Tages den Kanal. Tausende richtig halten.« Pas-de-Calais stattfinden, und vor allem Fallschirmjäger und hölzerne Lastensegler, Krug: »Wollen Herr General nicht dort die Befestigungen verstärkt. beladen mit Jeeps oder Haubitzen, lande- einen Befehl geben?« In der Normandie seien nur einige ten im Hinterland. Der General: »Nein, ich übersehe Punkte ausgebaut worden, berichtete der »Der Himmel war schwarz. Flugzeug die Lage nicht.« Major Hans-Joachim Förster einem Mit- nach Flugzeug, unglaublich! Wir gaben auf Krug: »Ich auch nicht.« gefangenen, »was dazwischenliegt, ist un- zu zählen. Und so tief flogen sie. Sie wuss- Der General: »Handeln Sie nach gefähr Käse«. ten genau, dass da keine Flak war«, be- Ihrem Gewissen.« Und ein Obergefreiter rätselte sogar richtete ein Überlebender einem anderen Krug ergab sich. über den Standort des Bollwerks, das ihn Gefangenen. Das Bombardement sei »un- Heute gilt die Invasion als überwiegend hatte schützen sollen: »Wo ist denn der glaublich« gewesen. amerikanische Operation. Seit Ronald Atlantikwall?« Antwort eines Offiziers: Die Gefangenen bedienten sich meist Reagan haben die US-Präsidenten die Er- »Oben in Calais.« Kommentar des Ober- einer distanzierten Ausdrucksweise. Sel- innerung an den D-Day als Gedenken an gefreiten: »Da nützt er doch nichts.« ten war die Rede davon, dass Gliedma- einen selbstlosen Kampf amerikanischer Der alliierte Plan sah vor, am D-Day ßen abgerissen oder Leiber zerfetzt wur- Helden zur Befreiung der Unterdrückten innerhalb eines 70 Kilometer langen Be- den. Das Stöhnen der Verwundeten, die dieser Welt inszeniert. reichs bei Caen zu landen. Briten, Ameri- Schreie der Sterbenden, das behielt jeder Allerdings ist die Saga unvollständig, kaner, Kanadier eroberten vier Strand - für sich, eingekapselt in der Erinnerung, vor allem die Bedeutung der Briten war abschnitte in etwa einer Stunde; nur am die oft lebenslang nachhing. beträchtlich: Ihre Navy stellte mit Ab- Omaha Beach kämpften die Amerikaner Stattdessen sprachen die Gefangenen stand den Großteil der Schiffe, die den fast den ganzen Tag lang und verloren davon, sie seien »kaputt geschossen« wor- Kanal überquerten. Am D-Day waren rund 4000 Mann. den oder hätten »fürchterliche Hiebe« be- ungefähr so viele Bomber und Soldaten

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 49 der Briten im Einsatz wie der Amerika- ner. Und der Landungsplan stammte maßgeblich von dem britischen General Bernard Montgomery (Spitzname »Mon- ty«), Befehlshaber der alliierten Boden- truppen. Erst später zementierte sich die militä- rische Dominanz der Amerikaner, wie der Invasionsexperte Peter Lieb in seinem Buch »Unternehmen Overlord« schreibt. Und noch etwas stimmt nicht an der Heldenversion: Die amerikanischen Sol- daten kämpften keineswegs so edel, wie häufig beschworen, was freilich nicht verdecken sollte, dass sie einen gerech- ten Krieg führten. Deut- sche Soldaten wurden nach der Gefangennah- »Da fing einer hinten an, eine weiße me vielfach umgebracht (SPIEGEL 17/2010). Fahne an einem Stock zu wedeln. Diese gewährten ihrer- Den haben wir dann auf 100 m umgelegt.« seits auch kein Pardon, wie die Abhörprotokolle Hasso Viebig belegen. »Da sind zehn amerikanische Fallschirm- jäger gekommen, die haben wir unter

der Hand abgemacht«, vertraute ein AFP Obersturmführer der Waffen-SS einem Major Viebig (r.), Kameraden nach Gefangennahme durch Alliierte bei Falaise im August 1944 Mitgefangenen an. Ein Grenadier berich- tete in kleiner Runde, ein Oberst habe einen Obergefreiten angeschissen, weil Historiker glauben, dass auf deutscher Sei- einem Stuhl schnupperten, habe Sperrle der 35 Gefangene gemeldet – und nicht te insbesondere Einheiten der Waffen-SS gesagt: »Was machen die beiden da? Fickt ermordet hatte. Und anders als die Al- Kriegsverbrechen begingen, auf alliierter ihr schon wieder?« Kommentar des Erzäh- liierten verübten die Deutschen in Frank- Seite US-Fallschirmjäger und Kanadier. lers: »Kein Wunder, dass wir den Krieg reich zahlreiche Kriegsverbrechen an Zi- Die Briten hingegen verhielten sich offen- verlieren. Das war das Niveau.« vilisten. bar weitgehend korrekt. Vermutlich lag es Schon in den Wochen vor dem D-Day Ein Unteroffizier namens Kaun vom am Selbstverständnis der Truppen Seiner hatten Royal Air Force und U.S. Army Air Jäger-Regiment 31, ebenfalls in britischer Majestät: Die Ermordung Gefangener galt Forces systematisch Straßen, Brücken, Gefangenschaft, erzählte laut Abhörpro- als »unbritisch«. Gleise in Frankreich zerstört, die Richtung tokoll einem Mitgefangenen von einem Die Wehrmacht hätte wohl überhaupt Normandie führten. Kriegsverbrechen in der Normandie, des- nur eine Chance gehabt, die Invasion ab- Es sei »unmöglich« gewesen, sich auf sen Zeuge er wurde: zuwehren: wenn es ihr gelungen wäre, der Straße zu bewegen, erzählte ein Leut- Da waren SS-Leute, die haben da so eine jenes Wettrennen zu gewinnen, das am nant, »was an Reserven von hinten ran - Kolonne von Gefangenen nach hinten D-Day begann. Noch war der alliierte Brü- geführt worden ist, ist restlos zur Sau geschleppt, die wurden eskortiert von ckenkopf klein, es ging für beide Seiten gemacht worden«. sechzehnjährigen Burschen – das war ein darum, möglichst schnell weitere Truppen Dennoch kamen die Alliierten deutlich ulkiger Anblick! Diese großen Kanadier und insbesondere Panzer heranzuschaffen. langsamer vorwärts als geplant. Erst am und unsere ausgemergelten, dünnen … Allerdings verfügten die Alliierten über 19. Juli fiel Caen, was für den D-Day vor- Es war ein Weg von 2 km, und da haben die totale Luftüberlegenheit – ein Dauer- gesehen war. die Kanadier auch einen Verwundeten thema in Fort Hunt und Trent Park. Man Die britischen wie auch die amerika - von uns tragen müssen. Und auf einmal sei schon beim Start abgeschossen worden nischen Streitkräfte sind später scharf stellt der eine von den Gefangenen die und überhaupt nur ganz selten bis zur Front kritisiert worden: zu schwerfällig, zu pas- Bahre nieder und sagt, er trägt nicht gelangt, jammerte ein deutscher Pilot. siv, zu schwach. Dabei können Armeen mehr. Nun kommt da ein Panzerwagen Kaum ein Soldat zeigte Verständnis für nur jene Kriege führen, die ihnen ihre Ge- gefahren, und der hat seinen Kopf oben die eigene Luftwaffe. Er habe doch Hugo sellschaften zugestehen, wie Historiker raus und sieht da, wie die debattieren. Sperrle erlebt, Generalfeldmarschall und Lieb schreibt. Die Kanadier waren sogar Da sagt der: »Einen Moment«, steigt zur als Oberbefehlshaber der Luftflotte 3 mit- Freiwillige. Und in den Demokratien in Turmluke raus, hat eine Spitzhacke in verantwortlich für das Desaster, erzählte Großbritannien, Kanada, den USA war es der Hand und geht auf den los und sagt, ein Offizier. Das sei ein »Bulle, ziemlich den Wählern wichtig, möglichst wenige ob er das jetzt heben will, und der sagt: verfettet, der nach jeden paar Worten so Söhne, Brüder, Ehemänner zu verlieren, »Nein«. Und da hat er erklärt: »Mir ha- stöhnt«. Mit großem Begleitkommando, was zumindest tendenziell gelang. Die ben sie zu Hause im Sudetenland meinen eigenem Küchenwagen und zwei Hunden Zahl der eigenen Verluste war zwar hoch, Vater und zwei Schwestern hingemacht, habe Sperrle die Verteidigungsstellungen blieb aber deutlich unter den Erwartungen. mein Haus und alles, mir ist alles inspiziert. Zum Essen sei er in schneewei- Überrascht erzählte ein deutscher Ma- wurscht«, und nimmt die Spitzhacke und ßem Anzug erschienen, mit weißen Schu- jor seinen Mitgefangenen von einem Ge- trifft ihn gerade auf den Schädel. Na, der hen und Monokel, und habe sich vor allem spräch mit einem amerikanischen Offizier. war natürlich sofort weg. für seine Hunde interessiert. Als die an Der habe erklärt, US-Truppen legten kei-

50 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Deutschland

nen sonderlichen Wert darauf, »tapfer zu bezeichnete ein Landser es, wenn nie- sein«. Ihnen genüge es, die Wehrmacht mand die sicheren Räume verlassen ZDFZEIT mit ihrer Überlegenheit zu erdrücken. wollte. Andere berichteten vom »Hori- DIENSTAG, 4.6., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF Und das taten sie auch. zontschleichen«: Statt wie befohlen auf Deutschland und die Nach den Erzählungen der deutschen schnellstem Weg zur Hauptkampflinie Flüchtlinge – Die große Gefangenen muss der Beschuss fürchter- vorzurücken, mäanderten die Männer Bürgermeister-Bilanz lich gewesen sein. »Ich hatte einen Ober- parallel zur Front, in der Hoffnung, es leutnant, ein ganz schneidiger Hund, nach werde sie nicht treffen. Immer mehr Rund 1,6 Millionen Flüchtlinge hat der dritten Nacht kam der fertig zu mir streckten die Waffen, anstatt den angeb - Deutschland seit 2015 aufgenom- und sagte: ›Die Leute halten das nicht lichen Heldentod zu sterben. men. Wie haben sie das Land verän- mehr aus‹«, erzählte Konteradmiral Wal- Man erkenne an Uniform, Haarschnitt, dert? Deutschlands Bürgermeister ter Hennecke, der sich am 26. Juni ergab. Rasur, ob jemand für Volk und »Führer« ziehen Bilanz. An der 150 Kilometer langen Front gekämpft habe, meinte einer: »Die ge- der Amerikaner gingen im Durchschnitt kämpft haben, haben zerrissene Kleider 35 000 Granaten pro Tag auf die Wehr- gehabt, da hat man ausgesehen wie ein macht nieder. Und so langsam zermürb- Schwein.« ten die Verluste, die Angst, der Lärm, Angesichts der Überlegenheit der Bri- der Schlafmangel die Truppe. General - ten und Amerikaner ist es auf den ersten leutnant Erwin Menny, Kommandeur Blick erstaunlich, dass am Ende der Nor- der 84. Infanteriedivision, erzählte laut mandieschlacht der Blutzoll beider Seiten Abhörprotokoll: ungefähr gleich groß war. Doch den Deut- Durch dieses irre Artilleriefeuer und die- schen spielte das Gelände in die Hände. se wahnsinnigen Fliegerangriffe waren Teile der Normandie waren von Knicks die Landser demoralisiert. Wenn da ein durchzogen, die einem Verteidiger De- Amerikaner auftauchte, auch wenn es ckung boten. gar nicht notwendig war, dann liefen Und natürlich zahlte sich die Erfahrung sie eben zurück. Wenn irgendwo mal aus den vergangenen Kriegsjahren aus. zehn Panzer durchgebrochen waren, Der deutsche Panzer »Tiger« war den al- was ja kein Unglück ist – das genügte, liierten Modellen überlegen, die 8,8-cm- dass da eine ganze Division ausriss. Flak bei Briten und Amerikanern gefürch- Und dann die entmutigende Unterlegen- tet, die Offiziere und Unteroffiziere der Ausbildungszentrum in Essen heit, die ein Dauerthema unter den Gefan- Wehrmacht dem Gegner oft voraus. genen war: Panzer, die stehen blieben, Auch an Härte gegenüber den eigenen weil der Sprit aus war. Geschütze, die ver- Männern, womit einige im Internierungs- stummten, weil es an Munition mangelte. lager prahlten. Major Hasso Viebig etwa SPIEGEL TV REPORTAGE Divisionen, die nur über einige Hundert erzählte: DIENSTAG, 4.6., 23.10 – 1.15 UHR | SAT.1 Kämpfer verfügten. Es wurde langsam hell, und da sahen Ramsch oder Reibach? – Im fünften Kriegsjahr war es unmöglich, wir in der gegenüberliegenden Hecke Auf der Suche nach die Verluste auch nur annähernd zu erset- Amerikaner. Da haben wir so etliche dem verborgenen Schatz zen. Mitte Juli verzeichnete die Wehr- umgelegt mit MG und Maschinenpistole. macht in der Normandie 117000 Gefallene, Plötzlich ein Saufeuer aus der ganzen Das Auktionshaus Eppli bekommt an deren Stelle gerade einmal 10000 neue Hecke mit Kanonen und MG und weiß Post aus dem Weltall: Der Brief soll Männer traten. Und die Nachrücker waren Gott was allem. Da fing einer hinten an, mit der »Apollo 15« zum Mond ge- oft nicht die besten Soldaten. Ein Offizier eine weiße Fahne an einem Stock zu flogen sein. Eine geheime Aktion, klagte laut Abhörprotokoll: wedeln. Den haben wir dann auf 100 m die damals einen Skandal auslöste. Einen mit verkrüppelter Hand. Zwei umgelegt. Mit einer weißen Fahne, wis- Nun wird die Schmuggelware ver- hatten Sehschwäche – ganz furchtbar, sen Sie, das passte uns nicht, da hätten steigert. Startgebot: 22000 Euro. sie konnten gar nicht schießen. Keiner sie uns lieber totschießen sollen. Hinter den Kulissen eines Auktions- war im Sportverein, keiner gehörte der Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Leu- hauses. Partei an, Sportabzeichen hatten, glau- te wie Viebig mit der Gefangennahme be ich, zwei. Das Alter setzt sich zusam- durch Briten oder Amerikaner belohnt men: einmal ganz junge Leute, 18-Jäh- wurden, denn der Krieg war für sie vorbei. SPIEGEL GESCHICHTE rige, 19-Jährige, hatten keinen Arsch in Viebig kehrte 1946 nach Deutschland zu- DIENSTAG, 4.6., 23.15 – 1.05 UHR | SKY der Hose; zum Teil ältere Leute, über 35, rück und stieg später zum Brigadegeneral Nach dem Massaker – die schon verarbeitet waren, Familien- in der Bundeswehr auf. Flucht vom Platz väter. Ja Menschenskind, wem gebe ich Die alliierten Soldaten hingegen muss- des Himmlischen Friedens nun die hoch qualifizierten Waffen über- ten weiterkämpfen, bis zum 8. Mai 1945. haupt? Viele von ihnen bezahlten das mit dem Im Frühjahr 1989 protestieren chine- Der Feind hingegen verfügte über schein- Leben. Klaus Wiegrefe sische Studenten auf dem Platz des bar unerschöpfliche Ressourcen. Rund Mail: [email protected] Himmlischen Friedens in Peking. Sie 1200 deutschen Panzern standen bald setzen sich für mehr Freiheit und die knapp 3800 alliierte Panzer gegenüber, auf Demokratisierung der Gesellschaft 400000 deutsche Soldaten kamen 1,5 Mil- Video ein. Anfang Juni schlägt die kommu- Filmaufnahmen von lionen Männer der Invasionsstreitkräfte. Operation »Neptune« nistische Führung den Aufstand bru- In der zweiten Julihälfte sank die Kampf- spiegel.de/sp232019normandie tal nieder. Die Anführer der Bewe- moral der Deutschen nachweislich. Die oder in der App DER SPIEGEL gung werden zu Staatsfeinden erklärt »Bunkerkrankheit« breitete sich aus – so und auf Fahndungslisten gesetzt.

51 Deutschland Parzelle um Parzelle

Umwelt In großen Städten sollen Kleingärten verschwinden, damit dort Wohnungen und Schulen gebaut werden können. Muss das sein?

utz Klinke hat in diesem Frühjahr Wohnungen gebaut, auf Kosten von ker, Verwaltungsangestellte und Kran - schon die Beete vom Unkraut be- 150 Gärten. Auch in Erfurt, Potsdam und kenpfleger. L freit, jetzt müsste er neuen Rasen Gießen mussten sich Kleingärtner wegen Alle sollen sich ein Stückchen Grün leis- aussäen, um die vertrockneten Bauprojekten neue Hobbys suchen. ten können, so das Selbstverständnis der Stellen wieder grün zu bekommen. Und Muss das wirklich sein? Kleingartenvereine. Deshalb schreibt das die Wände seiner Hütte brauchten einen Ja, sagen die, für die Kleingärten von Bundeskleingartengesetz auch eine güns- neuen Anstrich. Er weiß nur nicht, »ob Spießern bevölkert werden, die sich vom tige Pacht vor. Selbst in Städten zahlt man sich der Aufwand noch lohnt«. Rest der Stadtgesellschaft abschotten und nur wenige Hundert Euro pro Jahr für eine Klinke, 54, von Beruf Handwerker, be- wertvollen Baugrund besetzen. Nein, sa- Parzelle. Sofern man das Glück hat, eine sitzt eine von 80 Parzellen der Kleingar- gen jene, für die Kleingärten die letzten zu ergattern.Die Nachfrage nach den Par- tenkolonie »Morgengrauen« in Berlin-Ma- Oasen zwischen durchbetonierten Häuser- zellen ist riesig. Wer in einer deutschen riendorf. Doch sein grünes Idyll könnte schluchten sind. Großstadt einen Kleingarten haben möch- bald Geschichte sein. Auf dem Grundstück Der Konflikt um die Lauben ist Aus- te, muss sich jahrelang gedulden. Allein in sollen ab 2020 eine Schule und eine Kita druck des modernen Verteilungskampfes Berlin stehen zurzeit 12000 Menschen auf gebaut werden, so sieht es ein Entwurf des den Wartelisten. Spaten und Harke sind Senats vor. Noch wird verhandelt, aber wieder hip, fast jede zweite Parzelle wird wenn es schlecht läuft für Klinke und seine an eine junge Familie vergeben. Nachbarn, muss die ganze Kolonie weichen. Die Gärten wecken Begehrlichkeiten aus Es geht um drei Hektar Land. Klinke allen Richtungen. Geht es nach dem Klein- lässt seinen Blick über die Kleingärten gartenentwicklungsplan des Berliner Se- schweifen. »Wenn ich diese Fläche sehe«, nats, sollen ab dem kommenden Jahr etwa sagt er, »dann frage ich mich: Soll hier 850 Parzellen mit Schulen, Sportplätzen ein Olympiastadion hinkommen? Warum oder Verkehrsprojekten bebaut werden. brauchen die so viel Platz?« Für ihn geht Wie viele Wohnungen dazukommen, legt es um die Frage, ob er noch einen Eimer der Stadtentwicklungsplan Wohnen fest. Farbe für seine Hütte kaufen soll. Für Ber- Noch ist er nicht beschlossen, doch laut der lin geht es darum, was in einer wachsen- Senatsbaudirektorin haben die Planer den Großstadt Vorrang hat: neue Schulen, 26 Kolonien im Blick, die ab 2030 für 7000 Straßen und Wohnungen? Oder die Nah- Wohnungen in Anspruch genommen wer- erholung seiner Bürger? den könnten. Die Behörden versprechen Deutschland ist das Land der Klein- den Gärtnern, Ersatzflächen anzubieten. gärtner, laut dem Bundesverband Deut- Der Landesvorsitzende vom Bund Deut- scher Gartenfreunde gibt es hierzulande scher Architekten fordert sogar, so viele 900000 Parzellen. Fünf Millionen Men- Kleingärten zu opfern, dass 300000 Woh- schen nutzen einen Kleingarten, sie pflan- nungen Platz finden. Ähnlich denkt Chris- zen Tomaten und Radieschen an oder su- tian Müller, Vorstandsmitglied der Bau- chen in ihrem eigenen kleinen Reich Ab- / DER SPIEGEL DJURIC MILOS kammer in Berlin. Seit Jahrzehnten würden stand vom stressigen Alltag. Hobbygärtner Klinke Kleingärtner »wie heilige Kühe« behandelt, Seit Planer, Politiker und Investoren in »Warum brauchen die so viel Platz?« sagt der Ingenieur. Sich in Zeiten von ex- den Großstädten die letzten Baulandreser- plodierenden Mieten und Wohnungs - ven zusammenkratzen, sind die Kolonien in den Ballungsräumen. Es ist der Kampf notstand nicht an die Gärten ranzutrauen, akut gefährdet. Sie liegen oft günstig, mit- um das wertvollste Gut, das es in Städten halte er für »eine Fehlentscheidung«. Kürz- ten in Wohngebieten mit guter Anbindung heutzutage gibt: Platz. lich verschickte seine Baukammer eine und Infrastruktur. Würde man die Hütten Seit 27 Jahren hat Kleingärtner Klinke Pressemitteilung: »20 Prozent der Klein- abreißen, könnte man sofort losbaggern. seine Laube in Berlin. Weil damals das gärten an Straßenland bebauen heißt Zumal die Grundstücke der Klein gärten Geld nicht reichte für ein Haus mit 200000 Neubauwohnungen.« Er erntete oftmals in städtischem Besitz sind. Garten, legte er sich den Kleingarten zu, einen Shitstorm der Pächter. In den vergangenen fünf Jahren ver- erzählt er. Fast jeden Tag kommt er her, Müller sagt: »Das Problem ist, dass wir schwanden in Deutschland insgesamt kümmert sich um den Rhabarber. Er ist seit drei Jahren nicht hinter dem Bedarf 6500 Kleingärten, weil die Flächen umge- stolz auf seinen Kirschbaum, genießt an neuen Wohnungen hinterherkommen.« wandelt wurden oder noch werden. Das es, die Vögel zwitschern zu hören. Die Das ist nicht nur in Berlin so. Laut einer geht aus einer bislang unveröffentlichten Kolonie »Morgengrauen« ist fast hundert Studie der Hans-Böckler-Stiftung fehlen Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- Jahre alt, über die Hecken und Zäune hin- in deutschen Großstädten fast zwei Mil- und Raumforschung hervor. In Hamburg- weg grüßen sich Urberliner wie Klinke, lionen bezahlbare Wohnungen, selbst in Barmbek hat es 330 Gärten erwischt, aber auch Menschen mit türkischen oder Moers oder Ulm gibt es viel zu wenig. dafür entstehen 1400 Wohnungen, in Ber- indischen Wurzeln. Unter Kleingärtnern Die Bundesregierung hat sich deshalb lin-Schmargendorf werden derzeit 1000 findet man Lehrerinnen und Informati- vorgenommen, bis 2021 rund 1,5 Millio-

52 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 MILOS DJURIC / DER SPIEGEL DJURIC MILOS Kolonie »Morgengrauen« in Berlin-Mariendorf: Würde man abreißen, könnte man sofort losbaggern

53 Deutschland nen neue Wohnungen zu schaffen. Wie verfasste einen offenen Brief an die Ober- leicht so, wie es derzeit in Hamburg ver- das funktionieren soll, weiß niemand so bürgermeisterin, veranstaltete Pressekon- sucht wird. Jedes Jahr, so hat es der Senat genau. Manche Planer wollen zusätzlichen ferenzen, organisierte Demos. Burg hielt 2011 entschieden, sollen 10000 neue Woh- Wohnraum auf Park- und Bürohäuser set- Vorträge in der Bezirksvertretung, sie er- nungen gebaut werden. Gleichzeitig muss zen. Andere wollen zur Nachverdichtung zählte, dass stündlich 5000 Fahrzeuge an die Stadt ein Versprechen einhalten, das auch an die Kleingärten ran. der Kleingartenanlage vorbeirauschen und sie dem Landesbund der Gartenfreunde Es gibt ein Menschenrecht auf Wohnen, dass die Obstbäume und Beerensträucher vertraglich zugesichert hat: Für jeden es ist im Sozialpakt der Vereinten Natio- dringend benötigten Sauerstoff produzie- Kleingarten, der aus triftigen Gründen wei- nen verankert. Von einem Recht auf einen ren würden. Sie erzählte, dass in den Klein- chen muss, wird Ersatz geschaffen. Schrebergarten steht dort nichts. gärten Eulen und Falken Schutz fänden. Marianne Haustein, 67, ist eine der Ein Anruf beim Bundesverband Deut- Und dass Freiland in den Städten genauso Kleingärtnerinnen, die es womöglich trifft. scher Gartenfreunde. Der Geschäftsführer wichtig sei wie Bauland. Ihre Parzelle im Heimgartenbund in Alto- Stefan Grundei ist ein freundlicher Mann Am Ende stimmte der Stadtrat dagegen, na ist 450 Quadratmeter groß, seit vielen mit ruhiger Stimme, man darf ihn nur nicht die Bebauung der »Flora«-Anlage weiter Jahren bewirtschaftet sie den Garten. Jetzt auf die Neubaupläne ansprechen: »Wir re- zu prüfen. Burg ist trotzdem nicht beruhigt. soll auf dem Grundstück eine Schule ent- den ständig davon, wie wir mit den Folgen »Es wird weitergehen«, sagt sie, »Klein- stehen, möglicherweise sogar zwei. Und des Klimawandels fertigwerden, wie Städ- gärten werden wieder und wieder von neue Wohnungen müssen auch her. te und Regionen robuster werden gegen der Politik infrage gestellt, weil es leider Haustein wird deswegen wohl umzie- Starkregen und Hitzeperioden. Wir reden hen müssen. Ihr neuer Garten würde über davon, dass wir Artenvielfalt erhalten wol- der Autobahn A7 liegen. Die wird gerade len, und gleichzeitig machen wir Kleingär- an einigen Stellen überdacht, um Lärm ten platt? Das ist doch verrückt.« und Schmutz einzudämmen. Auf den Grundei sagt, dass von den Kolonien Deckeln wird Platz für rund 400 neue sehr wohl alle in den Städten profitierten. Kleingärten entstehen. Die Gärten würden Lärm abpuffern und Die Kleingärtner in Altona wehren sich seien »Frischluftschneisen«. Das Grün in gegen die Umzugspläne. Der Hamburger den Anlagen würde an heißen Sommerta- Wohnungsbaukoordinator Matthias Kock gen die Temperatur in den Städten senken. sagt, er könne den Frust verstehen. Trotz- »Die Gärten sind damit ökologische Kli- dem sei das »die Lösung, von der die meis- maanlagen.« ten Menschen profitieren« würden: Mehr Wer ihm zuhört, ahnt: Die Hobbygärtner Wohnraum, weniger Verkehrsbelastung, lassen sich nicht einfach so aus ihren Lau- und die Kleingärtner stünden nicht mit lee- ben vertreiben, ihre Lobby ist stark. Das ren Händen da. Die versprochenen Ersatz- mussten zuletzt auch die Stadtplaner in parzellen werden allerdings wohl deutlich Köln erfahren, als sie es mit Barbara Burg kleiner ausfallen. und ihren Mitstreitern zu tun bekamen. Hobbygärtnerin Haustein fällt es schwer, Burg, 56, Fotografin und Hobbygärtne- sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Zur rin, hat an einem Tisch in ihrer Parzelle Not, sagt sie, werde sie auf den Deckel im Kölner Stadtteil Nippes Platz genom- umziehen, so wie ihre Nachbarn auch. men. Sie habe »hart dafür gekämpft«, dass »Zumindest bleiben wir dann als Gemein- sie heute noch unter ihrem Kaiser-Wil- SIMAITIS / DER SPIEGEL MARCUS schaft beisammen.« helm-Apfelbaum sitzen könne, erzählt sie. Laubenbesitzerin Burg Auch ihre Kollegen in Köln und Berlin Der Kleingartenverein »Flora« hat 322 »Der Umgang mit Grün ist diabolisch« kämpfen weiter. Kleingärtner Klinke rech- Parzellen, sie liegen auf dem Inneren net zwar damit, dass im Februar die Kün- Grüngürtel, einem schmalen Bogen aus im Trend liegt, überall die Böden zu ver- digung kommt, aber er will nicht einfach Wiesen, Bäumen und Parks, der sich um siegeln.« so aufgeben. In der Kolonie »Morgengrau- das Kölner Stadtzentrum legt. Burgs Gar- Burg zieht ein Tablet aus ihrer Tasche. en« wollen sie nun Unterschriften sam- ten befindet sich neben vierstöckigen Häu- Darauf hat sie eine Präsentation gespei- meln und Protestplakate aufhängen. sern, mit dem Fahrrad sind es von hier nur chert, in der sie mit Fotos dokumentiert In Köln hat Gärtnerin Burg kürzlich zehn Minuten zum Hauptbahnhof, ein hat, wo in Köln zuletzt Grünflächen ver- einen Brief von der Stadt bekommen. Un- Sahnestück für den Wohnungsbau. schwunden sind. 22 Kunstrasensportplät- ter ihrer Parzelle seien »sehr hohe Boden- Vor drei Jahren zog das Amt für Stadt- ze mit Hunderten Tonnen Granulat da - belastungen« aufgrund von Altablagerun- entwicklung die Kleingartenanlage für rauf gibt es laut Burg inzwischen. Für den gen festgestellt worden, schrieb das Amt eine Wohnungsbauoffensive in Betracht. 23. Platz seien kürzlich mehr als 20 Bäu- für Landschaftspflege und Grünflächen. Die Fläche gehört der Stadt, der Verein me gefällt worden. »Der Umgang mit Burg vermutet dahinter einen Trick, um ist nur Pächter. Burg erzählt, sie habe aus Grün in der Stadt ist diabolisch.« sie doch noch loszuwerden. Sie traut der der Zeitung von den Plänen erfahren. Sie Aus dem Kölner Baudezernat ist zu hören, Stadt inzwischen alles zu. und andere Gärtner gründeten eine dass es »derzeit keine Pläne« gebe, Klein- Lukas Eberle, Anna-Lena Jaensch, Bürgerinitiative, die Grüne Lunge Köln. gärten zu opfern. Man wolle die Klientel in Veronika Völlinger Schnell hatten sich mehr als hundert Geg- den Kleingärten nicht weiter vergraulen. Mail: [email protected] ner des Bauvorhabens zusammengefun- »Wer Kleingärtner quält, wird abge- den, eine schlagfertige Truppe im Kampf wählt«, lautet ein Slogan, der in den Gar- ums Grün. tenkolonien kolportiert wird. Die Urbani- Video Kampf für Kölns Sie setzte eine Onlinepetition auf, sierung wird das nicht aufhalten, bis 2050 Grüne Lunge »Kleingärten schützen, Bebauung verhin- werden voraussichtlich 84 Prozent der spiegel.de/sp232019schrebergaerten dern«, in gut sieben Monaten unterschrie- Deutschen in Städten leben. Es müssen oder in der App DER SPIEGEL ben 20000 Menschen. Die Grüne Lunge also Kompromisse gefunden werden, viel-

54 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 www.volkswagen-nutzfahrzeuge.de

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im militärischen Nachrichtenwesen anstre- ben. Oder Mitarbeiter des BND oder eines Die Master-Spione Amts für Verfassungsschutz. Ihre Identität bleibt geheim. Uwe Borghoff, Vizepräsi- Studium dent der Bundeswehr-Uni München und Wie wird man eigentlich Geheimdienstler? Hochschulen einer der beiden Leiter des Studiengangs, in Berlin und München bilden Führungskräfte für die sagt nur so viel: »Jeder ist hier immatri - deutschen Sicherheitsbehörden aus. Nicht jeder ist willkommen. kuliert mit einem Namen.« Die Schutzmaßnahmen hätten ihren Grund, sagt Jan-Hendrik Dietrich, Profes- ein Name ist frei wählbar, den ech- Initiative, den Studiengang einzurichten, sor an der Hochschule des Bundes und S ten gibt er sowieso nicht preis. Also kam vom Kanzleramt. Es will Führungs- Borghoffs Co-Leiter. Die Planer des Stu- soll er hier Frank Müller heißen. nachwuchs für die Verfassungsschutzäm- diengangs wollten ausschließen, dass ein Frank Müller ist 47 Jahre alt, seit 15 Jahren ter in Bund und Ländern sowie den Bun- ausländischer Dienst eine angehende Ge- im Dienst, gelernter Verwaltungsbeamter desnachrichtendienst (BND) heranziehen. heimdienstfachkraft ins Visier nehme und und arbeitet für den Verfassungsschutz Bislang gab es Fortbildungen hier und Kur- anwerbe. Niedersachsen. Der Mann ist spezialisiert se da, aber kein abgestimmtes Curriculum. Wer MISS-Master werden will, muss auf Rechtsextremismus, zuletzt war er Drei Dutzend Männer und Frauen stu- sich der höchsten Sicherheitsüberprüfung nicht operativ tätig. dieren auf dem umzäunten Gelände eines Ü3 unterziehen, berichten die Studienlei- Die Angaben lassen sich nicht überprü- ehemaligen Fliegerhorsts in Neubiberg. ter. Das aufwendige Verfahren koste pro fen, es ist unklar, welche Details die Aus- Dort hat die Universität der Bundeswehr Person bis zu 50000 Euro. Die Biografie sagegenehmigung umfasst, die er vor dem München ihren Sitz. Sie bietet den Studien - des Bewerbers wird genau durchleuchtet. Interview mit einem Journalisten bei sei- gang gemeinsam mit der Hochschule des Der Kandidat muss drei Bekannte benen- nen Vorgesetzten einholen musste. Gesi- Bundes für öffentliche Verwaltung in Ber- nen, die zu seinem Lebenslauf befragt wer- chert ist hingegen, dass Müller gerade eine lin an. Auf dem Lehrprogramm stehen den können. Wer die Überprüfung über- Juravorlesung verlassen hat, um in einem Lesungen von Islamwissenschaftlern und steht, muss sich alle Reisen in Staaten mit Nebenraum Auskunft zu geben, warum er Russlandexperten ebenso wie Referate aus besonderen Sicherheitsrisiken – unter an- studiert: Ihn interessiere das Auswerten der Bundesanwaltschaft oder Terrorismus- derem China und Russland – von seiner großer Datenmengen, aber auch der ethi- Fallstudien. Dienstbehörde genehmigen lassen. sche Rahmen nachrichtendienstlicher Ar- Der Masterstudiengang ist auf zwei Jah- Den Studiengang dürfen derzeit nur beit. »Man muss aufpassen, dass man nicht re angelegt, 120 Credit-Points werden nach deutsche Staatsangehörige belegen. Dabei meint, mit undemokratischen Mitteln die dem gängigen Studienpunktesystem ver- ist eines der Ziele des Programms der pro- Demokratie schützen zu müssen.« geben. Wer mitmachen will, braucht einen fessionelle Austausch, um sich internatio- Um über solche Fragen zu reflektieren, Bachelor oder einen vergleichbaren Ab- nalen Standards anzunähern. In den USA hat Müller sich für den neuen Studiengang schluss. Mittelfristig soll es rund 70 Plätze und Großbritannien gibt es solche Studien - »Master in Intelligence and Security Stu- pro Jahrgang geben. Aber sich einfach mal gänge längst. Experten lehren in Oxford, dies« (MISS) eingeschrieben. Die Teilneh- bewerben? Das geht nicht. Die Studenten in Cambridge oder am King’s College in mer lernen in München und Berlin. Die sind Bundeswehroffiziere, die einen Job London. »Das Fach ist dort im Unter-

56 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Deutschland

schied zu Deutschland positiv besetzt«, Ein Hauptziel des Studiengangs sei es, Staatssekretär, der im Kanzleramt für die sagt Hochschullehrer Dietrich. »kritische Geister hervorzubringen«, sagt Geheimdienste zuständig ist. Die Kosten In Deutschland sind die Geheimdienste Leiter Dietrich. »Wir wollen nicht zeigen, tragen die Hochschule des Bundes und mit einigen der dunkelsten Kapitel der Ge- wie man besser spionieren kann. Es soll die Bundeswehr-Uni in Neubiberg. In Neu- schichte verwoben. Auf das Reichssicher- reflektierter zugehen.« In den Kursen biberg baut der Bund ohnehin für meh - heitshauptamt und die Gestapo folgten die taucht immer wieder der Umgang der zu- rere Millionen Euro große IT-Kompetenz - Stasi in Ostdeutschland und Behör- zentren mit zusätzlichen Profes- den im Westen, in denen niemand suren auf. zurückblicken mochte. »Bei uns Vom Know-how vor Ort profi- bleibt das Bild: antidemokratisch, tieren die angehenden Nachrichten- ungesetzlich«, sagt der Lehrbeauf- dienstler ebenso. »Unsere Absol- tragte Wolfgang Krieger, pensionier- venten«, sagt Borghoff, »sollten ter Professor an der Universität Mar- sich mit Spezialisten unterhalten burg. Kaum ein journalistischer Text können.« Dabei gehe es weniger über Nachrichtendienste komme um potente Spähprogramme als ohne den Begriff »Machenschaften« etwa darum, Datenbanken mitei- aus, beklagt der Zeithistoriker. nander zu verknüpfen. Im Vertie- Er sieht jedoch nicht nur Image- fungsfach »Intelligence and Cyber

probleme, sondern auch Defizite in- / AP PRODUCTIONS EON Security« lernen Studenten unter nerhalb der Dienste. »Es gehört James-Bond-Darsteller Daniel Craig: »Positiv besetzt« anderem Verschlüsselungstechnik. nicht zur deutschen Tradition, sich Die Chancen der Absolventen mit den eigenen Fehlern zu beschäf- scheinen auch außerhalb der Behör- tigen«, sagt Krieger. »Die angelsächsischen ständigen Ämter mit der rechten Terror- den nicht schlecht. Reiseunternehmen und Dienste sind sehr viel selbstkritischer.« gruppe NSU auf. »Der NSU ist ein Lehr- Technologiekonzerne hätten sich schon Hierzulande lasse man sich auch im Nach- stück, wie man es nicht machen sollte«, nach den künftigen MISS-Absolventen er- hinein nur ungern in die Karten schauen. sagt Dietrich. »Insofern ist die Akademi- kundigt, berichtet Borghoff. Andere An- Der Zugang zu ehemals klassifizierten Do- sierung eine Reaktion auf dieses Desaster.« rufer seien indes abgewiesen worden: allzu kumenten sei vergleichsweise restriktiv, Erst politische Gremien hätten das NSU- Wissbegierige aus dem Ausland. für den Blick auf vergangene Entscheidun- Versagen aufgearbeitet. Jan Friedmann gen fehle Historikern wie ihm der Zugang Die Politik redet auch beim neuen Stu- Mail: [email protected] zu zentralen Quellen. dienangebot mit. Dessen Beirat leitet der

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Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206 Ä DRID, Hamburg Gesellschaft

»Mutige Reden führen die Zuhörer immer irgendwohin.« ‣S.62

1953 verunglückte Chet Miller. 1952 Früher war alles schlechter 1956 1 2 2 4 1 2 1 1 Nº 178: Tod in der Formel 1 1962

1963 1965 19711972 1976 1979 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1980

1981

1998 1997 1996 1995 1993 1992 1991 1990 1989 1988 1987 1986 1985 1984 1983 1999 2 2

2000 1994: Roland Ratzenberger und Ayrton Senna

2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2015 2016 2017 2018 2019 1

Fahrer, die bei der Weltmeisterschaft im Training oder während des Rennens verunglückten und starben 2014: Unfall Jules Bianchi

Der Tod fuhr immer mit. So auch in der siebten Runde des Gro- in die Zuschauer flog, 15 von ihnen tötete und 60 weitere ver- ßen Preises von San Marino, als Ayrton Senna in seinem Renn- letzte. Oder der 5. September 1970, als Jochen Rindts Lotus nach wagen aus der Tamburello-Kurve schoss und in die Strecken - einer Karambolage auseinanderbrach und Rindt posthum zum begrenzungsmauer knallte. Die Fernsehbilder von diesem 1. Mai Weltmeister gekürt wurde. Während die Autos immer schneller 1994 zeigen Sennas Rennwagen aus der Hubschrauberperspek - wurden, starben in den Sechziger- und Siebzigerjahren insgesamt tive, ein Wrack ohne Frontflügel und rechtes Vorderrad. Stunden 16 Fahrer. Sennas Unfall markiert eine Zeitenwende. Bis zum Tod später erklärten Ärzte den wahrscheinlich besten Rennfahrer Jules Bianchis 2015 gut neun Monate nach seinem Unfall blieb aller Zeiten für tot. Bereits am Vortag war der Österreicher Senna 21 Jahre der letzte Fahrer, der an den Unfallfolgen starb. Roland Ratzenberger in der Qualifikation tödlich verunglückt. Als Reak tion auf seinen Unfall 1994 reduzierte die Dachorganisa- Das Wochenende im Mai 1994 gilt als eines der schwärzesten in tion FIA den Motorhubraum der Autos, verschärfte die Crash - der Geschichte dieses Motorsports. Senna war der 31. Tote der tests und veränderte die Streckenführungen. Die Folge ist, dass Formel 1 seit ihrem Start 1950. Unvergessen ist auch der 10. Sep- Formel-1-Fahrer heute kaum noch bei der Ausübung ihres tember 1961, als der Ferrari von Wolfgang Graf Berghe von Trips Berufs sterben. Das Risiko bleibt. Max Polonyi, [email protected]

Erziehung synchronisiert. Wer sich dort einen Krimi fremdsprachige Serien und Filme als aus den USA anschauen will, muss das auf Anreiz gut. Wenn sie untertitelt sind, ist Sollten unsere Kinder Englisch tun und dabei lesen. Also wird das Gehirn mehr gefordert. Wir konzen- mehr Serien gucken, auch die Lesekompetenz gefördert. trieren uns besser auf die Sprache, weil SPIEGEL: Sollten Kinder also mehr Pro- wir mitlesen. Das funktioniert sogar für Herr Boeckmann? duktionen mit Untertiteln sehen? die Muttersprache. Wissenschaftler in Klaus-Börge Boeckmann, 54, ist Boeckmann: Ja. Es gab schon Experimen- Indien haben Teile von Bollywoodserien Sprachendidaktiker an der Pädagogischen te, bei denen Kinder, die kein Wort Unga- untertitelt und damit funktionalen An - Hochschule Steiermark. risch konnten, Filme mit ungarischen alphabeten das Lesen beigebracht. Untertiteln anschauten. Hinterher konnten SPIEGEL: Schauen Sie sich Filme und SPIEGEL: Stundenlang Serien anschauen sie ein paar Worte Ungarisch. Man nimmt Serien in fremden Sprachen an? macht dumm, sagen viele Eltern. Es kann Untertitel wahr, auch wenn man es nicht Boeckmann: Ja, und es funktioniert auch auch schlauer machen, sagt ein Befund will. Natürlich funktioniert das nur, wenn umgekehrt: Man sieht den Film auf der University of London – wenn es die Kinder alt genug sind, um mitzulesen. Deutsch und schaltet die Untertitel auf Serien mit Untertiteln sind. Stimmt das? SPIEGEL: Ist die Schrift Englisch ein. Mit »Down - Boeckmann: Die EU-Kommission hat mal so wichtig? Die Mutter- ton Abbey« habe ich die Fremdsprachenkompetenz zwischen sprache lernt man ja es so gemacht. Die beiden Ländern verglichen, in denen eher syn- auch, ohne lesen und Sprachen verschmelzen. chronisiert wird, wie in Deutschland, oder schreiben zu können. Kurz danach konnte nicht synchronisiert, aber untertitelt, wie Boeckmann: Bei der ich gar nicht mehr sagen, in Skandinavien. Skandinavier können Zweitsprache ist es ob ich die Folge auf

besser Englisch als die Deutschen. Auch in so: Wir müssen sie ler- KIKA Deutsch oder auf Englisch den Niederlanden wird traditionell nicht nen wollen. Da sind »Peppa Pig«-Szene gesehen hatte. CAT

60 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Er sah, wie sich ein Mann dem Chevrolet näherte. Der Mann Eine Meldung und ihre Geschichte öffnete die Tür, setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. Chance habe zuerst gedacht, der Mann sei von einem Park- Klack, klack service, der zum Krankenhaus gehört. Doch der Mann sprach eine Sprache, die Chance nicht verstand. Er konnte nicht vom Parkservice sein. »Die Leute vom Parkservice sprechen Wie ein Junge zum Helden von Ohio wurde meistens Englisch«, sagt Chance am Telefon. Irgendetwas stimmte hier also nicht. Nita Coburn hörte die Schreie ihrer beiden Urenkel, so ür Chance Isaiah Blue, acht Jahre alt, begann der er innert sie sich heute. Sie ließ den Rollstuhl los und rannte F 25. April wie ein normaler Donnerstag. Er trug ein hinaus. Der Mann trat aufs Gaspedal, das Auto beschleunigte. T-Shirt, auf dem eine Gruppe von Superhelden namens Chance schnallte sich ab. Er hätte jetzt einfach aus der linken Avengers zu sehen war, er frühstückte Cornflakes mit Milch Tür springen können, in die Freiheit, doch seine Schwester und spielte mit seiner Schwester vor der Haustür Football. war noch angeschnallt. Also rollte sich Chance auf ihre Seite, Es waren Osterferien in Middletown, einer kleinen Stadt im half ihr beim Abschnallen, griff ihren Arm und stürzte sich US-Bundesstaat Ohio. aus der rechten Seitentür. Sein Körper hing schon halb aus Dass dieser Tag nicht so normal enden würde, wie er be- dem Auto, da langte der Mann nach hinten und erwischte gonnen hatte, dass Chance nur wenige Stunden später sich den Pullover, den Skylar um die Hüfte gebunden hatte. selbst und seine zehnjährige Schwester Skylar aus einem fah- Chance zog an ihrem Arm und zog, dann fielen beide auf renden Auto retten würde, war an diesem Morgen nicht ab- den Asphalt. zusehen. Nita Coburn war währenddessen dem Auto hinterher- Am Telefon erzählen er und seine Urgroßmutter Nita gerannt und bekam den Türgriff zu fassen. Sie riss die Tür Coburn wenige Tage später von seiner heroischen Tat, de- auf, der Mann zog sie wieder zu. Wenige Meter lief sie mit, rentwegen ihn Politiker im Senat von Ohio ehrten und die dann fiel auch sie hin. Dass ihre Urenkel sich zu diesem Zeit- »Washington Post« die Poli- punkt schon aus dem Auto zei zitierte mit den Worten: befreit hatten, bekam sie zu- »Dieser kleine Junge ist ein erst nicht mit. Das Auto raste Held.« davon. Chance und Skylar sind Man kann sich die Szene Halbgeschwister. Sie wuchsen im Internet anschauen, eine beide nach ihrer Geburt zu- Überwachungskamera des erst bei ihrer anderen Urgroß- Krankenhauses hat die Ret- mutter auf, bis die verstarb. tungsaktion von Chance ge- Ihre leibliche Mutter ist ab- filmt. hängig von Opioiden, Ohio ist Skylar hatte sich den Knö- einer der US-Staaten, die von chel aufgeschürft, Nitas Hand der Schmerzmittelepidemie lief später blau an, Chance am stärksten betroffen sind. blieb unverletzt.

Nita Coburn sagt: »Chance NEWS FOX Die Polizei stoppte den und seine Schwester hatten ei- Geschwister Chance, Skylar Mann nicht weit entfernt von nen holprigen Start ins Le- Chance’ Haus. Sie identifizier- ben.« Heute kümmern sich te ihn als Dalvir Singh, einen Coburn, 69, und Großtante 24-Jährigen, der wegen seiner Angela zusammen um die bei- Heroinabhängigkeit im Kran- den Kinder. kenhaus behandelt wurde. Ob Am besagten Tag im April, Von der Website Rtl.de er nur den Wagen stehlen es war mittlerweile Nachmit- wollte oder auch die beiden tag, klagte Angela wieder über Magenschmerzen. Sie war Geschwister entführen, wird gerade in einer Gerichtsver- zwei Tage lang nicht zur Arbeit gegangen. Sie stiegen ge- handlung geklärt. meinsam in Coburns silbernen Chevrolet Malibu, die Groß- Chance und Skylar hätten den Rest des Tages noch viel tante auf dem Beifahrersitz, Nita Coburn am Lenkrad, hinter geweint, erinnert sich ihre Urgroßmutter. Chance sagt, er ihr Chance und neben ihm seine große Schwester Skylar. Sie habe abends ferngesehen, es lief »Last Man Standing«, eine fuhren los, in Richtung Atrium Medical Center. TV-Serie. Als die vier am Krankenhaus eintrafen, parkte Nita Coburn Drei Wochen nach dem Tag im April reiste der Achtjährige ihren Wagen unter dem Vordach nahe der Notaufnahme. Sie nach Columbus, in die Hauptstadt Ohios, wohin ihn zwei re- besorgte einen Rollstuhl, in den sie Angela setzte. Weil es publikanische Senatoren eingeladen hatten. Der Senat von schnell gehen sollte, ließ sie den Autoschlüssel stecken. Sie Ohio tagt in einem Saal mit Tischen aus glänzendem Holz drückte den kleinen Knopf an der Innenseite der Tür hinunter und Teppichboden. An diesem Tag standen dort Chance und und schloss den Wagen damit ab, klack, die Zentralverriege- seine Schwester Skylar. Senator Steve Wilson beugte sich hi- lung griff an jeder Seite. Es gab danach ein weiteres Klack, nunter zu seinem Ehrengast und sagte: »Wie wir heute sehen, denn die Zentralverriegelung funktioniert nur, wenn der gibt es Helden in allen Formen und Größen.« Schlüssel nicht steckt. Alle Türknöpfe sprangen wieder hoch. In wenigen Tagen beginnen für Chance die Sommerferien. Das zweite Klack hörte Nita Coburn jedoch nicht. In der dritten Klasse möchte er ins Footballteam seiner Schule. Während Coburn den Rollstuhl mit Angela nun zum Ein- Und wenn er, der Held von Ohio, später erwachsen ist, will gang schob, saß Chance im Auto, neben ihm seine Schwester. er Feuerwehrmann werden. Yannick Ramsel

61 Obama 2016 Blair 2007 MARK REINSTEIN / ALAMY / MAURITIUS / ALAMY MARK REINSTEIN ALESSIA PIERDOMENICO / REUTERS ALESSIA PIERDOMENICO »Angela Merkel ist 16 Jahre lang sehr gut ohne die große Rede ausgekommen«

SPIEGEL-Gespräch Philip Collins, ehemaliger Redenschreiber von Tony Blair, über die Kraft der Sprache – und die Sehnsucht nach der großen politischen Rede

Trump 2016 Merkel 2018 DAMON WINTER / NYT/ LAIF WINTER / NYT/ DAMON MURAT TUEREMIS / LAIF MURAT

62 Gesellschaft

Collins, 52, war Investmentbanker, bevor Wo Sie nicht enden: bei dem, was eine gro- Die Luftschlacht um England – und sein er Chefredenschreiber des damaligen briti- ße Rede ausmacht. Wirklich große Reden berühmter Satz, gerichtet an die britische schen Premierministers Tony Blair wurde. sind mehr als nur schöne Worte. Sie ver- Luftwaffe: »Nie zuvor in der Geschichte Nach Blairs Rücktritt im Sommer 2007 sah ändern die Welt. menschlicher Konflikte hatten so viele so es kurz so aus, als würde Collins selbst in SPIEGEL: Die Deutschen, viele Europäer wenigen so viel zu verdanken.« Rhetorik die Politik gehen, er entschied sich aber sehnen sich trotzdem seit Jahren nach der und Anlass kommen zusammen. Großartig. anders. Heute ist er Kolumnist der Zeitung großen Rede, zur Einwanderung, zu SPIEGEL: Stimmt es, dass Churchill gestot- »The Times«. 2017 veröffentlichte er das Europa, zur Ungleichheit. Woher kommt tert hat? Buch »When They Go Low, We Go High«, diese Sehnsucht? Collins: Als er jung war, ja. Er musste ler- in dem er 25 berühmte Reden der Welt - Collins: Aus dem Wunsch nach Führung. nen, seine Stimme zu kontrollieren. geschichte analysierte. Und aus dem Wunsch, dass jemand aus- SPIEGEL: Wenn er »Nazis« sagte, klang drückt, was bis dahin unfertig in meinem das wie »Narzees«. SPIEGEL: Herr Collins, wann haben Sie Kopf war – und das ich selbst nicht formu- Collins: Er wusste natürlich, wie man das zuletzt eine Rede gehört, die Sie begeistert lieren könnte. ausspricht. Aber auf diese Weise zeigte er hat? SPIEGEL: Die Menschen sehnen sich also seinem Publikum, dass er keine Angst vor Collins: Das ist lange her. Es hat nicht nur zu Recht? ihnen hatte. Dass er sie nicht ernst nahm. damit zu tun, dass die Politiker schlecht Collins: Absolut. Führung ist mehr, als nur SPIEGEL: Einmal soll er sogar eine Rede sind, obwohl das eine Rolle spielt. Ich darüber zu klagen, wie kompliziert alles gehalten haben, ohne die Zigarre aus dem glaube, dass es heutzutage schwerer ist als ist. Andererseits: Angela Merkel ist 16 Jah- Mund zu nehmen. früher, eine große Rede zu halten, weil die re lang sehr gut ohne die große Rede aus- Collins: Weil er sich darüber ärgerte, dass großen Themen fehlen. Und wenn es gro- gekommen. er eine Rede wiederholen sollte. Am Nach- ße Themen gibt, hat ein Einzelner kaum SPIEGEL: Finden Sie? mittag hatte er im Unterhaus gesprochen, die Möglichkeit, etwas zu verändern. Neh- jetzt wollte die BBC die Rede fürs Radio men Sie die Einwanderung. Als Premier- aufnehmen. Wegen der Zigarre hörte es minister kann ich dazu die beste Rede mei- sich an, als wäre er betrunken. Aber er nes Lebens halten – meine Möglichkeiten war nüchtern, was selten genug vorkam. zu handeln sind beschränkt. Weil ich für SPIEGEL: Mal angenommen, Hitler hätte das meiste nicht zuständig bin. Ähnlich ist den Krieg gewonnen. Würden wir Chur- es mit dem Klimawandel. Politik machen chill dann immer noch für einen großarti- heißt heutzutage, wo alles mit allem zu- gen Redner halten? sammenhängt, Millionen kleine Entschei- Collins: Sicherlich nicht. Der Glanz dungen zu treffen. kommt zu einem großen Teil daher, dass SPIEGEL: Früher war das anders? Großbritannien auf der Seite der Sieger Collins: Oh ja! Benjamin Disraeli beispiels- stand. Man findet in der Anthologie gro- weise, der frühere Premierminister. 1872 ßer Reden wenige Verlierer. Geschichte redete er in Manchester über öffentliche wird von den Siegern geschrieben. Gesundheit, über Cholera und andere an- SPIEGEL: Ob eine Rede als »groß« in die steckende Krankheiten, über Slums, über Geschichte eingeht, ist oft Glückssache. die Wohnungsnot. Er tat es, weil die Re- Als der damalige US-Präsident John F. gierung damals die Möglichkeit hatte, Din- Kennedy in einer berühmten Rede das ge zu ändern, Wohnungen zu bauen oder Mondprojekt ankündigte, wusste er, dass

eine Kanalisation. Heute sind alle anste- MICHA THEINER / DER SPIEGEL die Mission auch scheitern könnte. ckenden Krankheiten besiegt. Was wir ha- Kolumnist Collins Collins: Tatsächlich gab es eine Rede für ben, sind chronische Krankheiten. »Rhetorik ist näher an Musik als an Poesie« den Fall, dass die Astronauten nicht zu- SPIEGEL: Aber es gibt doch genug große rückkehren. Eine der großen ungehaltenen Probleme, Ungleichheit zum Beispiel. Reden. Collins: Nehmen wir mal an, ich könnte Collins: Politisch auf jeden Fall. Das zeigt SPIEGEL: Kennedy wie auch Bill Clinton daran etwas ändern – es würde mich Jahre schon die reine Dauer ihrer Amtszeit. Man gelten bis heute als große Redner. kosten. Rhetorisch macht es einen großen kann ohnehin nicht sagen, dass große Collins: Clintons Problem war, dass es Unterschied, ob ich sage: Ich werde anste- Redner immer die besten Politiker sind. Amerika während seiner Präsidentschaft ckende Krankheiten ausrotten. Oder ob Winston Churchill zum Beispiel war ein wirtschaftlich gut ging. Ihm fehlte die Ge- ich sage: Ich werde die Ungleichheit in den fürchterlicher Politiker. Er lag in fast allem legenheit zur Größe. Glück, sagt Henry nächsten fünf Jahren geringfügig reduzieren. falsch, zeitweise war er regelrecht ge- de Montherlant, schreibt mit weißer Tinte SPIEGEL: Vielleicht waren Politiker damals fährlich. auf weiße Blätter. einfach mutiger als heute. SPIEGEL: Aber immer war ihm Rhetorik SPIEGEL: Macht es für einen Redenschrei- Collins: Und wenn ich mutig wäre? Was wichtig. ber einen Unterschied, ob er für eine gute müsste ich tun, um die Ungleichheit auf Collins: Er war besessen davon. Zu Beginn oder schlechte Sache arbeitet? der Welt zu beseitigen? seiner Karriere machte er große Worte Collins: Wer eine Rede schreibt, ist mög- SPIEGEL: Uns fielen Millionen Dinge ein … über kleine Dinge. Er trat bespielsweise licherweise davon überzeugt, einer guten Collins: Das bezweifle ich. Und selbst bei irgendeiner Nachwahl auf und sagte: Sache zu dienen. wenn Ihnen Millionen Dinge einfielen, »Nie zuvor in der Geschichte menschlicher SPIEGEL: War Hitler ein großer Redner? zeigt das doch nur, dass ich recht habe. Konflikte haben so viele Menschen in Old- Oder nur ein lauter? Was immer Sie machen: Sie landen bei der ham so ausreichend zu essen gehabt.« Collins: Seine Argumente waren lächer- Erledigung von Millionen kleinen Dingen. SPIEGEL: Eine Redefigur, die später bei lich. Kaum einen Gedanken brachte er zu ihm wieder auftauchte. Ende. Er widersprach sich ständig. Einfach Collins: Das Gespräch führten die Redakteure Hauke Goos 1940, praktisch über Nacht, war dumm. und Jörg Schindler in London. der Augenblick endlich groß genug für ihn. SPIEGEL: Trotzdem wurde er bejubelt.

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 63 Gesellschaft

Hitler um 1940 Churchill 1949 KPA / ZUMA KEYSTONE KPA INTERTOPICS / DDP INTERTOPICS

»Ich habe nichts anzubieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.« Winston Churchill

Collins: Weil die Emotion, das Theatespek- kann den ganzen Rest ihrer Argumente dem, was die Menschen glauben, dann takel seiner Reden unglaublich waren. Das von diesem einen Satz herleiten. Das leis- sagt man, dass ihre Sicht falsch oder un- machte sie gewaltig und sehr wirkungsvoll. ten nicht viele Reden. vollständig ist. In einer Demokratie ist das Die Zuschauer waren eindeutig aufge- SPIEGEL: Das hinzukriegen ist die Aufga- Argument die Währung der Politik. peitscht. Man muss seine Reden hören, nicht be von Leuten wie Ihnen, oder? SPIEGEL: Martin Luther King war Predi- lesen. Wenn man sie liest, sind sie grotesk. Collins: Jawohl: einen Satz zu finden, der ger, Barack Obama hörte sich häufig an SPIEGEL: Muss der Redner Leidenschaft die Grundidee der Rede ausdrückt. Die wie ein Prediger. Als Obama Präsident für seine Sache haben? Oder reicht es, Lei- meisten berühmten Reden haben einen wurde, wollte plötzlich jeder reden kön- denschaft zu spielen? Leitsatz, der sie zusammenfasst. Chur- nen wie er. Collins: Ich glaube, das Publikum würde chills »Their finest hour«. Martin Luther Collins: Oh ja. Ich habe aufgehört zu zäh- den Unterschied erkennen. Der Redner Kings »I have a dream«. Kennedys »Ask len, wie viele britische Politiker mich ba- muss schon wahrhaftig sein. Und zwar auf not what your country can do for you«. ten, ich möge ihre Reden ein bisschen nach eine Weise, die die Menschen erhebt und Das ist kein Zufall. Obama klingen lassen. Jedes Mal sagte ich: zum Handeln bewegt. SPIEGEL: Weiß man als Redenschreiber, Lassen Sie mich all die Gründe aufzählen, SPIEGEL: War die britische Premierministe - welche Zeile sich einprägen wird? weshalb Sie nicht Obama sind. Obama hat- rin Margaret Thatcher eine große Rednerin? Collins: Mitunter findet man keine Zeile. te das Gewicht seines Amtes – das erlaubt Collins: Technisch nicht. Ihr Vortrag war Wenn man gut ist, weiß man’s, wenn man es, rhetorisch ein bisschen aufzudrehen. dürftig, gestelzt. Aber sie hatte etwas mit- eine hat. Manchmal allerdings wird eine SPIEGEL: Warum ist Obama als Redner so zuteilen. Sie kämpfte gegen eine kriselnde Zeile historisch, die gar nicht in der Rede gut? Wirtschaft. Und sie wusste sehr klar, was vorgesehen war. Collins: Einerseits wegen seiner persönli- sie wollte. SPIEGEL: Zum Beispiel? chen Geschichte – ein schwarzer Präsident SPIEGEL: Sie war gut zu verstehen, weil Collins: Martin Luther King wollte seine der Vereinigten Staaten. Andererseits weil sie so langsam redete. Rede in Washington eigentlich anders nen- er seine Reden praktisch singt. Seine Stim- Collins: Sehr langsam, sehr bedächtig, ein nen. Er hatte die Formulierung »I have a me ist großartig. Sein Vortrag hat Rhyth- wenig gönnerhaft; es war irritierend, ihr dream« schon so oft benutzt, dass seine mus; er kann relativ schmucklose Prosa in zuzuhören. Kein Rhythmus, kein Gefühl Leute sagten: Bitte nicht schon wieder. Er Musik verwandeln. Es gibt nicht viele Red- für Sprache. Ihre Reden klingen gelesen nannte die fertige Rede dann »A cancelled ner, die das können. besser als gesprochen, weil sie gut argu- check«, »Ein nicht eingelöster Scheck«. SPIEGEL: Man muss Reden also hören. mentiert. Sie ließ einen nie darüber im Kein Wort vom Traum. Collins: In seinem Fall: ja. Kings »I have Zweifel, was sie dachte. SPIEGEL: Wieso nahm er es am Ende rein? a dream«-Rede ist auch groß, wenn man SPIEGEL: Wie hat Ihnen die Rede gefallen, Collins: Die Gospelsängerin Mahalia Jack- sie nur liest. Obamas Reden klingen gele- die Greta Thunberg, die 16-jährige Schwe- son stand neben ihm auf dem Podium und sen oft professoral. Aber wenn er sie vor- din, in Davos gehalten hat? Die Zeile »Ich sagte: Erzähl ihnen von dem Traum! Also trägt, sind sie erhebend. will, dass ihr in Panik geratet«. improvisierte er. Außergewöhnlich. SPIEGEL: Er hat ein bemerkenswertes Collins: Technisch war das eine ziemlich SPIEGEL: King beschreibt in dieser Rede Gefühl für Timing. gute Rede. Die Tatsache, dass Sie sich an etwas, das es noch nicht gibt – er be- Collins: Und für Pausen. Seine Pausen diese Zeile erinnern; dass ich mich an diese schreibt es also, damit es kommt. sind besser als die Reden vieler anderer. Zeile erinnere, beweist das. Eine Weltsicht, Collins: Mutige Reden führen die Zuhörer Er hat die große Fähigkeit, einfach zu war- zusammengefasst in einem Satz. Man immer irgendwohin. Man beginnt mit ten. Als Zuhörer hat man trotzdem jeder-

64 King 1967 Kennedy 1962 MICHAEL OCHS ARCHIVES / GETTYMICHAEL OCHS ARCHIVES IMAGES AP

»Ich bin ein Berliner.« John F. Kennedy

zeit das Gefühl, dass er die vollkommene Collins: Rhetorik ist meiner Meinung nach schlüpfrig. Andererseits ist »authentisch« Kontrolle hat. Nie klingt es so, als hätte er näher an Musik als an Poesie. Ich zum Bei- nicht das richtige Wort. Es ist nicht zwin- vergessen, was er sagen wollte. Man hat spiel höre Musik, während ich schreibe. gend notwendig, authentisch zu sein. Hit- vielmehr den Eindruck, dass er absichtlich Aber nicht, um poetisch zu schreiben. Mir ler war authentisch, aber er war böse. Trump langsamer wird, damit wir über das Ge- geht es um den Rhythmus. Ich suche die ist authentisch. Ich wollte, er wäre es nicht. sagte kurz nachdenken können. Die meis- Musik in der Poesie. Wenn überhaupt, dann geht es darum, au- ten Redner sprechen zu schnell, wenn sie SPIEGEL: Damit eine Rede ihre Musikali- thentisch und moralisch integer zu sein. auf dem Podium stehen. tät entfalten kann, braucht sie Zeit. Ver- SPIEGEL: Hat Trump einen Redestil? SPIEGEL: Trotzdem sagen Sie, in seiner schwindet etwas, wenn Politiker ihre Bot- Collins: Er ist nicht besonders nachdenk- Familie sei er nur der zweitbeste Redner. schaften immer häufiger twittern? lich. Er redet einfach. Und er hat die selt- Collins: Ein Scherz. Aber Michelle Oba- Collins: Ich denke nicht. Die großen Dinge same Eigenart, dieselben Dinge wieder mas Rede auf dem Parteitag war fantas- werden immer noch in Reden beschrieben. und immer wieder zu sagen. Seine Rheto- tisch. Ein Satz, der sich sofort einprägt: Und die Soundbites und Einzeiler, die es rik ist sehr emotional. Auf gewisse Weise »When they go low, we go high.« Sie hatte braucht, damit man sich erinnert, lassen zu sehr. Ein Übermaß an Gefühlen, nicht dasselbe Team von Redenschreibern wie sich auch in einer Rede unterbringen. Als besonders gut ausgedrückt. ihr Mann. Sie sind sehr gut. Und sie arbei- Redenschreiber weiß ich, dass von einer SPIEGEL: Haben Sie seine Rede zur Amts- ten völlig anders als Redenschreiber an- halbstündigen Rede des Premierministers einführung gesehen? derswo. In den USA arbeitet ein ganzes 20 Sekunden in den Abendnachrichten Collins: Deprimierend. Alle Amtseinfüh- Team an einer Rede. So entsteht Wett- landen. Welche 20 Sekunden sind also die rungsreden sind im Grunde ähnlich: Nach bewerb. In Großbritannien bevorzugen wichtigsten? Schon beim Schreiben bemü- dem Wahlkampf, der notwendigerweise Politiker meist einen einzigen Schreiber. hen wir uns, den Inhalt der Rede aufs We- spaltet, bringen sie das Land wieder zu- SPIEGEL: Tony Blair hatte nur Sie? sentliche zu reduzieren. Trumps »Make sammen. Ein schöner Moment. Der Sieger Collins: Natürlich haben auch andere Vor- America great again« war eine Rede, be- lässt die Schärfe des Wahlkampfs hinter schläge gemacht, die Entwürfe gelesen, Kri- vor es ein Tweet wurde. sich und sagt: Von nun an bin ich der Prä- tik geübt. Aber ich war der einzige Schrei- SPIEGEL: Wie ist Trump als Redner? sident aller Amerikaner. ber. Blair hat selbst viel geschrieben, er war Collins: Eigenartig wirkungsvoll. Er ist im- SPIEGEL: Und Trump? erheblich beteiligt. So sollte es auch sein. merhin Präsident der Vereinigten Staaten. Collins: Tat nichts dergleichen. Er ver- SPIEGEL: Gibt es eine Rede, auf die Sie Und er hat Persönlichkeit. Er hat ein ent- stärkte das Trennende noch: Amerika ist besonders stolz sind? schiedenes Gefühl für seine Trumphaftig- bankrott. Amerikanische Politik funktio- Collins: Die letzte Parteitagsrede von keit. Als Redner ist er nicht langweilig. Er niert nicht. Eine Schande. Alles manipu- Blair. Wenn man sich die heute noch mal ist unterhaltsam. Interessant. Und er hat liert. Eine Verschwörung. In diesem Mo- anschaut, sieht man, dass es um die Glo- genug Eigenarten und Gesten, um paro- ment war klar: Er würde ein sehr entzwei- balisierung und ihre Opfer ging. Um die diert zu werden, das ist immer ein gutes ender Präsident sein. Ungleichheit, die sie verursacht. 2006! Es Zeichen. Theresa May ist sehr schwer SPIEGEL: Trump hält sich manchmal an ist Quatsch, so zu tun, als wäre diese Er- nachzumachen, weil sie so konturlos ist. das, was seine Leute ihm aufschreiben, kenntnis neu. Trump ist als Redner unterscheidbar. manchmal auch nicht. Wie war die Zusam- SPIEGEL: Muss man musikalisch sein, um SPIEGEL: Ist er authentisch? menarbeit zwischen Ihnen und Blair? eine gute Rede zu schreiben? Oder um gut Collins: Definitiv. Auch sein Verhältnis zur Collins: Eng und partnerschaftlich. Der zu reden? Wahrheit ist authentisch – wenn auch ganze Prozess dauerte meistens etwa zwei

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Thatcher 1987 Reagan 1987 DAVE CAULKIN / AP CAULKIN DAVE AP

»Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor!« Ronald Reagan

Wochen. Ein erstes Meeting mit ein paar Collins: Wenn er sprach, klang es, als wür- SPIEGEL: Reden müssen komplexe Sach- Leuten; eine Diskussion über die große de er plaudern. Sehr bemerkenswert. Eher verhalte vereinfachen. Die Linie zwischen Linie; ein erster Plan. Die Hauptarbeit unrhetorisch im herkömmlichen Sinn, Vereinfachung und Lüge ist häufig sehr geschah dann in den zwei Tagen vor der aber sehr wirkungsvoll. fein. Rede. Normalerweise schrieb ich den SPIEGEL: Jedenfalls hat er seine Gelegen- Collins: Richtig. Andererseits ist es in einer Hauptteil einer Rede, während er den An- heit zur Größe genutzt. wachsamen Demokratie praktisch unmög- fang und das Ende übernahm. Am Morgen Collins: Es war Kalter Krieg. Und Reagan lich zu lügen. Es ist eindeutig möglich, die der Rede kamen wir noch einmal zusam- stand vor dem Brandenburger Tor und sag- Wahrheit auszuschmücken. Oder zu um- men, er und ich, gingen das Ganze durch te: »Tear down this wall« – das bedeutete gehen. Oder zu unterdrücken. Aber mit und schauten, dass die Teile zusammen- schon etwas. Es war aber nur bedeutungs- einer Lüge durchzukommen, wenn so vie- passten. voll, weil sein sowjetischer Gegenspieler le Menschen zuhören, ist sehr schwer. SPIEGEL: Was macht der Redenschreiber, Michail Gorbatschow die Möglichkeit an- SPIEGEL: Was heißt das in der Praxis? wenn der Politiker die Rede hält? gedeutet hatte, dass die Mauer geöffnet Collins: Als ich für Blair arbeitete, hatten Collins: Irgendwo sitzen und bangen. Tat- werden könnte. Die Worte hatten Kraft, wir ein ganzes Team von Faktencheckern. sächlich hört man dann all die Formu- weil ein Amerikaner sie sprach. Die meisten Fakten bekamen wir von Re- lierungen, die nicht funktionieren. Sätze, SPIEGEL: Gefühl für den Augenblick also. gierungsbehörden. Also gab es eine zweite, die zu lang sind. Wo der Rhythmus nicht Collins: Wobei dieser berühmte Satz gar unabhängige Gruppe von Leuten, die alles stimmt. Man leidet. nicht im Manuskript sein sollte. Sein Re- noch mal überprüfte, sobald das geschrie- SPIEGEL: Haben Schreiber und Redner im- denschreiber hatte den Satz geschrieben, bene Manuskript vorlag. Denn wenn nur mer ein partnerschaftliches Verhältnis? dann war er aber wieder gestrichen wor- eine Sache nicht gestimmt hätte, hätte die Collins: Unterschiedlich. Kennedy und den. Colin Powell, der kurz darauf Reagans ganze Rede nicht gestimmt. Und der Feh- sein Redenschreiber Ted Sorensen bei- Sicherheitsberater wurde, hatte abgeraten, ler wäre das Einzige, woran sich die Leute spielsweise hatten ein Verhältnis auf Au- ebenso George Shultz, sein Außenminister. erinnert hätten. genhöhe; Kennedy schrieb selbst mit, kri- Reagan fuhr dann mit seinem Redenschrei- SPIEGEL: Aber Trump lügt, oft mehrmals tisierte viel. Ronald Reagan war anders. ber Peter Robinson zum Brandenburger am Tag, ohne dass daraus etwas folgt. Er war beteiligt, aber er trug so gut wie Tor. Und sagte im Auto einfach: »I think Collins: Trotzdem denke ich, dass Wahr- nichts bei. Er war der Schauspieler, der am I’m going to say it.« heit wichtig ist. Ich weiß, dass Trump ein Ende ablieferte. SPIEGEL: Populisten beklagen, dass man unfassbar lockeres Verhältnis zur Wahr- SPIEGEL: Die Menschen glaubten ihm, heute nicht mehr sagen dürfe, was man heit hat. Am Ende aber wird ihn die Wahr- was er sagte. denke. Es gebe keine Redefreiheit mehr. heit einholen. Collins: Seltsamerweise ja. Es ist nicht Ist da was dran? SPIEGEL: Herr Collins, wir danken Ihnen ganz ungefährlich: Das Risiko liegt darin, Collins: Ich kann damit nichts anfangen. für dieses Gespräch. dass der Redner ohne Überzeugung Ich habe nicht das Gefühl, dass es Dinge spricht. Jemand anders hat die Worte ge- gibt, die ich nicht sagen darf. Abgesehen schrieben, die er vorträgt; wenn man nicht von jenen Dingen, von denen ich froh bin, Videoanalyse Das Obama- sehr begabt ist, geht da viel verloren. Nicht dass man sie nicht sagen darf. Vieles von Prinzip so bei Reagan. Er war in der Lage, sich dem, was wir Political Correctness nennen, spiegel.de/sp232019rede den Text zu eigen zu machen. ist doch nichts anderes als Höflichkeit und oder in der App DER SPIEGEL SPIEGEL: Worin lag seine Wirkung? gute Umgangsformen.

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erklärte es mir wie eine Geschlechtsumwandlung. Ich beglei- tete ihn vor vielen Jahren zu einem letzten Saisonspiel. Da- Andere Liga mals spielte Union in der dritten Liga. Wir sind noch nicht so weit, sagte mein Freund. Es war ein Kackspiel, aber alle Leitkultur Alexander Osang über die historische schienen glücklich. Ein alter Berliner Reporterkollege schrieb mir gelegentlich Köpenicker Spielberichte nach New York, Mission des 1. FC Union Berlin als ich dort lebte. Mein Freund Carsten schickte mir Bilder vom Weihnachtssingen, mein Freund Robert nahm mich mit zu Spielen, wenn sein Sohn nicht konnte. Als das neue Sta- ergangene Woche saß ich auf einem Stein in der jorda- dion eingeweiht wurde, das Union-Fans mitaufgebaut hatten, V nischen Wüste und sah in den roten Abendhimmel. In lud mich ein Kollege aus dem Westen ein, die Eröffnung an- meinem Rücken betete ein Beduine namens Suleiman, zusehen. Er schien mir etwas beweisen zu wollen. Wowereit der uns auf den Berg geführt hatte, um uns die Stille zu zeigen. war da, Gysi und Maschine von den Puhdys. Auf einem Stein neben mir saß mein Sohn. Es war wirklich Das letzte Mal war ich im Herbst mit meinem Kumpel Step unglaublich still. Nur das Feuer, auf dem Suleiman süßen Tee dort, mit dem ich einst Pumpenschlosser gelernt habe. Step kochte, mit dem er gleich sein Fasten brechen würde, knis- folgte nach dem Mauerfall der Arbeit in den Westen. Manch- terte ein wenig. mal kommt er nach Hause, um seine Eltern zu besuchen und Mein Sohn beugte sich zu mir herüber und fragte leise: »Wann ein Spiel. Wir sahen ein fürchterliches Gewürge gegen einen fängt eigentlich das Spiel an?« Er meinte das erste Relegations - Gegner, den ich vergessen habe. Am Ausgang traf ich einen spiel der Fußballbundesliga, Stuttgart gegen Union Berlin. der besten konservativen Zeitungskommentatoren, die ich Der Junge wurde in Köpenick geboren, ist aber in New kenne. Er stammt aus Frankfurt am Main, trug einen Union- York groß geworden, hat in Großbritannien Psychologie Schal und wirkte so glücklich wie die anderen. studiert und eine Freundin aus London. Ich hatte gedacht, Sie holten ein 2:2 in Stuttgart. Dann ging der Mond auf dass die Ost-Berliner Gene ausgewaschen sind. Aber etwas über der jordanischen Wüste und löschte den Sternenhimmel. hat überlebt. Mein Sohn schien zufrieden. Ich sah in den großen Mond Wir waren für ein paar und fragte mich, ob er mich Tage nach Jordanien gefahren. irgendwann auch schlucken Meine Frau, mein Sohn, seine würde. Der Aufstieg des 1. FC Freundin und ich. Rotes Meer, Union schien so zwangsläufig Weltwunder in Petra und so wie früher die historische Mis- weiter. Diese Nacht schliefen sion der Arbeiterklasse. wir in einem Beduinenlager Der Junge erlebte das zwei- in der Wüste. Es war eine te Relegationsspiel in Berlin, Art Achtsamkeitscamp. Keine ich sah es mit meiner Frau auf Plastikflaschen, keine Steck - dem Sofa in Tel Aviv. Meine dosen, kein Alkohol, kein Niko - Frau nimmt Fußball normaler- tin, und die Handybenutzung weise nur alle vier Jahre wahr, außerhalb der Zimmer war wenn Weltmeisterschaft ist. ver boten. Das Abendessen war Aber das hier war Union. Sie vegan. Wir aßen bei Kerzen- war mal als Kind An der Alten schein und tranken Wasser. Försterei und brachte später Anschließend kletterten wir ihren Opa noch im Rollstuhl

aufs Dach der Unterkunft und / DER SPIEGEL ALEXANDER OSANG zum Stadion. Sie zeigen im ließen uns von einem Beduinen Feiernde nach Union-Sieg (im israelischen Fernsehen) israelischen Fernsehen Fuß- die Sterne erklären. Ich dachte ballspiele aus allen europäi- an den 1. FC Union Berlin und schen Ligen, auch die zweite fühlte mich sehr allein im Universum. Selbst die Freundin mei- Bundesliga. Die meisten Reporter haben, glaube ich, keine nes Sohnes ist schon mal im Stadion gewesen. Sie ist Anthro- Ahnung von Fußball, wollen aber auch dazugehören. Wie pologin, hat aber auch keine Erklärung dafür, was dort passiert. ich. Es war ein Gewürge wie immer, aber mit hebräischem Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, hat mich mein Vater Kommentar. Als am Ende rot gekleidete Menschen das mit zu einem Union-Spiel genommen. Nick Hornby hat ein Spielfeld stürmten, Menschen mit Gesichtern, in denen solcher Fußballnachmittag mit seinem Vater zum lebenslan- sich Glück und Entbehrung mischten, hatte ich kurz das gen Arsenal-Fan gemacht. Bei mir passierte nichts. Gefühl aufzusteigen. Ich bin kein Union-Fan, müsste aber einer sein. Ich bin Es war schnell vorbei. Am nächsten Tag sah ich in der Arbeiter, ich komme aus Ost-Berlin, ich mag den BFC Dyna- »Tagesschau« einen Bericht über die Berliner Nacht, der mo nicht und Hertha BSC schon gar nicht. Alle Menschen in klang, als wäre der Aufstieg Unions ein Event zum 30-jähri- meiner Nähe sind Union-Fans. Nina Hagen singt die Hymne. gen Mauerfalljubiläum. Der »Kultklub« sei in der Bundesliga Wenn ich ihre Stimme höre, zieht mein Leben an mir vorbei. angekommen. Spätestens wenn man in der »Tageschau« Kult Ost-Berlin, Sex, New York und das Weltall. genannt wird, ist es vorbei mit dem Kult. Union, hieß es, sei Ich war in keinem Fußballstadion so oft wie An der Alten ein »Schmuddelkind« des DDR-Fußballs gewesen, von Funk- Försterei. Meine Freunde nahmen mich mit, weil sie davon tionären gehasst, aber bei Arbeitern und Bauern beliebt. Bei ausgingen, dass ich fühlte wie sie. Es ist nicht nur so, dass die Bauern? Klar, auch bei Bauern. Bauern aus Oberschöneweide. Westler denken, die Ostler seien alle gleich. Die Ostler den- Die Sprecherin Linda Zervakis kommentierte die Meldung ken es auch. Wir sind sinnlicher, wütender, scheuer, stiller. mit einem Lächeln, als würde sie gleich ein Union-Hütchen Wir sagen Kaufhalle, supi, Plaste und lieben Union. aufsetzen und in die Nacht tanzen. Ich habe einen guten Kollegen, der etwa zehn Jahre nach Union gilt als anderer Fußballklub. Wenn aber alle anders dem Mauerfall vom BFC Dynamo zu Union wechselte. Er sind, fragt man sich irgendwann: anders als wer eigentlich? I

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 67 Wirtschaft

»Die Tagelöhner sind die Unsichtbaren, die in keiner Statistik auftauchen.« ‣S.74

Kraftwerk Datteln ZIESE / BLICKWINKEL / IMAGO ZIESE / BLICKWINKEL

Kohleausstieg Großkraftwerk Datteln soll ans Netz Wirtschaftsministerium spielt Inbetriebnahme durch, um ältere Meiler schnell schließen zu können.

Das im Bau befindliche Kohlekraftwerk in Datteln soll und Ökonomie versöhnen«. Es würde aber keinesfalls länger trotz des geplanten Kohleausstiegs ans Netz gehen. Die An - als bis 2038 laufen. Dann ist laut Kommission »Wachstum, lage mit einer Leistung von mehr als einem Gigawatt könnte Strukturwandel und Beschäftigung« das Ende der Kohlever- nach Überlegungen des Bundeswirtschaftsministeriums ältere stromung erreicht. Zwischenzeitlich sollte Datteln nicht ans und ineffiziente Kraftwerke ersetzen – etwa Meiler in Herne Netz. Im Fall einer Stilllegung würde der Betreiber Uniper und Gelsenkirchen, die einen Wirkungsgrad von weniger als Ent schädigung verlangen. Wegen technischer Probleme hatte 40 Prozent haben. Datteln kommt auf mehr als 45 Pro zent. sich der Bau des Kraftwerks verzögert, nun könnte Datteln »Dadurch würden wir den Ausstoß von Kohlendioxid auf 2020 in Betrieb gehen. Bis zum Ende der Sommerpause will einen Schlag deutlich reduzieren, ohne dass die Versorgungs- Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) ein Gesetz vor- sicherheit gefährdet wird«, sagt , Parlamen- legen, in dem auch die Zukunft von Datteln geklärt werden tarischer Staatssekretär im Wirtschaftsministerium. Das Kraft- soll. Offenbar will Unionsmann Wittke mit den Überlegun- werk könne zum Testfall für »klimapolitischen Pragmatis- gen ein Signal an die Grünen senden, die er durch den Nie- mus« werden, so der CDU-Abgeordnete, er wolle »Ökologie dergang der SPD als möglichen Koalitionspartner ansieht. GT

Düngeverordnung treffen im Bundeslandwirtschaftsministe - schlecht vorbereitet gewesen. »Wir ver- rium fünf Tage später erschien jedoch kein missen eine geordnete Gesprächsführung Klöckner wirft Ministern Einziger der Unterzeichner. »Hier wäre und vorbereitende Vorlagen für fundierte Scheinheiligkeit vor der Ort gewesen, ihre im Brief gestellten Diskussionen«, so das rheinland-pfälzi- Forderungen und Vorschläge zu bespre- sche Umweltministerium. Klöckner Bundeslandwirtschaftsministerin Julia chen«, so Klöckner in einem Antwort- begründet ihr »straffes Vorgehen« mit Klöckner (CDU) kritisiert das Verhalten schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt. Be - Druck aus Brüssel. Der Europäische der zuständigen Landesminister der Grü- merkenswert sei die »Ferndiagnose« des Gerichtshof hat Deutschland wegen der nen bei der Nachbesserung der Düngever- schleswig-holsteinischen Landwirtschafts- Überschreitung des Nitratgehalts im ordnung. Kurz vor der Europawahl hatten ministers Jan Philipp Albrecht, der trotz Grundwasser verurteilt. Gelingt es nicht, neun von ihnen medienwirksam in einem Abwesenheit eine »chaotische Sachlage« der EU-Kommission Mitte Juni annehm- Brief an Klöckner die jetzigen Vorschläge attestierte. Die meisten Minister, die Ver- bare Pläne vorzustellen, droht ein neues als ungenügend bezeichnet und umfassen- treter geschickt hatten, beklagen, das Verfahren und Strafzahlungen von mehr de Änderungen gefordert. Zum Arbeits- Treffen sei zu kurzfristig angesetzt und als 850000 Euro – pro Tag. MSC

68 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Rohstoffe Regen in den USA macht Mais Maisfeld und Biosprit teurer

Weil der Maispreis steigt, wird auch Biosprit teurer. Innerhalb von gut zwei Wochen hat die Maisnotierung an der Börse in Chicago um fast ein Viertel zugelegt. Ein Scheffel, rund 25 Kilo- gramm, kostete Mitte der Woche 4,35 Dollar, so viel wie seit drei Jahren nicht mehr. Mais dient als Nahrungs- und Futtermittel, aber auch zur Erzeugung von Biosprit. Verantwortlich für den Preissprung ist vor allem das Wetter. Im Mittleren Westen der USA, dem größten Anbaugebiet, hat es anhaltend geregnet, die

Farmer konnten kaum die Saat ausbringen. Nur 58 Prozent der / REUTERS JIM YOUNG Felder waren bis vor einer Woche bestellt, sonst sind es zur sel- ben Zeit im Schnitt 90 Prozent. Mit dem Ende des Monats Mai Es sei nicht übertrieben zu sagen, »dass der Maispreis in Chicago ist die Chance zur Aussaat von Mais vorbei. Anderenfalls bleibt explodiert«, schreiben die Analysten der Commerzbank. Die den Pflanzen zu wenig Zeit zum Wachsen, entsprechend gerin- absehbare Maisverknappung hat dazu beigetragen, dass auch die ger fällt die Ernte aus – und daher steigen jetzt schon die Preise. Ethanolpreise in die Höhe gegangen sind. AJU

Siemens Klimaschutz die Abgaben auf den Ausstoß von Treib- hausgasen angemessen zu erhöhen. Bei Belegschaftsaktionäre Deutliche Mehrheit der SPD-Wählern lag der Anteil der Befür- rügen Management Deutschen für C02-Steuer worter bei 72 Prozent, deutlich höher als bei den Anhängern von CDU (59 Pro- Bei den Belegschaftsaktionären des Fast zwei Drittel der Deutschen spre- zent) oder AfD (46 Prozent). Noch mehr Siemens-Konzerns wächst die Skepsis chen sich für eine Energiesteuerreform befürworten eine CO -Steuer, wenn der ² gegenüber der geplanten Abspaltung aus, die sich am CO -Verbrauch orien- Staat das Aufkommen zurückerstatte, ² des Energiegeschäfts. Bereits vor gut tiert. Wie eine repräsentative Umfrage etwa in Form einer Prämie am Jahres - einer Woche hatte der traditionsreiche des Meinungsforschungsinstituts Infratest ende. In diesem Fall steigt beispielsweise Verein von Belegschaftsaktionären Kri- Dimap im Auftrag der Umweltschutz - die Zustimmung in Ostdeutschland von tik an dem Vorhaben geübt. Er vertritt organisation German Watch ergibt, halten 55 auf 64 Prozent. Die Ablehnung dort nach eigenen Angaben mehrere Tau- es 62 Prozent der Befragten für sinnvoll, sinkt von 43 auf 27 Prozent. MSA, GT send betriebliche Anteilseigner und argumentiert, Konglomerate sorgten in Krisenzeiten für mehr Stabilität. Außer- dem lasse sich im Servicegeschäft, etwa Gewerkschaften Baublies: Die UFO ist bis 2016 einfach mit Turbinen, nach wie vor gutes Geld zu schnell gewachsen, wir haben unsere verdienen. Mit noch schärferen Aussa- »Die Lufthansa hat Mitgliederzahl innerhalb weniger Jahre gen meldet sich nun auch die Konkur- Funktionäre umgarnt« verdoppelt. Leider haben wir es ver- renzorganisation Wir für Siemens zu säumt, angemessene Strukturen zu schaf- Wort. Sie existiert seit 2015 und steht Nicoley Baublies, fen und die Basis stärker einzubinden. der IG Metall nahe. Ihre Vertreter hal- 46, über seinen Die Lufthansa hat das ausgenutzt, indem ten den Ausstiegsbeschluss für einen Rücktritt als Chef sie ihr genehme Funktionäre bewusst »strategischen Fehler« und rügen die der Kabinen- umgarnt und protegiert hat. Wie wir in damit einhergehende »Verkleinerung Gewerkschaft unseren Gremien damit umgegangen

des Konzerns«. Siemens mache sich / DPA RUMPENHORST F. UFO sind, war desaströs. Wir hätten uns viel durch die Konzentration auf digitale früher professionelle Hilfe holen sollen. Produktion und intelligente Infrastruk- SPIEGEL: Die monatelangen Querelen SPIEGEL: Sie selbst haben sich angeblich tur abhängig von »kurzzyklischen innerhalb der UFO entzündeten sich neben Ihrem Lufthansa-Salär von der Geschäften und den Zyklen nur weni- auch an Ihrer Person. Warum ziehen Sie UFO ein Vorstandsgehalt von 8000 Euro ger Branchen«. Die Rebellen kritisieren sich erst jetzt zurück ? pro Monat genehmigt. damit indirekt auch zwei prominente Baublies: Die Lufthansa hat bewusst ver- Baublies: Ich habe das UFO-Gehalt um Metaller, die bei Wir für Siemens im sucht, einen Keil in die UFO-Führung zu die Lufthansa-Bezüge gekürzt, um der Beirat und gleichzeitig im Konzernauf- treiben, was ihr auch gelungen ist. Jetzt Organisation Geld zu sparen. Dies und sichtsrat sitzen: die Gesamtbetriebs - wird ernsthaft aufgeklärt, ein Interims- anderes prüft jetzt die Staatsanwaltschaft. ratsvorsitzende Birgit Steinborn und vorstand ist benannt und kann einen SPIEGEL: Treten Sie noch mal an? IG-Metall-Finanzchef Jürgen Kerner. Neustart einleiten. Das war für mich der Baublies: Ich habe in den vergangenen Beide hatten der Ausgliederung der richtige Zeitpunkt zu gehen. zwölf Jahren viel Energie in die UFO Energiesparte zusammen mit anderen SPIEGEL: Sie hinterlassen die UFO in gesteckt. Die letzten Monate sind nicht Arbeitnehmervertretern bei der Sitzung keinem guten Zustand. Gleich zwei Staats - spurlos an mir vorübergegangen. Wenn des Kontrollgremiums Anfang Mai anwaltschaften ermitteln gegen frühere die Ermittlungen abgeschlossen sind, zugestimmt – um dem Bereich bessere Spitzenfunktionäre wegen Untreue und muss man sehen, ob meine Kollegen eine Zukunftsperspektiven zu eröffnen, wie Betrug, nun droht auch noch die Ab - erneute Kandidatur von mir wünschen es in ihrem Umfeld heißt. DID erkennung als Tarifpartner der Lufthansa. und ob ich das überhaupt will. DID

69 Wirtschaft Eiserner Vorhang Handel Der Zollstreit zwischen den USA und China eskaliert zum Wirtschaftskrieg um Hochtechnologie, Rohstoffe und Finanzmacht. Doch lässt sich die Globalisierung zurückdrehen?

s sind nur ein paar Schritte, die vom Potsdamer Hasso-Plattner- E Ins titut ans Ufer des Griebnitzsees führen. Wo heute Touristen von Ausflugsdampfern winken, verlief einst die Zonengrenze, die mit ihren Selbst- schussanlagen und Minenfeldern das bru- tale Symbol des Kalten Krieges war. Einen symbolträchtigeren Ort hätte sich Hu Houkon deshalb kaum aussuchen kön- nen, als er vergangene Woche vor einer neuen, gefährlichen Konfrontation warnte: dem sich verschärfenden Wirtschaftskrieg zwischen den USA und China. Hu ist stellvertretender Vorstandsvorsit- zender des Tech-Giganten Huawei mit Hauptsitz in Shenzhen, den US-Präsident Donald Trump für derart »gefährlich« hält, dass seine Regierung den Konzern auf die schwarze Liste setzte, die amerikanischen Unternehmen den Handel mit ihm verbietet. Vergangene Woche war Hu an die Informa- tik-Uni vor die Tore Berlins gekommen, um auf einer Konferenz über Cyber sicherheit zu reden. Er wies bei der Gelegenheit nicht nur die US-Vorwürfe zurück – sondern sand- te auch ein paar subtile Drohungen in Rich- tung Amerika. Trumps Dekret basiere auf »unbelegten Vorwürfen« klagte der Vizechef des Technologiekonzerns. Es enthalte »un- faire Restriktionen« und würde einen »ge- fährlichen Präzedenzfall« schaffen, dessen Folgen keineswegs nur China träfen, son- dern Tausende Unternehmen und Millionen Verbraucher auf dem gesamten Erdball. »Wir wollen keine neue Mauer aufbauen«, warnte der Huawei-Mann, »weder im Han- del noch in der Technologie.« Die Welt wird Zeuge einer Systemaus- einandersetzung, die nicht nur chinesische Manager an den Ost-West-Konflikt der Sechziger- und Siebzigerjahre erinnert, an den Kalten Krieg der Supermächte. Was als begrenzter Streit um Zölle und Importquoten begann, hat sich in den ver- gangenen Wochen zu einem umfassenden Powerplay ausgewachsen: zwischen dem aufstrebenden China, das nach mehr als zwei Jahrzehnten atemraubenden Wachs- tums die Vorherrschaft in wichtigen Zu- kunftsindustrien anstrebt, und den USA, die um ihre jahrzehntelange ökonomische Führungsrolle und die Stellung als alleinige Supermacht fürchten. Es geht um Einflusszonen, technologi- sche Dominanz und den wechselseitigen

70 Vorwurf, unfair zu spielen. China spionie- ist inzwischen mit Zöllen und Gegenzöllen nesen den Zugang zur Wall Street zu er- re US-Konzerne aus und kupfere illegal belegt. US-Konzerne wie Intel und Qual- schweren. Umgekehrt ist China einer der Produktionsverfahren ab, heißt es in Wa- comm haben nach Trumps Dekret die Zu- größten Gläubiger der USA. shington. Die USA wollten ein fleißiges sammenarbeit mit Huawei aufgekündigt. Wie ernst die Lage ist, machte der stell- Schwellenland mit allen Mitteln am Auf- Umgekehrt droht Peking, den Vereinigten vertretende chinesische Außenminister stieg hindern, klagt die Führung in Peking. Staaten Rohstoffe zu entziehen oder US- Zhang Hanhui diese Woche noch einmal Nach der Logik von Aktion und Reak- Multis vom eigenen Markt auszusperren. deutlich: Der von den USA vorsätzlich tion ist der Konflikt zuletzt gefährlich Auch auf die Finanzwelt schlägt der ausgelöste Handelskonflikt sei »reiner eskaliert. Mehr als die Hälfte des chine- Handelskrieg inzwischen durch: In den Wirtschaftsterrorismus«, sagte er – und sisch-amerikanischen Handelsvolumens USA findet der Vorschlag Anhänger, Chi- kündigte eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland an. Noch hoffen viele, dass sich Trump und Chinas Präsident Xi Jinping beim G-20-Gip- fel Ende des Monats im japanischen Osaka auf ein Handelsabkommen einigen werden. Doch selbst dann, so fürchten andere, wür- den die beiden Mächte ihren Zweikampf fortsetzen, nach technologischer Autarkie streben und auf den Finanzmärkten als erbitterte Kontrahenten auftreten. Getrennt von einem »ökomischen eiser- nen Vorhang«, so der frühere US-Finanz- minister Hank Paulson, wären große Teile der Welt gezwungen, sich in rivalisierende Wirtschaftsblöcke aufzuteilen. Vor allem Exportnationen wie Deutschland müssten sich dann zwischen China- und US-Ge- schäft entscheiden. Weltweit würden be- währte Lieferbeziehungen gekappt, die Wachstumsraten sinken und die Preise stei- gen. Die eng verflochtene Weltwirtschaft würde sich ein Stück weit entkoppeln. Nur: Lässt sich die Globalisierung über- haupt zurückdrehen? Welche Druckmittel halten China und die USA in Händen, um sich gegenseitig das Leben schwer zu ma- chen? Und wer ginge als Sieger vom Feld? Der Kampf um Vorherrschaft wird in den nächsten Jahren vor allem auf drei Feldern ausgetragen werden: in der Hochtechno- logie, bei Rohstoffen und auf den Finanz- märkten.

Vorsprung durch Technik Wer die glamouröse Seite des chinesisch- amerikanischen Hightech-Duells besichti- gen wollte, konnte das Ende Februar bei der weltgrößten Mobilfunkmesse in Bar- celona tun. Der Huawei-Konzern stellte dort seine neuen Tech-Spielzeuge auf glit- zernden Messeständen aus und sparte an nichts – vor allem nicht an Kampfansagen in Richtung Apple. Während die Chinesen die Vorzüge ihrer faltbaren Luxus-Smart- phones und neuen Notebooks priesen, wurden auf einer Riesenleinwand die Pro- dukte des Rivalen aus Cupertino einge- blendet. Bisweilen gab es für die Spitzen gegen Apple sogar Szenenapplaus. Der einstige Billigheimer aus China, das war die klare Botschaft, spielt längst auf Au- genhöhe im Premiumsegment. Im vorigen Jahr zogen die Chinesen beim Smartphone- Verkauf erstmals mit den iPhone-Machern Huawei-Stand auf einer Mobilfunkmesse in Barcelona gleich, im ersten Quartal dieses Jahres

TONI ALBIR / EPA-EFE / REX ALBIR / EPA-EFE TONI lagen die Chinesen vorn. Seinen Anspruch

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 71 trägt Huawei schon im Na- Ohne die Chips und ohne men. Der bedeutet über- den Google Play Store, Goo- setzt: »China ist fähig». gle-Mail und -Maps, so das Und der Konzern aus Kalkül des Weißen Hauses, dem Reich der Mitte führt könnte selbst ein Gigant wie auch den wichtigen Markt Huawei in Schwierigkeiten mit Mobilfunksendeanla- geraten. Das gilt umgekehrt gen an, wo es sehr zum Miss- aber auch für die US-Unter- fallen von Donald Trump nehmen. Offenbar hat die praktisch keine amerikani- Trump-Regierung die mög- sche Konkurrenz mehr gibt. lichen Kollateralschäden Anders als die Europäer nicht mitbedacht. haben die Chinesen zudem So stürzten die Aktien- mit Alibaba (E-Commerce), kurse der Chipproduzenten Baidu (Suche) und Tencent und Huawei-Ausstatter Mi- (soziale Netzwerke) längst cron und Qualcomm unter ernst zu nehmende Rivalen Trumps Bannfluch ab. zu den großen US-Plattfor- Zudem haben einige US- men aufgebaut. Das bringt Netzbetreiber in ländlichen das Land in eine ideale Aus- Gebieten Technik der Chi- gangsposition für den nächs- nesen im Einsatz. Auch des- ten Megatrend: künstliche halb gewährte das US- Intelligenz (KI). Bis 2030 Handels ministerium einen will China hier weltweit füh- zeit lichen Aufschub von rend sein und weitere Mil- rund drei Monaten. liardensummen investieren. Ohnehin ist fraglich, was Auch das Programm die amerikanischen Maß- »Made in China 2025« nahmen noch bewirken kann man als ökonomische können. China hat sich in Kampfansage verstehen, vielen Branchen und Tech- etwa in Sachen Elektromo- nologien längst eine füh - bilität: Bis 2025 will China rende Stellung gesichert. Al- 80 Prozent der Inlandsnach- lein Huawei und seine Toch- frage nach Elektroautos aus ter HiSilicon hatten bis

eigener Herstellung decken. / IMAGO NEWS KYODO Ende vorigen Jahres rund Chinas Lenker sehen ihre Präsidenten Trump, Xi: Kollateralschäden nicht mitbedacht 18700 Standards rund um schnelle Aufholjagd beim die neue Mobilfunkgenera- technologischen Fortschritt tion 5G eingereicht – die als weitgehend abgeschlossen, nun sollen Kritiker beruhigt das keineswegs – zu- beiden größten Wettbewerber Ericsson die Überholmanöver folgen. mal aktuell die Milliardenaufträge für den (Schweden) und Nokia (Finnland) kom- Dabei spielt China nicht immer fair. Es Aufbau der nächsten Mobilfunkgeneration men auf 10000 und knapp 7000. nutzte die neuen Technologien schon früh 5G vergeben werden. Sie wird die Basis Die US-Regierung kann den Aufstieg der als geheimdienstliche Waffe, etwa bei der für Zukunftstechnologien wie die vernetz- Tech-Weltmacht China bestenfalls bremsen, Industriespionage. Viele Cyberattacken, te Produktion und das autonome Fahren. aber nicht mehr verhindern. Trump könnte wie die Angriffe auf Unternehmensnetze Das erklärt die aktuelle Eskalation und ist in den anstehenden Verhandlungen allen- von Thyssenkrupp oder Bayer schreiben auch der Grund, warum Donald Trump falls verlangen, dass China seine aggressive IT-Experten Hackern im chinesischen bei seinen jüngsten verbalen Attacken Industriespionage zurückfährt und fairere Staatsauftrag zu. Chinesische Behörden gegen Huawei von einer Gefahr für die Bedingungen für einen Markteintritt west- versuchen zudem, mit rabiaten Methoden »nationale Sicherheit« sprach. licher Unternehmen schafft. bis zur Erpressung Einblicke in die Ge- Das Kalkül hinter seinem Bann ist klar: Womöglich führt Trumps Anti-Huawei- schäftsmodelle und Geheimnisse west- Er zielt auf eine der wenigen noch vorhan- Feldzug sogar dazu, dass China seine licher Firmen zu bekommen. denen Achillesfersen des Tech-Standorts Bemühungen verstärkt, die letzten Tech- Auch Huawei ist mehrfach des Diebstahls China: Bei der Chipherstellung kann das Lücken zu schließen und noch unab- geistigen Eigentums bezichtigt worden, Reich der Mitte noch nicht mithalten. hängiger zu werden. Anzeichen dafür gibt etwa von den US-Wettbewerbern Cisco und Ohne Chips aber läuft nichts, kein Smart- es, sowohl in der Chip- als auch in der Motorola. Im Januar erst beschuldigte das phone, kein Rechner, keine Mobilfunk- Softwarebranche – bei Huawei beispiels- US-Justizministerium Huawei, technische sendeanlage. weise wird schon seit geraumer Zeit an Details über den Handy-Test-Roboter »Tap- Um sich aus dieser Abhängigkeit zu einem eigenen mobilen Betriebssystem py« bei T-Mobile US gestohlen zu haben. befreien, hatte eine staatlich kontrollierte gearbeitet. Die US-Ankläger werfen dem Konzern so- chinesische Investmentgesellschaft schon Huawei-Gründer Ren Zhengfei bemüh- gar vor, ein Bonusprogramm für Mitarbeiter 2015 erfolglos versucht, den US-Chip- te sich diese Woche erst einmal um verbale aufgelegt zu haben, die bei anderen Firmen hersteller Micron zu übernehmen. Einen Abrüstung. Er sei dagegen, dass die Regie- besonders wertvolle Informationen klauten. weiteren Versuch bei einem anderen US- rung in Peking mit Vergeltungsmaßnah- Huawei hat alle Spionagevorwürfe stets be- Halbleiterhersteller stoppte Donald Trump men auf die US-Dekrete reagiere – und er stritten – und die Schuld im »Tappy«-Fall 2017. Auch Huawei muss deshalb weiterhin rechne auch nicht damit. In einem Inter- seinen Mitarbeitern zugeschoben, die an- in erheblichem Umfang Chips importieren, view mit der amerikanischen Nachrichten- geblich auf eigene Faust agiert hätten. vor allem aus den USA. agentur Bloomberg sagte er: »Das wird

72 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Wirtschaft nicht passieren, und wenn es passiert, dann Lynas startete 2012 die Produktion an der und im Grunde entschieden: China hat sich bin ich der Erste, der dagegen protestiert.« Mine Mount Weld, 700 Kilometer nord- die wichtigsten Quellen gesichert. Viele östlich von Perth; der Chemiekonzern BASF, Unternehmen geraten in eine gefährliche Schlacht um die Rohstoffe auch ein großer Katalysatorhersteller, ge- Abhängigkeit, nicht nur in Amerika. Auch hört zu den Lynas-Kunden. Das alles half, die deutsche Industrie ist verwundbar. Wenn Chinas Präsident Xi Jinping einem die Lage auf dem Markt für Seltene Erden Als sich vor rund neun Jahren der Eng- Betrieb einen Besuch abstattet, steckt oft zu entspannen, zumindest übergangsweise. pass bei Seltenen Erden abzeichnete, reifte eine Botschaft dahinter. Vor knapp zwei Wenn China nun erneut den Joker zieht, in der heimischen Wirtschaft die Idee, ge- Wochen reiste der Staatschef in die Pro- hätte dies »kurzfristig enorme Konsequen- meinsam der Gefahr zu begegnen. Eine vinz Jiangxi zu einem Produzenten soge- zen«, sagt Harald Elsner von der Bundes- sogenannte Rohstoffallianz von Unterneh- nannter Seltener Erden – und sandte da- anstalt für Geowissenschaften und Roh- men formierte sich – darunter Thyssen- mit ein Signal, um nicht zu sagen, eine stoffe. Denn der Abbau ist aufwendig, die krupp, Bayer und BASF –, die aber bald deutliche Warnung: dass nämlich Amerika Verarbeitung schwierig, das Geschäft sel- wieder zerfiel, als der akute Notstand vo- und die ganze Welt hochgradig abhängig ten profitabel – und China nach wie vor rüber war. Das könnte sich noch rächen. seien von chinesischen Rohstofflieferun- dominant. gen. Und dass die Volksrepublik jederzeit Vor allem die USA sind verletzlich. 80 Die Geld-Waffe in der Lage sei, den Nachschub zu stoppen. Prozent ihrer Importe von Seltenen Erden Seit Langem beherrscht China als Qua- stammen aus China. Doch nicht nur bei Kaum jemand schießt so scharf gegen Chi- simonopolist den globalen Markt für Sel- diesen Elementen ist die Abhängigkeit na wie Stephen Bannon. Der frühere Chef- tene Erden, das sind 17 chemische Elemen- groß. Grafit zum Beispiel, das für Brenn- stratege Donald Trumps drohte vor Kur- te mit komplizierten Namen wie Yttrium, stoffzellen nötig ist, beziehen die Vereinig- zem ausgerechnet in der »South China Neodym oder Dysprosium. Viele davon ten Staaten zu 37 Prozent aus der Volks- Morning Post«: »Als Nächstes stoppen wir sind essenzielle Bestandteile von Zukunfts- republik. Bei Magnesium, wichtig bei der alle Börsengänge.« technologien: als Verstärker für Magneten Verarbeitung von Keramik, liegt der Anteil Zwar hat der US-Präsident Bannon be- in Windkraftanlagen, als Poliermittel für bei rund 60 Prozent. reits im Sommer 2017 gefeuert. Doch die Gläser in der Optikindustrie, als Hitze- Besonders folgenschwer aber ist im an- Tiraden des Scharfmachers sind ein Indiz schild für Katalysatoren. Würden die Ma- brechenden Zeitalter der Elektromobilität dafür, dass die Finanzmärkte zum nächs- terialen knapp, hätte dies nach Einschät- der Zugriff auf Rohstoffe, die für E-Auto- ten Schlachtfeld für den Konflikt zwischen zung von Hubertus Bardt vom Institut der Batterien unverzichtbar sind. Chinesische China und den USA werden könnten. deutschen Wirtschaft »fatale Wirkungen Firmen kontrollieren die Minenproduk- Beide Seiten haben enorme Druckmit- für die Weltwirtschaft«. tion im Kongo, wo gut die Hälfte des Welt- tel: Der amerikanische Dollar ist mit Ab- Schon einmal hat China diese Karte ge- angebots an Kobalt herstammt. Und in stand die wichtigste Handels- und Reserve- spielt. Vor neun Jahren stoppte die Volks- den Hauptförderregionen von Lithium, in währung. Mit den Sanktionen gegen Iran republik den Export Seltener Erden, da- Australien und Chile, sind sie vielerorts und Russland hat die US-Regierung ge- mals hatte der Konflikt mit Japan um eine an Projekten beteiligt. zeigt, dass sie diese Waffe einsetzen kann, Inselgruppe die Lage eskalieren lassen. Inzwischen fördern chinesische Unter- um Länder vom Welthandel weitgehend Die Preise für die Hightech-Metalle schos- nehmen mehr als 60 Prozent des Rohstoffs abzuschneiden. sen in die Höhe, die Industrie sah sich ge- weltweit. Innerhalb weniger Jahre haben China wiederum kann über den Wech- fangen in der Versorgungsfalle – aber sie Unternehmen wie Ganfeng oder Tianqi selkurs seiner Landeswährung Renminbi befreite sich daraus. Die Unternehmen das bisherige Oligopol dreier westlicher die globalen Handelsströme beeinflussen drosselten, wo immer möglich, den Ver- Anbieter gesprengt und sind zu Global und ist außerdem der mit Abstand größte brauch, ersetzten Seltene Erden durch Playern aufgestiegen. Gläubiger der Vereinigten Staaten. andere Materialen und erschlossen neue Ein erbitterter Verteilungskampf um die Mehr als drei Billionen Dollar an Wäh- Quellen: Der australische Bergbaubetrieb begehrten Bodenschätze ist entbrannt – rungsreserven hat China angehäuft, einen

Erfolgreiche Volksrepublik Internationale Devisenreserven* Produktion Seltener Erden 2018, Patentanträge nach Herkunftsland in Billionen Dollar in tausend Tonnen des Antragstellers *gesamt, ohne Goldreserven Quelle: USGS 1,3 Mio. Quelle: Thomson Reuters 4 Datastream 120

3 China

2 USA 525476 80% 437353 der Seltenen Erden importierten die USA 1 zwischen 2014 und 2017 aus China China USA 20 161308 Quelle: WIPO 15 15

2007 2017 2007 2017 ChinaAustralien USA sonstige

73 Wirtschaft großen Teil davon halten die Chinesen in 2018 42 chinesische Börsengänge. Weil die amerikanischen Staatsanleihen. Als die Pe- Firmen sich damit den Regeln der ameri- kinger Notenbank im März US-Bonds im kanischen Börsenaufsicht unterwerfen, Wert von rund 20 Milliarden Dollar auf hätte Trump hier einen Hebel, Druck auf den Markt warf, spekulierten die Finanz- Peking auszuüben. märkte über eine gezielte Attacke gegen Um dem zu entgehen und sich unab - Trump. Seit zweieinhalb Jahren hatte Pe- hängiger von amerikanischem Investoren- king nicht so viele US-Papiere verkauft. geld zu machen, könnten bald mehr chi- Die Logik dahinter: Wenn der größte Geld- nesische Konzerne der Idee von Alibaba geber sich von den USA abwendet, könn- folgen. ten die Zinsen steigen, weil die Regierung Chinas größter Halbleiterhersteller mehr Rendite bieten muss, um andere An- SMIC etwa verkündete vergangene Wo- leihekäufer zu finden. Trump dagegen che den Rückzug von der New Yorker Bör- drängt seit Monaten die amerikanische se. Den Finanzfirmen von der Wall Street Notenbank Fed, die Zinsen zu senken, um würde damit künftig eine Menge lukrati- die Wirtschaft anzuheizen. ves Geschäft entgehen. Noch gefährlicher: Dass Peking seinen Anleihenschatz tat- Wenn Chinas Investoren ihre US-Aktien sächlich als Waffe einsetzt, halten Exper- im Wert von 200 Milliarden Dollar auf ten indes für unwahrscheinlich. »Wollte den Markt werfen, könnten die Kurse auf China wirklich die US-Zinsen hochtreiben, breiter Front rutschen. müsste es aggressiver vorgehen und würde Kein Wunder, dass die US-Finanzkon- sich damit selbst in den Fuß schießen«, zerne in Washington auf Entspannung sagt Harvard-Ökonom Kenneth Rogoff. drängen. »Die USA haben zwar im Han- Ein Ausverkauf der US-Papiere würde delskrieg weit mehr Trümpfe in der Hand deren Kurse drücken und somit China hohe als China«, sagt Harvard-Ökonom Rogoff. Verluste bescheren sowie auch Verwerfun- »Aber deshalb ist ein Handelskrieg noch gen an den Devisenmärkten auslösen. Der lange keine kluge Idee.« Renminbi könnte aufwerten, was China im Handel massiv schaden dürfte. »Es ist wie Die Logik der Bombe in dem alten Sprichwort: ›Schuldest du der Bank hundert Dollar, hast du ein Problem. Im Kalten Krieg zwischen den USA und Hölle im Schuldest du der Bank Millionen Dollar, der Sowjetunion galt das sogenannte hat die Bank ein Problem‹«, sagt Rogoff. Gleichgewicht des Schreckens. Beide Sei- Am Dienstag gab Finanzminister Ste- ten hatten so viele Atomwaffen in ihren Gewächshaus ven Mnuchin nun einen neuen Warn- Arsenalen, dass sie glaubwürdig mit ge- schuss Richtung China ab. In dem halb- genseitiger Vernichtung drohen konnten. Landwirtschaft Tagelöhner in jährlichen Bericht seines Ministeriums zur So kam es, dass die große Bombe nie ein- Südspanien schuften für ein paar Währungspolitik wichtiger Handelspart- gesetzt wurde. ner ist von »Fehlausrichtung« und »Unter- So könnte es auch im heraufziehenden Euro, damit es in deutschen bewertung des Renminbi gegenüber dem Systemkonflikt zwischen den USA und Läden im Januar Erdbeeren gibt Dollar« die Rede. Allerdings sah Mnuchin China laufen. Die beiden Mächte werden und Tomaten das ganze Jahr. davon ab, China formal der Manipulation kaum eine ultimative Zerstörung wagen. zu bezichtigen. »Das hätte den Konflikt Aber ihre Rivalität ist derart groß, dass es extrem befeuert«, sagt Gene Frieda, De- ständig zu neuen Drohgebärden kommen er aus dem Weltall auf Spanien visenstratege bei der Fondsgesellschaft wird. blickt, wie es der Astronaut Pedro Pimco. Für Europa bietet das Chancen und W Duque getan hat, sieht im Südos- Die Zeiten, in denen Peking gezielt die Risiken zugleich. Einerseits könnte der ten des Landes einen hellen Fleck. Als ob eigene Währung schwächte, sind vorbei. Kontinent zum Vermittler zwischen den sich dort ein Schneesturm entladen hätte. Zu groß ist die Angst, verunsicherte Inves- konkurrierenden Weltmächten werden. Es ist das »Plastikmeer« von Almería – toren könnten eine regelrechte Kapital- Andererseits hätte er unter den Kollateral- eine Fläche, groß wie 47000 Fußballfelder, flucht auslösen. Stattdessen versucht Chi- schäden zu leiden, die ein verschärfter voller Gewächshäuser. Der Gemüsegarten na, sich unabhängiger vom amerikani- Wirtschaftskrieg zur Folge hätte. Gerade Europas. Und mittendrin wohnt Charifa schen Kapitalmarkt zu machen. So plant Deutschland könnte dann wegen seiner Essamraoui, 42, eine Erntearbeiterin. Der der Internetkonzern Alibaba derzeit Me- starken wirtschaftlichen Verflechtungen Salat, den sie schneidet, landet auch in dienberichten zufolge, neue Aktien im mit China und den USA zu einer Art Front- Deutschland im Regal. Wert von bis zu 20 Milliarden Dollar an staat werden, wie einst im Kalten Krieg. Wenn man sie fragt, wovon sie träume, der Hongkonger Börse auszugeben. 2014 »Wir müssen uns darauf einstellen, dass dann sagt die Marokkanerin: »Von einem hatte Alibaba noch in einem spektakulä- der Konflikt der Weltmächte USA und Chi- kleinen Haus im Dorf.« Ihr Zuhause ist ren Börsengang in New York 25 Milliarden na der beherrschende Konflikt des nächs- nur eine Hütte. Zwei Räume für sie und Dollar eingesammelt. ten Jahrzehnts sein wird«, sagte der Kieler ihren Mann, zusammen kaum 25 Quadrat- Der Schritt hatte damals einen Ansturm Handelsökonom Gabriel Felbermayr kürz- meter, mit selbst gebauter Außenküche. chinesischer Firmen auf die US-Börsen lich dem »Handelsblatt«. »Es geht um die Ein Erntehelferverschlag aus der Franco- ausgelöst. Seither reißen sich Investoren Weltherrschaft.« Zeit, mitten zwischen den Gewächshäu- um die Aktien der wachstumsstarken Un- Martin Hesse, Alexander Jung, sern in San Isidro bei Almería. 160 Euro ternehmen aus der Volksrepublik. An der Marcel Rosenbach, Michael Sauga Miete zahlt sie dem spanischen Vermieter New York Stock Exchange und der Tech- Mail: [email protected] pro Monat. 1000 Euro hatte er schon beim nologiebörse Nasdaq gab es seit Anfang Einzug als Provision verlangt. So viel ver-

74 unter dem Meeresspiegel gesunken. Man behilft sich mit Meerwasserentsalzungsan- lagen, die immer größer werden müssen, oder bohrt neue Brunnen. Andalusien ist voller illegaler Wasserschächte – im Januar fiel ein Kind in ein solches Loch und starb. Derart riskanter Raubbau taucht aller- dings in keiner Wirtschaftlichkeitsstatistik auf, und deshalb stehen viele der Gewächs- haushochburgen in Städte-Rankings gar nicht schlecht da. Doch hinter der Fassade tobt ein gnadenloser Preiskampf: 14 Cent pro Kilo brauche man zum Überleben, sagt ein Zucchini-Bauer. Vergangenes Jahr boten ihm die großen Abnehmer mitunter nur 3 Cent – für Ware, die dann für rund zwei Euro pro Kilo in deutschen Super- märkten liegt. Richtig profitabel ist das Geschäft nur für wenige, Zwischenhändler wie Juan Garcia Lax etwa, der Lidl mit Früchten aus der Region versorgt. Der Spanier mit Firmensitz in Köln ist einer der ganz Gro- ßen im Geschäft mit Gemüse, rund zwei

LAURA LEÓN / DER SPIEGEL LEÓN LAURA Milliarden Euro Umsatz, zweistelliger Mil- Anbauflächen bei Almería: Hinter der Fassade tobt ein gnadenloser Preiskampf lionengewinn pro Jahr. Die Marokkanerin Charifa Essamraoui hat es noch gut getroffen. Sie besitzt Auf- dient Essamraoui etwa im Monat. Wenn ben war, hatte sie nicht genau gelesen. Ir- enthaltspapiere und hat einen Zeitvertrag, sie denn Arbeit hat. gendwie habe sie das »umtauschen« kön- der ihr zumindest auf dem Papier den Min- Seit elf Jahren ist sie hier, sie hat bei über nen und fing in den Gewächshäusern von destlohn von 900 Euro pro Monat ver- 40 Grad Hitze Tomaten im Gewächshaus Almería an. spricht. Dass sie jeden Tag 80 Kilometer gepflückt, in gebückter Haltung Salat auf Die Akkordproduktion hat Spuren in bis zu den Salatfeldern fahren muss und den Feldern geschnitten, wie zuletzt im dieser kargen Ecke Andalusiens hinterlas- nicht einen Cent Fahrtkosten erstattet be- April und Mai. Ihre Hände sind geschwol- sen, wo einst der Western »Spiel mir das kommt? Geschenkt. len, ihr Gang ist schwer, die Knie und ihr Lied vom Tod« gedreht wurde. Der Preis Es geht schließlich noch schlechter: »Ein Kreuz eigentlich zu lädiert für die Arbeit. der »Plastikproduktion« ist hoch, für die knappes Drittel der Migranten hat keine Oft wird der Salat noch kurz vor der Ernte Umwelt und die Menschen. Nirgendwo in Papiere«, sagt José Garcia Cuevas von der mit der Giftspritze behandelt – Kollegen Spanien wird so viel an Kunstdünger und Landarbeitergewerkschaft SOC-SAT. von ihr haben das gefilmt. Dennoch hat Pestiziden eingesetzt wie in Andalusien. Diese Tagelöhner sind die Unsichtbaren, sich Essamraoui nicht geschont, hat weiter In der trockenen Gegend wird zudem das die in keiner Statistik auftauchen. Sie war- Überstunden gemacht und sonntags gear- Wasser knapp. 200 Liter beansprucht die ten jeden Morgen auf dem sogenannten beitet – für ihren Traum, irgendwann raus- Produktion eines Kilos Tomaten insge- Pflückerstrich, den Kreisverkehrinseln der zukommen aus der Gewächshaushölle. samt, fast 2000 Liter sind für Trendfrüchte Ausfallstraßen von El Ejido, der Gemüse- Die Marokkanerin ist eine von geschätzt wie Mangos und Avocados nötig. Inzwi- hochburg bei Almería. 32 bis 35 Euro 120000 Migranten, die in Almería ihr schen ist der Grundwasserspiegel in der bieten ihnen die Plantagenbesitzer für Glück versuchen. Sie stammen aus Afrika Südostecke Spaniens teils auf 500 Meter acht Stunden Schwarzarbeit unter Plastik. und Osteuropa und arbeiten dafür, dass Auch ihre Produkte gelangen nach Deutsch- der nordeuropäische Konsument auch im land, über Umwege. Vor Ort nehmen gro- Januar Erdbeeren essen kann, dass Toma- ße Genossenschaften wie La Uníon oder ten, Mangos, Avocados zu jeder Jahreszeit Vicasol die Ware ab und schicken sie auf verfügbar sind. Zwei, drei Ernten sind un- die Reise. ter den Planen pro Jahr möglich. Der größ- Viele der Unsichtbaren leben in einer te Anteil der Produktion landet in deut- der vielen »Chabolas« in den Slums der schen Supermärkten. Provinz Almería. Rund 60 solcher Bara- In das Plastikmeer schaffte es Charifa ckensiedlungen gibt es allein in der Ge- Essamraoui über einen Kontaktmann, lan- gend von San Isidro, erzählt der Gewerk- ge vor der Flüchtlingskrise. In ihrer Hei- schafter Cuevas. Etwa 2500 Menschen mat Fkih Ben Salah in Zentralmarokko leben dort. Arbeiter wie Morad, 28, und hätte sie gern eine Familie gegründet, Mimoun, 30, beide Marokkaner, die ihre »aber es gab keine Arbeit, es gab keine Nachnamen nicht gedruckt sehen wollen. Chancen mehr«. Der Vermittler lockte mit Ihre Siedlung liegt an der Straße zum Blankoarbeitsverträgen. 7000 Euro zahlte Naturpark Capo de Gata mit einigen der sie dafür, ihr Türöffner nach Europa. Mit schönsten Strände Spaniens. Gesehen ha- dem Papier erhielt sie ein Arbeitsvisum, / DER SPIEGEL LEÓN LAURA ben die beiden die noch nie. sie kam legal mit der Fähre. Dass auf dem Arbeiterin Essamraoui Zwischen Massen aus Abfall haben sie Vertrag ein Callcenter in Albacete angege- »Es gab keine Chancen mehr« sich eine der fensterlosen Hütten gebaut. Sie

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 75 befestigten Holzpflöcke im Boden, nagel- Bioproduzenten Luis Andujar sich darü- ten Europaletten als Außenwände dran ber aufregt, dass die Arbeiterinnen im Ver- und überzogen das Ganze mit Plastik- packungsbereich zweimal pro Tag für etwa planen. Hier leben sie zu zweit, dritt oder drei Minuten aufs Klo gingen. Sie würde auch zu sechst, ohne fließendes Wasser, jetzt Klolisten führen, und wer sich nicht ohne Toilette. Morad wohnt hier seit zwei, eintrage, könne nach Hause gehen. Mimoun seit über vier Jahren. Die Energie In der Vergangenheit rechtfertigten sich für Licht und Wärme kommt aus illegal angegriffene Firmen und ihre Abnehmer angezapften Stromleitungen oder aus Gas- gern mit einem Verweis auf Global G.A.P. flaschen, die manchmal explodieren. Dieser Standard der Industrie soll gute Mit dem Schlauchboot sind die beiden fachliche Praxis belegen und wirbt damit, übers Mittelmeer gekommen. Sie hatten »die Eintrittskarte für den Weltmarkt« zu schlechte Zeiten, zuletzt auch sehr schlech- sein. Den Ausbeutungscharakter hat das te. Ihre Hütten liegen etwas abseits, nur Siegel diesem Markt freilich nicht nehmen noch wenige Chefs sammeln hier Leute können. Cuevas hält es für eine miese Ma- auf. Inzwischen sind sie manchmal über sche. Er habe Hunderte Arbeiter solch zer-

eine Woche ohne Arbeit. Im Moment gehe / DER SPIEGEL LEÓN LAURA tifizierter Betriebe gesehen, die kaum über es nur noch ums Überleben, sagt Morad. Arbeiter Vaduva die Runden gekommen seien. »Ohne Papiere bist du nichts.« Mit dem Trecker in der Chemiewolke Auch Iulian Vaduva, 37, arbeitet in ei- Die spanischen Einwanderungsgesetze, nem nach Global G.A.P. zertifizierten Be- sagt Felix Hoffmann, seien geradezu per- trieb in San Isidro. An diesem Abend sitzt fekt auf die kommerzielle Nutzung von gal stehen. Er ist mit seinem Anwalt er- der Rumäne bei Cuevas im Büro. Er ist Migranten zugeschnitten. Hoffmann ist schienen. Die Arbeiter haben sich hübsch blass, dünn, seine Hände zittern etwas. Im Kultur- und Sozialanthropologe an der gemacht, tragen Lederjacken, verschlisse- Gewächshaus haben die Gewerkschafter Europa-Universität in Frankfurt (Oder) ne Jacketts, die Frauen Kleider. In abgegrif- am Morgen Info-Zettel über die Rechte und hat seine Dissertation über die Ein- fenen Umschlägen haben sie ihre Verträge der Arbeiter verteilt. Als Vaduvas Chef wanderungsökonomie in Almería geschrie- dabei. Es geht um vorenthaltenen Lohn. mittags davon erfuhr, machte er ihn fertig. ben. Nicht nur vom Schreibtisch aus – er Niemand zwinge sie, 60-Kilo-Salat- »Es hieß, ich sei ein Krebsgeschwür.« hat dort gelebt, über Monate, in einer WG boxen zu tragen, sagt der Anwalt. Charifa Über Jahre wurden die Arbeiter hier mit Afrikanern. und die anderen lächeln. Wie sollen sie mit 37 Euro pro Tag abgespeist, wer in »Nach Almería gehen die, die keine Aus- die Vorgaben anders schaffen? Wären sie den kleinen Firmenverschlägen zwischen sicht auf Asyl haben«, sagt er. Die meisten produktiver, könnten sie 20 Euro pro Stun- den Gewächshäusern wohnte, bekam nur wollten das auch gar nicht, sondern die de verdienen, so der Anwalt. Nur komisch, 34 Euro. Die Diskrepanz zwischen tat- Chance auf ein normales Leben. Ein lega- dass viele oft unter dem Mindestlohn blie- sächlich geleisteten und abgerechneten les. Anders als Länder wie Deutschland ben, erwidert der Gewerkschafter Cuevas, Stunden war enorm. und Italien bietet Spanien diesen Men- der die Arbeiter vertritt. Man könne den Dennoch verstand sich Vaduva lange schen dafür eine Chance, eine kleine. »In Salat auch mit Maschinen ernten, kontert gut mit seinem Arbeitgeber. Die halbe Almería kann man sich diese Legalität ver- der Anwalt. Familie des Rumänen arbeitet seit Jahren dienen«, sagt Hoffmann über die spani- Einen Kompromiss, 900 Euro Grund- in dem Betrieb, ab und zu gab es kleine sche Sonderregelung. lohn plus 100 Euro Fahrtkosten pro Monat Extrazahlungen – Erntedank. Vaduva war Das Land erteilt Migranten nach drei für jeden, lehnt der Arbeitgeber ab. We - sogar einer der Ersten, der die Erfindung Jahren eine befristete Aufenthalts- und nige Tage darauf werden die Marokkaner seines Chefs anwenden durfte: Hinten auf Arbeitserlaubnis – wenn sie sich sozial verwarnt. Zwei Wochen später sind alle einen kleinen Trecker hatte der einen In- »verwurzelt« haben und ein Jahresvertrag entlassen, auch Charifa Essamraoui. dustrieventilator geschraubt, in den die des Arbeitgebers vorliegt. »Vorher muss Es ist nicht leicht, die Arbeitgeber in Al- Pestizide geleitet wurden, um sie in den man sich quasi in der Illegalität beweisen, mería zu den Arbeitsbedingungen zu be- Gewächshäusern breiter versprühen zu nicht auffallen, sich durchschleichen«, sagt fragen. Nach mehrfachen Versuchen lässt können. Es gibt Aufnahmen davon: Va - Hoffmann. Drei Jahre Probezeit zu Hun- Essamraouis Firma wissen, sie werde von duva auf dem Trecker und hinter seinem gerlöhnen mit späterer Aussicht auf einen einem Qualitätsunternehmen auditiert, Rücken die Chemiewolke. Vertrag, den sich manche Chefs dann noch alle Prüfungen, auch zum Wohlergehen Zwei Jahre hat er fast täglich gespritzt, bezahlen lassen – die Auslese hier ist still der Arbeiter, seien stets positiv ausgefallen. ohne Schutzkleidung. Vor vier Monaten und gnadenlos. »Wir exportieren Zukunft und Respekt«, erzählte er seinem Chef dann von seinen Mit Tariflöhnen und ordentlicher Bezah - heißt es auf der Seite des Produzentenver- Kopfschmerzen, dem Schwindel. Dass er lung, sagt Hoffmann, wäre Almería nicht bandes. Zu einem Gespräch sah man sich abgenommen habe und sich häufig über- konkurrenzfähig. »So aber läuft dort seit nicht in der Lage. Auch keine der anderen geben müsse. »Die Arbeit muss gemacht über 30 Jahren eine gut geölte Maschine.« Firmen beantwortete Fragen. werden, wurde mir gesagt«, so Vaduva. Es ist Ende April, als Charifa Essam- Dafür gibt es Videos, etwa auf YouTube. Spanien sei mal ein Traum für ihn ge- raoui versucht, sich zu wehren. Gemein- Auf einem ist zu sehen, wie ein Chef aus- wesen. »Aber ich habe mich geirrt.« sam mit 20 anderen Marokkanern sitzt sie rastet und handgreiflich wird, als ein Arbei- Nils Klawitter in der Regionalverwaltung Almería, in der ter ihn an den Mindestlohn erinnert. Das Mail: [email protected] Schlichtungsstelle für Arbeitsangelegen- Gesetz gehe ihm »am Arsch vorbei«. Acht heiten. Und zum ersten Mal seit Jahren Tage sollte der Arbeiter bezahlt bekom- sieht sie ihrem Chef ins Gesicht, einem men, für einen Monat Arbeit. Mehr als Video In der Baracken- aufgedunsenen Mann Mitte vierzig, der zwei Dutzend derartiger Beschwerden be- siedlung von Almería unter anderem die Marke Florette belie- komme er an manchen Tagen, sagt Cuevas. spiegel.de/sp232019ausbeutung fert, deren geschnippelte und fertig ver- In einer anderen Filmsequenz ist zu ver- oder in der App DER SPIEGEL packte Salate bei Edeka und Rewe im Re- nehmen, wie eine Managerin des großen

76 Wirtschaft

geredet, berichten Insider. Am Ende seien »nur zweit- oder drittrangig auf den Ge- Projekt die Gespräche nur noch mit KKR geführt winn zu schauen«, heißt es im Haus. worden – auch weil der Investor akzeptiert Sollte das Vorhaben, intern »Project habe, dass Springer weiter in Journalismus Heritage« (Erbe) getauft, klappen, wäre »Erbe« investieren wolle. KKR, so heißt es, werde das für Springer ein historischer Schritt – Zugang zu neuen Finanzierungen eröffnen. und ein Befreiungsschlag. Der Verlag war Ein konkretes Übernahmeziel gebe es der- 1985 das erste deutsche Medienhaus, das Medien Der Axel-Springer- zeit aber nicht, versichern Insider. sich an die Börse gewagt hatte. Das Sagen Konzern will sich mithilfe des Mit dem Rückzug von der Börse bekäme aber behielt stets Friede Springer, die den der Konzern, so die Hoffnung, die Chance, Großteil ihrer Anteile in der Axel Springer Finanzinvestors KKR von der in Geschäfte zu investieren, die sich nicht Gesellschaft für Publizistik gebündelt hat Börse zurückziehen. Für den Ver- schnell rechnen, ohne sich hierfür von den und gut fünf Prozent direkt hält. Auf der lag wäre das ein Befreiungsschlag. Aktionären verprügeln lassen zu müssen. Hauptversammlung reichte das, zumal im Es gehe um die Freiheit, für ein paar Jahre Verbund mit Döpfner, immer für eine kom- fortable Stimmenmehrheit. ür Mathias Döpfner war das vergan- Mächtige Familie Der unbedingte Wille der Verleger- F gene Jahr ein ziemlich teures. Dem Hauptaktionäre des Axel-Springer-Konzerns witwe, die Kontrolle zu behalten, aber hat Chef des Axel-Springer-Konzerns ge- Springer in den vergangenen Jahren in ein hören 2,8 Prozent des Verlags. Noch im sonstiger Axel Springer Dilemma manövriert. Zwar leistete sich vergangenen Mai war sein Aktienpaket Aktienbesitz Gesellschaft für der Konzern immer wieder auch große Zu- 184 Millionen Euro wert. Doch seither ist 44,8% Publizistik käufe wie das US-Wirtschaftsportal »Busi- im Alleinbesitz von der Kurs in die Tiefe gerauscht, Döpfners Friede Springer ness Insider« für gut 350 Millionen Euro. Papiere hatten bis Mitte dieser Woche 48 37,5% Für die »Financial Times« wäre der Kon- Millionen verloren. Schlimmer noch: Weil zern 2015 willig gewesen, bis zu einer Mil- er und seine Vorstandskollegen auch da- liarde Euro auszugeben. Zuletzt kamen nach entlohnt werden, wie die Aktie sich gar Gerüchte auf, Springer könnte das entwickelt hat, sind in diesem Jahr 74 Mil- Kleinanzeigengeschäft von Ebay – ge- lionen Euro Bonus futsch. Härter trifft der schätzter Wert zehn Milliarden Dollar – Friede Springer Kursverfall Friede Springer, zumindest auf 5,1% kaufen. Die Gerüchte entpuppten sich dem Papier. Der Verlegerwitwe gehören schnell als unrealistisch, doch selbst für Ariane Melanie Axel Sven direkt und indirekt knapp 43 Prozent an Springer 2,4% Mathias Springer 7,4% Deals von weit kleinerer Größenordnung Springer. Döpfner 2,8% würde Springer frisches Geld benötigen. Bei der Bilanzvorlage im März ließ Kapitalerhöhungen aber brächten die Döpfner seinem Frust deshalb freien Lauf. Stimmenmehrheit der Verlegerin schnell Die Börse ticke nur kurzfristig, er aber in Gefahr. Um der Falle zu entkommen, müsse als Firmenchef langfristig denken. wurden zuletzt allerhand Ideen geprüft – Was den Verlag am meisten ärgert: Kein und verworfen: Da gab es den Gedanken, Medienhaus in Europa hat die Digitalisie- das digitale Rubrikengeschäft um Step- rung so konsequent angepackt wie Sprin- stone abzuspalten und in Teilen an die Bör- ger – 84 Prozent der Gewinne kommen se zu bringen; oder, vor gut vier Jahren, aus digitalen Geschäften, von der Jobbörse die Idee, Springer in eine Kommandit - Stepstone bis zur Wohnungsplattform Im- gesellschaft auf Aktien umzuwandeln, die mowelt. An der Börse wird der Konzern Friede Springers Einfluss dauerhaft gesi- trotzdem abgestraft, weil ihm das darben- chert hätte, aber am Kapitalmarkt nicht de Printgeschäft von »Bild« bis »Welt« wie goutiert wurde. ein Mühlstein um den Hals hängt. Nun also KKR. Der Investor schwimmt Nun hat sich Springer zu einem radika- im Geld. Zuletzt verwaltete KKR in seinen len Schritt entschlossen: Der US-Finanz- Fonds 200 Milliarden Dollar. Im deutschen investor KKR soll dem Verlagshaus helfen, Mediengewerbe sind die Amerikaner ge- den Rückzug von der Börse anzutreten. rade auf Shoppingtour: Sie schnappten Gemeinsam mit KKR, so die Idee, wollen sich Günther Jauchs Produktionsfirma i&u Friede Springer und Döpfner ein Konsor- TV, die Tele München Gruppe und die tium gründen, das den übrigen Aktionären Filmfirma Wiedemann & Berg. ein Übernahmeangebot unterbreiten soll. Der potenzielle Einstieg bei Springer Die finanzielle Last trüge wohl in erster belebt deshalb eine alte Fantasie: dass Linie KKR, weitere Details des Konstrukts Springer mit KKR einen neuen Anlauf sind bisher nicht bekannt. Der aktuelle Bör- Richtung ProSiebenSat.1 nehmen könnte. senwert der freien 44,8 Prozent der Anteile Der TV-Konzern ist derzeit an der Börse liegt bei 2,7 Milliarden Euro – nicht einge- billig zu haben, Mitte der Woche griff rechnet sind dabei die Aktien der Verleger- deshalb auch die italienische Mediengrup- enkel Axel Sven und Ariane, die zuletzt pe Mediaset des früheren Ministerprä - versichert hatten, dabeizubleiben. Ob eine sidenten Silvio Berlusconi zu. Sie kaufte Offerte zustande kommt und genügend An- 9,6 Prozent. Kommentieren will man das leger überzeugt, ist noch ungewiss. alles bei Springer derzeit nicht. Vor Monaten schon habe sich Döpfner / BRAUERPHOTOS NEUGEBAUER Martin Hesse, Isabell Hülsen auf die Suche nach einem Partner gemacht Verlegerin Springer, Vorstand Döpfner Mail: [email protected] und mit verschiedenen Finanzinvestoren In ein Dilemma manövriert

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 77 Wirtschaft

abbruchreif, sein Niedergang hat die ganze Bank schrumpfen lassen. Die ist mittler- Der letzte Joker weile so klein, dass US-Rivalen den Kon- zern aus der Portokasse kaufen könnten – Finanzindustrie wenn die denn bloß Interesse hätten. Die Deutsche Bank braucht einen Befreiungsschlag, Sewing, der erste deutsche alleinige Vor- doch Vorstandschef Sewing verliert sich im Klein-Klein. standschef seit 2002, hat den Absturz der Helfen soll nun einer, der bislang in der zweiten Reihe stand. einst stolzen Institution nicht abbremsen, geschweige denn stoppen können. Seit sei- nem Amtsantritt im April 2018 hat die Ak- ormalerweise zeigen sich Top- zern kann auch niemand hoffen. Hoops’ tie 46 Prozent verloren; seine Bilanz ist manager eher kühl, wenn sie Geschäft steht gerade einmal für ein Sieb- ähnlich verheerend wie die seiner Vorgän- N über ihre Unterlinge sprechen. tel des Konzernumsatzes. Es wirft zwar ger John Cryan und Josef Ackermann, Doch wenn Deutsche-Bank-Chef verlässliche Margen ab, aber niedrige. dem freilich die Finanzkrise dazwischen- Christian Sewing im kleinen Kreis über Dem hinabgeprügelten Kurs der Deutsche- kam. Ausgerechnet Anshu Jain, das Ge- Stefan Hoops redet, bricht sich schiere Be- Bank-Aktie hilft das wenig. sicht der Skandalvergangenheit, schneidet geisterung Bahn. Das Business hochjubeln zu müssen noch am besten ab (siehe Grafik). Hoops ist zwar erst 39 Jahre alt, aber zeigt, wie schlecht es um den Rest bestellt 20 Jahre nachdem die Deutsche Bank Sewing sieht in dem Leiter der Abteilung ist. Etwa das klassische Kapitalmarktge- der Wall Street den Kampf angesagt und Global Transaction Banking (GTB) jetzt schäft, der Handel mit Wertpapieren also. mit Volldampf den Einstieg ins Investment- schon Großes: Der Mann habe reichlich Er hat die Deutsche Bank einst groß ge- banking gewagt hat, muss sie vor den US- Persönlichkeit, Wissen, Netzwerke. Wenn macht, derzeit ist der Bereich weitgehend Rivalen kapitulieren. Erst ging es vom An- die zwei als Duo Kunden der Bank besuch- ten, mache das dreimal mehr Spaß, als wenn er allein Klinken putze, berichtet Se- wing. Sein Fazit: »Der ist einfach stark.« Die Verehrung hat diverse Gründe. Zum einen ist Hoops ein Abbild seines Chefs. Beide sind Konzerngewächse, adrett frisiert, servil, radikal ehrgeizig, sportverrückt. Einziger Unterschied: Se- wing klagt, dass er kaum dazu komme, sei- nem Hobby zu frönen – er ist leidenschaft- licher Tennisspieler. Hoops dagegen zieht es allmorgendlich an die Kraftmaschinen. Der Effekt ist unübersehbar: Der Mann scheint fast nur aus Muskeln zu bestehen. Zum anderen ist Hoops, dessen Kon- zernbereich GTB für Unternehmen Zah- lungsvorgänge abwickelt und Handels- geschäfte finanziert, der letzte Hoffnungs - träger auf bessere Zeiten für die Deutsche Bank – und damit auch für Sewing selbst. Und so wird Hoops’ etwas dröger Ge- schäftsbereich von Sewing tüchtig auf - gepumpt. Das Transaktionsbanking sei »das Herzstück« der Deutschen Bank, be- schwor der Vorstandschef jüngst auf der Hauptversammlung die Aktionäre. Hoops werde alle Ressourcen bekommen, die er brauche, um zu wachsen, vor allem in Asien. Dafür sei er anderswo zu harten Einschnitten bereit, donnerte Sewing, ohne indes konkreter zu werden. Die Szene ist symptomatisch für die Deutsche Bank. Ein Geschäftsbereich, der intern lange stiefmütterlich behandelt wur- de und extern kein Begriff war, wird plötz- lich überlebenswichtig. Tatsächlich hat das Transaktionsbanking Vorteile: Es tuckert verlässlich wie ein VW Käfer, verbraucht kaum Kapital und ist die letzte Domäne, in der die Bank noch globalen Führungs- anspruch anmelden kann im Rennen mit Riesen wie State Street und BNY Mellon. Aber glamourös geht anders. Und auf LEISSL / LAIFMARTIN einen Rendite-Push für den gesamten Kon- Manager Hoops: Sportlich, servil, radikal ehrgeizig

78 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 griffs- in den Verteidigungsmodus. Jetzt Runtergewirtschaftet Aktie der Deutschen Bank, in Euro heißt es nur noch: Rette sich, wer kann. 91,17 Die Zeit läuft nun gegen Sewing. Seit Josef Anshu Jain/ John Cryan Christian dem Abbruch der Fusionsgespräche mit * 1. Juli 2015 80 Ackermann Jürgen Fitschen Sewing der Commerzbank (SPIEGEL 18/2019) hat 1. Mai 2002 1. Juni 2012 bis 7. April seit 8. April er keine Schonfrist mehr. Auf der Haupt- bis 31. Mai 2012 bis 30. Juni 2018 2018 versammlung wurden Vorstand und Auf- 2015 sichtsrat nur knapp entlastet, das Signal Veränderung des war eindeutig: Er braucht einen Plan B. 60 Aktienkurses Doch Sewing steckt in einem Dilemma. in der jeweiligen Amtszeit Einerseits sind die Erwartungen gewaltig. –57 % +5% –55% –46% »Die Führung ist viel zu zögerlich. Der Um- satz schmilzt viel schneller weg als die Kos- 40 ten, Wachstum gibt es kaum. Wir erwarten schnelles Handeln«, sagt der Vertreter ei- nes Großaktionärs. Andererseits fehlt der 20 finanzielle Spielraum, den die Bank für einen radikalen Umbruch brauchte. Eine 13,22 Quelle: Thomson Reuters Datastream, Kapitalerhöhung ist fast unmöglich ange- Stand: 30. Mai 2019 9,00 sichts des Dauertiefs der Aktie. *bis Mai 2016 Noch wird an der neuen Strategie getüf- telt. Der Konzern muss gleichzeitig wach- sen und drastisch sparen, so viel scheint Kurzfristig dürfte dies indes kaum zu kommando und soll aufräumen, wo seit klar. Erste Umrisse zeichnen sich ab. Wie machen sein. Schon die im April lancierten Jahren Wildwuchs und Kompetenzwirr- aus dem Geldhaus dringt, will Sewings Gespräche mit der Schweizer UBS über warr herrschen. In IT, Abrechnung, Doku- Strategietruppe bis spätestens Ende Juli, einen Einstieg bei der DWS waren eine mentation. Alles soll effizienter, billiger wenn die Bank Quartalszahlen vorlegt, ein Nebelkerze, um Handlungsfähigkeit zu de- und mit weniger Personal erledigt werden. Grand Design entwerfen. monstrieren für den Fall, dass die zu dem Schwer vorstellbar nur, dass dieses Doch beim Timing fangen die Probleme Zeitpunkt noch laufenden Fusionsgesprä- Klein-Klein die Aktionäre überzeugt. Bes- schon an. Die Aktionäre werden eine halb- che mit der Commerzbank scheitern soll- ser ankommen dürften dagegen personelle herzige Lösung nicht mehr akzeptieren. ten. Tatsächlich war die Sondierung mit Veränderungen, die sich seit Langem an- Zugleich fehlt Sewings Leuten die Zeit, ei- der UBS längst beendet, wissen Insider. kündigen und bald vollzogen werden nen tiefgreifenden Umbau seriös zu pla- In ihrer Not denken die Banker bereits könnten: der Abgang der umstrittenen nen. Dazu ist die Sache viel zu komplex. darüber nach, notfalls mit einer geringeren Compliance-Vorständin Sylvie Matherat, Das gilt vor allem für das Investment- Eigenkapitalquote auszukommen als den deren Sparte immer wieder Skandale pro- banking, das am meisten Kapital bindet 13,7 Prozent, die sie derzeit aufweist. Ein duziert, sowie das Aus von Garth Ritchie, und besonders von den Launen der Börsen gewagtes Manöver: Die Weltwirtschaft Vorstand für die Großbaustelle Invest- abhängt. Intern wird diskutiert, das hoch- schwächelt, Kreditausfälle würden das mentbanking. Sie werden wohl in den defizitäre US-Geschäft drastisch abzu- Bankkapital aufzehren. Fraglich, ob die kommenden Wochen gehen müssen. schmelzen, etwa indem der Handel mit Aufsichtsbehörden da mitspielen würden. Ritchie kreidet die Führung fehlenden Aktien, amerikanischen Staatsanleihen Doch weil alles so kompliziert und ris- Elan an. Zudem zieht er wegen seines lu- und Zinsderivaten eingestellt wird. kant ist, fällt der Umbau vielleicht eine krativen Vertrags den Aktionärszorn auf Damit würde die Deutsche Bank end- Nummer kleiner aus. In der Bank schwär- sich. Dabei war es der Aufsichtsrat, der im gültig ihren Anspruch aufgeben, ein Glo- men sie jedenfalls auffällig von Einsparun- September 2018 seinen auslaufenden Kon- bal Player zu sein. Denn es hieße, dass gen im sogenannten Infrastrukturbereich, trakt um fünf Jahre verlängert hatte. Mar- man Umsatz aufgibt – etwa weil die Bank dem Back Office. Beschlossen ist bereits, cus Schenck, sein Co-Chef als oberster In- ihre Stammkunden aus der Industrie bei Teile der Compliance mit der Abteilung vestmentbanker, hatte angesichts der Dau- deren nächster Kapitalerhöhung künftig für Finanzkriminalität und der Steuerung erkrise die Flucht ergriffen; auch Ritchie an US-Geldhäuser weiterempfehlen müss- nicht finanzieller Risiken zu verschmelzen. selbst war genervt und wollte abspringen. te, damit die ihre Aktien auch in Amerika Das klingt dröge, ist aber gefährlich. Über Es drohte ein Führungsvakuum. verkaufen können. die fehleranfälligen Systeme der Bank wur- Und so ließ sich Ritchie seine Amtsmü- Ein Horrorszenario für alle, die alter den jahrelang enorme Summen Schwarz- digkeit teuer abkaufen. Heute kassiert der Größe nachtrauern. Und am Ende kaum geld gewaschen, Milliardenbeträge ost- smarte Südafrikaner mit 8,6 Millionen zielführend. Denn was, wenn die Einnah- europäischer Herkunft. Dem Konzern Euro mehr als sein Vorgesetzter Sewing. men weiterhin stärker fallen als die Kosten, drohen Strafen und peinliche Enthüllun- Geht er nun tatsächlich, stellt sich er- wie es seit Jahren der Fall ist? Irgendwann gen. Und nun wird ausgerechnet an der neut die Führungsfrage in der noch immer hätte sich der Konzern totgeschrumpft. Abteilung für Finanzkriminalität herum- umsatzstärksten Konzernsparte der Deut- Erst einmal geht der Umbau ins Geld. gedoktert? schen Bank. Intern wie extern wird nach Abfindungen für ausrangierte Investment- Dennoch ist sicher, dass im Back Office Kandidaten gefahndet. Chancen auf den banker, die den Konzern verlassen müss- heftig gespart werden wird – auch weil Topjob hat einer, der seinen Ehrgeiz kaum ten, sind sündhaft teuer. Bezahlt werden man dort keine Kunden verschrecken verbergen kann und mit seinem Geschäfts- könnte dies theoretisch durch den Verkauf kann wie im Investmentbanking. In der bereich ohnehin schon Teil des von von Aktien der Vermögensverwaltungs- Deutschen Bank wird das Großreinema- ihm bewunderten Investmentbankings ist: tochter DWS. Die ist seit 2018 an der Bör- chen vor allem mit einem Namen verbun- Stefan Hoops, Sewings letzter Joker. se und schlägt sich dort halbwegs wacker, den: IT-Vorstand Frank Kuhnke, intern we- Tim Bartz in jedem Fall noch besser als die Mutter, gen seiner robusten Ansprache »Frank the Mail: [email protected] deren Aktie nahe dem Allzeittief dümpelt. tank« genannt. Er gilt als Ein-Mann-Roll-

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»Boris ist gefährlich, er hat weder Prinzipien noch einen moralischen Kompass.« ‣S.84 JUAN IGNACIO RONCORONI / EPA-EFE / REX / EPA-EFE IGNACIO RONCORONI JUAN

Im Kampf für ein liberaleres Abtreibungsrecht gingen am Dienstag in Buenos Aires Zehntausende Menschen auf die Straße und zogen vor das argentinische Parlament. Die Protestbewegung, deren Symbol ein grünes Tuch ist, will das seit 1921 geltende Recht mit einer Gesetzesinitiative modernisieren – es ist der achte Versuch. Im vergangenen Jahr scheiterte die vom Parlament bereits gebilligte Reform im Senat des Landes.

Analyse Assads finaler Feldzug Während syrische und russische Angreifer in Idlib wüten, schaut der Westen ratlos zu.

Fast könnte man sagen, alles läuft nach Plan in Idlib. Dem Plan Diesmal hätte es die Chance gegeben, den Feldzug zu stop- von Baschar al-Assad, Syriens Machthaber, dessen Motto schon pen. Im September hatten sich Russland und die Türkei auf eine 2012 an den Mauern zerstörter Dörfer geschrieben stand: »Assad Waffenruhe geeinigt. Kernbedingung: Ankara müsse die Radikal- für immer! Oder wir brennen das Land nieder!« Sieben Kriegs - islamisten entmachten, die Idlib weitgehend kontrollierten. Was jahre später wiederholt sich, was unter anderem schon in Aleppo die Türkei nicht tat und damit den Anlass lieferte für die Offensive. geschah: Syrische und russische Jets bombardieren Märkte, Wie geht es nun weiter? Das ist schwer zu prognostizieren, weil Schulen, Krankenhäuser – eine eklatante Verletzung des humani- sowohl Russland als auch die Türkei jeweils widerstreitende Interes- tären Völkerrechts, empören sich die Europäer. Deutschland, sen haben: Ankara will keine weiteren Flüchtlinge aus Syrien auf- Frankreich und Großbritannien zeigen sich bestürzt über die An - nehmen, aber gleichzeitig seinen Krieg gegen die Kurden fortsetzen. griffe auf Gesundheitseinrichtungen, deren Koordinaten die Uno Die Russen möchten die Türkei aus der Nato herauslösen und su - zuvor übermittelt hatte – damit sie verschont bleiben. Dabei chen ihre Nähe, unterstützen aber nach wie vor Assad. Sicher ist, hatten Assads Rückeroberungen stets zuerst die Krankenhäuser dass es für die Menschen in Idlib keinen Ausweg gibt, anders als bei zum Angriffsziel gehabt. Seit Ende April wurden nach Uno-Anga- den bisherigen Feldzügen des Regimes. Damals wurden Oppositio- ben 20 Kliniken zerstört, 300 Zivilisten starben, etwa 300 000 nelle jeweils in Bussen nach Idlib evakuiert. Doch von Idlib werden der drei Millionen Menschen in der Provinz sind auf der Flucht. keine Busse mehr nach Idlib fahren. Christoph Reuter

80 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Spanien Europaabgeordneten des Landes. Wer Puigdemonts Dilemma sich dazu nicht am 17. Juni einfindet, ver- liert seinen Sitz in der EU-Volksvertre- Nachdem die Katalanen ihren ehe - tung. Puigdemont hat allerdings das Pro- maligen Ministerpräsidenten Carles Puig - blem, dass in Spanien gegen ihn ein demont ins Europaparlament gewählt Haftbefehl vorliegt. Seine Anwälte be- haben, steht Spanien ein absurdes ju - haupten zwar, er genieße wegen seines ristisches Ringen darum bevor, ob er Mandats bereits Immunität, doch Rechts- sein Mandat antreten kann. 2017 war er experten des Europaparlaments sagen, wegen der Organisation eines illegalen frei von Strafverfolgung sei er erst, wenn Unabhängigkeitsreferendums abgesetzt er am 2. Juli um zehn Uhr an der konsti- Karoui

worden. Der Anklage wegen Rebellion tuierenden Sitzung in Straßburg teilneh- FETHI BELAID / AFP entzog er sich durch Flucht nach Belgien. me. Der Separatistenführer hat bereits Jetzt muss er seine Ernennungsurkunde einen Rückschlag erlitten, als er versuch- Tunesien in Madrid abholen und einen Eid auf die te, sich eine provisorische Akkreditierung spanische Verfassung leisten – so wie alle im EU-Parlament zu verschaffen. HZU Medienmogul will Präsident werden

Manche Tunesier fühlen sich durch Venezuela der Lima-Gruppe in New York organi- Nabil Karoui an Silvio Berlusconi er - siert. Chile hat vorgeschlagen, gemein- innert. Beide besitzen ein Medienimpe- »Gewaltfrei aus sam Übereinstimmungen zu suchen. rium, und wie sein Geschäftspartner SPIEGEL: Wie lange können die Venezo- Berlusconi will Karoui nun persönlich der Krise« laner noch abwarten? Viele haben keine die Politik erobern. Seinem eigenen Arbeit, nichts zu essen. Fernsehsender Nessma TV gab der Der chilenische Außen- Ampuero: Wir haben es mit der größten 55-Jährige am Montag ein Interview minister Roberto Flüchtlingskatastrophe in Lateinamerika und verkündete seine Ambitionen: Ampuero, 66, skizziert zu tun. Über drei Millionen Venezolaner Im November wolle er für das Präsiden- Lösungswege für Vene- haben ihre Heimat aus politischen oder tenamt antreten; auch für die Parla- zuela. Chile gehört zur wirtschaftlichen Gründen schon verlas- mentswahl im Oktober werde er Kandi- Lima-Gruppe, einem sen. Die meisten zogen in Nachbarländer daten präsentieren. »Wir werden eine Zusammenschluss wie Kolumbien, 300 000 sind in Chile Revolution haben, aber dieses Mal von 14 amerikanischen angekommen. Die Stabilität der gesam- durch die Wahlurnen«, sagte Karoui. Staaten. Sie bemühen sich um Vermitt- ten Region ist in Gefahr. Tunesien war 2011 die Wiege des Ara- lung im festgefahrenen Konflikt zwischen SPIEGEL: Maduro hat jetzt vorgeschla- bischen Frühlings. Seit dem Sturz des dem Regime um Nicolás Maduro gen, das Parlament neu zu wählen. Weil Dauerherrschers Zine el-Abidine Ben und der Opposition unter Juan Guaidó. dort die Opposition dominiert, hatte er Ali befindet sich das Land auf einem es entmachtet. Die EU hat den früheren zögerlichen Weg der Demokratisierung, SPIEGEL: In der norwegischen Haupt- Außenminister von Uruguay beauftragt, gebremst jedoch durch alte Machtcli- stadt Oslo haben am Mittwoch erste bei der Organisation freier Wahlen zu quen und eine schwierige Wirtschafts - direkte Gespräche zwischen Entsandten helfen. Ist das nützlich? lage. Der erste demokratisch gewählte der Regierung von Nicolás Maduro und Ampuero: Jede Initiative ist willkommen. Präsident, Béji Caïd Essebsi, will nach Vertretern des Interimspräsidenten Juan Um eine dauerhafte Lösung zu finden, fünf Jahren Amtszeit aus Altersgrün- Guaidó stattgefunden. Offenbar ergebnis- müssen aber vor allem die Länder der den nicht mehr antreten – er ist 92. los. Wie geht es weiter? Region einbezogen sein. Karoui, der ihn 2014 unterstützt hatte, Ampuero: Chile und die Lima-Gruppe SPIEGEL: China und Russland unterstüt- ist nun der Erste, der sich offen bewirbt. wünschen einen demokratischen und zen Maduro, Washington hat mit militäri- Schon länger wird dem Medienmogul gewaltfreien Weg aus der Krise. Bisher scher Gewalt gedroht. Wo steht Chile? vorgeworfen, seine Firmen für politi- waren Verhandlungen für Maduro nur Ampuero: Schon heute mischt sich Kuba sche Ziele zu missbrauchen. Im April ein Vorwand, um Zeit zu schinden. Des- militärisch ein. Wir sind gegen jede mi - stürmten Polizisten den Sender und halb haben wir für kommenden Montag litärische Intervention. Wir suchen eine beschlagnahmten Teile der Ausrüstung. ein Treffen von Mitgliedern der Interna- friedliche, der venezolanischen Verfas- Täglich berichtet Nessma TV über tionalen Kontaktgruppe mit Vertretern sung gemäße Lösung. HZU die von seinem Inhaber gegründete Wohltätigkeitsstiftung; wenn Karoui selbst Essen und Kleidung an Bedürf - tige verteilt, sind regelmäßig seine Kamerateams zur Stelle. Die Anschul - digungen gegen ihn weist er zurück, sie seien ausschließlich politisch moti- viert – das gelte auch für den bereits öffentlich erhobenen Vorwurf des Steu- erbetrugs. Kritiker sehen darin eine weitere Parallele zu Berlusconi: Der frühere italienische Regierungschef wurde schließlich wegen Steuerhinter- Neugeborenenstation in San Cristóbal ziehung verurteilt. Berlusconi ist an RAS MERIDITH KOHUT / THE NEW YORK TIMES / REDUX / LAIF TIMES / REDUX / THE NEW YORK MERIDITH KOHUT Karouis Sender übrigens beteiligt.

81 ANDREW PARSONS / I-IMAGES / POLARIS / STUDIO X / I-IMAGES POLARIS / STUDIO ANDREW PARSONS Tory-Politiker Johnson: Prinzipienlosigkeit zum Prinzip erhoben

82 Ausland Das Spiel seines Lebens Großbritannien Im Machtkampf um die Nachfolge von Partei- und Regierungschefin Theresa May liegt der Polit-Hallodri Boris Johnson anscheinend unerreichbar vorn. Mit ihm wäre alles möglich – selbst eine vollkommen unerwartete Wendung.

etzt sind sie plötzlich alle wieder da. werden ins Rennen gehen. May, heißt es diktatur zu beschreiben. »Brüssel rekru- Andrea Leadsom, die ehemalige bei den Konservativen, habe die Latte so tiert Schnüffler, damit EU-Dünger überall Vorsitzende des britischen Unter- tief gehängt, dass sich praktisch jeder zu- gleich riecht«, »Schnecken sind Fische, J sagt die EU« – so lauteten die Überschrif- hauses. Michael Gove, der stets so traue, es besser machen zu können. Dabei lange loyal ist, bis er es nicht mehr ist. Und, müssten eigentlich alle wissen: Zu gewin- ten seiner Kolumnen. natürlich, Boris Johnson, der den Brexit nen gibt es in der großen Brexit-Lotterie Das war nicht immer ernst gemeint, wuppen wird, weil er Boris Johnson ist. zwar viel – aber weitaus höher stehen die kam aber an beim Volk. In Johnsons eige- Jetzt stehen diese Konservativen – Chancen, so zu enden wie Theresa May. ner Partei fühlten sich die so lange margi- neben acht, zehn, zwölf anderen – wieder Reihenweise laden Kandidaten die briti- nalisierten Europagegner bestätigt; einem da, wo sie schon einmal standen: am sche Presse zu sich nach Hause ein, führen Erz-EU-Feind wie Nigel Farage halfen die Beginn einer epischen Schlacht um das ihre Frauen vor, plaudern über Jugend - Zerrbilder dabei, seine eigene »Unabhän- höchste Regierungsamt. Als hätte es die sünden oder ihre entbehrungsreiche Kind- gigkeitspartei« (Ukip) aufzubauen. vergangenen drei Jahre, als hätte es diesen heit. Es menschelt bei den Konservativen, Der Zündler selbst räumte Jahre später ganzen Selbstzerfleischungsprozess, als die im Ruf stehen, den Kontakt zu den ein- in der BBC ein: »Alles, was ich aus Brüssel hätte es Theresa May nie gegeben. Ge- fachen Briten verloren zu haben. schrieb, hatte diese tolle, explosive Wir- schichte wiederholt sich. Beim ersten Mal Nur einer hat das alles nicht nötig: kung auf die Tory-Partei – das hat mir ein war es eine Farce. Und beim zweiten Mal? Alexander Boris de Pfeffel Johnson, der unheimliches Gefühl für Macht gegeben.« Vor fast genau drei Jahren haben die Mann, den alle Welt nur »Boris« nennt, Es hat ihn nie wieder verlassen. Briten mit knapper Mehrheit für den Aus- muss sich seinem Volk nicht mehr vorstel- Dabei ist unklar, ob Johnson wirklich tritt aus der Europäischen Union gestimmt. len. Die Briten kennen fast all seine Eska- überzeugter EU-Gegner ist oder nur so tut. Vor acht Wochen hätten sie draußen sein paden, Skandale und Lügen, für die er sich In seiner Karriere hat er praktisch zu je- sollen, aber sie entschieden sich im letzten demnächst sogar vor Gericht verantwor- dem Standpunkt früher oder später auch Moment für einen Aufschub, weil sonst ten muss. Und trotzdem – oder deshalb – den Gegenstandpunkt eingenommen. Als ein politischer Infarkt gedroht hätte. In lieben ihn die Konservativen. Johnson ist Bürgermeister von London stritt er für die fünf Monaten läuft die nächste, womöglich Rechte von Homosexuellen und Migran- letzte Frist ab. ten, um in seinen Kolumnen später von Die Briten haben nun erst einmal ihre Mit dem großen »Negerbabys« zu schreiben und Muslimin- Regierungschefin vom Hof gejagt und wer- Verführer käme der nen als wandelnde »Briefschlitze« zu ver- den sich fortan sechs, vielleicht auch acht höhnen. Er hat Elitismus gepriesen, um Wochen einräumen, um eine oder einen Brexit letztlich wieder dann gegen »den Zynismus der Elite« zu neuen zu wählen. Wobei nur ein Bruchteil bei sich selbst an. Felde zu ziehen. Boris Johnson hat die von ihnen wirklich wird wählen dürfen. Prinzipienlosigkeit zum Prinzip erhoben. Das Schicksal der 66 Millionen Bürger Es passt ins Bild, dass Johnson vor dem liegt in der Hand der rund 120000 kon- haushoher Favorit für Mays Nachfolge bei Brexit-Referendum im Juni 2016 zwei Ar- servativen Parteimitglieder, die nicht nur den Buchmachern und bei den Tory-Mit- tikel vorbereitet hatte: ein Plädoyer für überdurchschnittlich reich, weiß und alt gliedern. Wenn es ihm gelingen sollte, den EU-Verbleib – und einen flammenden sind, sondern auch überdurchschnittlich auch die konservativen Abgeordneten im Appell dagegen. Spät entschied er sich für häufig für den Brexit gestimmt haben. Parlament auf seine Seite zu ziehen, kann die Brexit-Seite, sie schien ihm für sein Als Favoriten gelten daher vor allem ihn niemand mehr schlagen. Außer er sich Langzeitziel Downing Street die vielver- jene Politiker, die in den vergangenen Jah- selbst. Darin hat er Erfahrung. sprechendste. Einen Brexit-Plan hatte er ren als Hardliner aufgefallen sind. Allen Premierminister Boris Johnson? Für nicht, er glaubte auch nicht, je einen zu voran Spaßvogel Johnson, mit dem das den Rest der EU wäre es, wie es in Brüssel brauchen. Dass die EU-Gegner am Ende Königreich wenigstens besser gelaunt sei- heißt, ein »Horrorszenario«. Für Großbri- gewannen, erwischte ihn unvorbereitet. nem Schicksal entgegenschlittern würde. tannien aber schlösse sich ein Kreis. Mit Nun will Johnson es noch einmal wis- Ende kommender Woche, wenn der dem großen Verführer käme der Brexit sen. Das größte Hindernis auf dem Weg Staatsgast Donald Trump die Insel wieder letztlich wieder bei sich selbst an. sind die rund 300 Tory-Abgeordneten im verlassen und Premierministerin May ihre Lange bevor die Begriffe »Brexit« und Unterhaus. Sie werden das Feld vom letzten Meter als Tory-Parteichefin hinter »Fake News« erfunden waren, gefiel sich 10. Juni an auf zwei Kandidaten reduzie- sich hat, wird der Machtkampf um ihre der frühere Journalist Johnson darin, sei- ren. Diese werden anschließend durchs Nachfolge – und damit auch das Endspiel nen Landsleuten ein grotesk verzerrtes Land tingeln und unter Tory-Mitgliedern um den Brexit – voll entbrennen. Schon Bild der Europäischen Union zu präsen- für sich werben. Viele EU-kritische Abge- jetzt ist klar, dass das Bewerberfeld so breit tieren. Als Brüssel-Korrespondent des ordnete haben nicht vergessen, dass John- sein wird wie selten zuvor. Mays halbes »Daily Telegraph« ließ er zwischen 1989 son nur so lange gegen Mays Brexit-Deal Kabinett, etliche von ihr geschasste Ex-Mi- und 1994 keine Gelegenheit aus, die EU war, bis er am Ende doch dafür stimmte. nister und wohl auch viele Hinterbänkler als unkontrollierbare, regelwütige Quasi- Manche könnten geneigt sein, anstelle des

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Polit-Hallodris kompromisslose Brexiteers wie Dominic Raab oder Mays Dauerkon- kurrentin Leadsom zu unterstützen. »Wir sind ein Land, das Was aber, wenn es Johnson tatsächlich schaffen sollte? Einen Plan hat der Mann, den Details noch nie sonderlich interes- siert haben, bis heute nicht. In den vergan- Menschenschlächter genen Monaten, in denen er per »Daily Telegraph«-Kolumne genüsslich auf May eindrosch, beschränkte er sich darauf, ans Selbstvertrauen seiner Landsleute zu ap- bis heute feiert« pellieren: Eine Nation, in der ein einzelnes Oxford-College mehr Nobelpreise gewon- nen habe als ganz Frankreich, sei zu Grö- ßerem berufen, als Mitglied in einem stau- SPIEGEL-Gespräch Am Brexit-Desaster ist für den bigen 28er-Klub zu sein. Oxford-Professor Danny Dorling eine vom Was er allerdings anders machen will als May – niemand weiß es. Zumal sich Nationalismus besoffene Elite schuld. Sie wurde in der mit deren Abgang nichts an den Mehr- Tradition des britischen Empire erzogen und heitsverhältnissen ändern wird. Die infor- melle Koalition der Tories mit den nord- glorifiziert bis heute die Untaten des Kolonialismus. irischen Ultranationalisten von der DUP verfügt gerade noch über eine Fünf-Stim- men-Mehrheit. Fast alle Kompromisse Der Sozialgeograf Dorling, 51, befasst sich stimmte konservative Abgeordnete seine wurden zuletzt im Unterhaus erwogen seit Jahren mit der wachsenden Spaltung rücksichtslose Art schätzen. und wieder verworfen. Zudem hat die EU der britischen Gesellschaft. Er lehrt als Pro- SPIEGEL: Sie schreiben in Ihrem Buch, der deutlich gemacht, dass es mit ihr keine fessor am St Peter’s College. Gemeinsam Hauptgrund für den Brexit sei, dass eine Neuverhandlung des Austrittsabkommens mit seiner Kollegin Sally Tomlinson ver - Gruppe von Menschen gefährliche Illu - geben wird. öffentlichte er kürzlich das Buch »Rule Bri- sionen über Großbritanniens Rolle in Johnson – und jedem anderen poten- tannia: Brexit and the End of Empire«. der Welt verbreitet habe. Ist Johnson einer ziellen Premierminister – bleiben damit davon? fürs Erste nur zwei kühne Optionen: Er SPIEGEL: Herr Professor Dorling, Boris Dorling: Ja, Boris und Jacob Rees-Mogg könnte, so hat er es selbst einst Theresa Johnson scheint nur noch wenige Schritte gehören zu dieser Clique. Aber es gibt May geraten, wie Mose zum »Pharao nach von Downing Street entfernt zu sein. Gute noch viel mehr. Es handelt sich fast aus- Brüssel« gehen und verlangen, dass dieser Aussichten für das Vereinigte Königreich? schließlich um weiße Männer mit ähn- sein Volk ziehen lasse. Ohne jedes Abkom- Dorling: Ich habe kürzlich lichem Hintergrund. Prak- men und mit allen ökonomischen und im Zug nach Oxford eine tisch keiner von ihnen ist sozialen Erschütterungen, die ein No-Deal- 75-jährige Dame getroffen. arm. Sie gehören zu den Szenario mit sich bringen würde. Sie erzählte mir, dass sie reichsten fünf Prozent. Nur: Das Parlament hat sich bereits mit zusammen mit mehreren SPIEGEL: Zum Beispiel? großer Mehrheit gegen diese Option ge- Freundinnen in die konser- Dorling: Nehmen Sie den stellt. Würde Johnson das ignorieren, ris- vative Partei eingetreten sei Milliardär James Gold- kierte er ein sofortiges Misstrauensvotum. – mit der einzigen Absicht, smith, der eine Partei al- Er könnte daher auch den entgegen- im Fall eines Führungs- lein zu dem Zweck ge- gesetzten Weg einschlagen und ein zweites kampfs um die Tory-Spitze gründet hat, ein EU-Refe- Brexit-Referendum ausrufen. Dass er das gegen Boris Johnson vo- rendum abzuhalten. Viele ausgeschlossen hat, muss man nicht ernst tieren zu können. Dafür haben das vergessen, weil nehmen. Es könnte, so heißt es in London, müssen die Ladys aller- es schon 25 Jahre her sein »Nixon-in-China-Moment« werden. dings vor mindestens drei ist. Wir reden hier über Nur ein Kommunistenhasser wie US-Prä- Monaten beigetreten sein, eine größere Gruppe von

sident Richard Nixon habe seinerzeit sonst dürfen sie diesmal PRESS / PICTURE THE GUARDIAN Personen, die zumeist in ungestraft mit Chinas Staatsführung ver- leider nicht mitstimmen. Autor Dorling Eton oder anderen Privat- handeln können – nach demselben Muster SPIEGEL: Aber ist Boris »Zum Scheitern verurteilt« schulen erzogen wurden, sei es nur einem Brexiteer möglich. Johnson nicht genau die in denen Geschichte noch Zuzutrauen wäre es dem Spieler Boris Art von Anführer, nach nach alter Väter Sitte Johnson. »Es ist genau dieser Opportunis- der sich das Land sehnt? gelehrt wurde – und manchmal noch im- mus, diese Bereitschaft, sein Fähnchen Dorling: Er ist ein Anführer, dem es gelin- mer wird. nach dem Wind zu hängen, die es möglich gen könnte, all den Ärger und Frust, der SPIEGEL: Was meinen Sie damit? erscheinen lässt, dass Mr Johnson sich neu sich im Land angestaut hat, für seine Zwe- Dorling: Ich rede von Geschichtsbüchern, erfindet«, sagt Camilla Cavendish, einstige cke zu nutzen. Aber nur eine Minderheit die zum Teil jahrzehntealt sind. Davon, Strategiechefin der Regierung Cameron. der Briten wünscht ihn sich als Premier- dass permanent Stolz auf die Nation ge- Es wäre ein Moment für die Geschichts- minister. Boris ist gefährlich, er hat weder lehrt wird. Davon, dass diese Schüler, zum bücher. Und auf einen solchen Moment Prinzipien noch einen moralischen Kom- Beispiel in Oxford, zum Beten in Schul - wartet Boris Johnson im Grunde schon ein pass, das ist wohlbekannt. Er könnte aller- kapellen gehen, in denen überall Namen ganzes Leben lang. Jörg Schindler dings Regierungschef werden, weil be- der alten, im Krieg gefallenen Helden ein- Mail: [email protected] graviert sind. Das zentrale Monument auf Das Gespräch führte der Redakteur Jörg Schindler. dem Bonn Square in Oxford ist ein Denk-

84 GILLMAN & SOAME Student Johnson (4.v.r.), Kommilitonen in Oxford 1987: Privatschulen, in denen Geschichte nach alter Väter Sitte gelehrt wurde mal für englische Soldaten, die eine ganze den – und es war knapp –, hätten wir heu- Dorling: Oder besuchen Sie die Westmins- Provinz in Indien überrannt haben. Dieje- te nicht mehr diese Vorstellung unserer ter Abbey in London, das lohnt sich. Die nigen, die den Brexit seit den Neunziger- eigenen Großartigkeit. Kathedrale erinnert ein wenig an die »Nar- jahren vorangetrieben haben, kommen SPIEGEL: Es wäre für Großbritannien bes- nia«-Filme. Wie in Narnia, wo all die Tiere alle aus einer Welt, in der das Empire als ser gewesen, den Krieg zu verlieren? zu Stein erstarrt sind, stehen überall diese großartige Sache gefeiert wird. Dorling: Das sage ich nicht. Aber erinnern steinernen Statuen. Sie zeigen zum großen SPIEGEL: Das Empire ist Geschichte. Sie sich daran, wie unbedeutend wir davor Teil Personen, die Menschenschlächter wa- Dorling: Aber es lebt als Idee weiter. Das waren. Die Schlacht um Britannien hat ren. Wir leben in einem Land, wo sie bis Vereinigte Königreich existiert überhaupt uns wieder großartig gemacht. Wir waren heute gefeiert werden. nur wegen dieser Idee. Die Union wurde auf der Siegerseite, konnten Geschichte SPIEGEL: Finden sich derartige Überreste geschlossen, als uns klar wurde, dass die neu schreiben und haben danach endlos des Empire auch an normalen Orten? Spanier mit ihren Schiffen voller Gold viele Kriegsfilme produziert. Man kann Dorling: Man findet sie überall. Nehmen drauf und dran waren, uns abzuhängen. diesem Mythos nicht entkommen. Schau- wir die Home Counties, diesen Ring von Das war der Moment, als wir aufhörten, en Sie sich den Saal an, in dem ich vorhin Regionen rund um London. Viele Men- uns gegenseitig zu bekämpfen, um gemein- einen Vortrag gehalten habe … schen, die dort leben, sind Nachfahren von sam gegen die Spanier vorzugehen und SPIEGEL: … den Palmerston-Saal des St Männern, die jahrzehntelang für die uns einen größeren Anteil an der Welt zu John’s College von Cambridge. Kolonialverwaltung in Indien gearbeitet sichern. Diese Idee von der eigenen Größe Dorling: Er ist nach einem der ruchloses- haben. Dann kamen sie zurück und er- wurde verstärkt durch die Erzählung, dass ten britischen Premierminister aller Zeiten hielten als Belohnung ein Häuschen mit wir nie überfallen und unterjocht wurden. benannt: Lord Palmerston hatte die beiden Rosengarten vor der Tür. Es war ihr Weg, SPIEGEL: Teilweise ein Mythos. Opiumkriege mit China zu verantworten. sozial aufzusteigen. Man kann sagen, die Dorling: Aber ein sehr mächtiger. Eine Einer seiner Nachfolger, William Glad- Landschaft in Südengland ist eine Land- Invasion, selbst wenn du sie zurück- stone, sprach von den unmoralischsten schaft, die das Empire geformt hat. Oder schlägst, zeigt dir: Nichts ist von Dauer. Kriegen in der Geschichte der Menschheit. nehmen wir die großen Industriestädte im Nichts sorgt für eine größere soziale Um- Können Sie sich vor stellen, dass in Norden – Manchester, Liverpool. Sie wur- wälzung, als einen Krieg zu verlieren. Die Deutschland ein Saal nach einem Wehr- den reich, weil sie an der Schaltstelle des herrschende Klasse wird ersetzt. Wären machtgeneral benannt würde? Sklavenhandels oder anderer Wirtschafts- wir im Zweiten Weltkrieg überrannt wor- SPIEGEL: Heute eher nicht. zweige saßen, die nur so profitabel waren,

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 85 Ausland weil wir den Kolonien unfaire Bedingun- SPIEGEL: Hat das Empire aus dem Verei- shire, Dorset, konservatives Herzland. Die gen diktieren konnten. nigten Königreich nicht eine erfolgreiche Mehrheit dort hat immer die Tories gewählt, SPIEGEL: Der britische Historiker David multikulturelle Gesellschaft gemacht? hat ein Haus, das heute vielleicht 300000 Olusoga, dessen Vater Nigerianer ist, Dorling: Es ist eine multikulturelle, große Pfund wert ist. Aber die Kinder dieser Leute schreibt in »Schwarz und britisch – Eine Familie – aber eine extrem patriarchische müssen darum bangen, ei nen Kredit zu be- vergessene Geschichte«, dass das Land be- Familie, und der dominierende und bru - kommen, und ihre Enkel haben wirtschaft- stimmte Aspekte seiner Geschichte ein- tale Vater ist weiß. lich keine Chance. Diese Menschen haben fach nicht wahrhaben wolle. Warum nicht? SPIEGEL: Lässt sich Theresa Mays persön- immer das getan, was man ihnen gesagt hat. Dorling: Weil es zu schmerzhaft wäre. Wir liche Obsession mit dem Thema Einwan- Es hat nicht funktioniert. Sie sind abgehängt haben mehr als 400 Jahre den effektivsten derung nach dem Brexit-Votum auch auf in Gegenden, die wir nicht als abgehängte Sklavenhandel betrieben, den es je gab. diesen Empire-Mythos zurückführen? Gegenden wahrnehmen. Wir haben fast den ganzen afrikanischen Dorling: Ja. Sie ist ganz in der Nähe mei- SPIEGEL: Gerade dem Süden Englands Kontinent entvölkert. Man kann das an al- nes Elternhauses aufgewachsen. Seit ich geht es doch wirtschaftlich zumeist gut. ten Weltkarten ablesen. Darauf hingewie- sechs war, haben wir in dem Oxford- Dorling: Es sieht gut aus, weil wir Durch- sen, antworten wir: Die Spanier und Por- Vorort Risinghurst gelebt. Hätte das Haus schnittszahlen betrachten. Aber es ist nun tugiesen haben doch damit angefangen. nur 40 Meter weiter östlich gestanden, mal so, dass die oberen 10 Prozent 40 Pro- Und unseren Kindern erzählen wir stolz wäre ich in Theresa Mays Schule gegan- zent des Einkommens einstreichen. Des- vom Philanthropen William Wilberforce, gen. In meiner Schule gab es zahllose wegen müssen sich auch in einem Land- der dieses System bekämpft hat – als hät- schwarze und asiatische Schüler, Urdu strich wie Hampshire die meisten Leute ten wir den weltweiten Sklavenhandel be- war die zweite Sprache. Auf Theresa abstrampeln. In der Region Somerset, die endet. Das ist bemerkenswert. Mays Schule dagegen gingen ausschließ- im Parlament von Brexit-Hardliner Jacob SPIEGEL: Glorifizieren Nationen nicht lich Weiße. Rees-Mogg vertreten wird, erhalten im immer ihre Vergangenheit? SPIEGEL: Und? Schnitt die meisten Menschen nur den Min- Dorling: Nicht immer. Wenn man als Eng- Dorling: Vergessen Sie nicht, dass das zu destlohn. Diese Leute wollten einfach nur länder durch Berlin geht, hat man ein ver- einer Zeit war, in der man Schwarze für haben, was sie mal hatten. blüffendes Erlebnis, weil nicht überall zweitklassig hielt. Bis in die Fünfzigerjahre SPIEGEL: Nehmen wir an, es kommt doch Gewalt verherrlicht wird. Man schaut sich durften Schwarze in Oxford nicht in Auto- zum harten Brexit ohne Abkommen. Ist es ein Kriegsmahnmal an, das eine Frau mit fabriken arbeiten. May ist in einer zutiefst möglich, dass Menschen wie Boris Johnson ihrem schreienden Kind, aber keine Sol- rassistischen Zeit und einem zutiefst ras- recht behalten, Ihr Land im Alleingang Er- daten darstellt. In meiner Stadt dagegen, sistischen Umfeld aufgewachsen. folg hat und eine Art Empire 2.0 aufbaut? in Oxford, zeigt die prominenteste Statue SPIEGEL: Das macht sie noch nicht zu Dorling: Na klar. Wir müssen Großbritan- auf der Hauptstraße Cecil Rhodes. Eine einer rassistischen Politikerin. nien dafür nur in eine Schatzinsel ver- der unmenschlichsten Gestalten in der wandeln. Wir wissen, wie das geht, weil die Geschichte der Menschheit, jemand, der meisten Schatzinseln dieser Welt – die Cay- für das Empire Kolonien erwarb. Er war man Islands, Guernsey und Jersey, die Isle vermutlich auch pädophil. Und ironischer- »Die Hardline-Brexiteers of Man – dem königlichen Privy Council un- weise beschäftigen sich mehr Menschen wollen niedrigere Steuern terstehen. Wir sind gut darin, Schattenban- mit dieser Frage als mit der Tatsache, dass ken aufzubauen, wie die »Panama Papers« er in seinen Minen kalt lächelnd Tausende für Milliardäre, mehr gezeigt haben. Es würde allerdings den Tod schwarze Kinder sterben ließ. Diener und Knechte.« für die vielen kleinen anderen Inseln bedeu- SPIEGEL: Sie sagen, Großbritannien woll- ten, denn: Wenn wir den windigen Geschäf- te der EU vor rund 50 Jahren nur bei- ten auch in London nach gehen könnten, wa- treten, weil es nach dem Verlust seiner rum sollten wir es dann noch woanders tun? Kolonien wirtschaftlich geschwächt war. Dorling: Sie mag nicht mal wissen, dass SPIEGEL: Das Vereinigte Königreich als Dorling: Ja, wir waren wirtschaftlich schwer sie rassistisch ist. Aber sie hat als Innen- eine Art XXL-Version der Cayman Islands? angeschlagen. Es ging bergab, weil bei- ministerin systematisch eine Politik einge- Dorling: Das ist es, was die Hardline- spielsweise Indien jedes Jahr weniger ge- führt, um Menschen ihr Recht zu nehmen, Brexiteers wollen. Wir würden die Steuern webte Baumwolle aus Manchester kaufte. in Großbritannien zu leben. Betroffen wa- für Milliardäre massiv senken. Wir könn- Als freie Nation war es dazu nicht mehr ren vor allem Menschen afrokaribischer ten wieder Bälle im alten Stil organisieren gezwungen. Die Annahme war, dass es Herkunft, viele von ihnen wurden rechts- und hätten auch wieder viel mehr Diener uns wieder besser ginge, wenn wir uns widrig abgeschoben. Niemand geht so hart und Knechte. Wir würden nach amerikani- dem neuen Markt der europäischen Ge- gegen so viele Leute vor, ohne von rassis- schem Vorbild Unigebühren von 60000 meinschaft anschlössen. tischen Motiven geleitet zu sein. Pfund für die Reichen aus China und Indien SPIEGEL: So kam es ja auch. SPIEGEL: Es muss erleichternd für Sie sein, erheben. Und wer sich anstrengt, hart ar- Dorling: Aber für viele hat sich das wie ei- dass May bald Geschichte sein wird. beitet und es in sich hat, der kann bis ganz ne nationale Demütigung angefühlt. Dorling: Ja, das ist es. Obwohl sie sich ge- nach oben kommen und die Welt ein biss- SPIEGEL: Können Sie nachweisen, dass die gen Ende ihrer Amtszeit als durchaus nütz- chen mit regieren. Wir werden wieder groß Sehnsucht nach dem Empire die wichtigste lich erwiesen hat. Weil sie gar nichts mehr sein. So stellen die sich das vor. Brexit-Triebfeder war? umsetzen konnte, hat sie ihre Partei we- SPIEGEL: Schöne alte Welt. Dorling: Beweisen nicht, ich denke, das nigstens auch davon abgehalten, weitere Dorling: Wäre nur blöd, wenn die EU sich ist überwiegend eine unterbewusste Sache. soziale Schäden im Land anzurichten. als Reaktion darauf von uns abwenden Aber was wir klar nachweisen können, ist SPIEGEL: Wie passen Ihre Befunde zu der würde. Ein Offshoreparadies ohne jede der Zusammenhang mit der Angst vor Ein- These, dass es vor allem abgehängte Briten Verbindung zum Kontinent wäre ziemlich wanderung. Warum lehnen viele Briten waren, die für den Brexit gestimmt haben? sicher zum Scheitern verurteilt. Einwanderer und Fremde so sehr ab? Weil Dorling: Nun, es waren Abgehängte – aber SPIEGEL: Herr Professor Dorling, wir dan- in unseren alten Lehrbüchern steht, dass abgehängte Tory-Wähler. Brexit-Hochbur- ken Ihnen für dieses Gespräch. wir ihnen seit je überlegen sind. gen finden wir vor allem im Süden, Wilt -

86 Kurz mal weg Analyse Als erster österreichischer Kanzler stürzte Sebastian Kurz über ein Misstrauensvotum. Trotzdem darf er sich Hoffnungen machen, im Herbst wiedergewählt zu werden.

as an Sebastian Kurz einerseits befremdet, ande- sprach, war nicht nur dramaturgisch ungeschickt. Es be- rerseits beeindruckt, ist seine Nonchalance. Eben schert den Sozialdemokraten nun auch einen Wahlkampf, W erst als österreichischer Regierungschef gestürzt, in dem Kurz nicht müde werden wird, vor einer vermeint- ist er am Dienstag schon wieder pausenlos auf lich drohenden »rot-blauen Mehrheit« zu warnen – einem Sendung. Dass er in den Hauptnachrichten süffisant als »Alt- Bündnis aus SPÖ und FPÖ, wie es bisher schon im Bur - kanzler« begrüßt wird, lächelt der 32 Jahre junge Wiener genland erprobt wird. weg. Er rechnet damit, dass er wiederkommt. Die ÖVP dürfte zudem darum bemüht sein, die Aufmerk- Die Republik wird gerade von der größten Krise der Nach- samkeit hin zu den Auftraggebern des Ibiza-Videos zu kriegsgeschichte erschüttert. Der SPIEGEL und die »Süddeut- lenken. Kurz nannte explizit Tal Silberstein, einen Spin- sche Zeitung« hatten ein Video öffentlich gemacht, das doku- doktor, der schon einmal für die SPÖ eine Schmutzkam- mentiert, wie der inzwischen zurückgetretene Vizekanzler pagne gegen konservative Widersacher betrieb, als Verdäch- Heinz-Christian Strache einer vermeintlichen Oligarchen - tigen – ohne dafür jedoch Belege zu erbringen. nichte 2017 auf Ibiza Staats- Was plant Kurz? Schon aufträge gegen Wahlkampf- jetzt liegt die ÖVP in Umfra- hilfe in Aussicht stellt. Die gen bei etwa 35 Prozent und Koalition aus Kurz’ konserva- damit so weit vorn, dass alles tiver Volkspartei (ÖVP) und andere als ein erneuter Wahl- Straches rechtspopulistischer sieg einer Sensation gleich- FPÖ brach daraufhin zusam- käme. Die Frage, die der Ex- men. Am Montag brachten Kanzler zu klären hat, ist nun FPÖ und Sozialdemokraten vor allem, wer der Volkspar- (SPÖ) das Kabinett per Miss- tei nach der Abstimmung als trauensvotum zu Fall. Koalitionspartner beisprin- Nun hat Österreich zum gen könnte. ersten Mal eine Frau als Der bisherige Alliierte, die Bundeskanzlerin: Die Verfas- FPÖ, ist gespalten. Ein ver- sungsrichterin Brigitte Bier- gleichsweise moderater Flügel lein soll das Land bis zu den um den ehemaligen Verkehrs- Neuwahlen im September minister und angehenden mit einer Expertenregierung Parteivorsitzenden Norbert verwalten, in der erfahrene Hofer stünde wohl für eine er- Beamte Ministerrang haben. neute Regierungsbeteiligung Sie wirkt wie ein Gegenmo- bereit. Weite Teile der Partei dell zu den FPÖ-Ministern, sympathisieren hingegen mit

die bis vor Kurzem an der / REX / EPA-EFE BRUNA CHRISTIAN dem Hardliner und Ex-Innen- Macht waren. Kanzler Kurz minister Herbert Kickl, zu Kurz räumt zwar Enttäu- dem Kurz alle Brücken abge- schung über das Ende einer brochen hat. – aus seiner Sicht – erfolgreichen Regierung ein. Doch seine Die wirtschaftsliberale Partei Neos, derzeit bei acht Wortwahl deutet darauf hin, dass die Wahlkampfstrategie Prozent Zustimmung, wäre insofern eine Option, als sie wirt- der ÖVP längst feststeht. In verkürzter Form ließe sie sich schaftspolitisch den Positionen der ÖVP nahesteht und den wie folgt beschreiben: Kurz, ein erfolgreicher Kanzler, wurde Misstrauensantrag gegen die Regierung nicht unterstützte. durch eine konzertierte Aktion von Rechten und Linken, von In Fragen von Zuwanderung und innerer Sicherheit allerdings Freiheitlichen und Sozialdemokraten, im Parlament zur Stre- gäbe es erhebliche Differenzen mit den Konservativen. cke gebracht, ist aber entschlossen, sein Land ab dem Herbst Aus der Regierungszentrale am Ballhausplatz hat sich Kurz aus dem Chaos zurück zur Stabilität zu führen. mittlerweile in die Bundesgeschäftsstelle seiner Partei unweit Er werde bis zu den Neuwahlen »wieder stärker bei den des Wiener Rathauses zurückgezogen – von hier aus plant Menschen in Österreich unterwegs« sein, das Tagesgeschäft er die Rückkehr ins Kanzleramt. Denkbar, so verlautet es im Parlament seinen »ausgezeichneten« Parteifreunden aus seinem Lager, sei künftig auch eine Minderheitsregierung: überlassen und sich an Koalitionsspekulationen nicht betei- ein Kanzler Kurz also, der mit wechselnden Mehrheiten das ligen, sagt Kurz. Er profitiert davon, dass sein Hauptkon- Land steuert. Das wäre für Österreich ein Novum. kurrent, die Sozialdemokratie, zahnlos wirkt. Die SPÖ hat »Das Parlament hat bestimmt. Das Volk wird entscheiden!« bei der Europawahl am Sonntag mit 23,9 Prozent der Stim- – mit diesem kunstvoll zugespitzten Slogan, der dem Volk men ihr historisch schlechtestes Ergebnis erzielt. Die neue mehr politische Vernunft zubilligt als den Volksvertretern, Parteichefin Pamela Rendi-Wagner fremdelt erkennbar in zieht Kurz selbstbewusst in den Wahlkampfsommer. Viel ihrem Amt. Dass sie unmittelbar nach der Niederlage am spricht dafür, dass der Optimismus des abgewählten Kanzlers Sonntag dem EU-Wahlsieger Kurz das Misstrauen aus- berechtigt ist. Walter Mayr

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 87 Wahlkämpfer Trump: Sein Kalkül ist, dass ihm die Impeachment-Debatte eher nutzt als schadet

Demokraten, die sich schon seit Längerem zuspitzt: Wie sollen sie mit den Vorwürfen Ein Weg gegen den Präsidenten umgehen? Wenn der Sonderermittler öffentlich nochmals betont, was er bereits schriftlich nieder - zur Wiederwahl gelegt hatte, nämlich dass es Hinweise auf mögliche Gesetzesverstöße gibt – warum eröffnen die Demokraten im Abgeordne- USA Die Demokraten streiten darüber, ob sie ein Amtsenthebungs- tenhaus dann kein Amtsenthebungsver- verfahren gegen Präsident Donald Trump einleiten fahren gegen den Präsidenten? sollen. Es gibt ausreichend Indizien, aber die Risiken sind hoch. Worauf wartet die Opposition? Die Partei ist in zwei Lager gespalten. Auf der einen Seite steht eine Riege mäch- ehr als zwei Jahre lang hatte das nen, dass der Präsident kein Verbrechen tiger, zumeist älterer Funktionäre um Nan- Land auf ihn gewartet, und dann, begangen hat, hätten wir das gesagt.« cy Pelosi, die Sprecherin des Abgeordne- M als Robert Mueller endlich kam, Es waren explosive Worte, gesprochen tenhauses. Sie warnen vor den politischen war er nach zehn Minuten wieder weg. Am von einem Juristen, der jede Silbe abwägt. Folgen eines Impeachment-Verfahrens Mittwochvormittag trat der Sonderermitt- Zwar standen sie fast wörtlich auch in seinem und befürchten, dass es Trump nützen ler an ein Rednerpult im Justizministerium 448 Seiten langen Bericht – aber nun hatte würde. Auf der anderen Seite steht eine in Washington, blickte in die Kameras und er sie explizit selbst noch einmal vor den wachsende Zahl eher junger, linker Demo- tat, was er seit Beginn der Russlandunter- Kameras ausgesprochen und damit indirekt kraten, die dem Präsidenten eine Straftat suchungen im Mai 2017 nicht getan hatte: Trumps Behauptung widerlegt, der Bericht nicht durchgehen lassen wollen und ihre Er sprach über die Frage, ob das Wahl- bedeute für ihn eine umfassende Entlastung. Parteifreunde für zu ängstlich halten. kampfteam von Donald Trump im Vorfeld Mueller bestätigte bei seinem Auftritt, Die Rufe nach einem Amtsenthebungs- der Präsidentschaftswahl mit den Russen dass er Indizien gesammelt habe, die den verfahren sind unüberhörbar geworden. kooperiert hatte, um gegen Hillary Clinton Vorwurf der Justizbehinderung erhärteten. Der Kongress müsse nun handeln, schrieb zu gewinnen. Allerdings werde Trump durch eine Direk- die linke Senatorin Elizabeth Warren; sie Seine Arbeit sei abgeschlossen, erklärte tive des Justizministeriums geschützt. »Ein zählt zu den zwei Dutzend Bewerbern, die der Ermittler, der durch sein Schweigen Präsident kann nicht wegen einer Straftat sich ins Rennen um die Präsidentschaft ge- in den vergangenen zwei Jahren zu einer auf Bundesebene angeklagt werden, wäh- worfen haben. Der Senator und Kandidat rätselhaften Projektionsfigur geworden rend er im Amt ist«, sagte Mueller. Er Bernie Sanders, der bislang eher auf der war. Er werde das Justizministerium ver- machte deutlich, dass es Aufgabe des US- Seite der Impeachment-Skeptiker stand, lassen und »ins Privatleben« zurückkeh- Kongresses sei, darüber zu richten. signalisierte jetzt auch Unterstützung. Der ren. Dann sagte Mueller den Satz: »Wenn Die Worte des Sonderermittlers befeu- demokratische Senator Cory Booker mein-

wir mit Sicherheit hätten feststellen kön- erten deshalb eine heikle Debatte unter te, der Kongress habe nach Muellers Auf- / AFP SMIALOWSKI BRENDAN

88 Ausland tritt eine moralische Verpflichtung, ein sol- Einschätzungen nicht allein: Steven Ratt- worden, zu dem ihn die Opposition ma- ches Verfahren einzuleiten; Booker gehört ner, einst Berater im Finanzministerium chen wollte. Die Demokraten mussten zum gemäßigten Flügel der Partei. der Obama-Regierung, schreibt für die einsehen, dass die Ermittlungen begrenz- Sogar aus dem Team des früheren Vize- »New York Times« über weitere Modell- ter waren als gedacht und dass sie Trumps präsidenten Joe Biden, der ebenfalls zu rechnungen, die alle Trump im kommen- Finanzen beispielsweise fast vollständig den Moderaten in der Partei gerechnet den Jahr als Gewinner sehen – voraus - ausklammerten. Fünf Ausschüsse im Ab- wird, heißt es, ein Impeachment-Verfahren gesetzt, die Wirtschaft bleibt stark. geordnetenhaus, das seit Anfang des Jah- sei fast »unvermeidlich«. Auch der Historiker Allan Lichtman res von den Demokraten kontrolliert wird, Die Debatte zeigt, wie nervös die Oppo- von der American University in Washing- untersuchen Trumps Geschäfte, Finanzen sition im Jahr vor der Präsidentschaftswahl ton glaubt, dass es kein leichter Kampf für und Amtsführung, bislang mit bescheide- geworden ist. Trumps Kalkül ist, dass ihm die Opposition wird. Er sagt, den Demo- nem Erfolg. ein Streit bei der Konkurrenz um die Amts- kraten bleibe wohl kein anderes Mittel als Nancy Pelosi ist die Anführerin der enthebung eher nutzt als schadet. Er kann das Amtsenthebungsverfahren, um die Demokraten, bis ein Präsidentschaftskan- sich als Opfer einer Kampagne von Demo- Chancen des Präsidenten zu schmälern. didat gekürt ist. Sie würde diese Untersu- kraten inszenieren, die in ihm von Anfang Lichtman hat 13 Schlüsselfaktoren ausge- chungen am liebsten im Stillen fortführen an einen illegitimen Präsidenten sahen. macht, die für eine Wiederwahl als Präsi- und sich auf Gesetze und Initiativen kon- Noch sind es fast anderthalb zentrieren, die bei den Wählern an- Jahre bis zur Wahl, in dieser Zeit kommen. Ihr Trauma ist das Amts- kann viel passieren. Außerdem enthebungsverfahren gegen Bill liegen Trumps Zustimmungswerte Clinton, das die Republikaner 1998 relativ konstant um 41 Prozent, vorbereiteten und kurz nach den was verglichen mit vielen seiner Zwischenwahlen einleiteten. Das Vorgänger eher niedrig ist. Zu- Verfahren stürzte das Land in mo- gleich boomt die Wirtschaft, die natelange politische Turbulenzen, Löhne steigen, und die Arbeits- brachte Clinton Sympathien und losigkeit ist sehr gering. Sollte das kostete die Republikaner bei der Wachstum bis ins Wahljahr hinein Wahl fünf Sitze im Repräsentanten- anhalten, ist keinesfalls ausge- haus. Pelosi glaubt deshalb, dass schlossen, dass Trump trotz der das Risiko des Impeachments zu Impeachment-Debatte einen Weg hoch ist. Bislang hat sie es geschafft, für seine Wiederwahl findet. eine Mehrheit der Abgeordneten Das wäre der Albtraum für die auf ihrer Seite zu halten. Demokraten. Eine zweite Amtszeit Zudem ist der Ausgang eines für den Mann, der nachweislich solchen Verfahrens nahezu vor - immer wieder die Wahrheit ver- herbestimmt. Es würde im Justiz - biegt und lügt, der amerikanische ausschuss des Abgeordnetenhauses Institutionen wie die Justiz atta- geprüft, wo die Demokraten die ckiert, das FBI und die freie Presse; Mehrheit haben; dann entscheidet der gegen die US-Verbündeten in das Plenum über die formelle Ein- Europa vorgeht und eine Männer- leitung. Wenn die Abgeordneten freundschaft mit Wladimir Putin in- die Amtsenthebung beschließen, szeniert. würde das Verfahren zum Senat So unmöglich erscheint dieses übergehen, wo zwei Drittel der Se- Szenario nicht mehr. Auch deshalb natoren einer Entfernung des Prä- klammern sich viele in der Partei sidenten aus dem Amt zustimmen an einem Amtsenthebungsver- müssten – was kaum geschehen

fahren fest. Der Ökonom Ray Fair, / LAIF / REDUX GOLDEN MELISSA wird, da die Republikaner hier in Forscher an der Yale University, hat Demokratin Pelosi: Lieber Untersuchungen im Stillen der Mehrzahl sind. in einem über Jahrzehnte geteste- Es gibt nur einen einzigen repu- ten Modell berechnet, dass im Mo- blikanischen Abgeordneten, der ment einiges für Trump als Sieger spricht. dent entscheidend seien. So sollte der sich in der Impeachment-Frage eindeutig Fair zufolge gibt es zwei entscheidende Amtsinhaber unangefochtener Spitzen- gegen den Präsidenten positioniert hat: Fak toren für Präsidentschaftswahlen: ers- kandidat seiner Partei sein und unberührt Justin Amash aus Michigan. Amash hat tens die Wachstumsrate des Bruttoinlands- von größeren Skandalen. sich in den vergangenen Wochen unter produkts, zweitens die Inflation. Beides Auch diese Methode hat sich bewährt. Konservativen einen Ruf als talentierter spielt Trump derzeit in die Hände. Ihm Lichtman konnte damit seit 1984 die Er- Selbst-Saboteur erworben, dem seine hilft außerdem, dass er der Amtsinhaber gebnisse von neun Präsidentschaftswahlen Karriere unwichtig ist. Es ist sehr wahr- ist und damit über einen Bonus verfügt. richtig vorhersagen, darunter die Wahl scheinlich, dass er mit seiner Haltung In der Vergangenheit gewährten die Wäh- Trumps. Er ist in diesem Jahr vorsichtig in seiner Partei ein Einzelfall bleibt – ler ihren Präsidenten meist eine zweite mit Prognosen, sagt aber, Trump habe gute und noch fraglicher ist, ob er nächstes Amtszeit. Chancen. »Ohne Impeachment sind die Jahr überhaupt wiedergewählt wird. Fairs Berechnungen sind nicht perfekt, Aussichten für die Demokraten trübe.« Wer sich bei den Republikanern gegen aber er konnte damit beide Siege von Ba- Es zeigt sich, wie riskant die Strategie Donald Trump stellt, hat das bisher meist rack Obama voraussagen und prophezeite der Demokraten war, den Bericht des Son- mit dem Verlust des Amtes bezahlt. 2016 einen Wahlgewinn für Donald derermittlers abzuwarten und erst dann Christoph Scheuermann Trump, als viele Demoskopen dessen Wi- zu beraten, wie man in der Russlandaffäre Twitter: @chrischeuermann dersacherin vorn sahen. Fair ist mit seinen agiert. Robert Mueller ist nie der Held ge-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 89 Ausland

Die Widerspenstigen Emanzipation Hunderte Frauen fliehen jedes Jahr aus den Golfstaaten, weil sie es leid sind, von ihren Ehemännern oder Vätern gedemütigt und kontrolliert zu werden. Doch auch im Ausland sind sie nicht immer sicher vor ihren Familien.

Geflohene Albolooki GENE GLOVER / DER SPIEGEL GENE GLOVER

90 ierig nehmen die beiden Schwes- sorgte, oder wie Dina Ali Lasloum, die männer seien ihre Cousins bestimmt ge- tern aus Saudi-Arabien alles 2017 in Manila von Verwandten zurück in wesen, eine Wahl hätten die Schwestern G auf, was ihnen in den Straßen- den Flieger nach Riad gezerrt wurde. nicht gehabt. Was hat sie ihre Jugend über- schluchten von Hongkong be - Die Herrscherfamilien in Saudi-Arabien leben lassen? »Dass wir uns gegeneinan- gegnet: Männer in Nadelstreifen, Frauen und den Vereinigten Arabischen Emiraten der Trost spenden konnten«, sagt Reem. in luftigen Kleidern auf den Fähren in setzen mit ihren Geschichten die Frauen Zwei Jahre lang haben die Frauen ihre der Kow loon-Bucht, Nachtmärkte, Cock- unter Druck. Die »Saudi Gazette« macht Flucht geplant, haben Geld beiseitegelegt, tailbars, Amüsierviertel. Die jungen für das Phänomen »feindliche Staaten« ein paar Tausend Dollar, und wieder und Frauen genießen ihre neue Freiheit, das verantwortlich, die die Frauen verführten, wieder alles besprochen. Im September, sieht man ihnen an. Sie laufen an einem um Saudi-Arabien zu diffamieren. »Unse- während eines Familienurlaubs in Sri Lan- Tag im März in zerrissenen Jeans und re Feinde versuchen, unsere Gesellschaft ka, ergriffen sie schließlich die Gelegen- mit offenem Haar durch die Stadt; sie mit diesem Krebs zu infiltrieren.« heit: Sie stahlen ihre Pässe aus dem Hotel- haben viele Fragen. Am besten, sagen Reem und Rawan wuchsen in einer Mit- zimmer ihrer Eltern und buchten heimlich sie, gefielen ihnen hier die Menschen, telklassefamilie auf. Ihr Vater, so erzählen übers Smartphone Flugtickets nach Aus- wie sie leben, was sie lieben, all tralien. Sie drapierten ihre Gebets- das sei so aufregend. umhänge auf dem Bett, sodass es Dann steigen sie in einen Fahr- aussah, als ob sie schliefen. Dann stuhl und setzen sich ans Fenster machten sie sich auf den Weg zum eines Hotelzimmers hoch über Flughafen. Hongkong, der genaue Ort muss Mehr als fünf Stunden später, in geheim bleiben, die Handys sind der Transitzone des Flughafens ausgeschaltet, Fotos nur von hin- von Hongkong, gerieten ihre Plä- ten. Sicherheitsvorkehrungen wie ne ins Wanken: Zwei Männer war- bei Whistleblowern – nur geht es teten am Gate, nahmen ihnen Rei- hier um zwei Schwestern aus Sau- sepässe und Bordkarten ab. Als di-Arabien, 18 und 20 Jahre alt, sich die Männer als Angestellte Rawan und Reem wollen sie ge- des saudi-arabischen Konsulats nannt werden, in Wirklichkeit hei- entpuppten, witterten die Schwes- ßen sie anders. tern Verrat. Die Schwestern erzählen die Es ging nun um Minuten. Auf Geschichte ihrer Flucht, vorsichtig, der Toilette fällte Rawan, die Jün- stockend, denn sie haben an die- gere, einen Entschluss. Sie schnapp- sem Märztag noch immer Angst, te die Pässe aus den Händen der ihr Vater könnte sie aufspüren und Männer und lief mit ihrer Schwes- gewaltsam nach Hause holen. Nur ter aus der Transitzone in die Men- manchmal müssen sie laut lachen. schenmasse vor der Passkontrolle, Wenn die Jüngere, Rawan, flucht. dann weiter in den Airport Express Oder wenn Reem erzählt, wie sie nach Hongkong Central, mitten hi- sich schon als kleine Mädchen mit nein ins fremde Leben. Von einem ihren Saftgläsern zugeprostet ha- Hotel aus setzten sie einen Hilferuf ben, so wie sie es in den verbote- auf Twitter ab. Ein Franzose las nen Filmen gesehen hatten. Und den Tweet, kontaktierte einen An- ihre Mutter aus dem Zimmer rann- walt und Helfer vor Ort. Mehr als te und spitze »Haram«-Schreie aus- ein Dutzend Mal mussten die Mäd- stieß, »verboten«. chen ihre Unterkunft wechseln, be- Reem und Rawan sind zwei von vor ihnen im März die Weiterreise mindestens tausend Frauen, die je- in einen Drittstaat gestattet wurde. des Jahr aus Saudi-Arabien fliehen, Schwestern aus Saudi-Arabien in Hongkong Wer mit den beiden spricht, weil sie Patriarchat und Unterdrü- »Wir riskieren unser Leben« begreift, dass es sich hier nicht um ckung durch Ehemänner und Väter verwöhnte Teenager handelt, wie nicht länger ertragen – »runaway ihnen in der Heimat oft unterstellt girls« werden sie in ihrer Heimat genannt, sie in dem Gespräch in Hongkong, arbeitet wird, sondern um kluge, mutige Frauen »Ausreißerinnen«. Rawan mag den Begriff in der Gefängnisverwaltung von Riad. Seit voller Kampfgeist und Zuversicht. nicht. Sie findet, er klingt nach ausbüxen, sie denken könnten, seien sie von zwei äl- Vorbild für Reem und Rawan und viele »dabei riskieren wir unser Leben«, sagt sie. teren Brüdern und einem jüngeren be- andere »Ausreißerinnen« ist Prinzessin Rawan und Reem waren im vergangenen wacht worden. »Sie hielten uns wie Skla- Latifa, 33, die Tochter des Emirs von Du- September auf der Flucht nach Australien ven«, sagt Reem. Zwei Wörter hätten ihre bai und Premiers der Vereinigten Arabi- in Hongkong gestrandet. Kindheit bestimmt: Schande und Verbot. schen Emirate. Das Video, das nach ihrer Arabische »Ausreißerinnen« gab es »Es gab keine Freude in unserem Haus«, missglückten Flucht veröffentlicht und auf schon in den Siebzigerjahren, doch noch klagt Rawan, »am schlimmsten war, wenn YouTube von mehr als zwei Millionen nie waren sie so sichtbar wie heute. Sie wir laut lachten.« Der dreisteste Bruder Menschen gesehen wurde, endet mit den tun sich mit Aktivisten zusammen, die sei der jüngste gewesen, zehn Jahre alt, Worten: »Sollte ich es nicht schaffen, dann Rechtsbeistand und Unterkünfte organi- sagt Reem. Dauernd habe er befohlen: hoffe ich wenigstens, dass sich bei uns et- sieren. Sie stellen Videos auf YouTube – »Zügle deine Stimme, senke den Blick, was zum Positiven verändert.« (SPIEGEL so wie Rahaf al-Qunun, 18, deren Flucht bedecke deine Haut.« Selbst im Haus hät- 50/2018) nach Bangkok und schließlich nach Kana- ten sie sich verhüllen müssen, Schläge sei- Latifa war sich der Gefahr bewusst, die da im Januar international für Aufsehen en normal gewesen. Als zukünftige Ehe- ihr Ungehorsam mit sich brachte. Sie muss

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 91 Ausland geahnt haben, welchen Schaden ihr Ver- Frauen wie Latifa, Reem und Rawan ren sie in Saudi-Arabien geblieben: eine schwinden für ihren Vater, den Emir, be- haben unzählige Gründe, aus den Ländern Ehe, die 22 Jahre lang die Hölle für sie war. deuten würde. Das Video hat sie selbst am Persischen Golf zu fliehen; der wich- Anders als Prinzessin Latifa ist Albolooki gedreht, unmittelbar vor ihrer Flucht, im tigste ist das Vormundschaftsrecht. Es gilt heute in Sicherheit, ihr Asylantrag in Dubaier Apartment von Tiina Jauhiainen, in einigen Ländern des Nahen Ostens, Deutschland läuft. ihrer finnischen Fitnesstrainerin, die als aber kaum irgendwo wird es so streng Doch sie zahlt einen hohen Preis für eine der wenigen in die Pläne der Prinzes- praktiziert wie in Saudi-Arabien und den ihre Freiheit: Sie verließ ihre vier Kinder. sin eingeweiht war. Emiraten. Nach dem Gesetz dürfen Frauen »Welche Mutter tut so etwas freiwillig?«, Jauhiainen, 42 Jahre alt, sitzt an einem ohne Erlaubnis des Vormunds, also des fragt sie und weint bitterlich. Frühlingsnachmittag in einem Café in Vaters, Ehemanns oder Bruders, das Land Hind Albolooki sagt, sie habe nie daran London. Sie erinnert sich noch sehr genau nicht verlassen, manche nicht mal das gedacht wegzulaufen, auch dann nicht, als daran, wie sie Latifa 2010 in Dubai ken- Haus, sie dürfen auch nicht studieren. sie von Prinzessin Latifa erfuhr. Wie ganz nenlernte. Jauhiainen wurde damals in ein Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed Dubai verfolgte sie Latifas Flucht, obwohl Anwesen am Stadtrand gebeten. Sie sollte bin Salman inszeniert sich als Reformer. Er das Video nach einem Tag gesperrt war. einer reichen Emiraterin Trainingsstunden hat die Kleiderordnung gelockert und das Albolooki war eine verwöhnte junge in Capoeira geben, dem brasilianischen Fahrverbot für Frauen aufgehoben. Frauen Frau, ihre Mutter wählte den Ehemann, ei- Kampftanz. wie Reem und Rawan helfen diese Neue- nen Medizinstudenten aus einflussreicher Erst allmählich begriff Jauhiainen, wer rungen wenig, »was bringen uns Reformen, Familie. Ihre Schwiegermutter wählte das diese Emiraterin war, die dort in einem wenn Mutter sie für Teufelszeug hält und Brautkleid. Albolooki fügte sich, gebar 40-Zimmer-Palast mit Trainings- Kinder, im Gegenzug wurde ihr ein räumen, Pool und 100 Angestellten Luxusleben geboten: eine Villa in lebte. Latifa, so erzählt ihre ehema- Dschumaira, Reisen nach Mailand lige Trainerin, fristete trotz allen zu Gucci und Prada, ein blauer Ma- Reichtums ein trostloses Dasein. serati Ghibli. Sie durfte Dubai nicht verlassen, Ihr Mann, ein führender Mitar- nicht studieren. Sieben Jahre lang beiter im Gesundheitsministerium, hatte Latifa ihre Flucht geplant, habe ihr Beruhigungsmittel gege- mithilfe eines französisch-ameri- ben. Er schlug sie, vergewaltigte sie, kanischen Ex-Agenten, Hervé Jau- so berichtet es Albolooki, betrog bert. sie mit der Schwägerin und zwang Im Februar 2018 gelang es den sie, ihm beim Sex mit anderen Frauen, sich nach Oman abzuset- Frauen zuzusehen. »Meine Familie zen – und von dort auf eine Jacht kannte diese Geschichten«, sagt sie. des Ex-Agenten. Latifa wollte in »Niemand sagte jemals ein Wort.« Miami um politisches Asyl bitten. Dann machte Albolooki den

Doch die Jacht wurde von der IN DUBAI DETAINED Fehler, von Scheidung zu sprechen. indischen Küstenwache gekapert. Prinzessin Latifa, Helferin Jauhiainen 2018 Der Ehekrieg begann. Sie musste »Am achten Tag (auf See) hörten Vorbild für Ausreißerinnen den Autoschlüssel abgeben, ihre wir gegen 22 Uhr Schüsse an vier Kreditkarten, die diaman - Deck«, erzählt Jauhiainen. Schlaf- tenbesetzte Uhr. Der Familienrat trunken sei sie nach oben geklettert – und Vater sagt: ›Ihr werdet niemals Auto fah- wurde einberufen. Sie hätten alles ver- sah rote Laserpunkte von Gewehren auf ren, das verbiete ich!‹«, fragen sie. sucht, sagten die Männer, Albolooki wolle ihrem Körper. »Erschießt mich gleich Frauen, die aus Ländern wie Saudi-Ara- nicht gehorchen, »geh und hol deinen Pass, hier«, habe Latifa gefleht, »nur bringt bien fliehen, sind häufig auf die Gemeinde wir werden ihn einbehalten«. mich nicht zurück nach Dubai!« aus Fluchthelfern angewiesen, auf Netzak- Albolooki tat scheinbar, wie ihr gehei- Die Angreifer ignorierten den Wunsch. tivisten und Menschenrechtler in den USA, ßen. Ihre Tochter aber hatte den Ernst der Latifa und Jauhiainen wurden zurück nach Europa, Australien. In den Golfstaaten Lage begriffen, sie reichte ihrer Mutter den Dubai geschafft. Jauhiainen saß in Einzel- können sie nichts unternehmen, aber an Pass, dazu eine Handtasche mit Bargeld. haft, wurde verhört und hatte Todesangst. den Grenzen, den Transitzonen der Flug- Eine Hausan gestellte ließ sie durch das Nach zwei Wochen wurde sie von den häfen und später im Exil, da schon. Gartentor entwischen. Albolooki entwi- Behörden schließlich nach Europa ab - Jérémy Desvages, 32 Jahre alt, Program- ckelte einen Mut, von dem sie nichts ge- geschoben. Seither ist sie auf der Flucht, mierer aus Frankreich, ist einer von ihnen. ahnt hatte: Sie versteckte sich in der Nähe wechselt regelmäßig ihren Wohnort – und Er las den Tweet, den Reem und Rawan des Hauses auf einer Baustelle, vergrub kämpft mit Anwältinnen um die Frei- im Hongkonger Hotel abgesetzt hatten, ihr Handy im Sand, damit man sie nicht lassung ihrer Freundin Latifa, mit der sie und nahm sich fortan ihrer an, wie auch orten konnte, stülpte ihre Abaja über sich seit mehr als einem Jahr nicht mehr hat 15 weiterer Flüchtlinge aus der Golfregion. und verharrte so mehrere Stunden. Mit- sprechen können. Er leistet seelischen Beistand, besorgt An- hilfe eines Taxifahrers und einer Freundin Vor ein paar Monaten schickte ihr wälte und Unterkünfte. Reem und Rawan besorgte sie sich ein neues Handy und ein jemand ein Foto. Es zeigt die ehemalige besuchte er in Hongkong. Warum? »Weil Flugticket nach Europa. irische Staatspräsidentin Mary Robinson, ich die Möglichkeit dazu habe«, sagt er und Sie schaffte es nach Deutschland. Sie eine Freundin der emiratischen Herrscher- zeigt auf seinem Handy Hilferufe und Be- wird zum ersten Mal in ihrem Leben Geld familie, neben einer sediert wirkenden Prin- weisfotos: Prellungen an den Oberarmen, verdienen müssen, fühlt sich aber gewapp- zessin Latifa am Esstisch. In London im Blutergüsse, blau geschlagene Augen. net, will anderen Mut machen. Bereut sie, Café betrachtet Jauhiainen das Foto: »Se- Desvages kümmert sich auch um Hind gegangen zu sein? »Nicht einen Tag.« hen Sie Latifas Gesicht, starr wie eine Mas- Albolooki, eine Emiraterin aus Dubai, Fiona Ehlers ke, ihr Blick, ganz vernebelt. Als ob wir auf 42 Jahre alt. Sie hat das hinter sich, was Mail: [email protected] diese Inszenierung hereinfallen würden.« Reem und Rawan wohl erwartet hätte, wä-

92 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Sport

»Alle rennen immer dem Geld hinterher.« ‣S.96

Ansturm auf den Mount Everest

Lawinenunglück 2014 und Erdbeben 2018 2015 verhinderten Besteigungen 815

Quelle: Billi Bierling/Himalayan Database PROJECT POSSIBLE / AFP PROJECT

1953 erfolgreiche Besteigungen 2 Todesfälle 17

Der Ansturm auf den Mount Everest hat Auswirkungen auf steigungen gelingen, wird die 10000er-Marke gebrochen die Zahl der Todesfälle. In diesem Jahr starben bereits 11 Bergstei- werden. Von 1953 bis 2018 haben über 5300 Bergsteiger, davon ger. Die meisten Opfer hatte es 2014 gegeben, als allein 16 Sher- rund ein Zehntel Frauen, den Gipfel erreicht; etliche Träger pas bei ei nem Lawinen abgang ums Leben kamen, insgesamt sind waren mehrmals oben. Schlangen bildeten sich in diesem Jahr, es bisher 292 Tote. Wenn wie im vergangenen Jahr über 750 Be - weil das Zeitfenster für den Aufstieg wegen des Wetters eng war.

Magische Momente über sich hinaus. Er war in einem Flow, und unsere Abwehr ließ Kiel kaum eine »Ein fast perfektes Spiel« Lücke. Es war ein fast perfektes Spiel. SPIEGEL: Sie sind berühmt für Ihren Handballtrainer Ljubomir Vranjes, 45, über eine Flensburger Sensation Siegeswillen. Liegt der Ehrgeiz in Ihrer Jugend begründet, als niemand glaubte, SPIEGEL: Vor fünf Jahren Jungs nur: »Lauft, kämpft – wir brauchen dass Sie mit einer Größe von nur 1,66 Me - wurden Sie von Ihren die Pause, und dann drehen wir das tern Handballprofi werden könnten? Spielern in die Luft gewor- Spiel.« Vranjes: Mir wurde nichts geschenkt. fen. Welche Bilder kom- SPIEGEL: Wieso waren Sie da so sicher? Alles musste ich mir erkämpfen, men Ihnen in den Sinn, Vranjes: Ich sah, dass die Kieler müde und immer wieder hieß es: »Du bist nicht wenn Sie an den 30:28-Sieg wurden. In der zweiten Hälfte wuchs geeignet, du schaffst das nicht.« Das im Endspiel der Champions dann unser Torwart Mattias Andersson ging mir gewaltig auf den Sack, aber es hat League über den THW Kiel denken? mich angestachelt, mein Leben Vranjes: Ein Bild kann nicht be - geprägt, als Spieler und als Trainer. schreiben, was wir an diesem SPIEGEL: Hängt ein Foto vom un glaub lichen Wochenende in Köln Triumph 2014 bei Ihnen an der erlebt ha ben. Das Halbfinale gegen Wand? Barcelona war praktisch verloren, Vranjes: Noch nicht. Der Tag wird BILDBYRAN / IMAGO SPORT SPORT / IMAGO BILDBYRAN dann passierte, was eigentlich kommen, aber ich bin als Trainer unmöglich ist. nicht fertig. So schön der Erfolg SPIEGEL: Sie meinen den Ausgleich war, ich möchte noch viel errei- zwei Sekunden vor Schluss und den chen. Sieg im Siebenmeterwerfen? SPIEGEL: Wer schnappt sich dieses Vranjes: Natürlich. In Barcelona Jahr den Champions-League-Titel? wusste doch niemand, wer Hampus Vranjes: Barcelona ist Favorit, Wanne ist. Er war damals 20 und aber das ist bekanntlich kein gutes verwandelte den letzten Siebenme- Omen. Veszprém hat zurzeit einen ter eiskalt. Lauf und kann es schaffen. Wich- SPIEGEL: Tags darauf gerieten Sie tiger ist mir aber, dass mein Nach- im Endspiel rasch in Rückstand. folger Maik Machulla mit Flens- Vranjes: Kiel führte 12:6, und in / DDP IMAGES MIKA VOLKMANN burg die deutsche Meisterschaft einer Auszeit sagte ich meinen Vranjes nach dem Sieg der SG Flensburg-Handewitt 2014 verteidigt. PK

93 Besucher im Nationalstadion von Tokio im Juli 2018: »Kultur der Angst« Baustelle Olympia

Sommerspiele Rund ein Jahr vor Beginn der Wettkämpfe ringt Tokio mit Korruptionsvorwürfen und explodierenden Kosten. Nun soll ein Judoheld das Chaos ordnen.

er Mann, der Japans wichtigster bands, vor seinem nächsten großen Kampf. Doch Yamashita müsste sich an der Sportfunktionär werden soll, hat Wenn Japans Nationales Olympisches Ko- JOC-Spitze vor allem als Krisenmanager D schon viele aufs Kreuz gelegt. Ya- mitee (JOC) Ende Juni einen neuen Präsi- beweisen. Denn rund 14 Monate vor der suhiro Yamashita, Kampfgewicht denten wählt, geht der noch immer stäm- Eröffnungsfeier im Tokioter Nationalsta- 127 Kilogramm, gewann vier Weltmeister- mige 62-Jährige als Favorit ins Rennen. dion werden die Olympiavorbereitungen titel im Judo, holte 1984 olympisches Gold. Bekommt er den Posten, wäre Yama - von immer neuen Problemen gestört: ei- In Japan nennen sie ihn »Judogott« und shita Gastgeber der größten Sportveran- nem schwelenden Korruptionsverdacht, verehren ihn als einen der größten Athle- staltung der Welt – 2020 steigen in Tokio menschenunwürdigen Arbeitsbedingun- ten des Landes. Nun steht Yamashita, mitt- die Olympischen Sommerspiele. Ein Traum - gen auf den Olympiabaustellen, explodie- lerweile Chef des nationalen Judover- job, könnte man meinen. renden Kosten.

94 Sport

Dabei hätte eigentlich alles besser wer- Bedingungen, die an die Zustände in Katar Bürgermeisterin die Finanzlage prüfen soll- den sollen. Als das Internationale Olym- erinnerten, Gastgeber der nächsten Fuß- te. Mit 6,6 Milliarden US-Dollar war zu pische Komitee (IOC) vor sechs Jahren ballweltmeisterschaft. Beginn der Planungen für 2020 kalkuliert Tokio zum Ausrichter der Spiele wählte, Besonders betroffen seien Ausländer. worden. Ueyamas Team bilanzierte hinge- galt Japans hochmoderne Hauptstadt als Im April trat ein Gesetz zur Anwerbung gen, dass die Gesamtkosten mehr als sichere Bank. Zu groß schienen die Risiken von Gastarbeitern in Kraft, das in Japans 30 Milliarden Dollar betragen könnten. der Mitbewerber: Istanbul mit seiner Nähe alternder Gesellschaft dort Löcher stopfen Viereinhalbmal so viel wie ursprünglich zum Krieg in Syrien; Madrid als Spaniens soll, wo es an Arbeitskräften mangelt. Das angenommen. Hauptstadt, die tief in einer Schuldenkrise gilt auch für den Bausektor, der für viele Derartige Budgetexplosionen sind in steckte. Japaner unattraktiv ist. Fehlende Stellen Japan besonders beunruhigend. Das Land Die Sommerspiele fanden bereits 1964 werden oft mit Arbeitsmigranten gefüllt, hat eine Staatsverschuldung von fast in Tokio statt, zweimal waren Sportler etwa aus China und Vietnam. 240 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleis- bei Winterspielen zu Gast in Japan, stets Die »Tokyo 2020«-Organisatoren wei- tung, der Schuldenanteil ist damit fast ohne große Zwischenfälle. Was sollte da, sen jede Verantwortung von sich, man sei doppelt so hoch wie etwa im finanziell von der fortlaufenden Krise um die Atom- nicht Auftraggeber der Bauprojekte. Für wankenden Italien. Wegen der alternden ruine im rund 250 Kilometer entfernten BHI-Generalsekretär Ambet Yuson eine Bevölkerung fällt es Japan zudem immer Fukushima einmal abgesehen, schon typische Reaktion. »Unsere Vorschläge schwerer, die nötigen Erlöse zu erwirt- schiefgehen? wurden vom Organisationskomitee nicht schaften, um den Haushalt sanieren zu Doch dann begann das Chaos. Vor drei akzeptiert. Unser Bemühen, vor Ort Si- können. Die Milliardenkosten für eine gut Jahren wurde bekannt, dass die französi- cherheits- und Gesundheitsbedingungen zweiwöchige Sportparty müssen somit sche Finanzstaatsanwaltschaft die Vergabe zu prüfen, wurde gerügt.« von einer schrumpfenden Zahl an Arbeits- der Spiele an Tokio untersucht. Ausgangs- Das IOC sagt, man nehme die Vor- kräften beglichen werden. punkt der Ermittlungen bildeten zwei würfe der BHI »sehr ernst« und habe sich Ueyamas Kommission machte Sparvor- Zahlungen des japanischen Bewerbungs - schläge, unter anderem habe man eine Ver- komitees in Höhe von rund zwei Millionen kleinerung der Schwimmhalle erwirken US-Dollar an die Firma Black Tidings in können. Mittlerweile schätzt Ueyama die Singapur, Betreff: »Tokyo 2020 Olympic Gesamtkosten nicht mehr auf 30 Milliar- Game Bid«. Bestechungsgeld zum Kauf den, sondern auf rund 20 Milliarden Dol- stimmberechtigter IOC-Mitglieder, so ver- lar. Dabei wäre auch dies noch fast doppelt muten die französischen Fahnder. so viel wie das, was »Tokyo 2020« in sei- Hinter Black Tidings steht der Senega- ner Budgetplanung ausweist. lese Papa Massata Diack, einer der vielen Ueyama setzt bei seiner Hoffnung auf korrupten Köpfe des Weltsports. Auch für weitere Sparmaßnahmen vor allem auf das die Beeinflussung der Wahl Rio de Janei- IOC. »Das hat mittlerweile großes Interes- ros zum Olympiaausrichter 2016 soll die se daran, Kosten zu sparen. Ich vermute, Familie Diack Geld erhalten haben. ALLIANCE / MAXPPP PICTURE KYODO das IOC macht sich Sorgen, dass Bürger Anfang dieses Jahres wurde bekannt, Ehemaliger Bewerbungschef Takeda aus demokratischen Ländern Olympia - dass gegen Tsunekazu Takeda, ehemals Verdächtige Zahlungen bewerbungen ansonsten nicht mehr unter- Chef der Tokio-Bewerbung, ebenfalls er- stützen werden.« mittelt wird. Schließlich habe der ehema- diesbezüglich mit der internationalen Ar- Tatsächlich konnten laut IOC bereits lige Olympiareiter die zwei verdächtigen beitsorganisation ILO abgestimmt. Man 2,2 Milliarden Dollar aus Etatposten ein- Zahlungen an Black Tidings angeordnet. sei bestrebt, »angemessene Lösungen zu gespart werden, etwa durch den Verzicht ALESSANDRO DI CIOMMO / ZUMA PRESS IMAGO ALESSANDRO Takeda, Urenkel eines japanisches Kaisers, finden«. auf eine neue Basketballarena. John Coates, beteuert seine Unschuld, hat aber dennoch Die braucht es auch im Hinblick auf die Chef einer IOC-Delegation, die Ende Mai seine Ämter geräumt, unter anderem als Kosten der Spiele. Das Multimilliarden- Tokio besuchte, gibt sich damit aber noch JOC-Präsident. projekt Olympia solle den Steuerzahler nicht zufrieden: »Wir glauben, dass weite- Kann Judo-Ikone Yasuhiro Yamashita nichts kosten, verkünden die Macher von re Budgetkürzungen möglich sind.« nun den Funktionärsfilz lösen? Immerhin: »Tokyo 2020«, sämtliche Ausgaben seien Ein Vorhaben, das zumindest offiziell Im Jahr 2013, als der nationale Judover- privat finanziert. Es sei ein Weltereignis, von Verbänden der olympischen Sommer- band Schlagzeilen mit einem Gewalt- und für die Bürger zum Nulltarif. sportarten unterstützt wird. Es dürfe aber Missbrauchsskandal machte, profilierte Ist das wirklich so? »Daran glaubt nie- nicht an der falschen Stelle gespart werden: sich Yamashita als rigoroser Aufräumer. mand«, sagt Shinichi Ueyama, Politikpro- bei den eigentlichen Wettkämpfen. Judo- Die Korruptionsaffäre bliebe allerdings fessor an der renommierten Keio-Univer- weltverbandspräsident Marius Vizer sagte, nicht Yamashitas einziges Problemfeld. sität in Tokio. Finanztechnisch gesehen hät- er mache sich »ernsthafte Sorgen«: »Wir Vor gut zwei Wochen präsentierte die Bau- ten die Organisatoren zwar recht, weil sie sind einverstanden mit den Kürzungen, und Holzarbeiter-Internationale (BHI) ei- im Budget nur die Betriebskosten auflisten. aber nur solange sie nicht die Qualität der nen Bericht über die Arbeitsbedingungen Dazu gehören etwa die Aufwendungen für Wettkämpfe beeinflussen.« Auch die Seg- auf den olympischen Baustellen. Darin in- Busshuttles, Strom oder die Kleidung der ler, Triathleten und Tennisspieler äußerten formiert der Gewerkschaftsbund über »ge- Helfer während der Spiele. Der – staatlich Bedenken. fährliche Formen der Überarbeitung« und finanzierte – Bau von Wettkampfstätten Nur einer ist daueroptimistisch: der eine »Kultur der Angst«. Bis zu 28 Tage oder die erhöhten Sicherheitskosten sind IOC-Präsident. Im November sagte Tho- am Stück müssten Arbeiter antreten, in ei- hiervon aber ausgenommen. »Die Tokioter mas Bach, er erinnere sich an keine Olym- nigen Fällen hätten sie ihre Sicherheitsklei- Metropolregierung trägt die gesamte Fi- piastadt, die besser auf die Spiele vorbe- dung aus eigener Tasche bezahlen müssen. nanzierungsverantwortung«, sagt Ueyama. reitet gewesen wäre als Tokio. Er erwarte Rund die Hälfte der Beschäftigten arbeite Also die öffentliche Hand. »exzellente Olympische Spiele«. ohne schriftlichen Vertrag. Mindestens Ueyama stand 2016 einer Expertenkom- Felix Lill, Thilo Neumann zwei Todesfälle habe es bereits gegeben. mission vor, die im Auftrag der Tokioter

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 95 Sport »Ich wollte ihm nicht wehtun«

SPIEGEL-Gespräch Karl-Heinz Rummenigge, Vorstandschef des FC Bayern München, über seinen Umgang mit Trainer Niko Kovač und die Furcht vor einer Fanrevolte

Rummenigge, 63, ist seit 2002 Vorstandsvor- vale ist. Wenn ich das Dortmunder Spiel quasi identisch und sehr erfolgreich. Das sitzender der FC Bayern München AG. Zwi- unter ihm mit dem aktuellen Auftreten von war spektakulärer Fußball und hatte schon schen 2008 und 2017 war er zudem Vorsit- Liverpool vergleiche, sehe ich da noch eine was von Tiki-Taka. Das wird auch der An- zender der European Club Association (ECA), deutliche, sehr positive Entwicklung. spruch des Klubs in der Zukunft sein. Wir einer Interessenvertretung europäischer Fuß- SPIEGEL: Vielleicht hätten Sie ihn vor elf haben jetzt das Double gewonnen, und ballvereine. Der gebürtige Westfale war von Jahren doch verpflichten sollen. damit ist der ganze Verein sehr zufrieden. 1974 bis 1989 Fußballprofi und spielte unter Rummenigge: Er war damals in Mainz SPIEGEL: Beim Achtelfinal-Aus gegen den anderem in München und Mailand, er be- noch ganz am Anfang seiner Laufbahn. FC Liverpool hat Bayern München unge- stritt 95 Länderspiele für Deutschland. Ich weiß nicht, ob er bei einem Klub wie wohnt defensiv gespielt. Trauen Sie es Bayern München auch so eine Kontinuität Niko Kovač zu, eine neue Ära zu prägen? SPIEGEL: Herr Rummenigge, wie wer- erreicht hätte wie anschließend in Dort- Rummenigge: Was ist eine Ära? In den den Sie das Finale der Champions League mund und jetzt in Liverpool. Außerdem vergangenen 15 Jahren war weder van an diesem Samstagabend erle- Gaal noch Heynckes oder ben? Guar diola länger als drei Jahre Rummenigge: Das Spiel er- am Stück hier. Niko hat einen zeugt Wehmut in mir. Wir waren Vertrag bis 2021. Und ich wün- ja auch schon ein paarmal im Fi- sche ihm, dass er hier erfolg - nale, das waren immer wirklich reiche Jahre verbringt. Das ist großartige Erlebnisse. Wenn ich nämlich die Voraussetzung: Das das Spiel nur als Fan verfolge, System FC Bayern fußt auf fehlt mir die Nervosität und das Erfolg. Ich will mir gar nicht Mitfiebern. Und ich ärgere mich ausmalen, was hier los gewe- bis heute, dass wir dieses Jahr sen wäre, wenn wir Vizemeister so früh ausgeschieden sind. geworden wären. SPIEGEL: Vier englische Teams SPIEGEL: Verstehen Sie die Kri- stehen in den beiden Endspie- tiker, die Ihnen in dieser Saison len der Europapokale. Ist die vorgeworfen haben, Kovač nicht Übermacht der Premier League genügend gestärkt zu haben? noch zu brechen? Rummenigge: Wir haben den Rummenigge: Natürlich be- Trainer extrem gestärkt, zum kommen die Engländer wahn- Beispiel im November nach sinnig viel Geld aus den TV-Ver- dem grotesken 3:3 gegen Düs- trägen, diese Schere wird in na- seldorf. Wir haben mit den Spie- her Zukunft nicht zu schließen lern Klartext gesprochen, ge- sein. Aber man muss auch an- meinsam Dinge verändert und

erkennen, dass sie einen wirk- / DDP FOX-IMAGES so wieder die Kurve gekriegt. lich guten Job machen. Sie ha- Fußballfunktionär Rummenigge: »Bewusst öffentlich polarisiert« SPIEGEL: Sie und Sportdirektor ben sich die besten Trainer und Hasan Salihamidžić haben es Manager der Welt geholt, dazu in dieser Saison aber durchweg großartige Spieler, und nun auch die Nach- hatten wir hier in den vergangenen zehn vermieden, Kovač eine Jobgarantie über wuchsausbildung neu strukturiert. Sie sind Jahren großartige Zeiten. Denken Sie an die Saison hinaus zu geben. mittlerweile der Maßstab. Jupp Heynckes oder Pep Guardiola. Ich Rummenigge: Der Erfolg ist Teil unserer SPIEGEL: Beim FC Liverpool sorgt Jürgen habe manchmal 15 Minuten lang vom Klub-DNA. Diesen Erfolgsdruck haben wir Klopp für Furore. Uli Hoeneß hat einmal Fenster meines Büros bei Guardiolas Trai- uns selbst auferlegt, und dem muss jeder verraten, dass er Klopp 2008 fast verpflich- ning zugeschaut und oft gedacht, dass das beim FC Bayern standhalten. Das weiß Niko tet hätte, sich dann aber für Jürgen Klins- wie die Suche nach dem perfekten Fußball auch, er war hier bereits als Spieler tätig. mann entschieden hat. Trauern Sie Klopp ist. Guardiola hat so viel Neues und auch SPIEGEL: Haben Sie versucht, den Trainer hinterher? unglaublich Kluges hierhin mitgebracht, und die Mannschaft mit Ihren Aussagen Rummenigge: Jürgen Klopp ist ein Toptrai- das war schon toll. Auch ohne Klopp ha- anzustacheln? ner. Das hat er insbesondere in diesem Jahr ben wir tolle Zeiten erlebt und viele Titel Rummenigge: Ich bin nach diesem spek- bewiesen. Ich habe ihn in den vergangenen gewonnen. takulären 5:0 gegen Borussia Dortmund Jahren ja wirklich aus der Nähe verfolgt, SPIEGEL: Steht der FC Bayern jetzt an ei- in unsere Kabine gegangen. Da war Party- weil Dortmund seit 2010 unser größter Ri- nem Punkt, sich wieder eine neue Philo- stimmung, pure Euphorie. Ich dachte mir: sophie suchen zu müssen? »Hoppla, wir haben doch noch sechs Spie- Das Gespräch führten die Redakteure Rafael Busch- Rummenigge: Die Philosophie von Louis le vor uns.« Ich habe anschließend sehr mann und Christoph Winterbach in München. van Gaal, Heynckes und Guardiola war bewusst öffentlich polarisiert und versucht,

96 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 ALEXANDER HASSENSTEIN / GETTY IMAGES ALEXANDER HASSENSTEIN Bayern-Profis bei Doublefeier am Sonntag in München: »Zum ersten Mal nach sechs Jahren ein spannendes Meisterschaftsrennen« durch meine Aussagen einen Kontrapunkt gen zu einer Reform der Königsklasse ab SPIEGEL: Gibt es für diese Reformbestre- zu setzen. Sowohl der Trainer als auch die 2024. Wird sie sich grundlegend ändern? bungen eine Mehrheit? Mannschaft sollten begreifen, dass wir Rummenigge: Das hoffe ich nicht. Warum Rummenigge: Bislang ist noch überhaupt noch nichts gewonnen hatten. müssen wir eigentlich überhaupt etwas nichts entschieden, alles steht auf dem SPIEGEL: Kovač hat bei einer Pressekon- verändern? Um die Champions League be- Prüfstand. Ich bin auch kein großer Freund ferenz gesagt, dass man zwar Schläge ein- neidet uns die ganze Welt. Sie ist der mit der Idee, die Gruppenphase zu erweitern. stecken könne, aber es in der Seele trotz- Abstand beste und am schwierigsten zu Wir haben jetzt schon bei dem aktuellen dem wehtue. gewinnende Wettbewerb der Welt. Es ist Modell mit den Vierergruppen oft zum Rummenigge: Ich wollte ihm nicht weh- für mich jedes Mal aufs Neue elektrisie- Ende hin sogenannte Dead Games, wo es tun. Ich wollte nur alle auf unser gemein- rend, wenn das Flutlicht angeht und die um nichts mehr geht. sames Ziel fokussieren. Hymne erklingt. SPIEGEL: Die Klubvereinigung ECA hat SPIEGEL: Gehen Sie definitiv mit Kovač SPIEGEL: Warum wird dann ständig vier Achtergruppen vorgeschlagen. Wel- in die neue Saison? versucht, die Champions League zu ver - che Gründe sprechen dafür? Rummenigge: Ich kenne keinen Verein, ändern? Rummenigge: Für Klubs aus den kleine- der seinen Trainer nach dem Double ent- Rummenigge: Das hängt mit dem Geld ren Ländern könnte das schon sinnvoll lassen hätte. zusammen. Jeder Klub versucht, inter- sein. Sie hätten dann eine Garantie auf SPIEGEL: Ist der Gewinn der Champions national noch ein bisschen mehr für sich mehr Spiele, also auch auf mehr Einnah- League für den FC Bayern in naher Zu- herauszuholen. Die großen fünf Ligen men. Es ist eine unglaublich heterogene kunft realistisch? Europas scheinen mit dem aktuellen Mo- Welt, die in diesen internationalen Wett- Rummenigge: Es ist zumindest unser aller dell einverstanden zu sein. Die Niederlän- bewerben herrscht. Das alles unter einen Traum. Ich bin ja bis 2021 in meiner Funk- der, Belgier, Polen und Österreicher wollen Hut zu bringen ist nicht so einfach. tion als Vorstandsvorsitzender hier und aber auch feste Vertreter in der Königs- SPIEGEL: Der Dortmunder Geschäftsfüh- würde sehr gern dieses Erlebnis aus Lon- klasse haben. Und das ist verständlich. rer Hans-Joachim Watzke sagt, dass die don 2013 noch mal erleben. Unser Sieg SPIEGEL: Warum? Reform der Champions League so oder so hat so nachhaltige, unfassbare Glücksge- Rummenigge: Ajax ist niederländischer kommen werde. Warum sehen das viele fühle bei mir erzeugt. Ich habe mit meiner Meister und stand im Halbfinale der Cham- als unausweichlich an? Frau am Tag nach dem Finale zu dem Fred- pions League. Aber kommende Saison müs- Rummenigge: Ich sehe das nicht so. Die Astaire-Song getanzt: »I’m in Heaven« sen sie wieder durch eine Qualifikations- Klubs treffen sich nächste Woche in Malta, singt er, ein ganz alter Song, aber den hatte runde. Wenn sie Pech haben, fliegen sie da da wird es sicherlich große Diskussionen ich irgendwie im Hinterkopf und habe ihn raus. Wie soll man so einen Kader planen, geben. Ich schließe auch nicht aus, dass mir gewünscht. den man seriös finanzieren will? Natürlich der Status quo erhalten bleibt. Am Ende SPIEGEL: Sie schwärmen so von der Cham- verstehe ich, dass diese Klubs ein bisschen muss die Uefa bei der Entscheidungsfin- pions League. Aktuell gibt es Bestrebun- mehr Planungssicherheit haben wollen. dung sehr sensibel vorgehen.

97 Sport

SPIEGEL: Woran orientieren Sie sich bei SPIEGEL: Wie haben Sie im November runde gespielt. Vielleicht kann Bayer Le- den Beratungen? beim Spiel gegen Dortmund die Proteste verkusen auch eine Rolle spielen. Um die Rummenigge: Der wichtigste Gedanke ist: gegen die Super League wahrgenommen? Spannung besser in die Wohnzimmer der Wie wirkt sich jede Veränderung auf den Rummenigge: Die habe ich natürlich zur Fans zu transportieren, könnte das Fern- Fußball aus? Wird etwas infrage gestellt, Kenntnis genommen. Das Engagement sehen möglicherweise auch ein paar Dinge fügt das dem Sport möglicherweise Scha- der Fankurven führt auch dazu, dass man verändern. In der Premier League werden den zu? Dann empfehle ich, es nicht zu das eine oder andere überdenkt. die Spiele von weiter unten, näher am machen. Alle rennen immer dem Geld hin- SPIEGEL: Finden Sie die deutschen Fuß- Feld, gefilmt. Da sind die Kameras mehr terher. Aber wohin geht dann dieses Geld? ballfans zu konservativ? in Bewegung, es gibt mehr Nahaufnahmen Es ist ja nicht so, dass wir jetzt eine Ge- Rummenigge: Es gibt eine generelle, ge- von Spielern. Theoretisch kann man das winnexplosion hätten und unsere Aktio- sellschaftspolitische Entwicklung, so eine auch hier einführen. Aber da wird es wie- näre daran partizipierten. Das Geld wan- romantische Rückbesinnung auf Tradition. der Diskussionen geben, wer diese Inves- dert in die Spielergehälter und Berater - Nehmen Sie den Streit um die Montags- titionen trägt. honorare. Am wichtigsten wird es sein, spiele in der Bundesliga, die wieder abge- SPIEGEL: Dieses Jahr haben erstmals alle dass der Europapokal nicht an den Wo- schafft wurden. Da ist auch verpasst wor- Meister der fünf größten Ligen Europas chenenden ausgetragen wird. Denn das den, es den Fans transparent zu vermitteln ihre Titel verteidigt. Liegt das daran, dass, würde einen zu großen Kampf mit den na- und sie mitzunehmen. Sie sind bei uns kri- außer in Deutschland, überall Investoren tionalen Ligen erzeugen. tischer als in anderen Ländern. in den Klubs bestimmen dürfen? SPIEGEL: Aber 2016 haben Sie Rummenigge: Diese Eigentü- doch noch gemeinsam mit dem merstruktur wäre von relativ Italiener Andrea Agnelli Wo- geringer Bedeutung, wenn FFP, chenendtermine für die Cham- die Financial-Fair-Play-Regeln, pions League gefordert. konsequent und seriös umge- Rummenigge: Nein, habe ich setzt würden. Dafür hätten wir nicht. eine stabile Gesetzgebung ge- SPIEGEL: In den Football-Leaks- braucht, doch es gab nicht ge- Daten findet sich eine von Ihnen nug Rückendeckung aus der und Herrn Agnelli unterschrie- Politik. Als die Uefa 2014 ge- bene Mail, in der Sie genau das gen Manchester City und Paris fordern – um die »Anforderun- Saint-Germain ermittelt hat, gen des breitesten globalen Pu- kam von den Klubs immer blikums zu erfüllen«. die unterschwellige Drohung: Rummenigge: Ich bin nicht über Wenn wir gegen das FFP vor Nacht vom Saulus zum Paulus ge- dem Europäischen Gerichtshof worden. Die Forderung nach Wo- klagen, werdet ihr mit Pauken chenendspielen weise ich von mir. und Trompeten verlieren. SPIEGEL: Sie verhandelten da- SPIEGEL: Die Uefa hat keine mals mit der Uefa um ein neu- wirkliche Handhabe in ihren es Champions-League-Format. Untersuchungen. Sie kann die Wurde die Mail als Drohszena- Klubs nur darum bitten, den Er- rio eingesetzt? mittlern Unterlagen zur Verfü-

Rummenigge: Die Uefa hatte / DDP IMAGES STAR-IMAGES gung zu stellen. damals keinen Präsidenten, sie Meistertrainer Kovač: »Der Erfolg ist Teil unserer Klub-DNA« Rummenigge: Aber wir leben war führungslos. Man hat uns in einer Fußballwelt, die trans- vorgeworfen, dass wir als kleine parenter geworden ist und die Gruppe unsere Interessen durchgedrückt SPIEGEL: Nehmen Sie wahr, dass durch Gefahr birgt, dass solche Dinge aufge- hätten. Aber wir mussten handeln. Prak- Bayern Münchens siebte Meisterschaft in deckt werden – wie im Fall Manchester tisch zur selben Zeit gab es ziemlich lukra- Folge die Kritik an dem Niedergang des City von Ihnen. Und das ist dann für tive Anfragen für eine Super League. Wettbewerbs in der Bundesliga noch mal manchen Verein der Super-GAU. Stellen SPIEGEL: Von wem ging das aus? größer geworden ist? Sie sich vor, was bei Manchester City los Rummenigge: Vor allem die Spanier hat- Rummenigge: Ja, aber wir hatten ja im- wäre, wenn das Team in der nächsten Sai- ten da ziemlich große Offerten liegen. Es merhin zum ersten Mal nach sechs Jahren son nicht an der Champions League teil- war für uns nach kürzester Zeit klar, dass Dominanz wieder ein spannendes Meis- nehmen würde! wir daran nicht teilnehmen würden, egal terschaftsrennen. Ich kann mich erinnern, SPIEGEL: Wann haben Sie das letzte Mal wie viel wir dort verdienen könnten. Wir wie wir 2014 im März Meister geworden einem Fußballspiel zugeschaut, ohne an gehören zur Bundesliga, da führt kein Weg sind. Da habe ich in Berlin im Winterman- Geld denken zu müssen? dran vorbei. tel gesessen und schon die deutsche Meis- Rummenigge: Während eines Spiels den- SPIEGEL: Einige nennen die Super League terschaft gefeiert. Das ist langweilig. ke ich nie an Geld, nur an Fußball. die Endstufe der Fußballevolution. SPIEGEL: Wie soll die Bundesliga wieder SPIEGEL: Herr Rummenigge, wir danken Rummenigge: Ich glaube, dass die Super spannender werden? Ihnen für dieses Gespräch. League – wenn überhaupt – nicht so Rummenigge: Wir brauchen mehrere schnell kommen wird. Zu meinen Lebzei- Teams, die um den Titel mitspielen kön- ten wird die Champions League nicht ab- nen. Aber ich habe auch den Eindruck, Video Wenn Rummenigge geschafft. Dortmund oder Bayern könnten dass es in den nächsten Jahren besser wer- spricht sich derzeit gar nicht erlauben, an einer den könnte. Borussia Dortmund hat ja spiegel.de/sp232019rummenigge Super League teilzunehmen. Das würde bereits auf dem Transfermarkt ordentlich oder in der App DER SPIEGEL hier zu einer Revolution führen. gefischt. RB Leipzig hat eine starke Rück-

98 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 IN DER

STIMMT NUR DER WETTERBERICHT.

DAS WÄRE DEIN LEBEN OHNE PRESSEFREIHEIT.

WWW.REPORTER-OHNE-GRENZEN.DE/SPENDEN se ArtanPalmherzen. Guinea gelangen auf die- den konnten. Schimpansen in ten, bevor siegefressen wer- Stock zerstückelt werden muss- so hart,dasssieerstmiteinem 100 Verhaltensforschung Nachäffen istmenschlich an. Sie schwer zugänglichen Kartoffeln senwaisen inSambialeben,eineBox mit Tieren, die ineinemGehege fürSchimpan- Forscher vierGruppenvon halbwilden viduell aufsNeue erlernen.Dazuboten die oderihnindi voneinander abkupfern – - ob dieTiere denGebrauch derWerkzeuge und ClaudioTennie wollten nuntesten, Die Tübinger Wissenschaftler ElisaBandini nutzen dabeiunterschiedliche Techniken. essbar zumachen;verschiedene Gruppen um anNahrung zugelangen oderumdiese Schimpansen benutzen Werkzeuge, der Nationale Wetterdienst mehrals500 Tornados gezählt. Einesolche Häufunggab esseit 2011nichtmehr. heimgesucht wird. Hiertobt solch einUnwetter überdemtexanischen Tahoka. Indenvergangenen 30Tagen hat Tornado Alley, Wissenschaft+Technik waren gekocht, abernoch »Wo kommt ihrher?«Alcockantwortete: »AusAmerika.« DieIren hielten dasfüreinenWitz. so nennendieAmerikanerdenKorridor imZentrumderUSA, derhäufigvon Wirbelstürmen »sozialen Lernen«,einerArtgemeinsam Stock dieKartoffeln bearbeiten mussten. brachten sichselbst bei,wiesiemitdem nicht. Drei dervierSchimpansengruppen Die sambischen Tiere kannten dieTechnik entscheidende. »Nur erkannzueinerVer- zum absichtlichenNachahmen abersei der von diesem Ad-hoc-Werkzeuggebrauch entstehender Problemlösung. DerSchritt Die Affen profitierten zwar generell vom menschlicher undTierkultur«, so Tennie. ist derwesentliche Unterschied zwischen Nachahmen derTechnik anderer. »Das und kein Fähigkeit derSchimpansen ist– der Werkzeuggebrauch einenatürliche besserung derTechnik führen.« Anders Für Tennie einHinweis darauf, dass als beidenStöcken oder Steinen der Primaten stecke inmenschlichem Werkzeug oft Know-how, dassich erst ausderWeiterentwicklung eines simpleren Gegenstands ha - be heranbilden können. KK Fußnote Lux Mensch sehr unterschiedlich. reagierte, war von Mensch zu bel derEinzelne dabeiaufdas Licht sensi - Wie wurde. ausge schüttet über eine Stunde später vermehrt manchen Probanden erstweit führten dazu,dassdasHormon bei ein recht schummriger Schein, bourne heraus. Selbst30Lux,also der Monash University inMel- ten verzögern. Dasfanden Forscher Melatonin ummehrals100 Minu- Ausschüttung desSchlafhormons können bereits denAnstiegder abends zuHause eingestellt ist– wie dasLichtbeivielenMenschen 50 eectnstre–so hell, Beleuchtungsstärke – ‣S. 105

JASON WEINGART

OKAPIA Städtebau Wir müssen bedenken: Wir bauen nicht Holz sicher für ein positiveres, wärmeres mehr für die Ewigkeit. Der Digitalstan- Image sorgen. »Holz ist die dard von heute kann in 15 oder 20 Jahren SPIEGEL: In anderen Ländern versteckt schon wieder veraltet sein. Dann kann man Mobilfunkmasten gern in Palmen - bessere Lösung« man aus dem Holz wieder Energie attrappen oder baut sie gleich vollständig gewinnen, es wird vollständig wiederver- in Kakteen aus Plastik ein. Hatten Sie und Christopher Robeller, 38, wertet. Ganz anders als beispielsweise Ihre Studenten bei den Entwürfen Ähnli- ist Juniorprofessor für Beton, das ein Zement-Sand-Gemisch ist ches im Sinn? Vielleicht eine Funkmast- Architektur und leitet und in dieser Hinsicht viel schlechter ab - Linde? die Arbeitsgruppe Digi- schneidet. Robeller: Wir wollten mit den Entwürfen taler Holzbau an der SPIEGEL: Viele Menschen haben Sorge nichts verstecken, sondern sind im Gegen- Technischen Uni versität vor der Strahlung von Sendemasten. Soll teil das Thema offensiv angegangen: Ein Kaiserslautern. Mit sei- das Holz etwa auch helfen, ihnen die Sendemast ist ein Sendemast und kein nen Studenten entwi- Angst vor der vermeintlich bösen Technik Baum. Und trotzdem kann er eine Stadt ckelte er Ideen, wie Sendemasten für den zu nehmen? verschönern. Wer sagt, dass er nur so Mobilfunkstandard 5G aussehen könnten. Robeller: Der Mobilfunk wird tatsächlich dastehen muss? Er könnte auf öffentlichen eher als kalte Technologie empfunden. Plätzen im Sommer auch Schatten spenden SPIEGEL: Herr Robeller, warum sollten Da kann so ein organisches Material wie oder gleich mit als Paket station dienen. KK Funkmasten aus Holz sein? Robeller: Für 5G wird es vermutlich wesentlich mehr Sendemasten brauchen als bisher, die dann auch überall sichtbar in den Städten stehen. Wie die aussehen, ist eine wichtige Frage, wenn wir überle- gen, wie wir den öffentlichen Raum in Zukunft gestalten wollen. SPIEGEL: Ist Holz überhaupt haltbar genug? Verwittert es nicht viel zu schnell? Robeller: Das ist ein weit verbreiteter Irr- tum. Holz ist oft die bessere Lösung. Es ist ein hochmoderner, leistungsfähiger Werkstoff. In der Schweiz stehen Holz- häuser, die sind mehr als 800 Jahre alt. Und man kann sich denken: Damals hat bestimmt noch niemand chemischen Holzschutz eingesetzt. SPIEGEL: Sollten wir nicht eher weniger Bäume fällen als mehr?

Robeller: Holz ist ein nachwachsender KAISERSLAUTERN UNIVERSITÄT TECHNISCHE Rohstoff mit einer guten CO -Bilanz. Schattenspendende Sendemasten (Computergrafik) ²

Einwurf Raus damit

Weshalb Eltern sich vor ihren Kinder streiten dürfen

Eins vorneweg: Der Papst ist anderer Meinung. Als er kürzlich in los ist, geben sie sich womöglich selbst die Schuld. Schlimm der Sixtinischen Kapelle taufte, drückte er zwar Verständnis dafür genug. Doch das Problem ist noch größer. Eine Studie ergab aus, dass Eltern sich manchmal uneins seien. »Aber macht es so«, jetzt: Wer nicht gelegentlich vor seinen Kindern Emotionen sagte er, »dass die Kinder es nicht hören, dass sie es nicht sehen – zeigt, riskiert, dass sie schlecht lernen, wie man die eigenen Ge - ihr kennt nicht die Angst, die ein Kind bekommt, wenn es die El tern fühle reguliert und Konflikte löst. Eltern, die sich verstellten, streiten sieht.« So erhielten die Mütter und Väter den nicht ganz steckten die Kinder in Experimenten mit ihren negativen Emo- neuen Tipp: Schluckt den Ärger runter, bis die Kleinen im Bett sind. tionen an – ob sie es wollten oder nicht. Man weiß, dass es schon Ganz gleich was man davon hält, Erziehungsratschläge vom Babys stresst, wenn das Gesicht etwa der Mutter zur Maske Pontifex zu bekommen: Was es bisweilen für Mühe kostet, sich wird, hinter der sie ihre Gefühle versteckt. Auf der anderen vor den Kindern zusammenzureißen, haben schon fast alle Seite: Ungezügelte Wut stresst auch. Eltern erlebt. Wer sich auf diese Weise davon abhält, herumzu- Wie streitet man nun richtig? Was raten Forscher? Dass Kin- brüllen und Geschirr zu zerschlagen, tut damit wahrscheinlich der durchaus mal mitbekommen dürfen, wie ein konstruktiver, das Richtige. Doch wer einer Wut, die seit Tagen oder Wochen kultivierter Streit aussieht. Ohne Gewalt, ohne persönliche Belei- schwelt, damit begegnet, dass er den Kindern immer weiter heile digungen. Dass man ihnen erklären kann, um was es geht und Welt vorspielt, tut wahrscheinlich das Falsche. Ist Streit im wie man das Problem löst. Auch richtig streiten will gelernt sein. Anmarsch, riechen Kinder Lunte. Erklärt ihnen niemand, was Von Eltern wie von Kindern. Kerstin Kullmann

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 101 102 Hybridkreuzer »Roald Amundsen«, »Fridtjof Nansen« auf der Kleven-Werft im norwegischen Ulsteinvik Hybridkreuzer »Roald imnorwegischen Amundsen«, »FridtjofNansen«auf derKleven-Werft

ILJA C. HENDEL / DER SPIEGEL Wissenschaft Käpt’n Grünbär

Verkehr Der Kreuzfahrttourismus boomt – und schadet massiv der Umwelt. Die meisten Reedereien verfeuern skrupellos Schweröl. Dabei geht es auch anders: Ein paar Pioniere setzen auf Hybrid- und Gasantriebe. Wie öko kann die maritime Spaßgesellschaft werden?

er höchste Flachbildschirm der dienst verzichten möchte, hängt die Karte Neupreises eines großen Kreuzfahrtschiffs: modernen Seefahrt wird 17 Meter mit der Aufschrift »Green Stay« an die »Die entscheidenden Mehrkosten verur- D emporragen. Über sieben Ge- Außen tür. Das spart Waschmittel, Energie sacht der Tank.« Die gigantischen Methan- schosse hinweg können die Passa- und Geld, das Hurtigruten wiederum gu- behälter, in denen der Brennstoff tief- giere der MS »Roald Amundsen« aus ten Zwecken zuführt. gekühlt und somit flüssig gelagert wird, gläsernen Aufzügen auf die Flimmerfläche »Wir sind Teil einer umweltschädlichen nehmen ein Vielfaches des Raums ein, den blicken. Industrie«, räumt Ege ein, »aber wir sind ein Dieselbunker mit gleichem Energie- Abbilden wird der LED-Gigant wohl oft die Einzigen, die strengere Regeln for- gehalt benötigt. das Gleiche, was der Reisende beim Blick dern.« Als Beispiel nennt er den Verzicht Kohlmann ist verantwortlich für die Er- aus dem Fenster oder von einem der Bal- auf Schweröl: Seit zehn Jahren setzt Hur- probung und Einführung moderner An- kone zu sehen bekommt: die Naturpara- tigruten den verpönten Kraftstoff, bei des- triebstechniken bei Carnival Maritime, diese der Arktis und Antarktis. sen Verfeuerung Schwefelverbindungen eine Art Käpt’n Grünbär der Firma. Mit Ökoaffine Bildungsbürger mit besonde- und andere Schadstoffe entstehen, nicht der Havarie des italienischen Kreuzfahrt- rem Hang zu Polargebieten sind die Ziel- mehr ein – auch dort nicht, wo es erlaubt schiffs »Costa Concordia« im Januar 2012 gruppe der norwegischen Reederei Hurtig - ist. Bis zur Antarktis, sagt Ege, fahre die vor der Insel Giglio war der Konzern auch ruten. Und das neue Flaggschiff, ein Expe- Reederei mit dem teureren Marine diesel moralisch auf Grund gelaufen und entdeck- ditionskreuzfahrer mit eismeertauglichem te die Ökotechnik als Schlüssel zu einer Bug und Platz für gut 500 Passagiere, soll neuen Identität. Die Entsorgung des Wracks dem bislang unerfüllten Traum von der Mit reiner Batteriekraft geriet zu einer Umweltaktion von fast nachhaltigen Seereise ein wenig näher kämen die Expeditions- bizarrer Gründlichkeit. Sie kostete 1,5 Mil- kommen: Sein großer technischer Trumpf touristen keine liarden Euro, etwa dreimal so viel wie ein ist nicht der Riesenbildschirm, sondern Neubau des havarierten Schiffstyps. eine stattliche Ansammlung von Batterie- 50 Kilometer weit. Kohlmann widmet grünen Technolo- zellen, verteilt auf Regalwände in zwei gien ein wachsendes Budget. Zu den For- dunklen Stauräumen unter Deck. schungsprojekten zählt die Nutzung der Die »Roald Amundsen« wird den Fahr- und nehme dabei Mehrkosten von bis zu Abwärme aus Kühlmittel und der Auspuff- dienst am 27. Juni als erstes Kreuzfahrt- 15 Millionen Euro pro Jahr in Kauf. anlage zur Energieeinsparung. Auch hier- schiff mit Hybridantrieb antreten, jenem Vorbildlich ist das allemal, wenngleich bei seien Erdgas und nahezu schwefelfreier Zusammenspiel von Elektro- und Verbren- sich das skandinavische Unternehmen Marinediesel hilfreich: »Die sauberen nungsmotor, mit dem Toyota auf der Stra- nicht als einzige Reederei der Welt im Sin- Kraftstoffe machen eine größere Abküh- ße punktete. Genau diese Technik soll nun ne der Nachhaltigkeit verdient gemacht lung des Auspuffs ohne Korrosionsschä- auch Schiffe sparsamer machen, laut Pro- hat. Carnival, einer der globalen Groß- den möglich.« gnose von Hurtigruten um 20 Prozent. transporteure der maritimen Spaßgesell- Die Hybridtechnik, auf die Hurtigruten »Wir sind die grünste Kreuzfahrtreede- schaft, ging bereits einen großen Schritt nun setzt, interessiert Kohlmann ebenfalls. rei der Welt«, sagt Hurtigruten-Sprecher weiter und setzte mit der »Aida nova« das In drei Jahren, so sein Wunsch, soll eine Rune Thomas Ege, wobei er anmerkt, dass erste Kreuzfahrtschiff mit Erdgasantrieb Pilotanlage in einem der Carnival-Schiffe ihm eigentlich schon der Begriff »Kreuz- ein. Zehn weitere Modelle mit dieser An- laufen. Doch was das von den Norwegern fahrt« missfalle. Das Unternehmen starte- triebsart sollen bis 2025 folgen. propagierte Einsparpotenzial von 20 Pro- te im späten 19. Jahrhundert als Postschiff- Methan, das Molekül, aus dem Erdgas zent angeht, ist der Ingenieur skeptisch: linie und hält noch heute auf den Schiffen, im Wesentlichen besteht, ist die klima- »Ein Schiff fährt nicht wie ein Auto.« So die die Küstenroute bedienen, Kabinen für freundlichste aller fossilen Ressourcen, sei das Einfangen von Bremsenergie, der den öffentlichen Transportdienst frei – sub- denn sie enthält weit weniger Kohlenstoff physikalische Clou des Hybridsystems auf ventioniert vom Staat Norwegen. als Erdöl, aus dem Benzin und Diesel ge- der Straße, im Wasser kaum möglich. In ihrem wachsenden Geschäftsfeld, wonnen werden. So entstehen bei der Ver- Den größten Effekt erwarten sich die das die Reederei »Expeditionsseereisen« brennung im Motor auch deutlich gerin- Ingenieure von Hurtigruten durch das nennt, ist sie inzwischen Weltmarktführer. gere Mengen schädlicher Abgase. Selbst »Peak Shaving«. Häufig braucht ein Schiff Statt Diskotheken und Klettergärten gibt ohne Katalysatoren und Filter kommen abrupt mehr Energie, etwa beim Manö- es Vorlesungsräume an Bord, in denen mit- aus dem Schornstein eines mit Erdgas be- vrieren oder plötzlichen Zuschalten star- reisende Wissenschaftler von den Leiden triebenen Schiffs kaum noch messbare An- ker Stromverbraucher. In diesem Fall muss der Ökosysteme berichten, die der natur- teile von Ruß und Stickoxiden – und über- bislang häufig ein zusätzlicher Motor an- verbundene Premiumkreuzfahrer sorgen- haupt kein Schwefel. Das einzige Problem: geworfen und kurz darauf wieder gestoppt voll durchmisst. Ein solches Schiff ist teuer. werden, was Verschleiß und Verbrauch in Es gibt keine Plastikbecher auf den Etwa 25 Millionen Euro, schätzt Carni- die Höhe treibt. Schiffen, dafür reichlich ökokorrekte Er- val-Manager Jens Kohlmann, kommen an Mit der ausgleichenden Kraft aus den mahnungen. Wer auf den Kabinenputz- Baukosten hinzu, etwa drei Prozent des Akkuregalen kann solches maschinelle Ge-

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 103 Expedition mit Strom Baujahr...... 2019 Besatzungs- 4 Die Technik Länge in Metern.....140 mitglieder...... 151 der MS »Roald Breite in Metern....23,6 Passagierzahl...... 530 Amundsen« Decks ...... 12 Motorleistung in Kilowatt ....4 x 3600 Geschwindigkeit in Knoten ...... 15 Batteriekapazität in Megawatt- stunden ...... 1,2 bis 6

Quelle: Hurtigruten 1 2 1 Schrauben Sie werden wie bei den meisten Schiffen dieser Größe 3 nicht direkt von den Dieselaggregaten, 2 sondern von Elektromotoren angetrieben. 2 Batteriepuffer 3 Hybridantrieb Sie unterstützen den Dieselantrieb und Vier Dieselmotoren treiben Generatoren liefern kurzzeitig mehr Leistung, etwa beim an, die die Batterien aufladen und 4 Abgase Manövrieren. In Häfen ohne Landstrom ver- den Strom für die Elektromotoren der Anstelle des sonst üblichen Schweröls sorgen sie das Schiff über mehrere Stunden. Schiffsschrauben erzeugen. wird schwefelarmer Marinediesel verbrannt. zappel elegant unterbunden werden. Auch In den Genuss der maritimen Biokost Nansen, ist bereits in Produktion und soll in Häfen, die keinen oder einen zu schwa- wird allerdings nur der Teil der Flotte im kommenden Jahr in Dienst gestellt wer- chen Stromanschluss haben, wird der bord- kommen, der die traditionelle Küstenrou- den. Kundig und stolz führt Kai Albrigtsen eigene Stromspeicher nützlich sein und te bedient. Denn Gasschiffe brauchen eine durch den Rohbau des entstehenden Lu- das Schiff über eine Nacht hinweg abgas- Infrastruktur an Flüssiggastankstellen – xusliners. 700 Kilometer Kabel werden und lärmfrei mit Energie versorgen. und die wird in Europa gerade langsam am Ende verlegt sein. Ein Kransystem Hurtig ruten wird diesen Modus »Silent aufgebaut. Reisen in die Antarktis, wie kann Schlauchboote von Bord lassen, wo Night« nennen. sie die »Roald Amundsen« vorhat, sind immer die Passagiere der arktischen Natur Doch während der lauten Tage und mit Gasantrieb noch nicht zu bewerk- noch etwas näher kommen möchten. Die Nächte auf hoher See, wenn das Schiff ein- stelligen. Beibootflotte erinnert ein wenig an die fach nur fährt und fährt, kann der E-An- Das Flaggschiff der Hurtigruten-Flotte Kampfgeschwader von Greenpeace und trieb nichts Nützliches tun, schon gar nicht wird also weiterhin Diesel verfeuern, soll zuweilen auch in artverwandter Mis- die ganze Fuhre über lange Zeit allein be- wenn es denn endlich losfährt. Mit einem sion zum Einsatz kommen: Albrigtsen be- wegen. Die »Roald Amundsen« wird über Jahr Verspätung wird die Kleven-Werft richtet von Passagieren, die bei früheren rund 1,2 Megawattstunden chemisch ge- den Hybridkreuzer ausliefern, wenn alles Ausflügen stundenlang Plastikmüll von speicherte Energie verfügen; Platz ist in gut geht. Gebuchte Fahrten wurden bereits den Küsten klaubten. den Akkukojen für das Fünffache – doch abgesagt, Tickets zurückerstattet; und Der 55-Jährige hat eine außergewöhn- selbst damit würde die Elektroexpedition misslicherweise kann Hurtigruten den liche Karriere bei Hurtigruten gemacht: keine 50 Kilometer weit kommen. Schiffbauer nicht einmal in Regress neh- 1980 begann er seinen Dienst als Küchen- Ein reiner Stromkreuzer für die große men, da die Reederei Eigentümer der junge. In diesem Jahr wird er als Kapitän Fahrt ist Illusion. Hurtigruten wird deshalb Werft ist. das Kommando über die »Roald Amund- auch auf Erdgas setzen. Die Umrüstung »Der Zeitplan war zu ambitioniert« sagt sen« übernehmen. Offen und freundlich von sechs Schiffen auf einen Methan- Kleven-Chef Olav Nakken. Vor allem war beantwortet er alle Fragen, auch die deli- Hybridantrieb ist bereits geplant: 800 Mil- der Betrieb im beschaulichen Ulsteinvik kateste. lionen Euro soll die grüne Flottenrenovie- bei Ålesund ein wenig aus der Übung. Was schluckt so ein Schiff? rung kosten. Für die Gastanks sollen vo- Über mehr als ein Jahrzehnt hatte er vor- Im Durchschnitt, sagt der Kapitän, seien raussichtlich Autostellplätze weichen, was wiegend Spezialschiffe, etwa für den Ein- es 86 Liter Marinediesel pro Seemeile. Das schon wieder eine nette grüne Geste wäre. satz an Ölplattformen, produziert. Die ergibt etwa 4600 Liter auf 100 Kilometer, Und auch an einen ganz und gar nach- Komplexität eines modernen Passagier- bei voller Belegung also pro Passagier haltigen Ersatz der fossilen Ressource ist schiffs zu beherrschen, in dem am Ende knapp 9 Liter. gedacht. Methan lässt sich in vergleichs- von Hunderten Nachttischlampen bis zum Auf der Reise durch die schmelzenden weise simplen Prozessen aus Biomasse LED-Kino alles montiert sein muss, ist Polarparadiese hat der Expeditionstourist und organischen Abfällen gewinnen. Mitte eine Kunst für sich. gute Gründe, sich auch mit der unbeque- Mai gab die Reederei einen Vertragsab- Und die »Roald Amundsen« wird ein men Wahrheit zu befassen, dass er selbst schluss mit dem norwegischen Biogaspro- – für den Maßstab von Hurtigruten – mon- ein Teil des Problems ist. Christian Wüst duzenten Biokraft bekannt. Einen Teil ih- dänes Gefährt sein. Sie hat zwar noch res Kraftstoffbedarfs soll künftig syntheti- nicht ganz die Ausstattung der Bespa- Video sches Gas decken, das aus Fischabfällen und ßungsgiganten anderer Reedereien, aber Im Maschinenraum anderen organischen Reststoffen gewonnen immerhin schon Luxussuiten mit eigenem des Hybridschiffs wird. »Unsere Schiffe werden buchstäblich Whirlpool. spiegel.de/sp232019kreuzfahrt von der Natur angetrieben werden«, er- Ein nahezu identisches Schwesterschiff, oder in der App DER SPIEGEL klärte Hurtigruten-Chef Daniel Skjeldam. benannt nach dem Arktiserkunder Fridtjof

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Mühevoll war der mit 4000 Litern Sprit endlich besserte, erkannte Alcock, dass er Tollkühne schwerstbeladene Bomber in St.John’s ab- den Horizont nicht unter, sondern vertikal gehoben, nur knapp überwand er Bäume neben sich hatte. Jetzt reagierte er blitz- und Dächer. Nach acht Minuten Flugzeit schnell, aber bis er die Maschine im Griff Männer war er gerade mal in eine Höhe von hatte, war ihre Flughöhe auf keine 20 Me- 300 Metern vorgedrungen. Meteorologen ter gefallen. »Es schien«, schrieb Brown, hatten Alcock und Brown passables Flug- »als ob wir die Schaumkronen der Wellen Luftfahrt Vor 100 Jahren gelang wetter vorhergesagt, doch weit gefehlt: In anfassen könnten.« zwei Briten der erste Nonstop- ihrem offenen, nur von einer Windschutz- Dann, wieder hoch oben, bemerkten scheibe geschützten Cockpit stießen sie die beiden, dass Schnee eine wichtige An- Flug über den Atlantik. Warum bald auf Regen, Schnee, Hagel, dichten zeige bedeckte, die auf einer Verstrebung gerieten die forschen Pioniere Nebel und heftige Turbulenzen. zwischen den Flügeln angebracht war. Für in Vergessenheit? Das Meer sahen sie selten, ebenso we- dieses Problem gab es nur eine Lösung. nig den Horizont und die Sterne. Nur hin Brown kletterte aus dem Cockpit heraus und wieder konnte Brown mit seinem Sex- und kniete, dem eisigen Fahrtwind trot- r flog von New York nach Paris, ganz tanten die Position des Doppeldeckers be- zend, auf dem Rumpf, mit der einen Hand E allein in 33,5 Stunden. Diese Leis- stimmen, wie er in einem 1920 erschiene- hielt er sich fest, mit der anderen klopfte tung machte den jungen Amerikaner nen Buch erzählte. Die meiste Zeit verließ er den Schnee von dem Instrument. Charles Lindbergh 1927 schlagartig welt- er sich bei der Navigation auf sein Gefühl, Gegen 8.15 Uhr war es so weit: Nach berühmt. Viele Menschen glauben bis heu- »ich hoffte auf das Beste«. mehr als 3000 Kilometern in meist diesi- te, dass Lindbergh der erste Transatlantik- Brown saß links, Alcock rechts, aber ger Luft sahen sie Land. Um 8.40 Uhr setz- flieger war – doch das ist falsch. unterhalten konnten sie sich nicht. Zu laut ten sie sanft auf, doch unglücklicherwei- Die ursprünglichen Hel- se erwies sich die schein- den sind fast vergessen – bar ideale Landestelle als eine Ungerechtigkeit der feuchtes Moor. Dennoch: Geschichte: Vor 100Jah- Sie hatten ihre Mission ren, am 15. Juni 1919, erfüllt. Die »New York landete ein umgerüsteter Times« berichtete auf der Weltkriegsbomber vom Titelseite über die Atlantik- Typ Vickers Vimy in einem bezwinger. Der britische Moor nahe der Stadt Clif- Luftfahrtminister Winston den in Irland. Als der zwei- Churchill überreichte ih- motorige Doppeldecker aus nen das »Daily Mail«- Holz und Stoff mit der Preisgeld. König George V. Nase voran im Morast ver- schlug sie umgehend zu sackte, krochen zwei un- Rittern. Stundenlang ga- verletzte Männer heraus, ben Sir John und Sir Ar- der englische Pilot John thur Autogramme. Alcock, 26, und sein Navi- Warum also wurde den gator Arthur Brown, 32. Männern, anders als Lind- Helfer eilten hinzu und bergh, nie bleibender Ruhm fragten: »Wo kommt ihr zuteil? Lindbergh selbst her?« Alcock antwortete: hat sich bei ihnen aus - »Aus Amerika. Gestern wa- drücklich bedankt. Nach ren wir in Amerika.« seiner Landung in Paris Die Iren hielten das für sagte er: »Alcock und einen Witz. Brown haben mir den Weg

Doch tatsächlich: 16 Stun- / INTERFOTO GRANGER, NYC gezeigt.« den und 28 Minuten hatten Piloten Alcock, Brown 1919 Die Route New York–Pa - Alcock und Brown in der Schnee und Hagel im offenen Cockpit ris faszinierte das staunen- Luft verbracht, womit sie de Publikum offenbar stär- gleichzeitig den Rekord für ker als die nur halb so wei- den bis dahin längsten Langstreckenflug brüllten die Motoren. Nach dem Start zer- te Strecke der Pionierflieger. Lindberghs aufstellten. An Bord befand sich ein Sack legte sich auch noch ein Auspuff, sodass Flugzeug, die »Spirit of St. Louis«, war voller Briefe, die kurz zuvor in St. John’s der rechte Motor fortan »wie ein Maschi- technisch moderner und glamouröser – auf Neufundland, ihrem Abflugort, abge- nengewehr« ratterte. Brown verständigte und dass er mit nur einem Motor und ohne stempelt worden waren. Noch nie war Post sich mit seinem Sitznachbarn über Gesten Navigator flog, beeindruckte die Men- so schnell zwischen den Kontinenten be- und bekritzelte Zettel. schen damals tief. fördert worden. Kurz vor Sonnenaufgang gerieten sie in John Alcock hatte keine Chance, wei - »Wir hatten eine furchtbare Reise«, be- eine so dichte Wolke, dass sie nicht einmal tere Großtaten zu vollbringen. Ein hal - richtete Alcock kurz darauf in der Londo- mehr den Bug ihres Flugzeugs sehen konn- bes Jahr nach dem Transatlantikflug soll - ner »Daily Mail«. Deren Besitzer hatte ten. Sie verloren mit einem Schlag alle te er eine neue Vickers zu einer Flugschau schon 1913 für die erste, damals komplett Orientierung, gleichzeitig fiel auch ihr nach Paris bringen. In der Normandie utopische Atlantiküberquerung per Flug- Fahrtmesser aus. Momente später erlitt stürzte er am 18. Dezember 1919 in dich- gerät 10000 Pfund ausgelobt, eine Sum- die Maschine einen Strömungsabriss. tem Nebel ab und starb am selben Tag. me, die heute mehr als einer Million Euro Der Bomber kam ins Trudeln und sack- Marco Evers entspricht. te Hunderte Meter ab. Als sich die Sicht

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verstörend anders. In etlichen Ländern werden sie durch Behörden oder Eiferer Satanische Fotos verfolgt und eingeschüchtert. »Es gibt das Vorurteil, dass ungläubige Religionssoziologie An was glauben Ungläubige eigentlich? Gern an Menschen keine Wertvorstellungen hätten, weil ihnen die Religion fehle«, sagt Lois Übernatürliches – eine Expertentagung an einer päpstlichen Lee, Soziologin an der britischen Kent Uni- Universität in Rom hat überraschende Antworten zutage gefördert. versity und wissenschaftliche Leiterin der Studie: »Aber wir widerlegen das.« Sind Ungläubige besonders scharfzün- aul Goo ist irritiert. »Was soll diese mann zu leben, bringt den Kirchennach- gig und lautstark, wie man es noch von Ausstellung?«, fragt er, ein freund- wuchs auf. Doch es gibt auch Zuspruch: Vorzeigeatheisten wie dem britischen Evo- P licher Priester Mitte dreißig aus Ka- »Sehr erhellend«. »Wunderschön«. Und: lutionsbiologen Richard Dawkins kennt? nada, der gerade seine Abschlussarbeit »Es ist so cool, Atheist zu sein :)«. Nein, ergab die Studie, die Selbstsicherheit schreibt. Ein Kommilitone aus Tansania, Hauptattraktion der Atheismuskonfe- der Skeptiker entspricht in etwa der Mei- auch er ganz in Schwarz mit weißem Pries- renz an der »Greg«, wie Studenten ihre nungsfreude im Rest der Gesellschaft. terkragen, ist wütend. Warum muss er sich Uni nennen, war eine repräsentative Um- Lees Befund: Bei zentralen Grundwer- hier an seiner Alma Mater von Ungläubi- frage, die in sechs Ländern durchgeführt ten liegen Normalbevölkerung und Un- gen belästigen lassen? wurde, darunter auch Nationen, die bis- gläubige »erstaunlich dicht beieinander«. Sie meinen die Fotoschau, die hier ge- lang Atheismusforschern viel Kopfzerbre- Die Befragten durften aus einer Liste von zeigt wird, ausgerechnet an ihrer Hochschu- chen bereitet haben: China, Japan und 43 Begriffen auswählen, die sie sinnstif- le, zu Füßen einer marmornen Jesusstatue. Brasilien; Deutschland war nicht dabei. tend finden. »Familie« landete ganz vorn, Auf den Bildern des britischen Fotografen Die Leitfrage: Haben eigentlich auch gefolgt von »Freiheit«. Aubrey Wade sind Ungläubige aus aller Ungläubige etwas, an das sie glauben? Allerdings ist der Begriff »Familie« Welt zu sehen: eine elegante Nō-Schauspie- »Ungläubige« steht dabei meist in Anfüh- durchaus mehrdeutig. Die einen denken lerin aus Japan, zwei eng umschlungene rungszeichen, denn dahinter verbergen dabei an traditionelle Rollenmuster, andere Männer aus Brasilien, eine wild tätowierte sich die unterschiedlichsten Überzeugun- an gleichgeschlechtliche Patchwork-Part- »Chaos-Magierin«, die mit »Fake-Religion« gen, von radikalen Atheisten über mode- nerschaft. Solche Details gilt es genauer zu den Glauben attackiert, sozusagen Weih- rate Agnostiker bis hin zu Humanisten beleuchten – die Ergebnisse der Studie sind wasser mit Weihwasser bekämpft. oder Freidenkern – Unglaube kommt in noch vorläufig, ein Jahr lang wollen die Die Invasion der Gottlosen trug sich die- vielen Facetten vor. Autoren ihren Datensatz detaillierter aus- se Woche im Herzen des Katholizismus Die Ressentiments vor allem gegen werten und abgleichen. zu: an der Gregoriana in Rom. Die päpst- Atheisten hingegen sind, wie es sich für Der Interimsreport hat Schwächen: Lei- liche Universität, an der Goo studiert, gilt ordentliche Ressentiments gehört, eindi- der fehlten in der Befragung europäische als Kaderschmiede des Vatikans, gegrün- mensional: Ungläubige gelten als arrogant, Länder mit einer starken nicht religiösen det im Jahre des Herrn 1551 vom heiligen streitsüchtig, unglücklich und irgendwie Tradition, kritisiert der amerikanische Re- Ignatius von Loyola, dem Spiritus ligionssoziologe Barry Kosmin vom Rector der Jesuiten. Trinity College in Hartford, Natio- Dort, zwischen Kruzifixen und nen wie Frankreich oder die Tsche- Samtsesseln, Nonnen und Papstpor- chische Republik. Vor allem stört ihn träts, trafen sich mehr als 70 Fachleu- und andere Kollegen, dass die reli- te für Atheismus und Agnostizismus gionsfreundliche John Templeton zum Tagungsmotto »Cultures of Un- Foundation das Ungläubigen-For- belief« – Kulturen des Unglaubens. schungsprogramm finanziert hat, Das Thema trifft einen Nerv, mit umgerechnet 2,6 Millionen Euro. denn in westlichen Industrienatio- »Allein schon die Frage nach dem nen laufen den Kirchen die Gläubi- Unglauben ist negativ und toxisch, gen weg. Der Anteil der nicht kon- ich erkenne mich darin nicht wie- fessionell Gebundenen liegt in der«, beschwert sich Andrew Cop- Deutschland bei etwa einem Drittel. son, Chef der internationalen Huma- Weltweit gelten rund 1,2 Milliarden nistenvereinigung mit Sitz in Lon- Menschen laut dem Meinungsfor- don. Und überhaupt, warum findet schungsinstitut Pew Forum als reli- die Konferenz ausgerechnet an einer gionsfern. Also annähernd so viele, päpstlichen Uni statt? wie es Katholiken auf der Welt gibt. Ganz einfach: Der Tagungsort hat Etlichen von Paul Goos’ Kommi- Tradition. Vor 50 Jahren gab es hier litonen erscheint die Fotoausstellung eine Konferenz zu demselben Thema. wie eine gezielte Provokation, eine Es herrschte Kalter Krieg, der Papst Mutprobe boshafter Kirchenhasser. sorgte sich um die Zukunft der Kirche, In einem Pappkarton kann man er richtete ein »Sekretariat für die seinen Kommentar hinterlassen – Nichtglaubenden« ein, das Zweite Va- »Absolut falsch« steht da auf einem tikanische Konzil hatte »den Atheis- Zettel, »Satanisch und peinlich« auf mus als eines der schwerwiegendsten einem anderen. Vor allem das Foto Probleme unserer Zeit« bezeichnet. eines ehemaligen Priesters aus Bra- / DER SPIEGEL WADE AUBREY Heute glaubt in Deutschland nur silien, der sich dem Atheismus zu- Exponat »Chaos-Magierin« rund die Hälfte der Kirchenmit- gewandt hat, um mit seinem Ehe- Die Entzauberung der Welt könnte selbst ein Mythos sein glieder an die Unsterblichkeit der

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Besucher vor Ungläubigenporträts in der katholischen Gregoriana-Universität in Rom: »So cool, Atheist zu sein«

Seele oder an ein Leben nach dem Tod University im nordirischen Belfast. Aber nischer Atheist vom Foto, der als Shinto- (SPIEGEL 17/2019). nicht zwingend in der Studie, sondern viel- priester arbeitet. Wie geht das zusammen? Die Welt wird immer weiter entzaubert, mehr »in der Erwartung, dass Menschen Paul Goo, der kanadische Pfarrer, steht der Glaube verblasst, der Mensch wird ra- ausschließlich rationale Wesen sind«. vor dem Bild und staunt. Daheim in Van- tionaler, so die Überzeugung damals wie »Messiness« nennt Lanman das Phäno- couver, berichtet er, muss er sich stets für heute. Säkularisierung wird dieser Effekt men – das ganz alltägliche Kuddelmuddel seinen Glauben rechtfertigen – allein genannt. im Kopf des Homo sapiens, des angeblich schon wegen der nicht abreißenden Vor- Hier zeigt die neue Studie wieder ein- »wissenden Menschen«. Der im Alltag oft würfe des Kindesmissbrauchs in der ka- mal: Die Entzauberung der Welt könnte widersprüchlich und aus dem Bauch he- tholischen Kirche. selbst ein Mythos sein. Zwar gibt es unter raus handele. Auch Gläubige fragen, für welche den Kirchenmitgliedern auch Atheisten; Wirtschaftswissenschaftler haben den Grundwerte eine Kirche stehe, deren Ver- das ist bekannt. Doch ebenso gibt es viele Modellmenschen relativiert, den »Homo treter sich immer wieder an Minderjähri- Atheisten, die an Übernatürliches glauben. oeconomicus«. Ähnliches geschieht auch gen vergriffen haben, ohne dass sie ge- Selbst unter US-amerikanischen Atheis- mit dem Homo religiosus: Wir sind aus stoppt wurden durch Bibel, Beichtstühle, ten bestreiten nur 35 Prozent die Existenz krummem Holz geschnitzt, das gilt auch Bischöfe. »Der Unglaube liegt bei uns übernatürlicher Phänomene. Unter chine- für jene, die sich als ultrarationale Skepti- förmlich in der Luft«, sagt Goo. sischen Atheisten sind es sogar nur 8 Pro- ker sehen, aber in schwachen Momenten So könnte die Ungläubigenforschung zent. Ähnlich sieht es aus bei der Frage, dann doch an das eine oder andere kleine helfen, der Kirche wieder einen Kompass ob sich der Mensch im Zuge der Evolution Wunder glauben. zu geben: indem die Umfrage Priester an aus anderen Lebewesen entwickelt habe. Diese »Messiness« ist für viele Forscher fundamentale Werte erinnert, daran, was Zwischen 20 und 51 Prozent der Ungläu- frustrierend. Aber sie kann auch erfri- wirklich wichtig ist im Leben. Familie, bigen stimmen dem erstaunlicherweise schend wirken, weil sie den Blick lenkt aber auch Freiheit, Freundschaft, Respekt. nicht zu. Und 18 Prozent der brasiliani- von einer künstlichen Polarisierung zwi- Ein Gott wäre dabei eher optional. schen Atheisten und Agnostiker fühlen schen Gläubigen und Ungläubigen hin zu »Diese Frau ist so lebensbejahend, das sich selbst ganz klar als Christen. fundamentalen Fragen: Wie wollen wir le- spricht mich an«, sagt Goo und rückt sei- Wie kann das sein? Muss das nicht ein ben? Was haben Menschen gemeinsam? nen Priesterkragen zurecht. Er meint das Missverständnis sein, ein Messfehler? Einige Bilder der Ausstellung im Foyer Foto der tätowierten »Chaos-Magierin«. Ja, einen Fehler gebe es, sagt Jonathan der Greg illustrierten das besser als man- Hilmar Schmundt Lanman, Anthropologe an der Queen’s che Studie. Huldvoll lächelte da ein japa-

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Punkt des Himmels ausrichtete, dessen Ko- ordinaten Frebel eingegeben hatte. Bis zu Wie alles begann hundert Sterne schaffte sie in guten Näch- ten. Lunch gab’s zwei Stunden nach Mit- Astronomie Anna Frebel betreibt Himmelsarchäologie – und stieß ternacht. Das Licht von 1777 Sternen hat Frebel bei ihrer Suche nach den ältesten Sternen auf ein ausgewertet. Einer davon weckte ihr be- gewaltiges Weltenfeuer. Es trug den Keim neuer Galaxien in sich. sonderes Interesse, er trägt den Namen HE 1327-2326. »Irgendwie sah sein Spek- trum anders aus«, sagt die Astronomin. s ward Licht. Es ward Stoff. Es ward lassen. Dann war die junge Astronomin al- »Und tatsächlich: Er erwies sich für mich Gestalt. Und all das geschah inner- lein mit sich. als eine Art Karrieregarantie.« E halb erstaunlich kurzer Zeit. Frebel liebte diese Nächte, selbst dann, Denn es zeigte sich, dass das Licht die- Nach rund 200 Millionen Jahren Fins- wenn Wolken die Sicht versperrten und ses Sterns bei einer Wellenlänge von ternis loderten plötzlich im Universum hel- sie ausharren musste, bis in den frühen 386 Nanometern eine schwache Linie im le Feuerbälle auf. Gerade noch hatte es Morgenstunden der Himmel endlich auf- Violetten aufweist. Solche Absorptions- nichts als öde Schwaden aus Wasserstoff klarte. Manchmal erwischte sie auch eine linien im Spektrum von Sternen verraten, und Helium gegeben. Dann, binnen weni- völlig wolkenfreie Nacht und konnte bei welche Stoffe in ihrer Hülle wabern. Sehr ger Millionen Jahre, gingen daraus Ele- laut wummernder Musik nonstop auf Ster- genau lässt sich so die Zusammensetzung mente, Sterne und Galaxien hervor. Der nenjagd gehen. ferner Sterne rekonstruieren. Stoff, aus dem dereinst Planeten und Surrend bewegte sich dann das ganze Die Linie, die Frebel sah, stammt vom irgendwann auch Leben entstehen wür- Gebäude zusammen mit dem 2,3-Meter- Element Eisen, und dass sie so schwach den, war geboren. Spiegel, während dieser sich auf jenen ist, bedeutet: Dieser Stern ist ungeheuer Ausgerechnet über diese turbulente Um- alt. Bis heute, 15 Jahre nachdem die For- bruchzeit jedoch, in der das Universum scherin erstmals über HE 1327-2326 ge- einen unvermittelten Ausbruch von Schöp- Kosmische Schleuder schrieben hat, zählt er zu den Rekordhal- fungskraft entfaltete, ist das Wissen beson- Wie Ursterne die Bausteine des Alls schufen tern in Sachen Sternenalter. ders dürftig. Es schwingt Wehmut mit, wenn Frebel Die Geschichte des Urknalls selbst kön- von ihrer Zeit am Siding-Spring-Obser - nen die Physiker inzwischen in erstaun- vatorium erzählt. Sie weiß, dass diese licher Detailgenauigkeit berechnen. Doch langen Nächte der Vergangenheit ange- wenn es darum geht nachzuvollziehen, hören – nicht nur weil für sie als allein- wie aus dem »primordialen Gas«, das nach erziehende Mutter das Reisen zu fernen dem Urknall zurückblieb, das heutige Uni- Teleskopen schwieriger geworden ist, son- versum der Sterne und Galaxien wurde, kurzlebiger dern auch weil Beobachtungen wie die sind sie noch immer weitgehend auf Ver- Urstern ihren heute nicht mehr üblich sind. An mutungen angewiesen. kaum einem der großen Teleskope ver- Zwar können die Astronomen mit ihren bringen die Astronomen noch selbst Im jungen Universum verklumpen riesige Gas- Hochleistungsteleskopen viele Milliarden massen, bis in ihnen die ersten Sonnen zünden. die Nächte. Stattdessen sitzen Techniker Jahre zurück in die Zeit schauen. Es gelingt Diese massereichen Ursterne verfeuern ihren Vorrat im Kontrollraum. Die Beobachtungs- ihnen, das Licht sogenannter Quasare auf- an Wasserstoff sehr rasch und stürzen daraufhin erst daten finden die Forscher dann in ihren zufangen, die wenige Hundert Millionen in sich zusammen, um danach in einer Mails. Jahre nach dem Urknall glühten. Doch Supernovaexplosion zu enden. Ihr jüngstes Forschungsprojekt jedoch weiter reicht ihr Blick nicht: Das Licht Während des Sternentods hätte Frebel ohnehin nicht am Instrument bilden sich erstmals zahl- der ersten Sterne ist zu schwach, als dass reiche schwere Elemente. selbst durchführen können. Denn diesmal es sich mit heutigen Geräten nachweisen war sie auf die Scharfsicht des »Hubble«- ließe. Weltraumteleskops angewiesen. Anna Frebel verfolgt deshalb einen an- Erneut nahm Frebel, wie damals in deren Ansatz. Statt direkt in die Vergan- Australien, HE 1327-2326 ins Visier. Doch genheit zu blicken, guckt die Astronomin nun galt ihr Interesse nicht der Eisenlinie. vom Massachusetts Institute of Technolo- Supernova Kollegen aus Japan hatten sich bei ihr mit gy in der Gegenwart nach, was von der einer ganz anderen Frage gemeldet. Vergangenheit geblieben ist – Frebel be- »Kannst du auch Zink nachweisen?«, woll- treibt Himmelsarchäologie. Stern der ten sie wissen. Gerade hat die Forscherin, gebürtig aus zweiten Die japanischen Astrophysiker hatten Generation Berlin, einen wichtigen Fund verkündet: am Computer Tausende verschiedene Sie vermaß das Spektrum eines der ältes- Szenarien durchgerechnet, wie sich Ge- ten bekannten Sterne in bisher unerreichter burt und Tod der ersten Sterne abgespielt Genauigkeit und zog daraus Rückschlüsse Materiejet haben könnten. Am Ende kamen sie zu auf die Dynamik der ersten Sonnen - dem Schluss, dass die Existenz des Ele- explosionen, Supernoven genannt. ments Zink besonders aufschlussreich sein Lange Nächte am Teleskop haben Frebel Neuen Berechnungen zufolge zerbarsten Sterne würde. einst auf die Spur dieses Sterns gebracht. der ersten Generation höchst ungleichmäßig. Schwere Der Nachweis dieses Schwermetalls al- Es war am australischen Siding-Spring- Elemente wie Zink wurden in sogenannten Jets hinaus- lerdings ist schwer zu führen, zumal wenn geschleudert bis in fernste Regionen. Das Metall wirkte Observatorium, in der wohl aufregendsten fortan gleichsam als Kühlmittel im All und beförderte es nur in winzigen Spuren vorkommt. Zeit in Frebels bisherigem Forscherleben. so die Entstehung langlebiger Sterne, die, wie HE 1327- Anna Frebel durchforstete deshalb die Ka- Oft hatten alle anderen das Gebäude ver- 2326, teilweise bis heute strahlen. taloge nach Spektrallinien, die dieses Ele-

108 Erst als Riesenwolken, hundertfach schwe- rer als die Sonne, unter dem eigenen Ge- wicht kollabierten, reichte die Macht der Schwerkraft aus, die Hitze zu überwinden. Umso heftiger war das Inferno, das nun entbrannte: Heiß, hell und kurz war das erste Sternenfeuer. Gierig verschlang es allen verfügbaren Wasserstoff, nach kaum mehr als einer Million Jahren war er aufgebraucht, und die Ursterne kollabierten – um sodann in fulminanten Supernoven wieder auseinan- derzuspritzen. Doch wie vollzogen sich diese frühesten aller Explosionen? Was genau geschah beim ersten Sternentod? Dies ist eine Schicksalsfrage. Denn in der Glut der ersten Supernoven entschied sich, wie es weiterging. Damals entstanden Natrium, Aluminium, Silicium – und bis heute wirkt nach, in welchen Mengen das geschah. Das Element Zink spielt bei alledem eine Sonderrolle. Viel Zink im frühen Uni- versum bedeutet den Rechnungen der Japaner zufolge, dass die ersten super - heißen Riesensterne am Ende ihres kurzen Lebens nicht wie riesige Kugeln in sich zu- sammenkrachten. Denn bei der Implosion wären mons- tröse schwarze Löcher entstanden. Und diese hätten unwiderbringlich alles, was sich im Zentrum eines solchen Sterns be- fand, verschluckt. Besonders Zink hätte einen solchen Kollaps niemals überstehen können. Folglich muss eine solche frühe Super- nova ungleichmäßig abgelaufen sein. Der glühend heiß lodernde Stern wabbelte und rotierte. Bei seinem Tod kollabierte er in einem turbulent-chaotischen Durcheinan- der, bei dem das gierig saugende schwarze Loch im Zentrum zwar viel, doch nicht alles verschlingen konnte. Ein solcher im Todeskampf wirr fla-

KEN RICHARDSON / DER SPIEGEL ckernder Stern sprühte im letzten Augen- Astrophysikerin Frebel: »Eine Art Karrieregarantie« blick mit nuklearer Asche um sich. Wäh- rend ein großer Teil der erbrüteten Elemente auf Nimmerwiedersehen im ment verraten würden. Bei 213,8 Nano- Lieblingsstern HE 1327-2326 richten. Das Schlund des schwarzen Lochs verschwand, metern wurde sie fündig. Ergebnis übertraf alles, was Frebel er- wurde der Rest der Glut ins All geschleu- Licht solcher Wellenlänge liegt jedoch wartet hatte. »Ich weiß noch, wie ich dert. Dort schwelte sie weiter. im UV-Bereich, die Atmosphäre ist dafür die Daten sah und diese Zinklinie hervor- Denn schwere Elemente sind wirksam undurchlässig. Für Frebel war deshalb klar: stach«, berichtet Frebels Mitarbeiterin als Kühlmittel. Geraten sie in primordialen Einzig ein Teleskop im Weltraum würde Rana Ezzeddine. »Ich wollte es nicht Wasserstoff, befördern sie den Kollaps der es auffangen können. glauben.« Gaswolken. So wirken Zink und andere Frebel beantragte also Beobachtungs- Der Befund erlaubt nur einen Schluss: schwere Elemente als Geburtshelfer neuer zeit für den »Cosmic Origins Spectro- Der Moment der Schöpfung ist anders Sterne. graph«, ein Gerät an Bord des »Hubble«. abgelaufen als gedacht. Die Zinklinie im Die Indizien, meint Astronomin Frebel, Sie erhielt eine Absage: 20 Stunden Beob- Sternenlicht dieses stellaren Methusalems deuteten sogar darauf hin, dass sterbende achtungszeit erschien den Hütern des Tele - zwingt die Astrophysiker, die Geschichte Sterne in der einen Galaxie ihr Erbe bis in skops zu lang für die Vermessung eines der Materie umzuschreiben. benachbarte Galaxien spien. einzigen Sternenspektrums. Klar ist: Gerade die Entstehung der ers- Wenn das stimmt, dann hat der Aus- Wieder und wieder versuchte es die ten Sterne war besonders schwierig. Denn wurf des Todes in der einen Welteninsel Astronomin, wieder und wieder wurde ihr das primordiale Gas konnte sich nicht als Keim neuen Lebens in der nächsten Antrag abgelehnt. Dann endlich, im Mai recht zusammenballen. Die entstehende gedient. Johann Grolle 2016, durfte sie das Instrument auf ihren Hitze wirkte jeder Verdichtung entgegen.

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 109 Kultur

Die Erinnerung ist so unregierbar wie egozentrisch. ‣S.116

Szene aus »Burning« CAPELIGHT PICTURES CAPELIGHT

Kino Jong-su, der eine verschwundene Frau sucht. Auf den Spuren der Geliebten taucht er immer tiefer in die Welt der Schönen und Reichen ein. Seine Ange betete hatte nämlich noch einen Im Grenzgebiet Verehrer, den dubiosen Playboy Ben (»The Walking Dead«- Star Steven Yeun in seiner ersten koreanischsprachigen Rol- Barrikaden brennen in dem südkoreanischen Psychothril- le). Aber ist der so reich (und so sadistisch), dass er die Frau ler »Burning« nicht, es sind nur verlassene Gewächshäuser, unbemerkt verschwinden lassen könnte? Nach einer Kurz - die irgendwo zwischen Seoul und der Grenze zu Nordkorea geschichte von Haruki Murakami führt Lee Chang Dong ins in Flammen aufgehen. Trotzdem durchweht der Geist von Grenzgebiet zwischen Nord und Süd, Arm und Reich, Ratio Klassenkampf den Film des Regisseurs Lee Chang Dong. und Paranoia. Wer sich hier nicht mit Genuss um seinen Ver- Erzählt wird die Geschichte des erfolglosen Schriftstellers stand bringen lässt, ist selbst schuld. HPI

Sachbücher er sich im betrunkenen Zustand gern brüs- Warum entsetzt uns eine Figur, die zu Letzte Fragen tete: Niemand könne so schnell wie er ihrer Zeit stets im richterlichen Auftrag einen Menschen enthaupten. Als Henker handelte? Die Juristen, die Reichhart die Am 22. Februar 1943 richtete er Chris- im Ruhestand in den Sechzigerjahren sag- Aufträge gaben, setzten ihre Laufbahn toph Probst, Hans und Sophie Scholl hin te er jedoch: »Ich tät’s nie wie- nach dem Krieg fort. Er hinge- und in den vier Tagen danach 44 weitere der!« Reichhart ist ein Neben- gen starb 1972 isoliert und Menschen – Johann Reichhart, der letzte darsteller der großen Geschich- geächtet, sein Leben war allzu bayerische Henker, handelte nicht aus te, aber in der aufwühlenden bezeichnend für ein Deutsch- ideologischem Antrieb. Nach dem Krieg biografischen Studie, die der land, von dem man in der stand er in Diensten der amerikanischen Autor Roland Ernst unter dem Bundesrepublik nichts mehr Armee und tötete mit derselben hand- Titel »Der Vollstrecker« nun wissen wollte. NM werklichen Effizienz 156 Nationalsozialis- über das Leben Reichharts vor- ten. Am Anfang seiner Laufbahn 1924 legte, ist man schnell bei den Roland Ernst: »Der Vollstrecker. war das amtlich bestellte Töten nur eine letzten Fragen: Wie frei ist der Johann Reichhart. Bayerns letzter Hen- schlecht bezahlte Nebentätigkeit, mit der Einzelne in der Geschichte? ker«. Allitera; 192 Seiten; 19,90 Euro.

110 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Theater was heißt da schon »lesen«. Meyerhoff Nils Minkmar Zur Zeit Meyerhoff wechselt ist ein Ganzkörpervortragender, Schau- spieler seines Lebens und des Lebens Des Menschen Wolf Am Montag konnte man wieder ein- um ihn herum. Er kann zum Beispiel mal erleben, was für eine Sturmgewalt auch über die Art, wie ein Mann Bild.de brachte neulich die der Schauspieler Joachim Meyerhoff auf im Flugzeug neben ihm seinen Schlagzeile »Wolf reißt der Bühne ist. Bei einer SPIEGEL-Ver- Joghurt aß, eine minutenlange Lamm«. Das war bemerkens- anstaltung im Spiegelsaal in Berlin las er Show machen, und die Leute im wert, denn eigentlich wäre aus seinem vierbändigen Lebensroman- Publikum wischen sich die Lach- ja das Gegenteil einen Arti- werk »Alle Toten fliegen hoch«. Aber tränen aus den Augen. Er war kel wert. Andererseits passte aus Wien, wo er seit vielen Jahren es genau in den Zeitgeist: Viele Ensemblemitglied des Burgtheaters ist, Menschen sorgen sich wieder um den nach Berlin gekommen. Mit Wien, so Wolf, nachdem es in den vergangenen erzählte er am Rande der Veranstaltung, Jahrhunderten stets anders war und ist nach dieser Spielzeit Schluss. Er die Menschen in Sorge vor ihm waren. wechselt an die Schaubühne in Berlin. Die Politisierung des Wolfes folgt einer »Einfach Lust auf was Neues« sei einer gewissen Logik: Erst müssen wir weißen der Gründe, sagte er. Und darüber, »was Männer die Welt mit Menschen anderer die ›Burg‹ für mich war und ist, könnte Hautfarbe teilen, zugleich beanspruchen ich ein ganzes Buch schreiben«, fügt er die Frauen die Hälfte von allem, und hinzu. Und irgendwie wirkt es so, als nun macht uns dieser Fleischfresser

GORDON WELTERS / DER SPIEGEL WELTERS GORDON hätte er da innerlich gerade schon mit noch den Lammbraten streitig. Das Be - Meyerhoff Schreiben begonnen. VW sondere am Wolf ist die Vielfalt und Hef- tigkeit der Zuschreibungen, zu diesem Tier hat jeder eine Meinung. Der Philosoph Mark Rowlands hielt Ausstellungen sich mal einen Wolf als Haustier und schrieb in seinem Buch »Der Philosoph Auftritt einer Weltbürgerin und der Wolf« über seine Erfahrungen mit dem Tier, das letztlich ihn erzog. Die 1881 geborene russische Künstlerin »New York Times« nannte Gontscharowa Eine Szene schildert, wie Rowlands Natalija Gontscharowa beschwor in ihren und Larionow wegen ihrer vielen Reisen morgens in einem Café Zeitung las. Das Werken das ästhetische Experiment, die und Kontakte bereits 1922 »Weltbürger«. Blatt warnte vor einem entlaufenen stilistische Vielseitigkeit. Für ihre beson- Das eigentliche Zuhause der Künstlerin jungen Wolf, und die anderen Gäste dere Stellung in der Kunstgeschichte des blieb, das wird man auch in der Lon - überboten sich in Gefahrenbeschrei- 20. Jahrhunderts wird sie vom kommen- doner Schau sehen, die Welt der grenzen- bungen, planten sogar eine große Treib- den Donnerstag an mit einer großen losen Kreativität. Die Tate Modern jagd. Dabei übersahen sie, dass zu Ausstellung im Londoner Museum Tate hat 160 Werke geliehen, sie stammen aus ihren Füßen der Wolf von Mark Row- Modern gefeiert. Heute sind ihre Werke Museen von Moskau bis Chicago. UK lands friedlich ein Nickerchen hielt. Klassiker; auf dem Nach der Lektüre des Buches sah ich Kunstmarkt werden auch einen Wolf, an der Leine einer Millionen dafür gezahlt. Dame vor dem Supermarkt. Es handel- Doch einst waren sie te sich um einen Mischling mit hohem vor allem atemberau- Wolfsanteil bestätigte sie und bat mich bend anders, revolutio- zugleich um Diskretion, denn die Hal- när. Als Malerin misch- tung eines solchen Tieres ist verboten. te Gontscharowa Volks- Dabei können wir den Wolf gut gebrau- tümliches und Avantgar- chen: Als im amerikanischen Yellow- distisches, sie hatte Mut stone-Nationalpark Wölfe angesiedelt zur Farbe, zum Auffäl- wurden, begann ein komplexer und fas- ligen, zum Ausdrucks- zinierender Prozess, der noch immer starken. Auch ihre Kos- untersucht wird. Hirsche wurden ver- tüme und Bühnenbilder ständlicherweise vorsichtiger, Biber hin- fürs Ballett wurden gegen frecher – der Park veränderte bewundert, waren seine Gestalt. Könnte die Rückkehr des gefragt, trugen bald zu Wolfes dem deutschen Wald helfen? ihrer Bekanntheit bei. Doch: Tiere im Wald, ist das poli- 1915 zog sie mit ihrem tisch durchsetzbar? Einen Dienst er- Kollegen und späteren weist uns der Wolf schon heute – er be- Ehemann Michail Lario- weist, dass in Gesellschaften, in denen now aus dem vorrevolu- die Menschen kaum etwas zu befürch- tionären Russland nach ten haben, einige gern durchdrehen Paris, in die damalige möchten. Zur Not wegen eines Tieres, Welthauptstadt der das ihre Nähe eher meiden wird. Moderne (und des Bal-

letts). Dort lebte sie bis 2019 LONDON AND DACS, PARIS © ADAGP, An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und zu ihrem Tod 1962. Die Gontscharowa-Gemälde »Linen«, 1913 Elke Schmitter im Wechsel.

111 Kultur

Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem: »Eine entsetzliche Geschichte« In der Fake-Welt

Hochstapler Die Bloggerin Marie Sophie Hingst verbreitet eine fiktive jüdische Familiengeschichte – im Netz und in Yad Vashem, wo sie falsche Opferdokumente eingereicht hat. Ihr Großvater soll Auschwitz-Häftling gewesen sein, tatsächlich war er evangelischer Pfarrer.

en drei Männern vom Archiv war meidet solche Begegnungen mit der Öf- Ihre Namen möchten die Herren vom die Angelegenheit sichtlich unan- fentlichkeit lieber. Doch der Fall einer pro- Archiv nicht im SPIEGEL gedruckt sehen, D genehm. Etwas verlegen saßen movierten Historikerin, einer Kollegin so- man spreche hier nur als Institution, als sie an diesem Nachmittag Anfang zusagen, die bis vor Kurzem am Trinity staatliche Instanz. »Frau Dr. Hingst«, so April in einem Büro des Stralsunder Stadt- College in Dublin forschte, hatte den Ar- lautet das quasiamtliche Urteil der Archi- archivs. Vor ihnen auf einem runden Tisch chivaren keine Ruhe gelassen. Marie So- vare, habe sich eine fiktive Familienge- lagen Aktenordner sowie großformatige phie Hingst, die »Dame aus Dublin«, so schichte angeeignet. »Bis auf einige Na- Kopien mit Stammbäumen und anderen erklärte einer von ihnen gleich zu Beginn men ist alles frei erfunden.« biografischen Angaben – eine kleine Prä- des Gesprächs, verbreite öffentlich »Le- Was vielleicht nicht so schlimm wäre, sentation für den Redakteur aus Hamburg. genden« über Stralsunder Bürger. »Eine wenn die Historikerin nur harmlose Spe- Wer sonst im Hauptberuf eher geräusch- entsetzliche Geschichte« sei das, man gebe kulationen unter die Leute gebracht hätte.

los Dokumente und Archivalien sortiert, hier »Menschen eine falsche Identität«. Tatsächlich aber hat Hingst die Namen von MICHAEL KAPPELER / DPA

112 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Die frühen Jahre in Dublin, so sagt sie mit leiser Stimme bei einem ersten Telefonat mit dem SPIEGEL, seien schwere Jahre ge- wesen, sie habe kaum jemanden gekannt. Sie sei damals sehr isoliert gewesen, in ge- nau jener Zeit also, als ihr Blog entstand, ein kreatives Universum, das offenbar zu einer Art Ersatzheimat für sie wurde. So begann diese eigenartige Geschichte einer Hochstaplerin, die mit ihren Legen- den offensichtlich keine materiellen Vor- teile im Sinn hatte – die sich aber als ver- meintliche Nachfahrin von Holocaust- Opfern interessanter machte, interessanter jedenfalls als andere, nicht jüdische Deut- sche. Positiver Nebeneffekt: Mittelbar zählte sie nun zu den Opfern und nicht zu den Tätern. Wie Wolfgang Seibert, der in- zwischen zurückgetretene Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Pinneberg. Der Sohn evangelischer Eltern hatte sich ebenfalls eine jüdische Familiengeschichte mit Holocaust-Vergangenheit ausgedacht, wie der SPIEGEL (43/2018) enthüllte. Auch Hingst bemüht sich um die Nähe zur jüdischen Community. Sie moderiert Podiumsgespräche für den Förderkreis des Berliner Holocaust-Denkmals, arbeitet für das Selma Stern Zentrum für Jüdische Stu- dien in Berlin-Brandenburg und engagiert sich in der Jewish Society des Dubliner Trinity College. Und sie sucht die Nähe zu anderen Opfern: Während der Haft von Deniz Yücel und Mesale Tolu schrieb sie den beiden Postkarten ins Gefängnis in der Türkei, Yücel angeblich täglich – eine Aktion, die ihr eine Menge positive Schlag- zeilen in den Medien bescherte. Zuletzt, im März, veröffentlichte Hingst

CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL ein viel beachtetes Buch: »Kunstgeschich- Historikerin Hingst: »Bis auf einige Namen ist alles frei erfunden« te als Brotbelag«, ein Bildband mit be- kannten Gemälden und den als Brotbelag nachgestellten Kopien. Die Autorin hatte 22 angeblichen Holocaust-Opfern, allein »Future of Europe«-Preis der »Financial im vergangenen Sommer per Twitter und 8 davon aus Stralsund, dem Archiv der Times« ausgezeichnet. Bei der Preisverlei- Instagram um entsprechende Foto-Einsen- israelischen Holocaust-Gedenkstätte Yad hung in Dublin – man kann sie im Internet dungen gebeten. Die skurrile Kampagne Vashem gemeldet – 22 Menschen, von de- hören – erzählte sie wieder vom Leidens- war so erfolgreich, dass der Kölner Verlag nen die meisten gar nicht existierten. Die weg ihrer vermeintlich jüdischen Familie DuMont deren Ergebnisse aus der digita- Unterlagen des Stadtarchivs und weitere und verglich deren Schicksal mit dem der len in die analoge Welt zurückholte und Quellen zeigen: Nur drei Personen haben Flüchtlinge, die heute an Europas Küsten einen Überraschungserfolg auf dem Buch- wirklich gelebt. Keiner von ihnen war Jude, strandeten. Es gab starken Beifall. markt landen konnte. keiner wurde ermordet. Wer ist diese Frau, und warum hat sie Wer Hingst bei Twitter folgt, bekam Und Marie Sophie Hingst hat ihre Le- das getan? Hochstapler gibt es viele, über- aber auch ein Foto des Schreibens aus Yad genden nicht nur in Yad Vashem hinterlegt, all auf der Welt. Der Wunsch, Opfer des Vashem zu sehen, mit dem ihr für die sondern auf vielen Wegen verbreitet: in Holocausts zu seinen Vorfahren zu zählen, Übergabe der angeblichen Familiendoku- Vorträgen und Gesprächen mit Kommi - dürfte eine deutsche Besonderheit sein. mente gedankt wurde. 15 Formulare hatte litonen etwa, vor allem aber in ihrem 2013 Auf Fotografien wirkt die 31-Jährige mit sie am 8. September 2013 handschriftlich begonnenen Blog »Read on my dear, read ihren langen braunen Haaren mädchen- ausgefüllt und unterschrieben, 7 weitere on«, in dem sie gern und immer wieder haft und keinesfalls prätentiös, Eitelkeit wurden digital versandt. Mit diesem von ihrer angeblich jüdischen Großmutter scheint ihr fremd. Ihr ganzer Habitus wirkt Schritt hatte sich Marie Sophie Hingst erst- erzählt, ein Blog übrigens, mit dem sie von ebenso intellektuell wie bescheiden. mals in die Parallelwelt einer zweiten, fik- den Goldenen Bloggern zur »Bloggerin des Aufgewachsen in einer Akademiker- tiven Existenz begeben: als Kind einer jü- Jahres 2017« gewählt wurde und der inzwi- familie in Lutherstadt Wittenberg, hat dischen Familie, die viele Angehörige im schen fast 240000 regelmäßige Leser zählt. Hingst in Dessau Abitur gemacht und in Holocaust verlor – und die es in Wirklich- Auch jenseits ihres Blogs stößt ihre Sto- Berlin, in Lyon und in Los Angeles Ge- keit niemals gab. ry auf großes Interesse. 2018 wurde Hingst schichte studiert. 2013 ging sie nach Dub- Die väterliche Familie Hingst ist im Kon- bei einem Essaywettbewerb mit dem lin, wo sie am Trinity College promovierte. volut falscher »Pages of Testimony«, wie

113 die Opferblätter in Yad Vashem genannt vice noch im Archiv der Gedenkstätte scher Tradition die Rede. Besonders werden, gleich achtmal vertreten. Die Exis- Auschwitz, noch im Gedenkbuch des Bun- schamlos aber sind Hingsts Fantasiege- tenz von sechs Personen, die sie in Jerusa- desarchivs für die Opfer der nationalsozia- schichten von den jährlichen Sommerfes- lem nannte, alle angeblich Brüder ihres listischen Judenverfolgung in Deutschland ten der Holocaust-Überlebenden im Gar- Großvaters, konnte das Stralsunder Archiv sind die Namen der 22 angeblichen Holo- ten der Großmutter. Sie selbst habe als ausschließen, die Namen fehlen in den voll- caust-Opfer auffindbar. kleines Mädchen die Einladungen an die ständig erhaltenen Akten des Standesamts. Solche Hochstapeleien sind kein Verbre- »Lieben Auschwitzer« in Umschläge ste- Zwei der von ihr genannten Mitglieder chen, aber skandalös sind sie allemal. Wer cken und verschicken müssen. Und sie der Familie Hingst haben wirklich gelebt, Holocaust-Opfer erfindet, verhöhnt im habe an diesem traurig-schönen Tag, beim nämlich ihr Urgroßvater Hermann Hingst Nachhinein all jene, die wirklich von den Fest der »Auschwitzer«, immer einen Rock und seine Frau Marie. Den beiden dichtete Nazis gequält und umgebracht wurden. tragen müssen, was sie gehasst habe – nur sie jüdische Vorfahren an, Marie zum Bei- Hingst hat sich bei der Darstellung ihrer der wunderbare Kuchen und die bewegen- spiel soll eine gebürtige Cohen gewesen angeblich jüdischen Familiengeschichte in den Geschichten der Überlebenden hätten sein, außerdem sei das Paar 1942 von den viele Widersprüche verwickelt. Wer ihren sie entschädigt. Nazis ermordet worden. Ansonsten blieb Blog liest, der erfährt, dass ihr Urgroßvater Die vielen Unstimmigkeiten sind auf- sie weitgehend bei der Wahrheit: Her- zusammen mit seiner Familie schon im merksamen Lesern irgendwann aufgefal- mann und Marie wohnten den »Pages of Februar 1940 nach Auschwitz deportiert len. Die Historikerin Gabriele Bergner aus Testimony« zufolge in der Großen Paro- und umgebracht worden sei. Erstens wur- Teltow bei Berlin – sie gilt als Expertin für wer Straße in Stralsund – was stimmt. Und de damals noch niemand aus dem Deut- internationale Personenrecherchen – zähl- Hermann war von Beruf Lehrer – was schen Reich nach Auschwitz geschickt, das te zu den Ersten, die einen Verdacht ebenfalls stimmt. geschah frühestens 1941. Zweitens nennt schöpften. Bald bildete sich um sie ein klei- Das Stralsunder Stadtarchiv besitzt sie in den »Pages of Testimony« sechs Söh- nes Team von Rechercheuren, darunter einen Personalfrage bogen der Mecklenbur- ne und nicht vier (wie im Blog), die umge- eine Anwältin, ein Genealoge und ein Ar- ger Landesregierung aus dem chivar, die sich per Mail über Oktober 1947, den Hermann die jeweils neuesten Hirnge- Hingst zum Zwecke einer spinste von Marie Sophie Weiter beschäftigung in der Hingst austauschten. Sowjetischen Besatzungszone Ein erster Versuch Anfang ausfüllen musste. Darin sind vergangenen Jahres, die Blog- nicht nur sein Beruf und seine gerin zur Rede zu stellen, wur- evangelische Religionszugehö- de von ihr sofort abgewehrt; rigkeit vermerkt, sondern auch im Blog schrieb sie nebulös seine Kinder: zwei Töchter und von gegen sie gerichteten »An- ein Sohn namens Rudolf, 1917 griffen« und »Verschwörungs- geboren, von Beruf Pfarrer. theorien«. Einen weiteren Vor- Rudolf war Marie Sophies stoß aus dem vergangenen Großvater, ab 1956 arbeitete Dezember, diesmal auf der er als Pastor in der Friedrich- Kommentarseite ihres Blogs, städter Gemeinde in der Lu- bei dem ein anonymer Leser

therstadt Wittenberg, er starb CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL auch die Fälschungen in Yad bereits 1977. Rudolfs Ehefrau, SPIEGEL-Redakteur Doerry, Bloggerin Hingst*: Märchenhafte Züge Vashem erwähnte, beantwor- ebenjene Großmutter, von der tete sie schon auffallend aggres- Marie Sophie so gern erzählt, siv: »Wird Ihnen eigentlich hieß Helga Louisa Brandl. Dass sie Zahn- bracht worden sein sollen. Und drittens nicht vor sich selbst übel«, fragte sie, ärztin war und 1922 geboren wurde, be- wurde ihr Urgroßvater laut dem von ihr »wenn Sie solche unverschämten Verleum- richtet Hingst in ihrem Blog. Dass sie evan- selbst an Yad Vashem geschickten Doku- dungen hier herausrotzen?« gelisch war wie auch ihr Vater, natürlich ment nicht in Auschwitz, sondern erst 1942 Marie Sophie Hingst ließ sich nicht stop- nicht. in Ponar getötet (was in Litauen liegt und pen. Im Dezember 2018 wandte sich Ga- Urgroßvater Josef Karl Brandl be- nicht in Lettland, wie sie schreibt), ihre Ur- briele Bergner an den SPIEGEL. Inzwi- kommt bei Hingst allerdings einen leicht großmutter im selben Jahr in Treblinka. schen war noch ein zweiter Erzählstrang veränderten Namen. In den »Pages of Tes- Im Blog nimmt ihre Familiengeschichte ins Visier der Rechercheure geraten, ein timony« heißt er Jakob Brandel und wurde ohnehin märchenhafte Züge an: Parallel Slumkrankenhaus nämlich, das Hingst im angeblich zusammen mit Frau und Kin- zur Geschichte des Urgroßvaters Hingst, zarten Alter von 19 Jahren zusammen mit dern 1942 in Auschwitz umgebracht. der angeblich mit Ehefrau und vier Söhnen einem Freund in Neu-Delhi gegründet ha- Neben den 14 Opferblättern für die Fa- ermordet wurde (nur der fünfte Sohn, der ben wollte. Hingst hatte dort angeblich milien Hingst und »Brandel« hat die His- Großvater der Autorin, soll Auschwitz nicht nur Patienten – ohne ärztliche Aus- torikerin noch acht weitere Dokumente überlebt haben), erzählt sie spiegelbildlich bildung – behandelt, sondern auch Sexu- für im Holocaust umgekommene Personen auch die Geschichte des anderen Urgroß- alaufklärung für junge indische Männer mit den Familiennamen »Rosenwasser« vaters, der mit Ehefrau und vier Töchtern betrieben. und »Zilberlicht« eingereicht, hier soll es umgebracht worden sei; nur die fünfte Genaue Orts- und Zeitangaben fehlen sich offenbar um ihre mütterlichen Vorfah- Tochter überlebte, die Oma der Autorin. ebenso wie Fotos, die die Existenz der klei- ren handeln. Diese Menschen tauchen al- Geradezu romanhaft lesen sich auch nen Klinik belegen könnten. Soweit be- lerdings sonst in ihren Erzählungen nie auf. ihre Erzählungen über diese Frau. Immer kannt, war Hingst 2015 einmal für drei Mo- Tatsächlich haben die von Hingst in Yad wieder ist vom heldenhaften Widerstand nate in Neu-Delhi gewesen, allerdings bei Vashem gemeldeten Personen nirgendwo der Großmutter gegen die Zwänge jüdi- einem germanistischen Sommerseminar Spuren hinterlassen: Weder in den Digital über Franz Kafka. Erst danach berichtete Collections des International Tracing Ser- * In Dublin am Donnerstag vergangener Woche. sie von der Klinikgründung im Jahr 2007.

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Die Angaben zum Indienprojekt waren als Brotbelag«. Mehrere Blätter berichte- lassen, sie machte aber ein paar Bemerkun- jedoch ebenso widersprüchlich wie die ten wohlwollend über die ungewöhnliche gen, die erkennen ließen, dass sie mit der über ihre jüdische Familie: Mal hatte sie Idee. Auch der Redakteur aus Hamburg Freundin »C.« ihre Mutter meint. im »Slum« Okhla – in Wahrheit ein Stadt- kündigte sich nun bei ihr an. 24 Stunden später, am Freitag vergan- teil im Süden Delhis – eine eigene Klinik Für den vorgeschalteten Fototermin gener Woche, wurde die Mutter telefo- gegründet, mal in einer schon bestehenden schlug sie die National Gallery in Dublin nisch informiert. Von den Opferblättern Klinik gearbeitet, mal betrieb sie in Delhi vor, passend zum neuen Buch. Am Don- in Yad Vashem, der Klinik in Indien, der nur ein »slum support scheme«, also eine nerstag vergangener Woche kam es dann Sexualberatung für Flüchtlinge hörte sie Art Sozialprojekt. im Café des ehrwürdigen Merrion Hotel nun zum ersten Mal. Zitate aus dem Tele- Hingst hat sich mit ihren Fantastereien in Dublin, ganz in der Nähe der National fonat wollte sie jedoch im SPIEGEL nicht wahrscheinlich als unverwundbar empfun- Gallery, zum persönlichen Gespräch. veröffentlicht sehen. den. Wer sollte ihr schon nachweisen kön- Schon im Vorfeld hatte sie die ange - Wenige Minuten später rief Marie So- nen, dass es das alles nicht gab? Nachdem kündigten Fragen zu ihrer jüdischen Fa- phie Hingst an. Ihre Stimme klang dünn sie im Januar 2017 in ihrem Blog davon be- miliengeschichte ausklammern wollen. und kleinlaut, ganz anders als am Vortag richtet hatte, dass sie ihre Erfahrungen in Als sie ihr trotzdem gestellt wurden, re- in Dublin. Sie müsse sich entschuldigen, sie der Sexualberatung indischer Männer nun agierte sie zunächst verärgert: Wie man habe Fehler gemacht, vieles sei falsch ge- auch »in einer kleinen deutschen Stadt« bei dazu komme, sich so in ihr Leben einzu- wesen, was sie gesagt habe. Sie entschuldige jungen Flüchtlingen anwandte, wurden so- mischen. Was auch immer für Dokumen- sich für ihren Auftritt gestern im Hotel. gar die Medien hellhörig. te existierten, sie wisse es besser. Schließ- Am vergangenen Sonntag ließ Marie Zeit Online brachte bald einen langen lich jedoch wurde sie vorsichtiger. Sie Sophie Hingst schließlich über einen An- Text von Hingst, die hier allerdings unter gebe nur das wieder, was ihr die jüdische walt aus München mitteilen, dass die Texte dem jüdisch klingenden Pseudonym »So- Großmutter erzählt habe. Sie müsse das in ihrem Blog »ein erhebliches Maß an phie Roznblatt« auftreten durfte. Sie er- jetzt überprüfen. Nach einer Stunde ver- künstlerischer Freiheit für sich in An- zählte abenteuerliche Episo- spruch« nähmen. »Es handelt den aus ihrer Aufklärungs- sich hier um Literatur, nicht arbeit mit jungen Syrern, de- um Journalismus oder Ge- nen sie einen ange messenen schichtsschreibung.« So ähn- Umgang mit dem anderen Ge- lich steht es mittlerweile auch schlecht beigebracht haben in ihrem Blog. wollte. Ein letzter Schachzug also, Der Beitrag von Zeit On- die Spuren zu verwischen. Der line wurde zwar von Lesern Text des Anwalts enthält nicht kritisch kommentiert, von etwa ein Dementi ihrer Lügen- »Zweifeln an der Authenti - geschichten, sondern formuliert zität des Beitrags« war da die nur einen neuen, ästhetischen Rede. Doch die Redaktion Anspruch. Bis dahin hatte sie ließ sich nicht beirren, die Kritikern, die die Authentizität Autorin sei doch »auf alle des Blogs infrage stellten, erbit- Fragen der Leser eingegan- tert widersprochen. Jetzt wer- gen«, und wer dennoch mehr den die Legenden sicherheits- wissen wolle, wende sich bitte Gefälschtes Opferdokument: Aus dem Nachlass ihrer Oma? halber zu Literatur erklärt. schön »mit einer höflichen Außerdem ließ sie durch Frage an die Autorin«. ihren Anwalt erklären, dass sie Zeit Online hat den Vorgang nach einer ließ sie zornig den Raum, ohne sich zu »zu keiner Zeit« im »Rahmen von Texten SPIEGEL-Anfrage überprüft. »Wir gehen verabschieden. mit realen Lebensdaten Unwahrheiten über nun davon aus«, heißt es in einer ersten In diesem Moment muss Marie Sophie ihre eigene Familiengeschichte verbreitet« Stellungnahme der Redaktion, »dass die Hingst erkannt haben, dass ihre Parallel- habe. Sie habe zwar eine »Liste von 22 Per- Autorin des Gastbeitrags uns getäuscht hat. welt nicht länger Bestand haben würde. sonen aus dem Nachlass ihrer Großmutter« Wesentliche Teile des Beitrags dürften er- Eine gefährliche Situation: für ihr Selbst- Yad Vashem übergeben, sie aber nicht funden sein.« Und weiter: »Der Fakten- bild – das offenbar mit der fiktiven Identi- selbst überprüft. Eine »Liste« wohlgemerkt. check vor Veröffentlichung war offensicht- tät fast deckungsgleich geworden war –, Tatsächlich hatte sie selbst 22 Formulare lich bei Weitem nicht ausreichend.« für ihre Integrität und natürlich auch für ausgefüllt. Nun soll also die tote evangeli- Aber auch andere Medien ließen sich die ihren Job als Projektmanagerin eines in- sche Oma an allem schuld gewesen sein. Heldengeschichte der jungen Sexualaufklä- ternationalen IT-Konzerns in Dublin, den Bleibt nur noch die Frage, wie Yad rerin nicht entgehen. Bei Deutschlandfunk sie im vergangenen August angetreten hat. Vashem mit den gefälschten »Pages of Tes- Nova, zum Beispiel, trat sie unter dem Aber wie konnte es so weit kommen, timony« umgeht. Am Anfang dieser Wo- leicht veränderten Pseudonym »Marie-So- ohne dass ein Mitglied ihrer realen Familie che hat der Stralsunder Oberbürgermeister phie Roznblatt« auf. Man habe keinen An- intervenierte? Nahm womöglich niemand das Auswärtige Amt in Berlin auf die lass gehabt, »an der Glaubwürdigkeit der ihre Fake-Existenz zur Kenntnis, weil man »Falschdarstellung« in den Opferbögen hin- Geschichte zu zweifeln«, teilt Deutschland- ihre Spuren im Internet nicht verfolgte oder gewiesen und darum gebeten, die Gedenk- radio nun mit. Das sei »im Nachhinhein verfolgen konnte? stätte Yad Vashem offiziell zu informieren. möglicherweise zu nachlässig« gewesen. Im Blog taucht immer wieder eine Freun- Die Archivare in Jerusalem dürften erst Irgendwann geriet das angebliche Auf- din »C.« auf, die ihr angeblich sogar einen mal mit Kopfschütteln reagieren: Da brin- klärungsprojekt in Vergessenheit. Größere Kredit zur Anschaffung eines Röntgenge- gen die Deutschen schon sechs Millionen öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr Hingst räts für ihre Slumklinik gegeben hat. Die Juden um. Und dann erfinden sie auch erst wieder in diesem Frühjahr nach dem Bloggerin hatte im Merrion Hotel zwar jede noch 22 Opfer hinzu. Martin Doerry Erscheinen ihres Buches »Kunstgeschichte Frage nach ihrer Familie unbeantwortet ge-

115 Kultur

roman. Sein Held und Icherzähler – der Platonow heißt, wie ein weiterer großer Chaos statt Autor, dessen Geschichten in der Sowjet- union im Untergrund weitergereicht wur- den – sammelt im Schreiben auf, was vom Diktatur Leben übrig bleibt, und er stellt fest: Die Erinnerung ist so unregierbar wie egozen- trisch. Sie hält sich an Kleinigkeiten fest, Literatur Der Petersburger Autor Jewgeni Wodolaskin an einem Duft, an einem Marienkäfer auf einem Geschichtsbuch und an einem Ofen, rekapituliert das düstere in dem man Flugblätter verfeuerte. Was sowjetische Jahrhundert in einem Liebesroman. darauf stand, »ist vollkommen aus mei- nem Gedächtnis verschwunden«. Geblie- ben ist, neben den Impressionen, vor al- as Puschkin-Haus in Sankt Peters- schildert haben, die meisten von ihnen lem ein Gefühl: die Liebe zu Anastassija, D burg liegt auf der Wassiljewski-In- bedroht und im Verborgenen. Durch sie seiner Nachbarin in der Zwangswohn - sel, umgeben von den trägen Armen ist all das präsent, was »Luftgänger« in gemeinschaft, in Russland Kommunalka der Newa. Es ist kein Palast, sondern ein An- und Aufrissen skizziert – die Zwangs- genannt. ehemaliges Zollhaus, ein säulengesäumter belegung großer Wohnungen mit jeweils Dieser Liebe ist allerdings kein Glück Kuppelbau, in dessen Nachbarschaft ein einer Familie pro Zimmer, die Zeiten des beschieden, Platonow wird verhaftet und Fitnessstudio und ein Restaurant einen Hungers und des Schwarzhandels, die landet auf dem Solowski-Archipel, dem mutlosen Eindruck machen. Die Touris- nächtlichen Verhöre und die Folter, um berüchtigten Gulag im Weißen Meer, wo tenpfade zwischen Eremitage und Fa bergé- »Geständnisse« zu erzwingen, die Prei- er sich als Versuchsobjekt der Wissenschaft Museum verlaufen auf der gegenüberlie- sgabe der Verbannten an Sadisten und Kri- »einfrieren« lässt – was historisch nichts genden Seite der Stadt. minelle. weiter ist als ein Gedankenspiel, das Wer hierherkommt, kann sich in den Doch »Luftgänger« ist keine Chronik Wodolaskin allerdings mit ironischer Ge- sanftgrün tapezierten Sälen mit den Prezio- einer Epoche, sondern ein Gedächtnis- nauigkeit entwickelt. Für den Helden sei- sen von Tolstoi und Turgenjew, nes Romans ist dies lediglich Dostojewski und Gogol, Tsche- ein vergleichsweise gnädiger chow und natürlich Puschkin Tod, denn wer sich dazu bereit befassen, die in den Vitrinen lie- erklärt, der wird, statt irgend- gen. Er kann hier im Archiv wann an Entkräftung zugrun- auch philologische Forschung de zu gehen, von jeglicher Ar- betreiben, wie es der Schriftstel- beit freigestellt, gut ernährt ler Jewgeni Germanowitsch und schließlich mit einer Sprit- Wodolaskin, 55, geboren in ze ins Jenseits befördert. In Kiew, seit Jahrzehnten tut. Im seinem Falle allerdings nur März erschien sein zweiter vermeintlich oder jedenfalls Roman in deutscher Sprache; nicht endgültig. in Russland ist »Luftgänger« Denn Platonow wacht in längst ein Erfolg: das Erinne- einem Krankenhaus wieder rungsbuch eines Mannes, der auf. Wie steht es um die So- so alt ist wie das Jahrhundert. wjetunion, wohin bin ich Ganna-Maria Braungardt hat zurück gekommen, will er wis- es souverän in ein trockenes sen. Inzwischen, so lautet die Deutsch gebracht, das sich zu Antwort, »wurde die Diktatur den Schrecken, von denen es vom Chaos abgelöst. Es wird berichtet, wie Löschpapier ver- gestohlen wie nie zuvor. An hält; es bleiben Umrisse übrig, der Macht ist ein Mann, der zu Flecken und Spuren, den Rest viel Alkohol trinkt.« muss man sich denken. Es ist nicht schwer, diese Und das kann man natür- Epoche zu positionieren. Sie lich, vor allem in Russland, liegt fast 20 Jahre zurück; am aber auch als deutscher Leser 31. Dezember 1999 übergab von Alexander Solschenizyn Boris Jelzin, das erste gewähl- oder Warlam Schalamow, von te russische Staatsoberhaupt, Swetlana Alexijewitsch oder die Geschäfte an Wladimir Pu- Iwan Bunin, von all diesen tin. Dessen Amtszeit ist schwe- großartig übersetzten Autoren, rer zu charakterisieren, die Wi- die den Barbarenkult der Bol- dersprüche sind andere: Seit schewiki, die Schrecken der Jahren wird das Leben in Russ- stalinistischen Lager und den land für die allermeisten be - Alltag in der Sowjetunion ge- rechenbarer. Die Korruption zieht sich dorthin zurück, wo Jewgeni Wodolaskin: »Luftgänger«. / DER SPIEGEL IVANOVA KSENIA das ganz große Geld zu ma- Aus dem Russischen von Ganna-Ma - Schriftsteller Wodolaskin ria Braungardt. Aufbau; 430 Seiten; chen ist. Es gibt weniger Stress 24 Euro. »Jeder schämt sich für sich allein« und mehr Zufriedenheit im

116 Alltag – solange man sich nicht für Politik interessiert. Wodolaskin interessiert sich für Politik. Er nennt Ljudmila Ulitzkaja eine Freundin. Diese Autorin, im Westen bekannter als er, ist mit der Aktivistensze- ne, den Protestierenden gegen die Auto- kratie Putins in Moskau, eng verbunden. Doch in Moskau gehen die Uhren an- ders, das sagt Wodolaskin wie so viele Pe- tersburger, in der Hauptstadt zittern die Zeiger stärker und schlagen heftiger aus. Und Wodolaskin ist kein Mann der De- monstrationen mehr. Gegen den Versuch, Gorbatschow zu stürzen, ging er 1991 auf die Straße, auch schreibt er Kolumnen in der unerschrocken regierungskritischen »Nowaja Gaseta«. Als Schriftsteller aller- dings nimmt er keinen politischen Auftrag

an. Der Adressat der Literatur ist für ihn EASTBLOCKWORLD.COM niemals die Gesellschaft, das Vaterland Solowski-Insel: Das Unverfügbare des Menschen oder der Staat, es ist immer der Einzelne. »Der Journalismus misst die Temperatur der Gesellschaft«, so formuliert er seine dolaskins wie eine Hauptschlagader durch- prom, die Sperren für russische Sportler, mediale Aufgabenteilung, »aber der zieht, pochend und bis zum Schluss ge- die Handelssanktionen: Da kann man sich Schriftsteller stellt die Diagnose.« heimnisvoll. Ein Prolet aus der Kommu- schon sehr in die Ecke gedrängt fühlen.« Sein Erzähler Platonow, der also gegen nalka wurde erschlagen; er war ein De- Darunter aber liege Enttäuschung. »Gor- Ende der Jelzin-Ära in seiner Geburts- nunziant, doch ohne Überzeugung, ein batschow und Jelzin waren eindeutig pro- stadt Sankt Petersburg erwacht, betrach- moralisch bewusstloses Individuum, ver- westlich, Putin ist angetreten als prowest- tet die Gegenwart mit Bewunderung für ächtlich wie die alte Wucherin, die Raskol- licher Mensch, und Russland wollte nach ihre Beherrschung der Technik, die nach- nikow erschlug. An der Aufklärung dieses Europa. Die Armee wurde aus Deutsch- totalitäre Gesellschaft aber mit Befrem- Mordes hat, mehr als ein halbes Jahrhun- land abgezogen, ihr habt euch, Gott sei den. Die Leute tanzen so, wie früher »im dert später und in einem anderen System, Dank, wiedervereinigt, der Warschauer Laientheater Besessene dargestellt« wur- niemand mehr ein Interesse. Pakt war kaputt, und wir waren bereit. Da den, und bei den Gesprächsrunden im »Jeder schämt sich für sich allein«, sagt hieß es, warten Sie doch erst mal draußen Fernsehen fallen sich alle gereizt ins Wort. Wodolaskin im Gespräch, »aber es gibt im Gang …« Die Situation erscheint ihm Es gibt Spielshows, da schickt man Leute fast niemanden ohne Schuld.« Sein wis- angespannter als im Kalten Krieg. Aber auf eine Insel, um zu überleben. »Alle sind senschaftlicher Lehrer – und in manchem »ich spüre keine Aggressivität bei den Leu- lustig, schlagfertig und, wie ich finde, vermutlich ein Vorbild für seinen Helden – ten. Es ist eher ein Nachdenken, wohin ziemlich armselig. Offenbar gab es in war der berühmte Slawist Dmitri Licha- wir gehören und wie es weitergehen soll ihrem Leben keine Insel, auf der sie über- tschow, geboren in Sankt Petersburg und mit Russland«. leben mussten«, räsoniert der Entkomme- als junger Mann, wie Wodolaskins Plato- Das milde Grün der Wände ist inzwi- ne der Solowski-Inseln. »Vermissen sie so now, Häftling auf den Solowski-Inseln. schen dunkler geworden. In der Vitrine etwas vielleicht?« Der Gelehrte kam in den Dreißigerjah- blinkt der Verschluss von Dostojewskis ab- Es fällt dem Überlebenden nicht leicht, ren zurück ins Puschkinhaus in die Stadt, gegriffener Börse. In der Mitte des 19. Jahr- ins Leben zurückzufinden; die Erinnerung die nun Leningrad hieß, »in die schreck- hunderts war der Spezialist für extreme an seine Kindheit vor der Revolution und lichsten Jahre der ganzen russischen Ge- menschliche Situationen politischer Häft- an seine Lebensliebe ist süßer und stärker schichte«, auf dem Höhepunkt von Stalins ling in Sibirien. Auf einer Reise in die als jede Annehmlichkeit der Gegenwart. Terrorregime. Zu dieser Zeit wurden hier Schweiz, viele Jahre später, infizierte er Das Unverfügbare des Menschen, das bei den Versammlungen der Philologen sich mit der Spielsucht; in Baden-Baden variiert dieser Roman immer wieder neu, Ausschlussverfahren betrieben, die fak- und Wiesbaden verlor er seine Ersparnisse liegt in seinem persönlichen Erleben – in tisch Todesurteile bedeuteten. »Er hat mir beim Roulette. Danach erschien »Verbre- dem das Kleine groß wird und das Große erzählt, wie er sich verhalten hat: Er ging chen und Strafe«, sein Protokoll einer klein. »Ein historischer Blick macht jeden bei den Abstimmungen hinaus. Er wollte Schuld und der spirituellen Rettung durch zur Geisel großer gesellschaftlicher Ereig- nicht die Hand heben. Mehr konnte er sich erbarmende Liebe und das Ritual der nisse«, notiert Platonow in dem Tagebuch, nicht tun.« Beichte. Der Materialismus des Westens das er auf Geheiß seines Arztes führt. »Ich Lichatschow starb 1999 hochbetagt in war Dostojewski, wie auch Tolstoi, immer dagegen sehe die Dinge anders: genau um- seiner Stadt, die nun wieder Sankt Peters- ein Dorn im slawischen Auge. Inzwischen gekehrt. Große Ereignisse entstehen in je- burg hieß, geehrt und anerkannt. Ein ka- ist er in Russland angekommen; mit seinen dem einzelnen Individuum. Vor allem gro- puttes, ein mühsam geflicktes, ein un- Coffeeshops, seinen Fast-Food-Restau- ße Erschütterungen.« ausweichlich schuldhaftes Leben? »Wir rants und seiner universellen Mode hat er Es ist die berühmte russische Seele, die können einen Menschen nur in seinem na- eine Benutzeroberfläche der Welt geschaf- hier beharrlich beschworen wird. Ein deut- türlichen Zustand beurteilen«, sagt Wodo- fen, die viele Unterschiede der Mentalität licher Hinweis auf Fjodor Dostojewski und laskin. »In gewalttätigen Systemen kann scheinbar abschleift. seinen Helden Raskolnikow, der in »Ver- fast jeder menschliche Züge verlieren.« In einem Roman wie »Luftgänger« brechen und Strafe« die Gewissenstortur Wodolaskin reist häufig durch das Land. kann man sie allerdings noch einmal er- eines Mörders erlebt, findet sich in einer Gegenwärtig bemerkt er eine gewisse Ge- fahren. Elke Schmitter Totschlagsgeschichte, die den Roman Wo- reiztheit. »Das Misstrauen wegen Gaz-

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nigten Staaten geschafft haben. Auch sie Keine von Lieferwagen verstopften Innen- sollten Ziele treffen, die zu weit entfernt städte mehr, keine gehetzten, unterbezahl- Todesstich waren, um sie auf andere Art angreifen zu ten Boten mehr, alles kommt sauber und können. sanft aus der Luft. Auch um den Zusam- Ausstellungen Das Zeppelin Die moderne Kampfdrohne hingegen menhang zwischen dem Drohnenboom Museum zeigt in der soll vor allem Risiken minimieren. Jets und der Entwicklung künst licher Intelli- können abgeschossen werden, die Piloten genz geht es in der Ausstellung. Darum, Schau »Game of Drones«, wie dabei sterben oder in Gefangenschaft wie viel Autonomie die Menschen den Ma- Drohnen die Welt verändern. geraten. In westlichen Ländern wendet schinen einzuräumen bereit sind. Und wie- kaum etwas die Stimmung der Bevölke- weit sie willens sind, sich selbst wegzu- rationalisieren. Denn Drohnen ie heißen »Rabe«, »Ad- werden immer mehr Aufgaben ler« oder »Falke«. Die übernehmen, die heute noch S Drohnen, mit denen mo- Menschen erledigen. derne Kriege geführt werden, Der Superheldenfilm »Cap- haben scharfe Augen. Viele von tain America: The Winter Sol- ihnen können jederzeit aus hei- dier« entwirft das Schreckens- terem Himmel zuschlagen. Oft szenario einer riesigen Drohne, sind sie selbst kaum zu sehen – die ganze Landstriche über- wohl aber zu hören. wacht, Terroristen anhand ihrer »Game of Drones. Von unbe- Verhaltensmuster identifizieren mannten Flugobjekten« heißt soll und sie selbstständig töten eine Ausstellung, die am 7. Juni kann. im Friedrichshafener Zeppelin Tatsächlich hat das US-Mili- Museum eröffnet wird. Der por- tär bereits Schwärme von Mi - tugiesische Komponist Gonçalo nidrohnen getestet, die von F. Cardoso und der niederländi- einem bemannten Flugzeug aus sche Designer Ruben Pater ha- abgesetzt werden können. Die ben für die Schau ein Tonarchiv amerikanische Künstlerin Mar- JAMES BRIDLE / BOOKTWO.ORG JAMES geschaffen, das die Klänge von tha Rosler deutet in ihrer Instal- 17 verschiedenen Drohnen- lation »Theater of Drones« an, typen erfasst. Man kann die wie die Miniaturisierung der Sounds der Drohnen per Knopf- Technik voranschreitet. Mögli- druck abrufen wie bei der Vo- cherweise gibt es irgendwann gelstimmenerkennung. Es gibt Drohnen, die so groß wie Mü- Weltgegenden, wo von dieser cken sind, deren Stich aber Unterscheidung abhängt, ob tödlich ist. das fliegende Objekt den Tod Die Asymmetrie moderner bringt oder Leben rettet. Kriege besteht auch darin, dass Die Ausstellung »Game of Drohnen von oben alles sehen Drones« umkreist ihren Gegen- können, aber von unten kaum stand von allen Seiten, mit zu erkennen sind. Wobei der einem Drohnenblick: Sie zeigt Künstler Adam Harvey für die ihn als Waffe, als Spielzeug, als Ausstellung Kleidung entwor- fliegendes Auge, das helfen fen hat, die davor schützt, von kann, Umweltverschmutzun- den Infrarotkameras der Droh- gen zu erkennen, oder als Über- nen erfasst zu werden. wachungsinstrument, das in Unklar bleibt, wer zukünftig

jeden Winkel unseres Lebens HARVEY ADAM die Lufthoheit hat. In seiner eindringen kann. In Ruanda Kunstwerk »Drone Shadow«, Schutzkluft gegen Infrarotkameras Videoinstallation »Drones and fliegen Transportdrohnen mit Sehen und nicht gesehen werden Drums« zeigt der Chilene Igna- Blutkonserven in entlegene Ge- cio Acosta, wie sich Angehörige biete des Landes. Im australischen Can- rung so schnell gegen einen Krieg wie der des Volkes der Samen im nordschwedi- berra liefert ein Tochterunternehmen von Tod eigener Soldaten. schen Jokkmokk gegen ein Bergbaupro- Google Pizzen per Drohne aus. Drohnen werden nicht müde, haben jekt zu Wehr setzen, indem sie mit Luft- Es ist der Anfang einer technischen Re- kein Gewissen und keine moralischen Skru- aufnahmen nachweisen, welche Auswir- volution, der hier skizziert wird. Sie wird pel. In der Friedrichshafener Ausstellung kungen es für die Umwelt hat. sich noch enorm beschleunigen und könn- hängt eine israelische »Harop«-Drohne, Drohnen demokratisieren den Blick te unsere Gesellschaft nachhaltiger ver- die ihr Ziel ansteuert wie ein Kamikaze- von oben auf die Welt. In den USA nutz- ändern, als es das Auto getan hat. flieger und sich beim Angriff selbst zerstört. ten Ureinwohner, durch deren Gebiet eine Schon 1849 setzten österreichische Sie passt zu einem Krieg, bei dem man es Pipeline gebaut wurde, die Technologie, Truppen bei der Belagerung Venedigs Bal- auf der Gegenseite mit Selbstmordattentä- um ihre Demonstrationen und eventuelle lons ein, die mit Sprengsätzen bestückt tern zu tun hat. Übergriffe der Polizei zu dokumentieren. waren. Im Zweiten Weltkrieg ließ die ja- Aber auch die zivile Welt könnte im Bevor die Drohnen abhoben, wurden sie panische Armee etwa 9000 Ballons auf- Drohnenzeitalter grundlegend anders aus- gesegnet – wie spirituelle Vögel. steigen, die Bomben trugen. 300 davon sehen. Die Drohne wird als die Lösung vie- Lars-Olav Beier sollen es über den Pazifik bis in die Verei- ler Probleme des Onlinehandels gepriesen.

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nen geredet habe. Die wuchtigen Brillen- gläser vor seinen Augen können einen täu- Alles muss raus schen, sie lassen ein Gegenüber vielleicht denken, dass jemand, der eine Sehhilfe trägt, ganz gut sehen kann. Kunstmarkt Johann König ist einer der wichtigsten Galeristen Vielleicht habe er das Buch auch schrei- ben wollen, sagt er, weil er sich die ver- Deutschlands – und fast blind. Mit gerade gangenen 25 Jahre vor allem abgelenkt mal 37 Jahren veröffentlicht er nun seine Biografie. habe und der Unfall jetzt erst so richtig bei ihm angekommen sei. Der Unfall geschah, als er zwölf Jahre erlin, ein hoher Galerieraum, unten über seine beruflichen Erfolge veröffent- alt war. Damals hantierte er in seinem B Mitarbeiter vor Monitoren. Oben, licht er nun eine Biografie mit dem Titel Zimmer mit kleinen, vom üblichen Styro- an einer der Innenwände, ist ein Bal- »Blinder Galerist«*. Das Buch ist in Zusam- por befreiten Munitionskügelchen, wie sie kon installiert, darauf ein junger Typ in menarbeit mit dem Autor Daniel Schreiber eigentlich für Startschusspistolen verwen- Nylonhose, der muskulöse Oberkörper entstanden, es ist erstaunlich unverstellt. det werden. Jungskram. Er wollte sie von nackt. Es ist eine Skulptur, sie besteht Vieles scheint, erst einmal, nicht zu- einem Behältnis in ein anderes umsortie- hauptsächlich aus Stahl und Aluminium, sammenzupassen, die Beschreibung eines ren, wollte Platz schaffen für seine neuen natürlich ist sie regungslos, und doch Traumas, die Schilderung einer Kunstwelt, Baseball-Sammelkarten. Die Tür hatte er scheint ihr Blick keine Ruhe zu geben. die »auf Exzess aufgebaut ist«, in der wilde abgeschlossen, und er weiß selbst nicht Das Werk heißt »Der Beobachter«, aber Partys und andere Übertreibungen zele- mehr, wie er sie später mit seinen zerfetz- der Kerl beobachtet einen nicht nur, er briert werden. Doch in der Gesamtheit ten Händen öffnete. guckt auf einen herab, herablassend gera- ergibt das alles Sinn, denn es gehört zum Der Schock nach der Explosion, die dezu. Wie eine Personifikation des Schick- Leben dieses Mannes. seine Hände, sein Gesicht und vor allem sals, das ja auch überheblich ist. In diesem Nur warum schreibt einer schon mit seine Augen stark verletzte, hat die Erin- Raum, in diesem Zusammenhang, wirkt 37 seine Biografie? nerung an viele Momente ausgelöscht, er dieses Stück Kunst wie ein sehr persönli- Lange genug, so sagt König bei einem schrie, »wenn ich blind bin, bringe ich ches Statement. Gespräch in seiner Galerie, habe er den mich um«. Die Galerie gehört Johann König. Seit Eindruck erweckt, als hätte er kein Pro- »Das ganze Kinderzimmer muss voller einem Unfall in seiner Kindheit kann er blem, als wäre alles in bester Ordnung, Blut gewesen sein«, seine Kindheit sei an kaum etwas sehen. Trotzdem wurde er »was aber absurd war«. diesem Tag im Februar zu Ende gewesen, einer der bekanntesten Galeristen des Lan- Vielen in der Kunstbranche sei nicht heißt es im Buch. Die erste Genesung soll- des, hat sich international einen Namen klar gewesen, wie ausgeprägt seine Seh- te zwei Jahre dauern, und es würden wei- gemacht, unterhält eine Dependance in behinderung wirklich sei, meint er. Dann tere Jahre vergehen, »bis ich nach mehre- London. scherzt er und sagt, eine Mitarbeiterin ren Operationen auf meinem linken Auge Über all das, über seine ewige Hilflosig- habe ihn gewarnt, dass etliche Leute nun- wieder einige Prozent sehen konnte und keit, die ihn, wie er sagt, oft an den Rand darüber spekulieren würden, ob er sie es mithilfe einer Brillenstärke von 16 Di- des Lächerlichseins bringe, aber ebenso überhaupt erkannt habe, wenn er mit ih- optrien in die verschwommene Welt der Sehbehinderten schaffte«. Derzeit, sagt er, komme er auf eine Seh- fähigkeit von etwa 25 bis 30 Prozent, die oft extremen Schwankungen machten ihm am meisten zu schaffen. Die Furcht vor völliger Erblindung bleibt, und er habe nie gelernt, »irgendwie mit ihr umzu- gehen«. Im Buch und im Gespräch schildert er, was ihm ständig widerfährt: wie er sich verläuft, Leute nicht erkennt, Dinge um- stößt. Irgendwann ist er beim Umsteigen am Frankfurter Hauptbahnhof in ein Gleisbett gefallen. Aber er beschreibt eben auch, wie er sich trotz aller Rück- schritte behauptet hat. König verbrachte einige Jahre seiner Jugend auf einem Internat in Marburg, einer Blindenstudienanstalt. Noch bevor er dort das Abitur bestand, hatte er eine Galerie in Berlin eröffnet. Er sagt, er sei »total privilegiert« gewesen, weil er mit Kunst und Künstlern aufgewachsen sei. Der Maler Gerhard Richter war der Trau- zeuge seiner Eltern, mit der Familie des Konzeptkünstlers On Kawara wurden MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL MUSTAFAH * Johann König, Daniel Schreiber: »Blinder Galerist«. Werk »Der Beobachter« von Elmgreen & Dragset: Bild des Schicksals Propyläen; 168 Seiten; 24 Euro. Erscheint am 14. Juni.

120 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Leuten wie Neo Rauch – einer der Stars des Galeristen Gerd Harry Lybke. Dann trennten sich die beiden, Lybke freut sich, dass Weischer anderweitig untergekom- men ist. Über König sagt er, der »ist als Galerist genauso hungrig wie ich«. Viele würden Königs ausgeprägtes unternehmerisches Denken, seine Liebe zur PR kritisieren; er, Lybke, aber beobachte ihn mit »Aufmerk- samkeit und Freude«. König ist sich sicher, er habe sich durch seine Einschränkung eine Hartnäckigkeit angeeignet, wenn er in diesem Beruf verwegene Ideen entwickeln und sie auch umsetzen wolle. Vor ein paar Jahren suchte er einen neu- en Standort und fand im weniger begehr- ten Teil von Kreuzberg eine aufgegebene katholische Kirche. Sie stammt aus der Nachkriegszeit, er hat sie umbauen lassen, aber das Kirchenhafte samt Glockenturm beibehalten. Das Innere strahlt, wenn es so etwas ge- ben kann, eine warme Betonseligkeit aus. Das Haus erwies sich als Verstärker seines Erfolgs, er sagt, hier werde Kunst weniger gesehen und eher erlebt – und dann auch gekauft. Einen Teil des Gebäudes bewohnt er selbst mit seiner Patchworkfamilie, er ist früh Vater geworden, mit Anfang zwanzig. Mittlerweile hat er vier Kinder, im Skulp- turengarten hinter der Galerie wurde Platz geschaffen für einen Sandkasten. Er will jenen alten Mythos ein wenig zerstören, demzufolge ein Galerist eine unnahbare, fast unsichtbare, irgendwie höhere Instanz ist. Zugleich gilt seine Galerie als Beispiel für das »über-coole« Berlin, wie es in der »New York Times« hieß. So steht er einerseits für eine neue anti- elitäre, antiarrogante Haltung der Kunst gegenüber. Andererseits dreht sich in der Kunstwelt nun einmal viel um Geld, um

MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL MUSTAFAH Namen. Wenn König und seine Frau Lena Händler König: »Ich habe mir Druck gemacht, Gas gegeben« zu einem Essen in ihre Galerie einladen, dann kommen alle, die Sammler, Kunst- kritiker und selbst deren oberste Bosse, Urlaube verbracht, eine der legendären oder daran, dass es da mehr ums Verste- die Verleger. Brillo-Boxen von Andy Warhol diente als hen als ums Sehen gehe, mehr um Erkennt- Jede Behinderung ist seiner Meinung Fernsehtisch. nis als ums Erkennen. Dabei hatte er am nach eine »Kategorie sozialer Ungleich- Sein Vater Kasper König lehrte als Pro- Anfang Angst, »man würde mich nicht heit«. Er sagt, er habe selbst lernen müs- fessor, wurde Akademiedirektor, dann ernst nehmen, mich auslachen, ich habe sen, seine Andersartigkeit anzuerkennen, Museumschef, er ist noch immer einer mir Druck gemacht, Gas gegeben«. Gas sie zu umarmen und daraus auch eine der bekanntesten Ausstellungsmacher der gibt er bis heute, inzwischen hat er auch »Qualität zu schöpfen«. Vielleicht werfen Welt. Eine Zeit lang sah es so aus, als wür- Malerei im Programm. ihm jetzt einige wieder Selbstvermarktung de Johann Königs älterer Halbbruder Leo Vor ein paar Jahren wechselte der Ma- vor. Er aber hat eher die Sorge, dass in die nächste Berühmtheit dieser Familie, ler Norbert Bisky zu ihm, seine Bilder seinem Buch nicht herauskommt, »dass sehr jung eröffnete er in den USA eine sind sehr gefragt, und für seine ehemalige ich nonstop arbeite«. Galerie. Das hat den Jüngeren angespornt. Galerie muss sein Weggang ein echter Manche Menschen haben sehr genaue Nun ist er vor allem derjenige, über den Verlust gewesen sein. Bisky sagt, König Vorstellungen davon, wie ihre Mitmen- geredet wird. habe »Chuzpe und Energie«, er sei einer, schen zu leben, wie sie sich zu benehmen Zuerst habe er sich als Galerist auf Kon- »der nicht nur redet, sondern auch haben. zeptkunst konzentriert, und er weiß selbst macht«. Königs Buch sagt so viel wie: Haltet nicht, ob das daran gelegen habe, dass er Matthias Weischer ist ein anderer von euch nicht daran. Ulrike Knöfel mit dieser Art Kunst aufgewachsen sei, Königs Malern. Früher war er – neben

121 IN DER SPIEGEL-APP

Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control); nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller Belletristik Sachbuch

1 (19) Donna Leon Ein Sohn ist 1 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass uns gegeben Diogenes; 24 Euro C. Bertelsmann; 20 Euro

2 (1) Ferdinand von Schirach 2 (–) Michael Winterhoff Kaffee und Zigaretten Luchterhand; 20 Euro Deutschland verdummt Gütersloher Verlagshaus; 20 Euro 3 (–) Ian McEwan Maschinen wie ich 3 (5) Meike Winnemuth Bin im Garten Penguin; 22 Euro Diogenes; 25 Euro 4 (4) Michelle Obama Becoming Goldmann; 26 Euro Ein Roboter namens Adam steht im Mittelpunkt des Romans, in dem es um 5 (2) Harald Jähner künstliche Intelligenz, Wolfszeit Rowohlt Berlin; 26 Euro aber viel mehr noch um menschliche Moral geht. 6 (6) Stephen Hawking Kurze Antworten auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro

4 (4) Dörte Hansen 7 (3) Jürgen Todenhöfer Mittagsstunde Penguin; 22 Euro Die große Heuchelei Propyläen; 19,99 Euro

5 (2) Martin Walker 8 (7) Greta Thunberg/Svante Thunberg/ Menu surprise Diogenes; 24 Euro Malena Ernman/Beata Ernman Szenen aus dem Herzen S. Fischer; 18 Euro 6 (3) Simon Beckett Die ewigen Toten Wunderlich; 22,95 Euro 9 (9) Sebastian Fitzek Fische, die auf Bäume klettern Droemer; 18 Euro

ANN ESSWEIN 7 (5) Axel Milberg 10 (8) Marcel Eris/Dennis Sand Düsternbrook Piper; 22 Euro MontanaBlack Riva; 19,99 Euro 8 (7) Saša Stanišić 11 (10) Andreas Michalsen Herkunft Luchterhand; 22 Euro Mit Ernährung heilen Insel; 24,95 Euro

9 (9) Daniela Krien 12 (11) Andrea Wulf Die Abenteuer des Krankes Wasser Die Liebe im Ernstfall Diogenes; 22 Euro Alexander von Humboldt C. Bertelsmann; 28 Euro 10 (6) Sibylle Berg Die Menschen hier nennen ihn Groß- GRM Kiepenheuer&Witsch; 25 Euro 13 (–) Jürgen Kaube Ist die Schule zu blöd mütterchen, für die indigenen Maya für unsere Kinder? 11 (8) Walter Moers hat er einen Vor- und Nachnamen: Rowohlt Berlin; 22 Euro Cristalina Atitlán. Der Atitlánsee liegt Der Bücherdrache Penguin; 20 Euro mitten in Guatemala, für Hundert - 12 (–) Martha Grimes Inspektor Jury und Die klare Antwo rt auf die tausende Menschen ist er die einzige der Weg des Mörders Goldmann; 20 Euro Titelfrage lautet: Ja! Doch Frischwasserquelle. Doch seit Jahr- der Autor beschränkt sich 13 (10) Anne Frank nicht aufs Lamentieren, zehnten leiten sie ihre Abwässer sondern stellt Forderungen. Liebe Kitty Secession; 18 Euro hinein. Pestizide, Algen – der Atitlán droht zu kippen. Nun will eine Organi- 14 (12) Leïla Slimani All das 14 (12) Lucas Vogelsang/Joachim Król sation den See retten und plant die zu verlieren Luchterhand; 22 Euro Was wollen die denn hier? größte Kläranlage Mittelamerikas. Rowohlt; 20 Euro 15 (17) Alina Bronsky Der Zopf meiner Warum ist die Bevölkerung dagegen? Großmutter Kiepenheuer&Witsch; 20 Euro 15 (16) Theo Waigel Ehrlichkeit ist eine Währung Econ; 24 Euro Sehen Sie die Visual Story im digitalen 16 (15) John Ironmonger Der Wal und 16 (13) Yuval Noah Harari 21 Lektionen für das Ende der Welt S. Fischer; 22 Euro SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. das 21. Jahrhundert C.H. Beck; 24,95 Euro 17 (11) Joël Dicker Das Verschwinden 17 (15) Anne Fleck der Stephanie Mailer Piper; 25 Euro Ran an das Fe tt Wunderlich; 24,99 Euro

18 (18) Nele Neuhaus 18 (18) Dieter Nuhr Muttertag Ullstein; 22 Euro Gut für dich! Lübbe; 15 Euro

19 (13) Sebastian Fitzek 19 (20) Harald Welzer Alles könnte Der Insasse Droemer; 22,99 Euro anders sein S. Fischer; 22 Euro

20 (14) Carmen Korn 20 (19) Ian Kershaw JETZT DIGITAL LESEN Zeitenwende Kindler; 19,95 Euro Achterbahn DVA; 38 Euro

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miss, eine unauffällige Bürokratie, der halbwegs funktionie- rende Alltag – sich einer auf »personal stories« und Sensa- Lebenslügen der tionen trainierten Öffentlichkeit nicht mehr vermitteln lässt? Und was wird aus den gebildeten Ständen, wenn selbst die Eltern der YouTuber-Generation beim zweiten Glas Rotwein gebildeten Stände zugeben, längst lieber Serien zu gucken, als die Zeitung oder einen Roman zu lesen? Filmkritik Offenbar war es das Anliegen des Regisseurs, die Lebens- Juliette Binoche und charmante lügen der tonangebenden Schichten zu enthüllen: Diese Leute Kollegen trödeln und plaudern sind verheiratet, aber sie gehen fremd; sie zehren von intel- sich durch »Zwischen den Zeilen«. lektuellen und moralischen Ressourcen, die sie weder nach- füllen noch erneuern. Ihre Altbauwohnungen sind Kulissen Kinostart: 6. Juni einer absterbenden Kultur, und sie selbst sind voller Un- sicherheit und Angst, bereits überflüssig zu sein. In ihren ranzösische Filme haben beim deutschen Publikum den Unternehmen belegen die Digital Natives bereits strategisch F Ruf charmanter Unerschrockenheit. Sie greifen, wie wichtige Plätze, und weil die Älteren nicht wissen, was sie »Ziemlich beste Freunde«, Klassenschranken und tragi- mit den Jüngeren anfangen können, behandeln sie diese wie sche Schicksale auf, ohne in Melancholie zu versinken. Sie eine Bedrohung: Jetzt mögen es nur analphabetische Kinder erzählen anschaulich und versöhnlich vom Generationen- sein, aber morgen können sie uns schon enthaupten! konflikt wie »Frühstück bei Monsieur Henri«. Oder sie thematisieren die Vorurteile aller gegen alle ohne republikanischen Selbsthass wie die Komödien um den bourgeoisen Provinzpatriarchen »Monsieur Claude«. Wer sich einen Film aus Frankreich an- schaut, erwartet nicht nur historische Gemäuer, ge- pflegte Landschaften und Menschen mit unange- strengtem Chic, sondern auch das angenehme Gefühl beim Verlassen des Kinos, man habe die aktuellen Gesellschaftsprobleme im Blick und allen Grund zur Beruhigung. Es wird schon nicht so schlimm kom- men, am Ende sind wir alle selbstverliebte, aber harmlose Betrüger, und eine Pâté mit einem Bor- deaux hilft über jede soziale Flaute hinweg. Insofern hat Olivier Assayas, als Regisseur zuletzt für »Personal Shopper« in Cannes ausgezeichnet und eine anerkannte Größe des frankofonen Films, alles richtig gemacht: In »Zwischen den Zeilen« bewegen sich namhafte Darsteller in atmosphärisch perfekten Kulissen; man plaudert in Pariser Bistros, deren Geruch nach altem Holz und frischen Frites der Zuschauer einzuatmen meint. Und man ist auch beim obligaten Ausflug in das noble, beneidenswert

gastliche Haus auf dem Lande dabei, in dem das ALAMODE FILM Kaminfeuer brennt und in dessen Park sich unter Darstellerin Binoche: Du gehst wieder fremd? mächtigen Bäumen vertraulich parlieren lässt. Nach gemeinsam verbrachten Nächten erwachen die Frau- en in elfenhafter Frische und die jeweiligen Geliebten erotisch All dies hätte Witz und würde womöglich sogar Erkennt- oder wenigstens geistig animiert, und wenn ein Kind die Sze- nisgewinn bringen, wenn irgendeiner dieser Konflikte anders ne unerwartet stört, wird es mit liebevollem elterlichem Witz durchgespielt würde als ein gesprochener Leitartikel – und unfallfrei wieder ins Bett oder zum Kindermädchen expediert. wenn irgendeines dieser menschlichen Klischees, die Assayas Anmut und lässige Schönheit dominieren die Bilder, und bei da vor die gütige Kamera bringt, in einem Moment von Freu- jedem der zahlreichen Essen unter Freunden nähme man de oder Verzweiflung zu leben begänne. So aber gähnen wir gern auf einem der komfortablen Sessel Platz. uns höflich verdrossen durch Ehegespräche, die so quälend Gleichwohl fühlen sich diese gut hundert Film- sind wie erwartbar: Es gibt also wirklich eine Gelieb- minuten bald wie eine Abendeinladung an, bei der te, und es ist tatsächlich vorbei? Und du bist nun end- man auf einen dringenden Anruf hofft, der einen lich schwanger geworden, und das macht mich sagen- wieder nach Hause bringt – und sei es in eine unauf- haft glücklich? Und in drei Jahren sehen wir einen geräumte Küche mit quengeligen Vierlingen. Das hat Fortsetzungsfilm, und du gehst wieder fremd? nichts damit zu tun, dass die besprochenen Themen Es ist gerade viel los in Frankreich. Noch mischen nicht interessant oder sogar wichtig wären: In »Zwi- Video die Gelbwesten den traditionellen Zentralismus auf, schen den Zeilen« geht es um einen Schriftsteller Ausschnitte an der Côte d’Azur verdüstert hochgerüstete Polizei (Vincent Macaigne), der die neue Verlagswelt und aus das touristische Bild, in den Banlieues riecht es nach »Zwischen die Art, wie ein Verleger (Guillaume Canet) heute den Zeilen« Bürgerkrieg. Das Freundlichste, was man über diesen Bestseller macht, nicht mehr versteht. Eine Geschich- Film sagen kann: Er nimmt keine Notiz davon, und te, die Chiffre für den großen sozialen und medialen spiegel.de/ er schlägt keinen Profit daraus. Er schwebt über der sp232019film Wandel ist, in dem wir leben. Was wird aus der Poli- oder in der App Realität wie ein Schlager, der ein Chanson sein will. tik, wenn das Wesen der Demokratie – der Kompro- DER SPIEGEL Elke Schmitter

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 123 Service Leserbriefe SPIEGEL-Verlag, Ericusspitze 1, 20457 Hamburg Ericusspitze 1, 20457 Hamburg, Telefon 040 3007-0 · Fax -2246 (Verlag), -2247 (Redaktion) · Mail [email protected] www.spiegel.de/leserbriefe, Fax: 040 3007-2966 Mail: [email protected] Vorschläge für die Rubrik »Hohlspiegel« nehmen wir Impressum MEINUNG Lothar Gorris KAPSTADT Bartholomäus Grill, auch gern per Mail entgegen: [email protected] P. O. Box 15614, Vlaeberg 8018, Kapstadt, HERAUSGEBER Rudolf Augstein SPIEGEL PLUS Alexander Neubacher Tel. +27 21 4261191 Hinweise für Informanten (1923–2002) DEIN SPIEGEL Leitung: Bettina Stiebel, Kathrin Breer (stellv.). Redaktion: Antonia KIEW Luteranska wul. 3, kw. 63, Falls Sie dem SPIEGEL vertrauliche Dokumente und CHEFREDAKTION 01001 Kiew, Tel. +38 050 3839135 Informationen zukommen lassen wollen, stehen Ihnen Steffen Klusmann (V.i.S.d.P.), Dr. Barbara Bauer, Claudia Beckschebe, Patrick Blume, Hans, Clemens Höges, Jörn Sucher (stellv.) Alexandra Schulz, Marco Wedig LONDON Jörg Schindler, folgende Wege zur Verfügung: Post: , c/o Investigativ, Ericusspitze 1, CHEF VOM DIENST Anke Jensen, 26 Hanbury Street, London E1 6QR, DER SPIEGEL BLATTMACHER Armin Mahler Thomas Schäfer, Gesine Block (stellv.) Tel. +44 203 4180610 20457 Hamburg NACHRICHTENCHEF Stefan Weigel Telefon: 040 3007-0, Stichwort »Investigativ« Schlussredaktion: Christian Albrecht, MADRID Apartado Postal Número 100 64, MANAGING EDITOR Susanne Amann Gartred Alfeis, Ulrike Boßerhoff, Regine 28080 Madrid, Tel. +34 650652889 Mail (Kontakt über Website): www.spiegel.de/investigativ REPORTER Ullrich Fichtner Brandt, Lutz Diedrichs, Ursula Junger, Unter dieser Adresse finden Sie auch eine Anleitung, MOSKAU Christian Esch, Glasowskij HAUPTSTADTBÜRO Dirk Kurbjuweit Birte Kaiser, Dörte Karsten, Sylke Kruse, wie Sie Ihre Informationen oder Dokumente durch eine Katharina Lüken, Stefan Moos, Sandra Pereulok Haus 7, Office 6, 119002 Moskau, Leitung: Dr. Melanie Amann, Martin Tel. +7 495 22849-61 PGP-Verschlüsselung geschützt an uns richten können. Knobbe; Wolf Wiedmann-Schmidt Pietsch, Fred Schlotterbeck, Sebastian Der dazugehörende Fingerprint lautet: Schulin, Sandra Waege (Teamltg. Politik), Christian Reiermann NEW YORK Philipp Oehmke, 233 Broad- 6177 6456 98CE 38EF 21DE AAAA AD69 75A1 27FF 8ADC (Teamltg. Wirtschaft). Redaktion Politik und Produktion: Petra Thormann, Reinhard way, Suite 1460, New York, NY 10279, Wirtschaft: Nicola Abé, Maik Baumgärtner, Tel. +1 212 2217583, [email protected] Wilms; Kathrin Beyer, Michele Bruno, Redaktioneller Leserservice Markus Dettmer, Julia Amalia Heyer, Veit Sonja Friedmann, Linda Grimmecke, Petra Medick, Ann-Katrin Müller, Ralf Neukirch, PARIS Britta Sandberg, 137 Rue Vieille du Telefon: 040 3007-3540 Fax: 040 3007-2966 Gronau, Ursula Overbeck, Britta Romberg, Temple, 75003 Paris, Tel. +33 1 58625120 Sven Röbel, Cornelia Schmergal, Christoph Martina Treumann, Rebecca von Hoff, Mail: [email protected] Schult, Anne Seith, Gerald Traufetter. Katrin Zabel Autoren, Reporter: Susanne Beyer, Markus PEKING Bernhard Zand, P.O. 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Reporterin: Michaela Ralf Geilhufe, Kristian Heuer, Elsa Janssen, Cordelia Freiwald (stellv.), Peter Schießl Hundertmark, Louise Jessen, Nils Küppers, Wahle (stellv.); Zahra Akhgar, Dr. Susmita Abonnementspreise AUSLAND Leitung: Mathieu von Rohr, Annika Loebel, Leon Lothschütz, Florian Arp, Viola Broecker, Dr. Heiko Buschke, Juliane von Mittelstaedt (stellv.), Maximili- Rauschenberger, Barbara Rödiger Johannes Eltzschig, Klaus Falkenberg, Inland: 52 Ausgaben € 265,20 Catrin Fandja, Thorsten Hapke, Susanne an Popp (stellv.). Redaktion: Fiona Ehlers, TITELBILD Leitung: Katja Kollmann, Studenten Inland: 52 Ausgaben € 187,20 Katrin Kuntz, Jan Puhl, Raniah Salloum, Heitker, Carsten Hellberg, Stephanie Johannes Unselt (stellv.); Suze Barrett, Auslandspreise unter www.spiegel.de/ausland Samiha Shafy, Helene Zuber. Autoren, Iris Kuhlmann Hoffmann, Bertolt Hunger, Kurt Jansson, Reporter: Marian Blasberg, Susanne Koelbl, Stefanie Jockers, Michael Jürgens, Tobias Dietmar Pieper, Christoph Reuter Kaiser, Renate Kemper-Gussek, Ulrich Mengenpreise unter abo.spiegel.de/mengenpreise Klötzer, Ines Köster, Anna Kovac, Peter WISSENSCHAFT UND TECHNIK Leitung: REDAKTIONSVERTRETUNGEN Abonnentenservice Rafaela von Bredow, Olaf Stampf. DEUTSCHLAND Lakemeier, Dr. Walter Lehmann-Wiesner, Persönlich erreichbar Redaktion: Dr. Philip Bethge, Manfred Rainer Lübbert, Sonja Maaß, Nadine Mo. – Fr. 8.00 – 19.00 Uhr, Sa. 10.00 – 18.00 Uhr Dworschak, Marco Evers, Dr. Veronika BERLIN Alexanderufer 5, 10117 Berlin; Markwaldt, Dr. Andreas Meyhoff, Gerhard SPIEGEL-Verlag, Abonnenten-Service, 20637 Hamburg Hackenbroch, Guido Kleinhubbert, Deutsche Politik, Wirtschaft Minich, Cornelia Moormann, Tobias Mulot, Bernd Musa, Claudia Niesen, Sandra Öfner, Telefon: 040 3007-2700 Fax: 040 3007-3070 Julia Koch, Kerstin Kullmann, Hilmar Tel. 030 886688-100; Deutschland, Mail: [email protected] Schmundt, Frank Thadeusz, Christian Wissenschaft, Kultur, Gesellschaft Dr. Vasilios Papadopoulos, Ulrike Preuß, Wüst. Autor: Jörg Blech Tel. 030 886688-200 Axel Rentsch, Thomas Riedel, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Marko ¡ KULTUR Leitung: Sebastian Hammelehle, DRESDEN Steffen Winter, Wallgäßchen 4, Scharlow, Mirjam Schlossarek, Dr. Regina Tobias Rapp (stellv.). Redaktion: Tobias 01097 Dresden, Tel. 0351 26620-0 Schlüter-Ahrens, Mario Schmidt, Andrea Abonnementsbestellung Becker, Lars-Olav Beier, Ulrike Knöfel, Schumann-Eckert, Ulla Siegenthaler, Katharina Stegelmann, Claudia Voigt, DÜSSELDORF Frank Dohmen, Meike Stapf, Rainer Staudhammer, bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an: Martin Wolf, Takis Würger. 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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel François Weyergans, 77 Prem Tinsulanonda, 98 Nachrufe Wer mit dem romanhaften Er war eine der einfluss- Bericht über seine Psycho- reichsten Figuren der analyse die schriftstelle - jüngeren thailändischen rische Bühne betritt, der Geschichte, ein schneidig kennt sich im weiteren Ver- gekleideter General a.D., lauf seines Schreibens in der glühender Monarchist und eigenen Seele aus. Denkt Topberater des Königs, der man. Doch François Weyer- Zeit seines Lebens unverhei- gans, der am 2. August 1941 ratet blieb und die Armee in Brüssel als Sohn eines seine Familie nannte. Seine belgischen Schriftstellers Karriere begann während und dessen aus Frankreich des Zweiten Weltkriegs, zog stammender Frau geboren sich durch den Kalten Krieg wurde, hat sich im Laufe und endete schließlich zu seines Arbeitslebens aufs Abenteuerlichste in der eigenen Psyche verlaufen. Er hatte zunächst Philolo- gie, dann an der Filmhoch-

SCIENCE PHOTO LIBRARY / AKG-IMAGES LIBRARY SCIENCE PHOTO schule studiert, drehte eini- ge eher erfolglose Filme, Murray Gell-Mann, 89 dann schrieb er »Le Pitre« Der Ruhm des Physikers begann mit seltsamem Verhalten. (»Der Hanswurst«) über Anfang der Fünfzigerjahre hatten Experimente mit Teil- jene Analyse. Berühmt chenbeschleunigern neue Partikelarten zutage gefördert, wurde er mit dem Roman die sich anders verhielten, als die bis dahin bekannten »Franz et François« Atombestandteile Protonen, Neutronen und Elektronen. (1997) über den liebevollen Die Eigenschaften einiger dieser neuen Partikelarten be - Zweikampf zwischen sei- zeichnete man als »strange behavior«. Der junge Physiker nem Alter Ego François und

Murray Gell-Mann entwickelte ein System, diese Ele - dessen Vater Franz. Ein AKG-IMAGES mentarteilchen zu ordnen und benannte ihren Grund - Duell voller Fluchtbewegun- bestandteil – die »Quarks«. Ihr Name ist eine Reverenz gen in die Geistesgeschichte einer Zeit, als das Militär in an James Joyce’ Werk »Finnegans Wake«, in dem Joyce und die erotische Gegen- Bangkok seine Macht eine Kunstsprache kreiert; Gell-Mann liebte Sprachen. wart. Den Prix Goncourt zementierte. Prem Tinsula- 1969 erhielt er den Nobelpreis für Physik. Seine Forschung gewann er 2005 ausgerech- nonda, der als Vaterfigur ermöglichte es Wissenschaftlern, das Verhalten von Ele- net gegen Michel Houelle- galt und sich gern »Pa« mentarteilchen zu berechnen. Der Sohn österreichischer becq mit seinem nervenzeh- Prem nennen ließ, war bis Immigranten kam im Jahr 1929 in New York zur Welt. in die Achtzigerjahre Chef Er übersprang mehrere Schulklassen und begann schon der thailändischen Armee, als 15-Jähriger ein Studium an der Universität Yale. Im dann wurde er für acht Jah- Alter von 21 Jahren promovierte er am Massachusetts Insti- re Premierminister. Als tute of Technology zum Doktor der Physik. In seiner spä - Regierungschef stand er für teren Karriere wandte sich der Liebhaber langer Wande- politische Stabilität nach rungen auch anderen Wissenschaftsbereichen zu, zum Bei- einer Dekade, in der acht spiel der Soziologie. 1994 erschien sein Buch »Das Quark Regierungen und drei Mili- und der Jaguar«, in dem Gell-Mann eine »neue Erklärung tärputsche die Bürger stra- der Welt« entwarf. Murray Gell-Mann starb am 24. Mai in paziert hatten. Während Santa Fe. RED des Kalten Krieges ordnete sich die politische Land- schaft in Thailand rund um Friedgard Kurze, 90 Monarchie und Armee. Sie war mitverantwortlich für eines der langlebigsten Prems Nähe zu dem 2016 DDR-Kulturprodukte: Als Puppenspielerin führte und verstorbenen König Bhumi-

sprach Friedgard Kurze die schnell plappernde Ente / AFP GUILLOT FRANCOIS bol war bemerkenswert. Schnatterinchen im »Abendgruß«, der Sendung mit dem 1998 wurde der einfluss - DDR-Sandmännchen. Auch Westkinder ließen sich von renden Roman »Drei Tage reiche Prem Präsident den fantasievollen Geschichten verzaubern. »Nak nak bei meiner Mutter«, in dem des Kronrats – eine Posi - nak«, begann Schnatterinchen oft ihre Unterhaltung mit sein Held den Be such tion, die er bis zu seinem dem Kobold Pittiplatsch an ihrer Seite. Kurze erfand die bei seiner Mutter ins schier Tod hielt. Die Kräfte der quietschgelbe Puppe Ende der Fünfzigerjahre gemeinsam Endlose hinausschiebt – alten Ordnung wirken mit ihrem Kollegen Heinz Schröder. Nach Wiederverei - und stattdessen diesen bis heute durch die in nigung und Abwicklung des DDR-Fernsehens war Schluss Lebensverhinderungsbe- Bangkok bestimmenden mit neuen Geschichten, Kurze arbeitete noch einige Zeit richt schreibt. François Generäle fort. Prem als Sprecherin für Kindergeschichten und Hörspiele. Fried- Weyergans starb am 27. Mai Tinsulanonda starb am gard Kurze starb am 19. Mai in Berlin. KS in Paris. VW 26. Mai in Bangkok. KKU

DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 125 Personalien

Freiheit statt Pflicht

G Die US-amerikanische Schauspielerin Olivia Wilde, 35, erlebt nach 15 Jahren Arbeitsleben eine Befreiung: Ihr Aussehen spielt keine Rolle mehr in ihrem neuen Job. Ihr Regiedebüt fürs Kino »Booksmart«, seit vergangener Woche in den amerikanischen Kinos und von Kritikern bereits gefeiert, sei die erste Arbeit, die sie »völlig un ab hän - gig« von ihrem Äußeren habe machen kön- nen, sagte sie der »New York Times«. Die Erkenntnis habe sie schockiert, so Wilde, aber sie habe viel darüber nachgedacht. Ihr Portfolio ist eher beschränkt, sie spielte bisher meist Nebenrollen, sexy, dekorativ, intellektuell nicht gerade anspruchsvoll. Sie habe es als eine Art Pflicht gesehen, die »perfekte Frau« zu verkörpern – so wie andere sich diese vorstellen. Sie wurde der- art häufig in erster Linie wegen ihres Aus - sehens engagiert, dass sie ihr Talent in Zwei- fel zog. Doch Wilde will die Schauspielerei trotzdem keineswegs aufgeben: »Wenn du zu alt wirst, dich dumm zu stellen, wird es

erst wirklich interessant.« KS / INTERTOPICS DCP / PICTURELUX

Wollen Sie diesen das er als Coverboy posiert. das öffentlich unterstützen. Fußballstadien und Spieler - Wenn demnächst wieder ein- Mann nackt sehen? garderoben seien nun einmal mal ein Spieler eine homo - nicht gerade gay-friendly. Wie phobe Beschimpfung loslasse, G Der heterosexuelle fran - es sich anfühlt, als »Homo« dann werde er nicht weiter- zösische Nationalspieler beschimpft zu werden, hat er spielen, sagte der Topspieler Antoine Griezmann, 28, for- selbst schon erlebt. Wegen entschlossen. Griezmann freut dert ein härteres Auftreten seiner blonden Locken sei er sich, dass er auch viele schwu- gegen Homophobie im Fuß- im Stadion früher öfter als le Fans hat: »Ich finde das ball. Er wundere sich nicht »Schwuchtel« oder »dreckiger super. Je mehr Fans ich habe, darüber, dass bisher kaum Blondie« diffamiert worden. desto besser.« Auf Nachfrage ein aktiver Profi ein Coming- Er habe bisher keinen schwu- des Magazins lehnte der zwei- out gewagt habe, sagte der len Spieler getroffen, glaubt fache Vater Nacktaufnahmen Stürmer dem französischen Griezmann. Sollte sich aber von sich ab: »Mein Körper Schwulenmagazin »Têtu«, für jemand outen wollen, will er gehört nur meiner Frau.« PE

126 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 A yiddishe rin beschreibt darin ihren Ausbruch aus der chassidi- filmeleh schen Gemeinde in Williams- burg, New York. »Ich hatte G Es ist eine Premiere schon eine Verfilmung des Buches vor dem letzten Drehtag. In immer abgelehnt, vielleicht Berlin wird derzeit zum ers- aus Angst, dass mir mein ten Mal seit Kriegsende eine Leben dadurch noch frem- ganze Filmreihe in jiddischer der werden könnte«, sagt Sprache gedreht: »Unortho- Feldman. »Aber die Chance, dox«, nach dem Bestseller in dieser Stadt einen Film zu von Deborah Feldman, 32. machen, in dieser Sprache Die in Berlin lebende Auto- und dazu noch maßgeblich von Frauen gedreht – das war schon sehr verlockend.«

Die vierteilige Serie wird JULIAN RETTIG / DER SPIEGEL für Netflix produziert und soll im März 2020 zu sehen Der Augenzeuge sein. Regie führt Maria Schrader, produziert wird sie von Anna Winger »In die Luft gesprengt« (»Deutschland 83«), die auch das Drehbuch schrieb, Die Werbefigur der Bundesgartenschau in Heilbronn zusammen mit der Filme - heißt »Karl« – und wird oft Opfer von Vandalismus. macherin Alexa Karolinski. Der Bürgermeister der Nachbargemeinde Unter - Ein weiterer Drehort ist gruppenbach, Andreas Vierling, 30, über mögliche

STEFFEN JAENICKE / DER SPIEGEL JAENICKE STEFFEN New York. SMO Hintergründe der Gewalt gegen Gartenzwerge.

G »Ich war anfangs kein Fan von ›Karl‹. Diese schreiende Eiskalt und de Anne jede Menge Geld in Farbe, so viele Ecken und Kanten – und überhaupt: ein spie- ein Start-up-Unternehmen ßiger Gartenzwerg als Symbol für das moderne Heilbronn? mysteriös investiert, nachdem der Ehe- Trotzdem haben wir das Maskottchen der Bundesgarten- mann der Firmengründerin schau kurz vor dem Ortsschild unserer Gemeinde aufgestellt. G Es muss wohl als Versuch eine Nacht mit ihr verbracht ›Untergruppenbach grüßt die Buga‹, haben wir darunter- gewertet werden, ihrer ganz hat. Abgesehen davon, dass geschrieben und drum herum eine Wildblumenwiese ange- persönlichen Bridget-Jones- der Plot der ersten Folge legt. Mittlerweile gehört ›Karl‹ ganz selbstverständlich zum Schokolade-zum-Frühstück- ziemlich alt aussieht – »Ein Ortsbild und ist beliebt bei den Bürgern. Hölle zu entkommen: In unmoralisches Angebot« Die Buga-Organisatoren haben 150 Gartenzwerge aus ihrer ersten Serienrolle (1993) lässt grüßen –, fällt es Hartplastik, alle pinkfarben, in 86 umliegenden Gemeinden (»What/If«) für den Strea- ohnehin schwer, Zellweger verteilt. Fast jede Woche kommt es nun zu Angriffen auf mingdienst Netflix spielt anzuschauen. Ihre Augen- die Figuren. Eine Lokalzeitung titelte schon: ›Terror gegen Renée Zellweger, 50, eine lider hält sie meist gesenkt, die Buga?‹ In unseren zwei Nachbargemeinden wurden die eiskalte, stinkreiche, mys - den Blick starr, nur ihrem Zwerge in die Luft gesprengt. Meistens aber werden die teriöse Geschäftsfrau. Ein - Mund gönnt sie ab und zu ›Karls‹ einfach geklaut. In Bad Rappenau tauchte ein Zwerg gefroren scheint auch die ein Kräuseln oder Spitzen. auf dem Dach eines Supermarkts wieder auf. Spätestens als Mimik der Schauspielerin, Sie macht einem ein biss- ein Zwerg mit einem Strick um den Hals von einer Brücke die als allmächtig auftreten- chen Angst. KS baumelte wie in Widdern, wurde es aber richtig ärgerlich. Das ist Sachbeschädigung, die man nicht hinnehmen kann. Unser ›Karl‹ verschwand am Wochenende nach dem 1. Mai. Über den Feiertag hatten ihn die Bauhofmitarbeiter abmontiert, damit ihm nichts passiert, aber ein paar Tage später war er wirklich weg. In der Gemeinde haben sich manche aufgeregt, auch in den sozialen Netzwerken gab es Empörung. Wir haben Zettel drucken lassen, auf denen stand: ›Karl wanted!‹. Noch bevor wir sie aufhängen konn- ten, fand der Golden Retriever eines Spaziergängers unse- ren ›Karl‹ im Unterholz eines Wäldchens. Wir haben die 160 Zentimeter große Figur jetzt mit Beton gefüllt, damit sie schwerer wird. Hoffentlich schreckt das Diebe ab. Die Bundesgartenschau ist in der Region eigentlich nicht so umstritten. Auch ich stehe voll hinter ihr. Es gibt meines Wissens keine Ökoaktivisten, die Stadtmarketingevents wie Bundesgartenschauen doof finden. Ich glaube, die Täter sind eher jugendliche Vandalen, die um Aufmerksamkeit in

ADAM ROSE / NETFLIX ROSE ADAM ihrer Clique buhlen.« Aufgezeichnet von Anna Clauß

127 »Vielleicht gibt es Gründe, warum Europas ›Sauberfrau‹ Marine Le Pen zwar im Text, aber nicht auf dem Titelbild erscheint. Sie gehört jedenfalls mit zu diesen Rechtspopulisten!«

Harald Neuschäfer, Feldkirchen-Westerham (Bayern)

Endzeitstimmung Vielleicht sollte Deutschland zusammen sie ganz oder in Teilen erfunden sein könn- mit Frankreich und den Niederlanden mal ten. Auch in Zukunft möchte ich derartige Nr.22/2019 Das wahre Gesicht der Rechtspopulisten – Europas Saubermänner ein Europa der verschiedenen Geschwin- Reportagen, natürlich auf Fakten basie- digkeiten entwerfen. Dann aber auch mit rend, im SPIEGEL lesen. Allein das Titelbild ist mal wieder den Preis Ausgleichszahlungen nur an Staaten, die Detlef Stoll, München fürs ganze Heft wert! unsere Geschwindigkeit mitgehen. Die Dr. Christian Kuhlgatz, Bad Schwartau (Schl.-Holst.) Populisten wären dann ganz schnell in der Ich empfinde die mediale Hinrichtung des Versenkung verschwunden. Besser eine Herrn Relotius, und das in mehreren Aus- Die Herren auf dem Titelbild könnte man geordnete Trennung als ewiger Streit! Die gaben und über viele Seiten hinweg, als statt als »Saubermänner« auch als Stroh- Sollbruchstelle in der EU ist ja bereits vor- völlig unangemessen. Ja, er hat Märchen männer fremder Mächte bezeichnen. Denn handen: die Eurozone und der Rest. erzählt und gelogen, aber im Grunde nie- diese wollen die EU, der wir die längste Matthias Jäger, Minden (NRW) mandem direkt geschadet. Das hätte an- Friedensperiode Mitteleuropas und Wohl- ders gelöst werden können. stand verdanken, wieder spalten. Damit Dr. Bernd Ramm, Berlin würde die Europäische Union, die gerade einmal gut sieben Prozent der Weltbevöl- Erstaunlich ehrlich ist der Abschlussbe- kerung stellt, zum Spielball der USA, Chi- richt. Das hat mich beeindruckt. Dass ein nas und Russlands. Magazin, das so stolz auf die Aufdeckung Ekkehard Sander, Denkendorf (Bad.-Württ.) der Betriebsblindheit der anderen ist, selbst in der eigenen Betriebsblindheit Es scheint vor allem in der personalstarken gefangen ist, hätte ich nicht erwartet, und

SPIEGEL-Redaktion eine Endzeitstimmung / LAIFLENA MUCHA / NYT / REDUX es gehört einiges dazu, das so zuzugeben. zu geben, sollten die Rechten sich auch in Extremisten in Wien 2018 Ich finde es interessant zu lesen, wie Juan unserem Land irgendwann an der Regie- Moreno erst einmal abgewehrt wird, als er rung beteiligen. Dabei ist das in anderen »Eine Geschichte sollte immer mehrere versucht, den vermeintlichen Überflieger Ländern vielfach längst Realität, ohne dass Perspektiven einnehmen…«, heißt es in als Hochstapler zu entlarven. Auf der an- dort die Welt untergeht. Passagen des Arti- dem Bericht der Relotius-Kommission. deren Seite sollten Sie Ihre Leser für mün- kels triefen bei der Beschreibung der Popu- Warum wird dann doch wieder recht ein- dig genug halten, dass diese den inhalt- listen vor Hass, den man sonst immer nur seitig über die Saubermänner berichtet? lichen Wahrheitsgehalt Ihrer Reportagen den Rechten vorwirft. Das ist reine Wahl- Klaus Fischer, Ditzingen (Bad.-Württ.) nicht immer glauben und auch sonst nicht kampfhilfe für die Ungeliebten. Es scheint alles, was Sie schreiben. Der SPIEGEL beim SPIEGEL noch nicht die Einsicht Erstaunlich ehrlich schreibt immer nur die Wahrheit der Platz gegriffen zu haben, dass wir eine par- SPIEGEL-Redaktion. Eine solche Geschlos- Nr.22/2019 Geschäftsführer Thomas Hass lamentarische Demokratie mit garantier- und Chefredakteur Steffen Klusmann senheit und Abwehrhaltung gegen Refle- ter Meinungsfreiheit sind. Dazu gehören über den Betrugsfall Relotius und die Folgen xion und Selbstkritik, wie sie der Abschluss- unterschiedliche politische Ansichten und bericht zeigt, habe ich nicht erwartet. Parteien von links bis rechts. Auch natio- Respekt für diese schonungslose Transpa- Reiner Girstl, Berlin nalistische Einstellungen muss man in ei- renz. Die Arbeit der Aufklärungskommis- ner Demokratie ertragen können. Sollte sion wird ja ohne jede Rücksicht auf das Eine schlüssige Erklärung für den »Fall das Volk solchen Parteien die Mehrheit ge- Ansehen des SPIEGEL oder der benann- Relotius« haben Sie mit Ihrem Abschluss- ben, wurde vorher falsch regiert. Da das ten leitenden Angestellten veröffentlicht. bericht in der Tat geliefert – anscheinend in Deutschland bisher nicht der Fall ist, Das macht Mut und beweist, dass die Le- ohne es zu bemerken: »Die Reportagen … werden die Rechten immer eine Minder- ser sich nach wie vor auf Sie verlassen sind oft filmisch erzählte Geschichten; heit bleiben, vor der die Regierungspartei- können. Plots werden akribisch geplant und Figu- en auf Bundesebene keine Angst zu haben Uwe Fischbeck, Weiterstadt (Hessen) ren gelegentlich wie bei einem Filmcasting brauchen. gesucht.« Mit anderen Worten, die Story Erich Steger, Schwaig (Bayern) Die akribische, keinen Stein auf dem an- und ihre zentralen Aussagen stehen schon deren lassende Arbeit der Kommission vorher fest; die Aufgabe der Reporter be- Die umfassende Darstellung des Rechts- verdient höchsten Respekt. Ich habe gro- steht nur noch darin, Statisten zu finden, populismus in Europa ist interessant und ßes Vertrauen in den SPIEGEL, dass die die den gewünschten O-Ton liefern und nachdenkenswert. Dem Konzept des Euro- Veränderungsvorschläge aufgenommen dafür ihren Namen und ihr Bild zur Ver- pas der Nationen, das an de Gaulle er- und umgesetzt werden. Die erzählerischen fügung stellen, um der Geschichte den ir- innert, des »Europas der Vaterländer«, ist Geschichten, explizit die des Claas Relo - reführenden Anschein von Authentizität das Motto der EU entgegenzusetzen: »In tius, Ereignisse bis ins kleinste Detail schil- zu geben. Der »Fall Relotius« ist, wie Sie Vielfalt geeint«. Das verbietet unnötige dernd, haben mich stets fasziniert und unbeabsichtigt offengelegt haben, in Wirk- Vereinheitlichung. emotional berührt. Nie habe ich auch nur lichkeit ein »Fall Reportageplanung«. Gut, Dr. Harald Kallmeyer, Berlin einen Gedanken daran verschwendet, dass Herr Relotius hat seine Geschichten frei

128 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Briefe

erfunden – aber auch viele andere Repor- Offensichtlich wirft man ihm immer noch des Magazins. Ganz und gar nicht ein- ter waren sich offenbar nicht zu schade, vor, dass er seine ersten Verdachtshinweise verstanden bin ich mit der Anregung der ihre Versatzstücke für die zuvor festge- nicht sofort mit gerichtsfesten Beweisen Kommission zur grundsätzlichen Infrage- legten Plots zu liefern. Als langjährige unterlegte. Dass er später auf eigene Faust stellung der journalistischen Form Re - SPIEGEL-Leser fühlen wir uns betrogen, diese Beweise suchen musste, wirft ein portage an sich. Nein, das ist ganz sicher, vor allem von denen, die uns ihre am bezeichnendes Licht auf den SPIEGEL. Ich gerade in Zeiten von Populismus, Infotain- Schreibtisch erdachten Plots als Einblick höre geradezu das Jammern der armen ment und »alternativen Fakten«, der fal- in die Realität verkauft haben. Journalisten in ihren Villen mit Elbblick sche Weg! Denn ohne eine dramaturgische, Ulrike Rohm-Berner und Winfried Berner, über die Undankbarkeit der Leserschaft. durchaus auch unterhaltsame Einbettung Mitterfels (Bayern) Peter Pielmeier, Alsbach-Hähnlein (Hessen) der Fakten in eine emotionale, spannende, personalisierte Story werden die Fakten Kompliment zu einem großen Stück Jour- Vielen Dank für den Bericht der Aufklä- allein kaum ausreichend Strahlkraft ent- nalismus: rücksichtslose, kristallklare Auf- rungskommission. Bei der Umsetzung der falten können, um durchzudringen. Aber: arbeitung der Verfehlungen. Oft beginnt Veränderungsvorschläge scheint es hilf- Die Fakten müssen klar sein; auch: klar das Unheil ja mit reich, sich das Dilemma der Kommuni - erkennbar. Das soll nicht heißen, dass der der hartnäckigen Über- kation nach Konrad Lorenz bewusst zu Rest einer Reportage »faktenfrei« sein darf schätzung des »szeni- halten: Gesagt ist nicht gehört, gehört ist oder gar »erfunden«, aber selbst eine sich schen Einstiegs« im nicht verstanden, verstanden ist nicht ein- an der Wirklichkeitsvermittlung orientie- Journalismus – weithin verstanden, einverstanden ist nicht ange- rende, ethisch vertretbare »Verdichtung« beliebt und überwie- wandt, angewandt ist nicht beibehalten. halte ich für legitim. gend ziemlich albern. Viel Erfolg. Wir brauchen einen guten Thomas Thelen, Bötzingen (Bad.-Württ.) Wie begann der Nobel- SPIEGEL.

MARIA FECK / DER SPIEGEL MARIA FECK preisträger Paul Krug- Andrea Krier, Winterthur (Schweiz) Die Schilderungen haben bei mir mehr- Schneider man 2009 in der »New fach Kopfschütteln, Wut, aber vor allem York Times« seinen Er- Es ist mir schwergefallen, diesen Bericht große Enttäuschung ausgelöst. Oft habe fahrungsbericht über eine Studienreise »durchzuackern«. Viel hinlänglich Bekann- ich den sogenannten Qualitätsjournalis- durch China – »Lächelnd überreicht Li tes versperrt den Blick für einen unvorein- mus gegenüber »Lügenpresse«-Vorwürfen Ping mir eine Lotosblüte«? Nein, so: »Ich genommenen Umgang mit den Recherche - verteidigt: »Die können doch nicht einfach habe die Zukunft gesehen, und sie wird ergebnissen. Die penetrante Erwähnung Geschichten erfinden. Stell dir die Konse- nicht funktionieren« (I have seen the fu- der Namen des Chefredakteurs, designier- quenzen vor, wenn das publik wird!« Und ture, and it won’t work). Wer einen Ham- ten Chefredakteurs und Ressortleiters dann liest man, dass es offenbar Methode mer hat, braucht keine Blumen, und wer »Gesellschaft« im Zusammenhang mit den war, sich schöne Geschichten, die in das keinen hat, könnte auch mal schweigen. Verfehlungen von Claas Relotius riecht redaktionelle Weltbild passten, auszuden- Wolf Schneider, Starnberg, von 1979 bis 1995 Leiter sehr nach Vorverurteilung. Dennoch: Der ken und dafür nur mehr eine Bestätigung der Henri-Nannen-Schule Fall dieses begabten Erzählers und Fäl- zu suchen. Ich muss gestehen, dass ein Teil schers ermöglicht dem SPIEGEL ein seit meines Weltbilds zusammengebrochen ist. Recht herzlichen Dank für Ihre Reflexion Langem fälliges inhaltliches, strukturelles Die Verfehlungen von Herrn Relotius er- in der Geschichte mit Herrn Relotius, die und personelles Revirement mit scho- scheinen in diesem Licht als die Spitze des für sich genommen schon sehr spannend nungsloser Offenlegung aller Fakten. Aber Eisbergs. Wie viele Reportagen wurden so ist. Es ist anerkennenswert, dass Sie sich bitte nicht in der durchsichtigen Demuts- »verdichtet«, dass es gerade noch durch- zu der Entscheidung durchgerungen ha- gebärde eines Canossa-Gängers. ging? Auch erscheint mir das Verteilen von ben, alles offen darzulegen. Ich persönlich Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) Preisen für eine der wichtigsten Branchen bin Ihnen gegenüber immer noch kritisch einer freien Demokratie zumindest frag- eingestellt, aber allein für diesen Bericht: Erschütternd ist, im Detail nachzuverfol- würdig. Genauso wenig wie ein Preis für Hut ab. Ich drohe trotzdem an, weiter kri- gen, wie arrogant und misstrauisch die Ver- das überraschendste Gerichtsurteil, die tisch zu bleiben. antwortlichen dem internen Whistleblower strengste Richterin oder die schnellste Ver- Jean Dörnbrack, Berlin Juan Moreno gegenüber agierten. Da kann haftung angebracht ist, sollte dies ein Preis man eine Vorstellung davon entwickeln, für die besterzählte Reportage eines Jour- Keiner hat etwas gewusst, keiner ist ver- wie schwer es Whistleblower erst in ande- nalisten sein. antwortlich, Fehler waren unvermeidlich. ren Unternehmen, Behörden oder Institu- Florian Schrom, Wien In Deutschland ist diese Argumentation tionen haben müssen. Selbst noch das von altbekannt nach 1949 in der BRD, nach Moreno und seinem Kollegen produzierte Die 17 Seiten »in eigener Sache« hätten 1989 in der DDR. Was mich aber wirklich Beweisvideo wurde zunächst abgetan. sich mit entsprechender Heftung auch als ärgert, ist der Umgang mit Juan Moreno: Wahrlich kein Ruhmesblatt für die Leitung Sonderbeilage geeignet: Welcher Leser hat bisher gewusst, wie komplex die Abläufe in einer Redaktion wie dem SPIEGEL Korrekturen sind? Nach einem großen Stühlerücken gehe ich davon aus, dass ich wieder durch- zu Heft 20/2019, Seite 63: Kostentreiber Staat gehend SPIEGEL lese und keine Auszüge Bei Dürreversicherungen werden 19 Prozent Steuer auf die Versicherungsprämie aus Grimms Märchen. fällig, nicht auf die Versicherungssumme. Elmar Schotes, Münster zu Heft 21/2019, Seite 88: Der falsche Gandhi Der Ururgroßvater von Rahul Gandhi ist Motilal Nehru, nicht Staatsgründer Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe Jawaharlal Nehru. ([email protected]) gekürzt zu Heft 22/2019, Seite 108: »Das Ansehen Österreichs in der Welt ist mir egal« sowie digital zu veröffent lichen und unter (SPIEGEL-Gespräch mit Daniel Kehlmann) www.spiegel.de zu archivieren. Nicht Franz Joseph war der letzte Kaiser der Donaumonarchie, sondern Karl I.

129 Hohlspiegel JETZT IM HANDEL: Rückspiegel

Aus einer Datenschutzinformation des DIE WAHR- Zitate Energieversorgers E-Regio: »Es sind stets Personen männlichen sowie weiblichen Geschlechts und ggf. auch andere Lebens - HEIT ÜBER Süddeutsche.de über den Vergleich einer formen gleichermaßen gemeint.« SPIEGEL-Redakteurin des anwesenden Ex-SPD-Chefs Sigmar Gabriel mit einem INNOVATION Ex-Kapitän der Fußballnational- mannschaft beim ARD-Talk »Anne Will«:

Aus der »Schaumburger Zeitung« Falls Lothar Matthäus am Sonntagabend ferngesehen hat, dürfte er eine Über- raschung erlebt haben. Plötzlich fällt sein Der Bonner »General-Anzeiger« über Name in der Sendung »Anne Will«. Mela- den Autounfall eines Drogendealers: nie Amann vom SPIEGEL sagt: »Das ist »Die Beamten nahmen im Wagen einen jetzt etwa so, als würde Lothar Matthäus deutlichen Marihuanageruch die Fußballnationalmannschaft von heute wahr, den sie umgehend durchsuchten.« kommentieren.« Macht der Lothar das denn etwa nicht mehr? Und was hat er eigent lich mit Sigmar Gabriel zu tun? … Gabriel wirkt wie einer, der die fetten Jah- re noch erlebt hat. Der allerdings damals vergaß, dafür zu sorgen, dass auch seine Nachkommen noch gut über die Runden kommen, und nun pikiert die Nase rümpft, weil alles den Bach runtergeht.

Die »Berliner Zeitung« über den Weitere Themen: SPIEGEL-Bericht »Azubis aus Asien« SCHWERPUNKT (Nr. 21/2019): So bilden sich Manager in Am Ende der DDR gab es in Thüringen Aus der »Eßlinger Zeitung« 1100 Bäckereien, 2018 noch 400 … Der Zukunft weiter SPIEGEL berichtete von der Improvisation eines Bäckermeisters. Der Mann, Bäcker Von Unsere-helden.com: »Der Frontman KOMMUNIKATION in dritter Generation, reiste 9000 Kilo - von Mötley Crüe braute einen Unfall meter weit, nach Asien. Mit Unterstützung aufgrund von Trunkenheit am Steuer.« Was erfolgreiche Daten- des Ministerpräsidenten Ramelow holte er junge Vietnamesen nach Thüringen. teams auszeichnet 350 sind jetzt schon in der Lehre. Viele mehr werden folgen und dem Beruf den SELBSTMANAGEMENT Nachwuchs sichern. Wie Sie die Krise zwischen 40 und 50 überstehen Ehrungen Aus der »Krefelder Stadtpost«

Der SPIEGEL-Mitarbeiter Juan Moreno Aus einer Meldung der Polizei Mönchen- erhielt den Leuchtturm-Preis 2019 der gladbach: »Der Mann ist polizeilich Journalistenvereinigung Netzwerk Recher- bereits vielfach in Erscheinung getreten che für die Aufdeckung der Fälschungen und war erst im April wegen eines Ver- des ehemaligen SPIEGEL-Redakteurs Claas stoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz Relotius. Moreno habe »seinen journalis- aus der Haft entlassen worden.« tischen Kompass und seine Unabhängig- keit beispielhaft bewiesen«, sagte Julia Stein, Vorsitzende des Netzwerks. ! Mit dem European Press Prize 2019 in der Kategorie Reportage sind die SPIEGEL- Auch als digitale Ausgabe erhältlich: Redakteure Marian Blasberg, Katrin Aufschrift einer Eierverpackung harvardbusinessmanager.de Kuntz und Christoph Scheuermann ausge- zeichnet worden. Ihr Bericht »56 Tage« ( SPIEGEL 36/2018) beschreibt, wie eine Aus der Beschreibung eines Fernsehfilms Mutter und ihr sechsjähriger Sohn von in der Programmzeitschrift »TV 14«: Honduras in die USA fliehen, an der Gren- »Durch ein Loch im Kopf war Vanessa ze getrennt werden und die Mutter ihr ver- monatelang ans Klinikbett gefesselt.« störtes Kind nach 56 Tagen wiedersieht.

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