Nr. 23 / 1.6.2019 Deutschland € 5,30 Slowakei € 6,80 Spanien € 6,80 Tschechien Kc 195,- Kc € 6,80 Spanien Tschechien in Printed Slowakei 0 € 6,50 Slowenien Spanien/Kanaren € 7,00 Ft 2490,- Ungarn Germany Rezoluzzer Die neue APO: Wie die Generation YouTube die deutsche Politik aufmischt BeNeLux € 6,40 Finnland € 8,30 Griechenland € 7,30 ZL 33,– NOK 86,– Norwegen (ISSN00387452) Polen Dänemark dkr 57,95 € 6,80 Frankreich Italien € 6,80 € 6,00 Österreich (cont) € 6,8 Portugal
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Hausmitteilung Betr.: Titel, Erntehelfer, Hochstaplerin
Eigentlich wollte sich der YouTuber Rezo, nach eigenen Angaben Ende zwanzig, eine Zeit lang von den Medien fernhalten, weil ihm der Hype um sein Anti-CDU-Video zu viel wurde. Für die SPIEGEL-Titelge- schichte machte er eine Ausnahme. Redak- teur Alexander Kühn traf ihn am Mittwoch zu einem vierstündigen Gespräch in einem Aachener Hotelzimmer, da Rezo öffent- liche Cafés derzeit meidet und seine Woh- nung für Journalisten tabu ist. Auf dem Weg durch die Stadt hatte er sich mit Müt- ze und Kapuze getarnt. Am Tag darauf wurde er – zusammen mit einigen Pro - tagonisten der Titelgeschichte – für das Cover fotografiert. Seine Haare, Farbton Lagunenblau, die im Stress der vergange- nen Wochen etwas vernachlässigt wirkten,
NICK HARWART / DER SPIEGEL NICK HARWART hatte er extra nachkoloriert. In dem Titel- Rezo, Kühn komplex beschreiben zwölf SPIEGEL-Kol- leginnen und -Kollegen eine neue Protest- generation, die spätestens bei der jüngsten Europawahl ihr politisches Potenzial demonstriert hat. Die »19er«, wie Titelautor Lothar Gorris die Vertreter dieser Gruppe in Anlehnung an die »68er« nennt, haben den Klimaschutz zur Existenz- und Ge- rechtigkeitsfrage erklärt, und ihr Einfluss reicht, auch dank des Internets, weit über ihre Altersgruppe hinaus. Union und SPD wurden bei der Wahl massiv abgestraft, vor allem bei den Sozialdemokraten wankt nun die Parteichefin. Seite 12
Wie leben eigentlich unsere Bauern? Also die, die uns auch im Januar mit Erdbeeren und Tomaten versorgen? SPIEGEL-Redakteur Nils Klawitter reiste ins spanische Almería, um dieser Frage nachzugehen. Im Plastikmeer der Gewächshäuser traf er erschöpfte Arbeiter und Tagelöhner. Menschen wie die Marokkanerin Charifa Essamraoui, die in schiefer Haltung und mit ruiniertem Rücken Salat schneidet, der auch in deutschen Läden im Regal liegt. Oder den Rumänen Iulian Vaduva, der die vergangenen zwei Jahre lang mit einem kleinen Trecker Pestizide unter den Plastik- planen ausbrachte und dem nun chronisch schlecht ist. Für viele dieser Erntehelfer, so Klawitter, stehe Almería für die Hoffnung auf ein normales Leben in Europa. »Aber es ist auch der Ort, wo dieser Traum zerplatzt.« Seite 74
Es gebe da eine erfolgreiche Bloggerin, die sich eine fiktive jüdische Identität be- sorgt habe – mit dieser Information begann Redakteur Martin Doerry seine Recher- chen über die in Dublin lebende deutsche Historikerin Marie Sophie Hingst. Der Fall scheint paradox in einer Zeit, in der der Anti- semitismus überall in Europa wieder deutlich zutage tritt. Doch Hingst verschafft sich mit dieser Legende Aufmerksamkeit, die wichtigste Währung im Netz. Bei einem Treffen in Dublin in der vergangenen Woche stellte Doerry die junge Frau erstmals zur Rede. Zunächst bestritt sie entschieden, dass sie Fälschungen verbreitet hätte, später behauptete sie, ihr Blog sei nur Literatur, weit entfernt von jeder Realität. »Marie Sophie Hingst hat sich in eine Parallel- welt hineinfantasiert«, sagte Doerry nach dem
Gespräch, »zuweilen glaubt sie wohl sogar das, CLIONA O' FLAHERTY / DER SPIEGEL was sie sich ausgedacht hat.« Seite 112 Doerry, Hingst
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 5 Inhalt
73.Jahrgang | Heft 23 | 1.Juni 2019
Titel Militär Ein Soldat warnte vor Rechtsextremen in der Truppe, Bewegungen Eine junge jetzt will man ihn feuern . . . . 42 Protestgeneration kämpft gegen den Klimawandel – Finanzen Dem Fiskus könnten sie erinnert an die 68er, Milliarden entgehen, weil ist aber viel wirkmächtiger 12 Steuerdaten nicht verarbeitet werden können ...... 45 Jungwähler Sechs junge Erwach- sene berichten, welche Anliegen Zeitgeschichte Abhörpro- sie in der Politik haben ...... 22 tokolle der Alliierten zeigen, wie deutsche Soldaten die Schlacht in der Normandie Deutschland vor 75 Jahren erlebten ...... 46
Leitartikel Noch hat die SPD Umwelt In Städten sollen im Konkurrenzkampf mit Kleingärtner ihre Lauben den Grünen nicht verloren . . . 8 verlieren, damit neue Wohnungen gebaut werden Meinung Der gesunde können ...... 52 Menschenverstand / So gesehen: Neue Regeln Studium Zwei Hochschulen gegen Meinungsmache . . . . . 10 bilden Mitarbeiter EMMANUELE CONTINI / IMAGO EMMANUELE CONTINI für Geheimdienste aus ...... 56 Missbrauchsopfer fordern Mil- liarden von katholischer Kirche / Die Demontage Altmaier schont Bauherren / Gesellschaft AfD-Büro in Russland ...... 24 Andrea Nahles’ einsame Entscheidung, sich vorzeitig erneut zur SPD-Fraktionschefin wählen Früher war alles schlechter: SPD Wie hart die Bundestags- zu lassen, verstört ihre Partei. Das Manöver Tote in der Formel 1 / abgeordneten nach der Wahl- Sollten unsere Kinder mehr schlappe mit ihrer Chefin spaltet die Sozialdemokraten im Bundestag. In Serien gucken? ...... 60 Andreas Nahles umgingen 28 dieser Woche kam es zur Abrechnung. Seite 28 Eine Meldung und ihre Union Schuld an der schlech- Geschichte Wie ein ten Performance von CDU- kleiner Junge aus Ohio Chefin Annegret Kramp- zum Helden wurde ...... 61 Karrenbauer ist auch ihr Team in der Parteizentrale ...... 32 Rhetorik SPIEGEL-Gespräch mit Philip Collins, ehemaliger Wahlen Porträt des Satirikers Redenschreiber von Tony Blair, Nico Semsrott, der ins EU- über die Sehnsucht nach der Parlament gewählt wurde 34 großen politischen Rede . . . . 62
CSU SPIEGEL-Gespräch mit Kolumne Leitkultur ...... 67 Alexander Dobrindt über die Lehren der Europawahl und die Angst der Union vor Wirtschaft Blamagen im Netz ...... 36 / KPA / PICTURE-ALLIANCE TOPFOTO Kohlekraftwerk Datteln soll Parteien Die bei der EU-Wahl Berichte aus der Hölle ans Netz gehen / UFO-Chef erfolgreichen Ostverbände Baublies macht Lufthansa der AfD fordern mehr Macht Vor 75 Jahren landeten die West-Alliierten in schwere Vorwürfe ...... 68 in der Bundespartei ...... 39 Frankreich, mit dem D-Day begann die Schlacht um Handel die Normandie. Abhörprotokolle von Gesprächen Der Zollstreit zwischen Europa Streit um Spitzenperso- den USA und China nal in der EU belastet deutsch- deutscher Soldaten in Gefangenschaft zeigen, durch eskaliert zu einem ökono - französisches Verhältnis . . . . 40 welche Hölle die Männer damals gingen. Seite 46 mischen Kalten Krieg ...... 70
6 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Landwirtschaft Auf spanischen Wissenschaft Feldern werden Migranten ausgebeutet, deutsche Ver- Wie Schimpansen neue braucher profitieren ...... 74 Techniken erfinden / 5G-Sendemasten aus Holz? / Medien Der Axel-Springer- Einwurf: Kluger Eltern- Konzern will sich von der streit tut Kindern gut ...... 100 Börse zurückziehen, mithilfe des Investors KKR ...... 77 Verkehr Mit Biogas auf hoher See – Kreuzfahrtreeder ent- Finanzindustrie Die Deutsche decken die Nachhaltigkeit 102 Bank sucht verzweifelt nach einem Befreiungsschlag . . . . 78 Luftfahrt Der erste Nonstop- Atlantikflug zweier britischer Piloten vor 100 Jahren geriet Ausland zum Höllenritt ...... 105
Damaskus und Moskau ver- Religionssoziologie Eine neue letzen im Kampf um Idlib das Großstudie erforscht den humanitäre Völkerrecht / Der Glauben der Ungläubigen 106 chilenische Außenminister X / I-IMAGES POLARIS /STUDIO ANDREW PARSONS Am puero zur Venezuelakrise 80 Astronomie Der Himmels - Der große Verführer archäologin Anna Frebel gelang Großbritannien Der Tory es, Licht ins Dunkel des jungen Boris Johnson ringt mit sich Polit-Hallodri Boris Johnson ist Favorit Universums zu bringen . . . . 108 und anderen um die Nachfolge für die Nachfolge der britischen Regierungschefin 82 von Theresa May ...... Theresa May. Mit ihm würde ein harter Brexit Kultur SPIEGEL-Gespräch mit wahr scheinlicher. Aber der Volksverführer war schon Oxford-Professor Danny immer für eine radikale Wendung gut. Seite 82 Mystery-Thriller »Burning« / Dorling über die Schuld Der Schauspieler Joachim der britischen Eliten am Meyerhoff wechselt nach Brexit-Desaster ...... 84 Berlin / Kolumne: Zur Zeit 110
Analyse Kann es der gestürzte Gleichgewicht des Schreckens Hochstapler Die Bloggerin Kanzler Sebastian Kurz Marie Sophie Hingst hat sich zurück ins Amt schaffen? . . . 87 In den USA ist von einem neuen Kalten Krieg eine jüdische Familiengeschich- die Rede: Seitdem Präsident Trump den te erfunden – inklusive falscher USA Die Demokraten streiten, Technologie riesen Huawei von Teilen des US-Marktes Opferdokumente, die sie ob ein Amtsenthebungsverfah- in Yad Vashem einreichte 112 ren gegen Trump ihnen helfen ausgeschlossen hat, eskaliert der Kampf der oder schaden würde ...... 88 Wirtschaftsmächte Washington und Peking. Seite 70 Literatur Düsterer Roman des russischen Schriftstellers Emanzipation Warum Hunderte Jewgeni Wodolaskin über das arabische Frauen jedes sowjetische Jahrhundert . . . 116 Jahr vor ihrer Familie aus den Golfstaaten fliehen ...... 90 Ausstellungen Eine umfassende Schau widmet sich der neuen Welt der Drohnen 118 Sport Kunstmarkt Johann König Ansturm auf den Mount ist fast blind – und einer Everest / Magische Momente: der erfolgreichsten deutschen Trainer Ljubomir Vranjes über Galeristen ...... 120 ein perfektes Handballspiel 93 Filmkritik Die französische Sommerspiele Olympia-Gast - HENDEL / DER SPIEGEL C. ILJA Gesellschaftskomödie geber Tokio leidet unter »Zwischen den Zeilen« . . . . 123 der Explosion der Kosten . . . 94 Auf Ökokurs
Fußball SPIEGEL-Gespräch Kreuzfahrtreedereien wollen sich vom Stigma Bestseller ...... 122 mit Bayern-München-Vorstand des Umweltschädlings befreien, helfen sollen Impressum, Leserservice . . . 124 Nachrufe 125 Karl-Heinz Rummenigge über Hybridantriebe und Biogas als klimafreundlicher ...... den Umgang mit Trainer Personalien ...... 126 Niko Kovač und die Zukunft Kraftstoff. Doch die Technik ist sehr Briefe ...... 128 der Bundesliga ...... 96 teuer – und noch lange nicht ausgereift. Seite 102 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130
Titelfoto: Nick Harwart für den SPIEGEL; von links: Simon Sumbert, Josy Zülke, YouTuber Rezo, YouTuberin Mirella, Sophie Thomas 7 Das deutsche Nachrichten-Magazin
Klimawandel
Leitartikel Sind die Grünen die neue SPD?
s gehört zum Drama der SPD, dass sie nicht aus ih - Insofern ist der Erfolg der Grünen verdient. Sie sind ren Fehlern lernt. Der Aufstieg der Grünen Anfang die einzige Partei, die beim Thema Klimaschutz nicht E der Achtzigerjahre ist nicht denkbar ohne einen gewackelt hat, sie waren konsequent proeuropäisch, sie Bundeskanzler Helmut Schmidt, dessen Glaube an zeigten eine Geschlossenheit, die man so zuletzt vor Jahr- die abschreckende Wirkung von nuklearen Sprengköpfen zehnten in der Hessen-CDU bewundern durfte. Wird der nur noch übertroffen wurde von der Zuversicht, dass Atom- Erfolg andauern? Es ist noch nicht ausgemacht, ob die kraftwerke der Republik eine blühende Zukunft bescheren. Republik auf die Geburt einer neuen linken Volkspartei Wer sich vor strahlendem Müll oder Havarien fürchtete, blickt – oder auf das Entstehen einer politischen Spekula - dem sagte Schmidt einmal: Nichts im Leben sei ohne Risiko, tionsblase. Im Bund sitzen die Grünen seit mehr als 13 Jah- »nicht einmal die Liebe«. Schmidt hat viele Verdienste, aber ren in der Opposition. Das erlaubt ihnen, jede Fantasie zu mit seiner beeindruckenden Ignoranz für die Gefahren der bedienen. Wer sein Umweltgewissen nach einem Flug auf Umweltzerstörung verprellte die Seychellen erleichtern er eine ganze Generation will, wählt die Partei genau- und wurde, wenn auch un- so wie Klimaaktivisten, die freiwillig, zum Gründungs- in jedem Rinderfilet ein Ver- vater der Ökopartei. Das gehen an künftigen Genera- Jahr 1983 markierte die erste tionen sehen. Sie alle finden große Zäsur in der Geschich- bei den Grünen gerade eine te der deutschen Parteien- Heimat. landschaft, damals zogen die Die einen blicken auf Grünen in den Bundestag den grünen Ministerpräsi- ein. Die Europawahl des Jah- denten Winfried Kretsch- res 2019 ist wieder ein Wen- mann, der die SUV-Produ- depunkt: Erstmals haben die zenten Daimler und Por- Grünen in einer bundeswei- sche im Südwesten hegt und ten Wahl die SPD überholt. pflegt wie einen Kräuter- Der Niedergang der SPD garten. Die anderen halten hat viele Gründe: Da wäre sich an dem Satz von Partei- Gerhard Schröder, der im chef Robert Habeck fest,
Frühsommer 2005 die Ner- / GETTY IMAGES BERRY ADAM wonach »radikal das neue ven verlor und Neuwahlen Grünenpolitiker nach der Europawahl Realistisch« sei. ankündigte, sodass seine Die SPD wird zerrieben Nachfolgerin Angela Merkel von ihren inneren Wider- die Früchte seiner Reformen ernten konnte. Da wäre die sprüchen. Den Grünen steht der Tag der Wahrheit noch pathologische Neigung, die eigene Führung zu diskredi - bevor. In der Vergangenheit waren ihre Wähler durchaus tieren, was sich gerade wieder am Umgang mit Andrea nachsichtig, wenn es darum ging, das Wahlprogramm an Nahles zeigt. Vor allem aber wird die SPD aufgerieben die Realität anzupassen. Die Grünen gründeten sich als zwischen einer AfD, die von der Angst vor Überfremdung Partei des Pazifismus und schickten dann unter Gerhard profitiert, und den Grünen, die zur neuen Heimat des städ- Schröder die ersten Bundeswehrsoldaten in den Krieg. tischen, aufgeklärten Publikums geworden sind. In Hessen gaben sie – Klimawandel hin oder her – ihren Natürlich ist es nicht mehr so einfach wie in den Zeiten Widerstand gegen den Bau eines dritten Terminals am Willy Brandts, den Bogen vom Kohlekumpel in Duisburg Frankfurter Flughafen auf. bis zum Oberstudienrat in Freiburg zu spannen – schon Nun aber profitieren sie von einer Bewegung, die ihre allein weil der Kumpel von damals heute Päckchen für Kraft aus der Dringlichkeit des Anliegens zieht. Wer darf Amazon ausfährt, während der Freiburger Oberstudienrat noch Kompromisse machen, wenn das Haus schon in Flam- nun die Grünen als intellektueller erscheinende Alternative men steht, wie Greta Thunberg meint? Die Grünenspitze hat. Die Fragmentierung der Gesellschaft setzt beiden wird sich nicht mehr damit herausreden können, dass eine Volksparteien zu. Aber die SPD hat ein morbides Talent, kleine Partei eben nur ein Korrektiv sei. Manche glauben in schweren Zeiten auch die wenigen Chancen zu verspie- bereits, die Grünen könnten den nächsten Kanzler oder die len, die sich ihr bieten. Zu Beginn der Legislatur periode nächste Kanzlerin stellen. Aber sie wären nicht die Ersten, besetzte sie das Umweltressort mit Svenja Schulze. Kaum die zum Opfer jener Erwartungen werden, die sie selbst im Amt, wurde die Ministerin zur tragischen Figur, weil sie geweckt haben. René Pfister gegen Wände lief, die ihre eigene Partei mit errichtet hatte. Twitter: @rene_pfister
8 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 kfw.de
Mehr zum nachhaltigen Engagement der KfW: kfw.de/stories/plastik Weiterdenker bekämpfen künstliche Feinde: Tüten, Becher, Folien.
Die KfW fördert nachhaltige Projekte zur Reduzierung von Plastikmüll. Durch die Finanzierung von Meeresschutzzonen und innovativem Abfallmanagement leistet die KfW einen wichtigen Beitrag gegen die Verschmutzung der Meere. Schließlich bieten sie Nahrung für zwei Milliarden Menschen und sind von elementarer Bedeutung für unser Klima und die Artenvielfalt. Plastik gefährdet dieses sensible Ökosystem – und damit uns alle. Als nachhaltige und moderne Förderbank unterstützt die KfW Weiterdenker, die zukun sweisende Lösungen zur Abfallvermeidung, -verwertung und -entsorgung in die Tat umsetzen. Weitere Informationen unter kfw.de/stories/plastik So gesehen Meinung LOL @AKK
Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand Wie die CDU das Internet Dalai Habeck regeln möchte G Zur Vermeidung allgemeiner Kom- munikationskatastrophen (AKK) Nach dem guten Abschnei- Selbst Rosamunde Pilcher wäre bei sol- und zur Wiederherstellung langfristi- den der Grünen bei der chen Sätzen übel geworden. ger Loyalität (LOL) zur Parteivorsit- Europawahl haben die Verliebt zu sein ist ein wunderbares zenden ergehen folgende klarstellen- Robert-Habeck-Festspiele Gefühl, ich gönne es jedem. Idealer- de Weisungen an alle Gliederungen im deutschen Journalis- weise sollte man Berufliches und Priva- der Christlich Demokratischen Union mus einen neuen Höhe- tes aber trennen. Jedenfalls müssen Deutschlands (CDU) bezüglich punkt erreicht. »Was ist dieser Journalisten nicht gleich hinaustrompe- der Regulierung von Meinungsäuße- Habeck-Faktor?«, fragte verzückt die ten, wenn sie sich verknallt haben. rungen im Internet vor Wahlen, ja »Süddeutsche«. »Ist der nächste Kanz- Geht es um die Grünen, ist nicht nur oder nein: ler ein Grüner?«, die »WAZ«. Der eine Verkitschung, sondern auch eine 1. Die CDU ist für die Meinungs- »Stern« machte seinen Traum vom Infantilisierung der Berichterstattung freiheit, allerdings sind nicht alle »Kanzler Habeck« gar zum Titel und zu beobachten. Zum Beispiel wenn die Meinungen gleich wertvoll. Unsere bereicherte die Debatte um neue Argu- Kollegen von »Bild am Sonntag« eine in den Gremien abgestimmte For - mente (»trennt den Müll, grüßt im Nachrichtenfassung eines Habeck- derung hierzu lautet daher: Internet- Treppenhaus«). Habeck wird in deut- Interviews (mit Sperrfrist) verschicken, meinungen hierarchisch ordnen schen Medien inzwischen alles zuge- in der, ohne Quatsch jetzt, folgende (IMHO)! traut. Geht es so weiter, wird er bald Überschriften stehen: »Grünen-Chef als US-Präsident ins Spiel gebracht. Habeck muss seit der Geburt seiner Oder wenigstens als Dalai-Lama. Kinder bei kitschigen Filmen weinen«. Schon vor der Europawahl konnten Und: »Für das Styling seiner Frisur die Grünen nicht über einen Mangel braucht er ›zwei Sekunden‹«. an Zuneigung klagen. »Er strahlt eine Die Grünen haben bei der Europa- stabile Kuhwärme aus«, lobte die wahl 20,5 Prozent geholt, sie sind nun »Süddeutsche« Habeck. Von einem zweitstärkste Kraft. Sie haben sich eine »grünen Traumpaar« an der Spitze erwachsene Berichterstattung redlich schwärmte die »taz«. Der »Stern« wur- verdient: einen Journalismus, der Fra- de konkreter: »Als Annalena Baerbock gen an ihre Inhalte hat, gern auch kriti- sich zum Paartanz mit Robert Habeck sche – und nicht zu ihrer Frisur oder 2. IMHO wird durchgeführt entschied, war das wie ein Trommel- ihrem Grußverhalten im Treppenhaus. von neu zu gründenden subnationa- wirbel, so unkonventionell, so uner- len Anstalten für Überwachung schrocken und entschlossen, dass viele An dieser Stelle schreiben Jan Fleisch hauer und (SNAFU). Vornehmlich sollen hier spürten: Da fängt etwas Neues an.« Markus Feldenkirchen im Wechsel. junge Menschen Anstellung finden, denn, so unsere zweite Forderung: Wir wollen ihre werthaltige Teilhabe fördern (WTF)! 3. Aus rechtlichen Gründen ist stets darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Umsetzung von IMHO und SNAFU mangels Kompatibilität mit dem Grundgesetz um eine »Rege- lung ohne festen Legalitätsbezug« (ROFL) handelt. 4. Studien belegen, dass junge Leute im Internet besonders gut mit Abkürzungen zu erreichen sind. Zur flächendeckenden Verbreitung unserer Haltung in der jungen Generation schreiben (»posten«) alle Gliederungen der CDU unver- züglich auf allen verfügbaren Kanä- len folgende internetaffine Botschaft: »CDU: IMHO SNAFU! Junge Leute WTF! ROFL LOL @AKK«. 5. Bitte vergessen Sie nicht, das Internet nach Benutzung ordnungs- gemäß abzuschalten. Stefan Kuzmany
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12 Dutschke aufVietnam-DemoinBerlin1968 (3. v. r.) aufKlima-DemoinBerlin2019, Studentenführer Jugendrevolten
STEFAN BONESS / IPON Aktivisten Thunberg (M.), Neubauer Neubauer Aktivisten Thunberg(M.), Kinder derApokalypse i i 8rwle i rtsirne e aiae adl–unddas Wie die68erwollen dieProtestierenden denradikalen Wandel – Bewegungen lautstarke Generation machtdasKlimazur neuensozialen Frage. Netz machtsiewirkmächtiger alsihre Vorgänger. Die Europawahl war nurderAnfang:Einejunge, politische, Titel s gibt ein Foto, das Ende März Koch verglich die Klima-Demos mit dem bei einer »Fridays for Future«-De- Einzug Jesu in Jerusalem, Greta in der Rol- E monstration in Berlin aufgenom- le von Jesus Christus. Andere feiern sie men wurde. Zu sehen sind junge als eine neue Jeanne d’Arc, stark in ihrer Leute, auffallend mehr Mädchen als Jungs, Schwäche, weise in ihrer Naivität. die Münder sind weit geöffnet, sie schreien Demonstrationen können Spaß machen, Slogans, ein paar von ihnen haben noch sie können Feste der Ekstase sein, manch- Zahnspangen. Ein Mädchen hat, so wirkt mal auch Exzesse der Gewalt, aber dieses es zumindest, voller Inbrunst die Augen Bild zeigt keine Fröhlichkeit, keine Lust geschlossen. Vor sich her tragen sie ein an der Rebellion oder der Gewalt, sondern Spruchband: »Our house is on fire.« Unser eher einen Moment der Verzweiflung, der Haus brennt. Angst und Ohnmacht, der existenziellen Nur eine der Demonstrantinnen scheint Bedrohung: Diese Welt muss gerettet wer- nicht so richtig dazuzugehören, sie ist klei- den, unbedingt und absolut und sofort. ner als alle anderen. Sie bildet das Zen- 25000 Menschen nahmen im März an trum des Bildes. Wie sie da so steht, mit- dieser Demonstration teil, es war ein tendrin und doch allein, erinnert es ein we- machtvoller Auftritt, aber herrje, es waren nig an Leonardo da Vincis Gemälde »Das ja nur Kinder. Jetzt jedoch, nach diesem Abendmahl«. Ihr Blick ist abgewandt, ihr europäischen Wahlsonntag, wirkt dieses Mund geschlossen, das Haar zu Zöpfen ge- Foto anders – als Prophezeiung und Mani - flochten. Es ist Greta Thunberg mit ihrem festation einer neuer Protestbewegung, die Greta-Thunberg-Gesicht, erhaben und ent- mit großer Wucht und Schnelligkeit das rückt und fremdelnd und auch ein wenig Parteiensystem durcheinanderwirbelt und spöttisch in ihrer heiligen Ernsthaftigkeit: deren Radikalität größere Antworten for- Das hier, sagt dieses Gesicht, ist nur der dert als irgendeine CO²-Steuer oder ein Anfang, und besser ist, ihr glaubt mir. mühsam in der Großen Koalition beschlos- Es kann einem viel einfallen zu Greta senes Klimaschutzgesetz. Thunberg. Der Berliner Erzbischof Heiner This house is on fire. Und dieses Land nun auch. Es gibt ein Bild von Rudi Dutschke, das 1968 bei einer Vietnamdemonstration in Berlin aufgenommen wurde. Dutschke trägt einen Helm in der einen Hand, in der anderen lustigerweise eine Aktentasche, als ob der Wortführer der Studenten nach der Revolution noch ins Büro müsste. Er läuft vorweg, angriffslustig, hinter ihm die Reihen der jungen Männer, es sind fast aus- schließlich Männer, die sich unterhaken. Man hört sie geradezu laut rufen auf die- sem Foto: Ho, Ho, Ho Chi Minh. Ein Foto, das Geschichte erzählt, vom Aufbruch und vom radikalen Umbau einer Gesellschaft, es ist die Geschichte von der Neuerfindung eines Landes. Das Dutschke-Foto erzählt: So war das damals im Februar 1968. Und so ist das nun im Frühjahr 2019. Die Analogie zu 1968 ist noch relativ frisch. Alte Fahrensmänner des Protests wie der Ur-Grüne Ralf Fücks, er ist Jahr- gang 1951, war also erst 17, als die Straße erobert wurde, sehen die Ähnlichkeiten. Er betreibt heute einen Thinktank in Berlin und war einer der Ersten, die sich an 1968 erinnert fühlten. Und es waren Hamburger Aktivisten von »Fridays for Future«, die sich vor ein paar Wochen selbst als Nachfolger der 68er-Generation ausriefen.
WOLFGANG KUNZ / ULLSTEIN BILD / ULLSTEIN KUNZ WOLFGANG Eigentlich gehört es zur Folklore dieses Landes, ein neues 68 auszurufen, wann immer eine Generation junger Leute auf die Straße geht. Das war so bei den Pro- testen gegen die Atomkraft und bei den
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 13 Titel
Friedensdemonstrationen der Achtziger- weich, klug, zurückhaltend, so seltsam das Frage sein, wie sehr man auf den Erfin- jahre, auch wenn die eher ein Ausläufer bei YouTube-Größen klingen mag. Er dungsreichtum der Menschheit baut und der 68er waren. Oder bei der Attac-Bewe- wirkt durch die Effekte des Netzes, die ei- der Idee von Fortschritt vertraut. Aber gung, die in den Nullerjahren gegen die nem Menschen ohne Funktion und Titel wahrscheinlich ist es das Recht der Jugend, Globalisierung und den Kapitalismus auf- über Nacht ungeheure Macht geben kön- radikal zu sein und in Panik zu verfallen. begehrte, aber genauso schnell wieder ver- nen. Mit einem Schlag gab er die CDU der In elf Jahren geht die Welt unter. gessen wurde wie die »Occupy«-Bewe- Lächerlichkeit preis. Sie spricht weder die Es gab 68er, die ernsthaft glaubten, in gung, die nach der Finanzkrise entstanden Sprache der Jugend, noch versteht sie die einem faschistischen Staat zu leben. An- war. Die Suche nach den Nachfolgern von Kanäle, durch die diese Generation kom- ders aber als die Altvorderen, die eher Kin- 68 ist Ausdruck eines Wunschdenkens, ei- muniziert, sich organisiert. Die Effekte des der des Aufbruchs waren, sind die 19er die ner Hoffnung, dass sich endlich etwas tut. Netzes sind es, die diese Generation so Kinder der Apokalypse, aufgewachsen in Wahrscheinlich gibt es eine Art inneren schnell so stark und mächtig machen wie einem verrückten Jahrzehnt. Einem Jahr- Drang, die Geschichte als Abfolge von keine zuvor. zehnt, das mit einer weltweiten Finanz- Generationen zu erfassen, als einen sich Wenn die 68er den Aufstand gegen die krise und Rezession begann. Einem Jahr- immer neu aufladenden Konflikt der Jun- Naziväter wagten, eine Rebellion gegen zehnt, in dem die Flüchtlingskrise von gen gegen die Alten. Aber als sich im ver- die autoritären Strukturen der Nachkriegs- 2015 einen rechten Populismus produzier- gangenen Jahr der Protest von 68 zum zeit, gegen den Muff und den Kleingeist te, eine Krise, die die Demokratien des 50. Mal jährte, blieb es seltsam still. Keine der Wirtschaftswunderjahre, und das alles Westens eher von innen als von außen Feier der Revolte mehr und auch kein gro- auch ein Schrei war, nach Freiheit und bedroht. Einem Jahrzehnt, in dem ein neu ßes Klagen über eine Jugend, die anschei- mehr Demokratie und mehr Sex, wer ge- gewählter amerikanischer Präsident sein nend nichts will und nichts tut. nau sind dann die 2019er? Woher kommen Land in den Irrsinn treibt. Einem Jahr- Millennials nennt man die Generation sie auf einmal – kamen sie überhaupt so zehnt, in dem die sexuellen Gewalttätig- der jüngeren Leute, die ab den frühen überraschend, wie es vielen scheint? Und keiten eines amerikanischen Filmprodu- Achtzigerjahren geboren wurden. Sie ha- können sie dieses Land, vielleicht den gan- zenten einen neuen Feminismus erzeugte, ben nicht den besten Ruf. Sie galten als zen Westen, verändern? der Männlichkeit als solche infrage stellt. ambitionslos, als ein wenig narzisstisch in Einem Jahrzehnt, in dem die digitale Tech- ihrer angeblich dauerhaften Selbstbespie- Manchmal ist es nur eine Erkenntnis, die nologie eine neue Art von Öffentlichkeit gelung und vor allen Dingen als desinte- alles in Gang bringt. Ein kleiner Satz, ein hat entstehen lassen, die neben viel Wissen ressiert an politischen Prozessen und En- kurzer Fakt, eine kühne Prognose. In die- und Information und Austausch auch Hass gagements. Es gibt auch schon eine Nach- sem Fall lautet dieser Satz: Entweder die und Fake News und Empörung im Über- folgegeneration, Generation Z wird sie CO²-Emissionen sinken dramatisch bis maß produziert. genannt oder auch iGen. Das sind die Jahr- 2030, oder die Welt wird nicht mehr zu Man muss weder besonders jung noch gänge ab Ende der Neunzigerjahre. retten sein. besonders alt sein, um das alles ziemlich Es ist die erste Generation, die mit dem Der Meeresspiegel steigt jetzt schon, Ex- beunruhigend zu finden. Smartphone aufgewachsen ist, und auch tremwetter werden häufiger, Landstriche Angesichts der globalen, technologi- sie hatte bislang keinen besonders guten werden nicht mehr bewohnbar sein, Hun- schen und gesellschaftlichen Umbrüche Leumund: Teenager, die den ganzen Tag derte Millionen Menschen könnten in den wäre es eher erstaunlich, wenn es das nicht am Handy daddeln oder Selfies auf Insta- Jahrzehnten danach ihre Heimat verlieren gäbe, eine überall in der westlichen Welt gram posten. und sich auf die Flucht begeben. vorzufindende Protestbewegung, die eher Und nun das – diese Jugend steht auf, Es ist ein ziemlich steiler Satz, er beruht weiblich ist und links, eher jung und digital und sie hat Galionsfiguren, in denen sich auf Modellrechnungen einer höchst kom- und feministisch, gegen Rassismus und für ihre Träume, Ängste, Wünsche bündeln: plexen Wissenschaft. Die Frage ist natür- Gerechtigkeit. Jede Ära hat den Protest, Greta Thunberg, die 16 Jahre alt ist, in nur lich, wie absolut dieser Satz ist und was den sie verdient. wenigen Monaten weltberühmt wurde, man aus ihm macht. Es könnte auch eine vor dem Weltwirtschaftsforum in Davos Es ist schwierig, Greta Thunberg nahe- spricht, vom Papst empfangen wird, für zukommen. Sie tut sich schwer im Um- den Friedensnobelpreis vorgeschlagen ist 31 Grüne Verheißung gang mit Menschen. Vor ein paar Wochen und Hunderttausende junge Menschen Wahlergebnis bei der Europawahl ist in Deutschland ein Buch über die Ge- unter den 18- bis 29-Jährigen, mobilisiert. Luisa Neubauer, 23 Jahre alt, in Prozent schichte der Familie Thunberg erschienen. Mitinitiatorin der deutschen »Fridays for Es ist ein Selbstporträt. Geschrieben hat Future«-Demos, so schlau und rhetorisch es Gretas Mutter Malena Ernman, im Na- geschickt, dass Berufspolitiker wie CDU- men ihrer beiden Töchter und ihres Ehe- Wirtschaftsminister Peter Altmaier im manns. »Szenen aus dem Herzen – Unser Schlagabtausch (SPIEGEL 12/2019) nicht Leben für das Klima« heißt es. gut aussehen. Die Thunbergs sind eine moderne Und dann Rezo, keine 30 Jahre alt, In- 14 schwedische Familie mit den modernsten formatiker und YouTuber aus Aachen, des- Ansichten in einem der modernsten Län- sen Video »Die Zerstörung der CDU« über der dieser Welt. Was nicht heißen muss, 9 das Versagen der Volksparteien in der Kli- 8 dass man unbedingt mit ihnen tauschen mapolitik kurz vor der Europawahl veröf- 7 7 7 möchte. Denn ihre Geschichte ist auch fentlicht und fast 14 Millionen Mal ange- ein modernes Martyrium, die Geschichte Zum Vergleich: Ergebnis in allen Altersgruppen klickt wird. Es hat wohl dazu beigetragen, einer Überforderung, eines Leidens an die Grünen zum Gewinner der Europa- 20,5 28,915,8 5,4 2,4 5,5 11,0 der Welt. wahl in Deutschland zu machen. Die Mutter ist Opernsängerin, Ehe- Grüne CDU/ SPD FDP Die Linke AfD Rezo war Tage nach der Wahl ver- CSU Partei mann Svante Schauspieler und Produzent. schwunden, der SPIEGEL hat ihn am Mitt- Sie besaßen einen Volvo, sind aufgewach- woch aufgetrieben, einen jungen Mann, Quelle: Forschungsgruppe Wahlen Sonstige: 17 sen im liberalen Geist der Sechzigerjahre,
14 steigen und die Atmosphäre in eine gigan - tische unsichtbare Müllhalde verwandeln. Sie ist das Kind, wir sind der Kaiser. Und wir sind alle nackt.« Der Klimawandel, der Landstriche ver- dorren und pazifische Inseln untergehen lässt, die Stresserkrankungen, die Unge- rechtigkeiten dieser Welt, die Krisen un- serer ökonomischen und politischen Sys- teme, die immer längeren Schlangen vor den Kinder- und Jugendpsychiatrien, sie alle seien Teil einer großen Nachhaltig- keitskrise, die »zum Kern des Gesundheits- zustands der Menschen« führe. Wir alle sind krank, lautet die Diagnose, sind Opfer einer falschen Welt, die wir uns erschaffen haben. Und Greta ist das Kind der Apokalypse, vor der sich die Mensch- heit nur retten kann, wenn aus einem Mäd- chen wie Greta, einem Opfer, eine Heldin wird. Die Geschichte der Thunbergs ist eine moderne Erlösungsgeschichte, in der erst die Krankheit dafür sorgt, dass Menschen die Dinge so sehen, wie sie sind. Was rich- tig ist und was falsch: Flugzeuge benutzen, Volvo fahren, Fleisch essen, Kohlekraft- werke laufen lassen, weil sie Arbeitsplätze sichern – also all das, was zum Lebensstil der Elterngeneration gehört.
»Die jungen Menschen«, sagt der Münch- ner Soziologe Armin Nassehi, »kämpfen heute nicht gegen ihre Eltern, sie versu- chen, die Eltern auf ihre Seite zu ziehen und mit ihnen gemeinsam zu kämpfen.« Sie mahnen ihre Väter, nicht mehr mit dem SUV zum Biosupermarkt zu fahren. Sie fordern ihre Mütter auf, für Dienstreisen auch mal die Bahn zu nehmen. Eben darin liegt für Nassehi die Symbolkraft der Geschichte Greta Thunbergs: Dass sie als Erste ihre Eltern über- Der YouTuber Rezo, Informatiker aus Aachen. zeugt hat – und nun mithilfe ihrer Eltern den Rest der Welt bekeh- NICK HARWART / DER SPIEGEL NICK HARWART Sein Video zur CDU wurde fast 14 Millionen Mal angeklickt. Er sagt: »Ich bin kein Aktivist.« ren will. Viele der 68er sind auf die Stra- sie reisten um die Welt, die ße gegangen und haben es genos- Mutter ist Mitglied der Königlich sen, sich als Bürgerschreck zu in- Schwedischen Musikakademie, szenieren. Es war Teil ihrer Stra- sie besuchten klassische Konzerte in Ber- die alles richtig machen wollten, auch tegie, der Fachbegriff: subversive Aktion. lin, und als Malena mit Greta schwanger nicht, und so entschieden sich die Thun- »Die jungen Aktivisten wollen kein Bür- wurde, entschied sich Svante, Hausmann bergs, die Welt dort draußen zur Verant- gerschreck sein«, sagt Nassehi. »Der Bür- zu werden. wortung zu ziehen: den schwedischen So- gerschreck kommt heute eher von rechts.« Sie machten alles richtig, dann kam Gre- zialstaat, der versagt, eine Gesellschaft, Früher griffen Jugendliche ihre Eltern ta in die fünfte Klasse und entwickelte eine die krank ist, eine Welt, die aus den Fugen an, deren politische Überzeugungen, Wert- Essstörung. Nachdem sie eine Dokumen- geraten ist. »Greta«, schreibt ihre Mutter, vorstellungen, Lebensweisen. Sie entwi- tation über eine riesige Plastikansamm- »hat eine Diagnose gestellt bekommen, ckelten ihre eigene Identität in Abgren- lung gesehen hatte, die im Südpazifik aber das schließt nicht aus, dass sie recht zung zu Vater und Mutter. Zum Mythos treibt, größer als Mexiko, wurde sie de- hat und wir anderen so falschliegen, wie der 68er-Generation gehört es, dass sie da- pressiv. Die Diagnose für das aus der Bahn man nur falschliegen kann.« Greta sehe rin besonders radikal war. Junge Men- geworfene junge Mädchen: Asperger-Syn- Dinge, die andere nicht sehen wollten. Das schen heute verstehen sich besser mit ih- drom, hochfunktionaler Autismus, Zwangs- Mädchen gehöre zu den wenigen, die ren Eltern. Der Erziehungsstil ist nicht störungen mit perfektionistischem An- unsere Kohlendioxide mit bloßem Auge mehr autoritär, sondern verhandlungsba- spruch. erkennen könnten. »Sie sieht, wie die siert, Papa und Mama als beste Freunde. Irgendjemand muss Schuld haben. Das Treibhausgase aus unseren Schornsteinen Wie schon andere Proteste kritisiert Kind kann es nicht sein, die Eltern selbst, strömen, mit dem Wind in den Himmel auch der aktuelle Aufstand der Jugend die
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 15 Titel bestehenden Verhältnisse – und wird als Und die Rüge geht weiter. »In der einen hungswissenschaftlerin an der Universität Kampf gegen tief empfundenes Unrecht Sekunde sagen Politiker: ›Der Klimawan- Hildesheim. »Der Protest wird innerfami- legitimiert. Neu hingegen ist die Reaktion del ist wichtig, wir tun alles Denkbare, um liär und gesamtgesellschaftlich nicht als der Eltern, der Lehrer und der etablierten ihn aufzuhalten.‹ Im nächsten Augenblick Generationenkonflikt ausgetragen, son- bürgerlich-akademischen Kreise, die ihre aber wollen sie Flughäfen erweitern, neue dern ins Abstrakte ausgelagert: Die Politi- aufständischen Kinder unterstützen und Kohlekraftwerke errichten, mehr Autobah- ker haben die großen Themen verschlafen, gern auch Entschuldigungen für die Schule nen bauen, und die Firmenchefs fliegen die etablierten Parteien sind erstarrt.« schreiben, wenn das Kind am Freitag de- im Privatjet zu ihren Meetings am anderen Manche, die früher für Frieden und gegen monstrieren geht. Obwohl der Protest die Ende der Welt. So handelt man nicht in Atomraketen demonstriert haben, sähen Lebensweise und den Konsum der Eltern- einer Krise!« sich gewissermaßen selbst wieder protes- generation in Zweifel zieht, fühlen sich die Sie spricht zehn Minuten lang, genau so tieren. In Greta Thunbergs Familie, aber Alten nur selten angegriffen. Dabei ist die hat es das Programm vorgesehen. Kaum auch in weniger prominenten Familien be- Anklage der Jungen fundamental: Ihr zer- ist das letzte Wort gesprochen, läuft Thun- obachten Eltern wohlwollend, wie ihr stört unsere Zukunft! berg von der Bühne, klettert auf ihren Stuhl, Kind nun eine Idee des Politischen entwi- versinkt hinter der massigen Schulter ckelt, als wichtigen Entwicklungsschritt Dass es trotzdem funktioniert, sah man Schwarzeneggers. »Greta«, ruft die Mode- auf dem Weg zu einer eigenständigen Per- am vergangenen Dienstagmorgen, 10.20 ratorin von der Bühne, »wenn du dich um- sönlichkeit. Sie fühlten sich in ihrem Er- Uhr, Hofburg Wien, Klimagipfel R20 Aus- drehst, kannst du sehen, dass alle Menschen ziehungsbemühen bestätigt: aufgeklärte trian World Summit. Greta Thunberg sitzt hier im Saal für dich aufgestanden sind.« Eltern, die engagierte, couragierte und bei dieser Veranstaltung in der ersten Rei- Doch Greta dreht sich nicht um. selbstbestimmte Kinder großziehen. De- he, zu ihrer Linken: Arnold Schwarzen - »Diese breite Unterstützung ist erstaun- ren Protest sei der Nachweis des eigenen egger, der die Konferenz organisiert hat. lich«, sagt Meike Sophia Baader, Erzie- Erfolgs. Zu ihrer Rechten: Alexander Auch dass so viele Mädchen bei dem Van der Bellen, Österreichs Bun- Aufstand den Ton angeben, lasse sich als despräsident, der gekommen ist, Folge einer Post-68er-Erziehung interpre- obwohl er zurzeit andere Sorgen tieren, sagt Baader. »Darin spiegelt sich haben dürfte: »Ich danke dir für die Überzeugung, dass man Mädchen stär- die Hoffnung, die du in so vielen ken müsse, damit sie einen gleichberech- von uns geweckt hast«, sagt Van tigten Platz in der Gesellschaft einnehmen. der Bellen in seinem Grußwort, Nun bestimmen sie als Aktivistinnen die es gilt der jungen Schwedin. Richtung des Protests. Die Mädchen ha- Der Österreichische Rundfunk ben den Klimawandel auch als ein soziales überträgt, es gibt einen Live - Thema auf die Agenda der öffentlichen stream im Internet. Die Kamera Aufmerksamkeit gesetzt.« schwenkt zu Thunberg, die Es ist ein Aufstand, der keineswegs aus schaut ruhig geradeaus, das dem Nichts kam. Ulrich Schneekloth, Mit- Greta-Thunberg-Gesicht. Autor der »Shell Jugendstudien«, beob- Schwarzenegger hatte sie nach Wien eingeladen. Am Abend zuvor twitterte er, er sei »starstruck«, fasziniert nach ei- ner Begegnung mit ihr. Als wäre nicht er der Hollywood-Promi, sondern sie. Sehr viele der rund 1200 Menschen im Publikum könnten Thunbergs Eltern, man-
che sogar ihre Großeltern sein. GÜNTER ZINT / PANFOTO Sie tragen randlose Brillen und Doktortitel. »Hi«, begrüßt Thun- berg ihre Zuhörer. Sie trägt Turnschuhe und eine Bluse in Fuchsia. Uno-General- sekretär António Guterres ist da, der As- tronaut Scott Kelly. »Die meisten Men- schen haben keine Ahnung, in welcher Notlage wir uns befinden«, sagt sie. Sie spricht langsam und deutlich, geschliffenes Englisch mit skandinavischem Akzent. Der Zettel in ihrer Hand zittert etwas. »Viele von Ihnen hier im Saal sind Füh- rungspersönlichkeiten. Hier sitzen Präsi- denten, Politiker, Firmenchefs, Prominen- te, Journalisten. Die Menschen hören Ih- nen zu, sie werden von Ihnen beeinflusst. Das Erbe von 68 Protestierende Studenten in Paris Deshalb tragen Sie eine gewaltige Ver- 1968, Familienbild der Thunbergs: Der Protest antwortung. Und wenn wir ehrlich sind, der Kinder ist der Nachweis des eigenen Erfolgs. haben die meisten von Ihnen diese Ver - antwortung bisher nicht übernommen.«
16 Die Politikerin US-Demokratin Alexandria Ocasio- achtet schon seit einigen Jahren Cortez, Idol mit fast viereinhalb Millionen die Repolitisierung der Jugend – Followern auf Twitter: Ihre Partei braucht sie, wenn man »Politik« nicht mit aber sie braucht ihre Partei kaum noch. »Parteipolitik« gleichsetzt. Die Mitgliederzahlen der Ju- gendorganisationen der Parteien gehen seit Jahren zurück, die Wahlbeteiligung bei Studierendenparla- menten ist seit Jahren extrem niedrig. 13 Prozent waren es zuletzt etwa an den Uni- versitäten Köln, Greifswald und Hamburg, an der FU Berlin nur magere 9 Prozent. »Politisierung beginnt immer mit per- sönlichem Betroffensein«, sagt Schnee- kloth. Mit Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertrinken. Mit einem Eisbären in der Ark- tis, dem die Eisscholle unter den Pfoten wegschmilzt. Mit hungernden Kindern nach Dürreperioden in Afrika. Doch die etablierten Parteien sind kein Ort für Betroffenheit. Erst mal Mitglied werden, dann Netzwerke spinnen, einen Posten ergattern und irgendwann vielleicht mal etwas verändern. Genau das schreckt die allermeisten jungen Leute ab. Das Interesse an »Zukunftsthemen« sei seit der letzten Shell-Studie 2015 noch ein- mal gewachsen, sagt Schneekloth. Dass Klimaschutz und Nachhaltigkeit an Be - deutung gewonnen haben, liege an einer gewissen ökonomischen Sorglosigkeit der Jugend. »Es gibt eine Entlastung, was die wirtschaftliche und soziale Situation jun- ger Menschen angeht«, sagt Schneekloth. »Sie fühlen sich sicherer – und deshalb ver- lagert sich die Sorge von der Gegenwart auf die Zukunft.« Es geht vielen nicht mehr so sehr um Geldsorgen, um Jobs, um soziale Gerech- tigkeit im herkömmlichen Sinn, ihr eigenes Hier und Jetzt. Die Jungen stellen die Ge- rechtigkeitsfrage neu. Im Mittelpunkt steht nicht mehr die Umverteilung von Vermö- / REUTERS ROBERTS JOSHUA gen. Im Mittelpunkt steht das Klima. Die Klimafrage ist die neue Systemfrage. Wie kaum jemand im Politikbetrieb ver- sio-Cortez sucht Zuspruch durch Likes, sie Die Europawahl hat gezeigt, dass die Ge- körpert AOC, wie sie genannt wird, die hat sich eine mächtige Basis aufgebaut. Sie neration YouTube die Agenda zunehmend Ungeduld der Millennials und, ja, auch de- ist ein Idol geworden, eine globale Marke: prägt: Bei der Bundestagswahl 2017 stimm- ren Narzissmus. AOC. ten noch 25 Prozent der 18- bis 29-Jährigen Ocasio-Cortez ist die perfekte Politike- Mitte Mai trat Ocasio-Cortez auf eine für die Union. Bei der Europawahl waren rin des Digitalzeitalters, teils linke Aktivis- Bühne der Howard University in Washing- es nur noch 14 Prozent. Die Grünen hin- tin, teils Entertainerin. Mit ihren fast vier- ton, um für den »Green New Deal« zu gegen haben ihr Ergebnis in dieser Alters- einhalb Millionen Followern auf Twitter werben – ein Klimaschutzprojekt und gruppe mit 31 Prozent fast verdreifacht. und dreieinhalb Millionen bei Instagram gleichzeitig ein gigantischer Investitions- Junge Leute brauchen die Parteipolitik erreicht sie mehr Menschen als viele Fern- plan. Kritiker sagen, es sei das größte Ver- längst nicht mehr, um sich Gehör zu ver- sehsender. Fast jeder ihrer öffentlichen staatlichungsprogramm in der Geschichte schaffen. Das Internet ist die größte Bühne Auftritte wird von Kameras festgehalten der Vereinigten Staaten. der Welt, YouTube, Instagram, Twitter. und verbreitet, und wenn nicht ihre An- An den Deal glauben viele ihrer Partei- Themen, Mitstreiter, auch Vorbilder fin- hänger filmen, macht sie es selbst. freunde nicht, viel zu groß, unrealistisch. den sich in aller Welt. Die Figur, die sie auf Twitter und In sta - Trotzdem werben etwa Präsidentschafts- Die Amerikanerin Alexandria Ocasio- gram spielt, ist nahbar, unsicher bis ver- bewerber um ihre Unterstützung, denn Cortez ist seit Januar mit 29 Jahren die letzlich, man kann sich mit der Ocasio- AOC hat die Jugend hinter sich, es ist fast, jüngste Abgeordnete der US-Geschichte, Cortez im Netz leicht identifizieren. Sie als brauchte sie ihre Partei kaum noch – sie spricht für eine trotzige Jugend. In nicht kocht Nudeln oder Suppe, fotografiert die Partei hingegen sie. mal einem Jahr hat sie es geschafft, zur ihren Einkaufskorb oder teilt das Video Für deutsche Politiker, vor allem für sol- politischen Ikone aufzusteigen, die eine eines älteren Mannes, der ein Lied über che von Union und SPD, hat sich bei der Bewegung anführt – dank sozialer Medien. sie und gegen den Klimawandel singt. Oca- Europawahl einerseits gerächt, dass sie
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 17 Neubauer ist Mitglied bei den Grünen. Sie postet über den Klimawandel, aber auch über Mikroplastik in Kosmetika; sie ist in diversen anderen Netzwerken aktiv, von proeuropäischen Aktionen bis hin zu Naturschutzblogs. Sie ist schon um die halbe Welt geflogen, hat etwa in Tansania Wasserleitungen installiert. Wegen der vielen Reisen verpassten Kritiker ihr den Spitznamen »#LangstreckenLuisa«. »Die Europawahl war eine Schicksals- wahl für uns junge Menschen«, sagt Neu- bauer. Schülern, die noch zu jung zum Wählen waren, riet sie zu einem Deal mit den Großeltern – diese sollten doch ihre Enkel entscheiden lassen, wo sie ihr Kreuz setzen. Sie machte dabei keine Werbung für die Grünen, aber sie schrieb: »Wählt für das Klima.« Und: »Lasst uns die Wahl- beteiligung von jungen Menschen einfach so krass nach oben ziehen, dass sich alle umdrehen und wünschten, diese jungen Menschen wären wieder so bequem passiv, wenn es ums Wählen geht.« So funktionieren soziale Medien: Ein Trend wächst exponentiell, sobald andere einsteigen, die wieder andere mitziehen. Bis sogar Modebloggerinnen mitmachen: Auf einmal schien ein blauer EU-Hoodie das Must-have der Frühjahrskollektionen zu sein. Die Beauty-und-Fashion-Bloggerin Dia- na zur Löwen – 751000 Instagram-Follo- wer – unterstützte die Kampagne des EU- Parlaments #diesmalwähleich und veröf- fentlichte mehrere Videos, in denen sie ihre Zuschauer aufforderte, wählen zu gehen – zwischen Videos über Neuheiten der Drogeriekette DM. Auch Mirella Precek, 25, You- Tuberin des Kanals mit dem schö- Die Studentin Luisa Neubauer, Mitorganisatorin nen Namen »Mirellativegal«, die
MICHAEL KAPPELER / PICTURE ALLIANCE / DPA MICHAEL KAPPELER / PICTURE der deutschen »Fridays for Future«-Proteste: sich früher nur um Mode und Un- Die Jungen stellen die Gerechtigkeitsfrage neu, terhaltung kümmerte, beschäftigt im Mittelpunkt steht das Klima. sich inzwischen auch mit Natur- kaum Zugang zu jungen Wählern schutz und solidarisierte sich mit finden. Das gilt besonders für den Rezo. Sie habe sich inspiriert ge- neuen CDU-Generalsekretär, der fühlt von Klimademonstranten, als ehemaliger Vorsitzender der Jungen Rolle. Dabei waren die Zeichen klar zu die noch jünger seien als sie: »Wir haben Union eigentlich diese Gruppen anspre- sehen, etwa auf dem Instagram-Account gedacht, die wachsen mit dem Smart- chen sollte. Auch den technologischen von Luisa Neubauer. phone auf, die werden nie etwas zustande Wandel haben die großen Parteien immer Neubauer, 23, ist in Deutschland das Ge- kriegen. Jetzt legen sie das Smartphone noch nicht verstanden. Noch zu Beginn sicht der »Fridays for Future«-Proteste. Sie beiseite und gehen auf die Straße.« der Legislaturperiode gab es nicht einmal initiierte die ersten Demos in Berlin und Selbst jene, die mitverantwortlich ge- in allen Büros rund um den Reichstag funk- kümmert sich immer noch wöchentlich um macht werden für die Klimakrise, haben ein- tionierendes WLAN, aber irgendwo einen den Zusammenhalt, wenn auch ganz an- gesehen, wie mächtig etwa die Instagram- Schredder für Disketten; Jungwähler ken- ders als das Mädchen aus Schweden. Frau Neubauer durch die Effekte des Netzes nen die höchstens noch aus den Erzählun- Man sieht die Göttinger Geografiestu- werden kann. Als Rednerin bei der letzten gen ihrer Eltern. dentin auf Instagram mit selbstbewussten Hauptversammlung des Energiekonzerns Posen, die Haare fallen ihr locker über die RWE, der viele Kohlekraftwerke betreibt, Wer eher im Gestern lebt, kann im Heute Schultern, auf ihren Lippen ein geheimnis- forderte sie: »Schalten Sie ab, noch dieses alles verpassen. Die Christ- und Sozialde- volles Lächeln. Mehr als 34000 Menschen Jahr!« Als wäre ihr ziemlich egal, dass das mokraten räumten nach der Wahl ein, dass folgen Neubauer auf Instagram, auf Twit- so schnell kaum geht – auch das typisch für sie unterschätzt hatten, wie sehr der Kli- ter sind es noch ein paar mehr. Die Akti- die neue Bewegung: Um den Kleinkram sol- mawandel Jungwähler bewegt. Und dann vistin kettet sich nicht an Bäume oder Bag- len sich gefälligst die Profis kümmern. viele zu den Grünen trieb, denn im Wahl- ger, sie postet. Meistens steht dabei sie Noch schlagkräftiger als Instagram ist kampf der Union spielte das Thema keine selbst im Vordergrund. wohl YouTube, wo eben nicht nur Musik-
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videos laufen. Die populärste Video- mand soll sein Gesicht sehen, auch nicht Rezo war schon vor der Europawahl plattform der Welt ist zugleich die zweit- seine Haare. »Ich ducke mich auf der Stra- abgetaucht, auch medial, seither hat er kei- größte Suchmaschine – und damit ein zen- ße weg«, sagt Rezo später, er ist Ende ne Interviews gegeben. Ihm war alles zu traler Informationskanal. 90 Prozent der zwanzig, viel mehr will er nicht verraten. viel geworden. Die Aufmerksamkeit, die Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren Rezo, das ist der YouTuber mit dem Presseanfragen. Mitte Mai war er noch nutzen YouTube mehrfach in der Woche. orangefarbenen Hoodie und den blauen ein gewöhnlicher YouTuber gewesen, der 23 Prozent geben an, dass sie sich dort Haaren. Der mit dem Zerstörungsvideo. Karaoke sang oder seine Expertise in Mas- mehrmals pro Woche über Nachrichten in- Der die CDU als Haufen von Dilettanten turbation kundtat. Nun ist er der Mann formieren. und Lügnern beschimpft und Studien der Stunde, Plasberg, Lanz, Will, alle Welche Mobilisierungsmacht die Video- zum Klimawandel und zur Bildungspolitik wollen ihn haben. Berichte in der »Tages- plattform hat, zeigt sich vor allem, wenn zitiert. Fast 14 Millionen Mal wurde schau«, Prügel von der »FAZ«, Verständ- es sich um Themen handelt, die der Gene- dieses Video bisher aufgerufen. Theore- nis von der »taz«. Dazu Verschwörungs- ration YouTube nahegehen, die Regulie- tisch wäre das jeder sechste Bürger dieses theorien, er sei gesteuert, von guten Kräf- rung des Netzes etwa. Dazu gehört Artikel Landes. ten, von bösen Kräften, von wem auch im- 13, der inzwischen Artikel 17 heißt und Er selbst sagt, sein Einfluss auf die Eu- mer. »Mein erster Impuls war: Ich würde Teil einer EU-Urheberrechtsnovelle ist. Es ropawahl sei gering gewesen: »Ich denke gern einen großen Schild über mich halten, geht darum, wer wann haftet bei Urheber- nicht, dass ich viel bewegt habe. Ich habe bis es vorbei ist. Aber ich habe verstanden, rechtsverstößen im Netz, ein scheinbar nicht viel Energie aufgebracht. Wenn eine dass das nicht drin ist«, sagt er. dröges Thema, das viele Erwachsene gar Bowlingkugel auf dem Schrank liegt, reicht Rezo will Missverständnisse ausräumen. nicht verstanden. Entsprechend über- ein kleiner Schubs für eine krasse Auswir- Das Treffen findet in einem Hotelzimmer rascht waren die Politiker von der Wucht kung.« Er habe nur ein Video drehen wol- statt. Er will nicht, dass man weiß, wo er der Angriffe, schließlich wollten sie doch len, mehr nicht. wohnt. Und wie. nur Urheberrechte schützen. Rezo sagt, er habe Angst, »dass ein YouTube-Stars mit zahlreichen Spinner bei mir zu Hause die Scheiben ein- Abonnenten wurden zu einfluss- schmeißt.« In der WhatsApp-Gruppe sei- reichen Polit-Influencern und nes Abiturjahrgangs hat er darum gebeten, Aktivisten, die zu Demonstratio- dass niemand mit der großen Zeitung spre- nen aufriefen und dort auftraten. chen möge, die gerade sein Privatleben Während Konservative die auskundschafte. Wütenden als ahnungslose Ma- Quasi über Nacht ist Rezo zum Gesicht rionetten darstellten, begegneten der Generation der unter Dreißigjährigen immerhin die jungen Europapo- geworden. Einer, den man mit der »Fri- litiker Tiemo Wölken (SPD) und days for Future«-Bewegung zusammen- Julia Reda (Piraten) ihnen mit bringt, auch wenn er mit ihr nichts zu tun Respekt: Auf YouTube erklärte hat. »Ich bin kein Aktivist, ich klettere Wölken etwa, wann genau über nicht im Hambacher Forst auf Bäume oder die Reform debattiert wird und marschiere jeden zweiten Tag bei Demos wie es danach weitergeht. Reda gab Hinweise, wohin die Nutzer scrollen mussten, um den über- setzten Gesetzestext zu finden. Dann kam Rezo und sein Vi- deo. Wenige Tage vor der Wahl legte er nach, in einem zweiten Video sprach er zusammen mit Dutzenden anderer YouTuber eine Wahlempfehlung aus:
»Wählt nicht CDU, und wählt MEHNER / BERLINPRESSSERVICES.DE KLAUS nicht die SPD, und wählt schon gar nicht die AfD.« Die Reaktio- nen der Politik waren desaströs. Die CDU stellte eine elfseitige PDF-Datei als Ant- wort auf Rezos erstes Video ins Netz, ihre Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbau- er brachte mit wirren Sätzen über »Mei- nungsmache« im Internet die jungen Leute weiter gegen sich auf. Es gibt in Berlin die Angst, dass am vergangenen Sonntag nicht nur eine Wahl verloren wurde, sondern eine ganze Ge- neration. Aachen, am Mittwoch dieser Woche. Eine gebückte Gestalt huscht über eine Die Medien Zerstörte Autos vor dem Springer- Straße. Den Blick gesenkt, auf dem Kopf haus in Berlin 1968, YouTuber Rezo im Video »Die Zerstörung der CDU«. Er hat Angst, »dass eine Kappe, darüber eine Kapuze, sicher / GETTY IMAGES SEAN GALLUP ist sicher. Es ist der Mann, der sich Rezo ein Spinner bei mir Scheiben einschmeißt«. nennt. Er trägt seine Tarnkleidung. Nie-
19 in der ersten Reihe mit. Ich glaube, dass Jüngste. »Es war manchmal ein ziemlicher Schmerzen spüren. Man kann sich auch ich der Gesellschaft mehr diene, wenn ich Struggle«, sagt er. Mitschüler steckten ihn bei der Arbeit verausgaben.« In den ver- meinen Job gut mache.« Er bezeichnet im Klassenzimmer in den Papierkorb oder gangenen zehn Jahren habe er nur einmal sich als Unterhalter. Er sagt, dass er sich warfen seine Turnschuhe in die Toilette. Urlaub gemacht. Er arbeite fast jeden Tag, nie die Frage gestellt habe, ob er ein poli- Als Teenager habe er daran gedacht, sich selbst am Wochenende. Von morgens um tischer Mensch sei. umzubringen. Einmal habe er auf einem neun oft bis zum Schlafengehen. Am Com- Rezo ist der perfekte Vertreter seiner Dach gestanden und überlegt zu springen. puter, vor der Kamera. Generation. Ein Veganer. Einer, der findet, Rezo sagt, er erzähle das alles, weil es Es gibt einen Moment an diesem Nach- dass man Plastikmüll vermeiden und zu ihm gehöre. Er wolle aber nichts über- mittag, da überwältigen ihn die Gefühle. Flüchtlinge vor dem Ertrinken retten solle. Als er erzählt, dass er einmal im Jahr in Er liest weder Zeitung, noch sieht er Fern- die Kirche gehe, an Heiligabend. Er be- sehnachrichten. Er schaut Netflix. Was in »Abstand, damit die zeichnet sich nicht als christlich, aber die der Welt passiert, erfährt er auf Twitter christlichen Werte bedeuten ihm etwas: oder Instagram. Interessiert ihn etwas nä- Gesellschaft nicht nur aus »Ich habe stark verinnerlicht, was Jesus her, googelt er. Manches bekommt er nur Menschen besteht, die für ein Dude war.« Rezo kommt aus einer so ungefähr mit. Was die CDU-Chefin Theologenfamilie. Vater: Pfarrer. Mutter: über sein Video gesagt hat, wie die Kanz- gerettet werden müssen.« Pfarrerin. Großvater, zwei Tanten, zwei lerin danach die CDU-Chefin verteidigt Onkel ebenso. Und am Ende des Weih- hat. Ungewöhnlich ist allenfalls seine nachtsgottesdiensts singen alle »O du Obsession für die Bundespressekonferenz, dramatisieren, zumal es glücklich ausge- fröhliche«, was ihn jedes Mal in Strömen deren Übertragung er, wie er sagt, seit Jah- gangen sei, »ich stell mich jetzt nicht als weinen lasse. »In diesem Moment frage ren regelmäßig anschaut. »Weil sie etwas Opfer dar«. Er sei in Behandlung gewesen, ich mich immer: Ist das Leben, das ich Menschliches hat: Du siehst dort sofort, nicht lange, »ein paar Talks mit Psycholo- führe, das richtige? Will ich das Ding wenn dich jemand verarscht.« gen«. Gerettet habe ihn die Musik, er fing durch ziehen? Ich weiß, meine Videos ge- Und noch etwas an Rezo ist typisch an, in Bands zu spielen. Die Lust auf ben vielen Leuten etwas. Aber ist es das für seine Generation: dass er an sich Selbstzerstörung veränderte sich, eine Zeit wert? Übers Jahr baut sich extrem viel auf, und der Welt leidet – und es, anders als lang habe er sich noch geritzt. »Irgend- was sich an diesem Abend löst.« Rezo Männer es früher gewohnt waren, auch wann habe ich gemerkt, dass ich das über- fängt an zu weinen. zugibt. Rezo stottert, was in seinen flott tragen kann auf andere Bereiche. Man Rezo sagt, er liebe seine Eltern. »Sie geschnittenen Videos nicht auffällt. In der muss sich nicht schneiden, um sich zu ver- sind offene, warmherzige Menschen, die Schule war er häufig der Kleinste und letzen. Man kann auch auf andere Weise mir viel Liebe gegeben haben.« Kein 68er
1982 Flüssigkristalle bringen dem Computer das Fahrradfahren bei: im Display des ersten digitalen Tachometers. 1888 1992 Eine reife Leistung: Das Macht Gegenwind zum lauen Vulkanisationsverfahren Lüftchen: Der Nickel-Cadmium- macht luftgefüllte Gummi- Akku im ersten Pedelec gibt reifen möglich und so das Radlern Extraschub. Fahrradfahren bequemer.
Die Chemie macht das Rad zum Titel
hätte so über seine Eltern geredet, das ist New Yorker Liberaler. Ihm war aufgefal- Bewegung wurde verbeamtet, dasselbe ein wesentlicher Unterschied zu damals. len, dass sich ab 2013 das Klima an den wird auch dieser Bewegung widerfahren.« Deren Ansatz ist Rezo auch »zu anti«. An- amerikanischen Universitäten änderte. Sie zwingt die Gesellschaft nur dazu, die ders als die Revolutionäre damals habe er Als die ersten iGener auf die Colleges politischen Rahmenbedingungen zu ver- die Gesellschaft nicht gespalten, sagt er. kamen. Einige von ihnen versuchten zu ändern. »Die Gesellschaft braucht manch- Hat er Träume? Oh ja. »Ein Haus, zwei, verbannen, was ihnen nicht gefiel, sie mal solche Anstöße.« drei Kinder, einen Hund.« So leben auch wünschten sich »trigger warnings«, »safe Ist ihm das sympathisch? »Viele Mei- klassische CDU-Wähler. »Uns muss ja spaces« und dass politisch nicht konforme nungsäußerungen der jungen Protestler nicht alles trennen«, sagt Rezo. Gastredner ausgeladen würden. Eine von sind wahnsinnig naiv«, sagt Nassehi. Haidts Thesen lautet, dass die iGener »Aber wenn ich ehrlich bin: Ich möchte Die 68er haben das Land neu erfunden, nicht nur das Produkt der Smartphone- nicht mit allem konfrontiert werden, was in dem wir heute leben, jedenfalls zum Welt sind, sondern auch das ihrer Eltern. ich in dem Alter gesagt habe. Das ist ja Teil. Ein aufgeklärtes, freies Land. Die Par- Einer Elterngeneration, die ihre Kinder der Segen: dass bei uns nicht alles aufge- teien veränderten sich, die Grünen wurden zu ewig Schutzbedürftigen erzogen hat, zeichnet wurde.« gegründet. Es ging alles langsamer, aber die keine anderen Meinungen ertragen. Doch vielleicht ging es damals, 1968, nicht alles war nur dufte. Der Dogmatis- Was er meint: Ein bisschen Abstand und und heute nur so: laut sein, damit sich mus der K-Gruppen, die in den Siebziger- Generationskonflikt mit den Eltern könn- etwas tut. jahren die politische Subkultur prägten. te ganz sinnvoll sein, damit eine Gesell- Laura Backes, Tobias Becker, Der Terrorismus der RAF, deren Mitglie- schaft nicht nur aus Menschen besteht, die Lothar Gorris, Judith Horchert, der ihre Morde damit begründeten, dass gerettet werden müssen, vor dem Klima- Anna-Lena Jaensch, Alexander Kühn, ein neuer Faschismus drohe. wandel, den Andersdenkenden, dem Ann-Katrin Müller, Miriam Olbrisch, Die 19er sind womöglich genauso wir- Bösen. Maximilian Popp, Marcel Rosenbach, kungsmächtig, nur mit dem Unterschied, Das erklärt einen Teil der Rigorosität Christoph Scheuermann, Katja Thimm dass alles nun viel schneller geschieht. Der der neuen Bewegung, ihren Hang, die Mail: [email protected] New Yorker Psychologe Jonathan Haidt Welt einzuteilen, hypermoralisch, in Gut hat im vergangenen Jahr ein Buch über die und Böse. Video Generation Z geschrieben. Es heißt »The Aber dass die Revolte, wie schon 1968, Wie politisch ist die Coddling of the American Mind«, die Ver- tatsächlich einen Zug ins Totalitäre be- Generation YouTube? hätschelung der amerikanischen Seele. kommt, dafür sieht der Soziologe Nassehi spiegel.de/sp232019jugend Haidt, Jahrgang 1963, ist keiner dieser keine Gefahr: Auch die 68er seien am oder in der App DER SPIEGEL neuen rechten Intellektuellen, sondern ein Ende sozialdemokratisiert worden. »Die
2015 Mit der Chemie als Tandempartner Hält die Hände am Lenker: wird das Fahrradfahren dank neuer Der Fahrradhelm mit integrierter Funktechnologie macht das Werkstoffe und Verfahren immer Smartphone auch unterwegs komfortabler und sicherer. Das Ziel: nutzbar – dank Mikrochips aus hochreinem Silizium. eine gesunde und nachhaltige 2018 Mobilität, die Spaß bringt. Gibt richtig Kette ohne Kette: Entdecken Sie mehr Der Prototyp mit hocheffi zientem Antriebssystem durch Kugellager unter www.ihre-chemie.de. aus technischer Keramik gewinnt einen EUROBIKE AWARD.
Renner. Titel
den Klimaschutz. Ich habe das Gefühl, wenn wir Jugendlichen nicht für unsere »Nehmt uns ernst!« Zukunft kämpfen, tut es niemand. Es ist das erste Mal, dass ich mich engagiere, Jungwähler Sie demonstrieren, sie machen Politik, auch das erste Mal, dass ich demonstrie- ren gehe. Mir ist wichtig, dass jeder, der sie bringen ihre Anliegen auf die Agenda: etwas verändern will, bei sich selbst an- Junge Erwachsene erzählen, welche Themen sie umtreiben. fängt. Ich versuche, weniger Plastikmüll zu verursachen, ordentlich zu recyceln und weniger Fleisch zu essen. Die Frei- tagsdemos können etwas verändern, wenn wir Jungen das konsequent durch- ziehen. In eine Partei einzutreten kann ich mir nicht vorstellen, nicht mal bei den Grünen. Ich bin sonst nicht so an Politik interessiert.«
»Politik mit Satireansatz« Hellen Siewert, 24 Jahre, studiert Compu- terlinguistik in Potsdam und arbeitet als Hilfskraft an einem Forschungszentrum für künstliche Intelligenz »Vor der Bundestagswahl 2017 habe ich zum ersten Mal von Der Partei gehört – und fand es sehr witzig, wie anders sie Poli- tik macht, mit Satire. Gut gefallen haben mir die Aktionen gegen die AfD, die ja hier in Brandenburg recht präsent ist. Auf Face - book haben Partei-Anhänger rechte Grup- pen infiltriert und heimlich umbenannt, ›Heimatliebe‹ in ›Hummusliebe‹ zum Bei-
Simon Sumbert / DER SPIEGEL ERIC VAZZOLER spiel. Durch die Facebook-Posts und Vi- deos von Martin Sonneborn, dem EU-Spit- zenkandidaten, habe ich erfahren, wie der nauso der Umgang mit Geflüchteten. Ich Alltag im Europaparlament funktioniert – »Die Älteren haben oft das Sagen« habe ein Freiwilliges Soziales Jahr in einer und wie sehr er von Lobbyisten bestimmt Simon Sumbert, 21 Jahre, studiert Politik- Flüchtlingsunterkunft gemacht, und es wird, die überall auftauchen und Politiker wissenschaften und Volkswirtschaftslehre macht mich traurig, wenn ich höre, wie beeinflussen möchten. Das war mir in dem in Freiburg, auf dem Titelbild links. unwürdig einige konservative und natio- Ausmaß nicht bewusst. Ich finde es toll, »Ich freue mich gerade sehr: Vor einer nalistische Politiker über diese Menschen dass Sonneborn diese Einblicke gewährt. Woche wurde ich in den Stadtrat von Frei- sprechen. Wenn sie sagen, Seenotrettung Europapolitik kommt mir sonst sehr abge- burg gewählt, ich bin das jüngste neue Mit- im Mittelmeer sei ein Verbrechen, macht schottet vor. Im Oktober bin ich aus Neu- glied. Unser Bündnis heißt ›Junges Frei- mich das wütend. Die Grünen stehen in gier zu einem Stammtisch des Kreisver- burg‹ – wir vertreten die Interessen der dieser Frage für Humanität und Mitgefühl. bands Potsdam gegangen, die lockere Stim- jungen Menschen. In der Vergangenheit Trotzdem bin ich unsicher, ob ich richtig hatte ich oft das Gefühl, dass meine entschieden habe. Wenn die Grünen jetzt Josy Zülke Altersgenossen und ich von den anderen so groß werden, rücken sie vermutlich im- Parteien nicht ernst genommen werden. mer weiter in die Mitte, um möglichst viele So geht es mir auch bei den ›Fridays for Wähler zu erreichen. Nicht, dass die ir- Future‹, bei denen ich regelmäßig mitlaufe. gendwann werden wie die CDU.« ›Ihr seid die Zukunft‹, heißt es dauernd. Und dann werden unsere Anliegen trotz- dem kleingeredet. Wenn wir selbst in den »Vom Lehrer motiviert« Stadtrat einziehen, dachten wir, wird uns Josy Zülke, 18 Jahre, auf dem Titelbild Zwei- das nicht mehr so schnell passieren. Ich te von links, war vor zwei Monaten erstmals würde aktuell nicht in eine der traditionel- bei »Fridays for Future«. Sie besucht die len Parteien eintreten. Dort haben oft die zwölfte Klasse einer Schule in Berlin. Älteren das Sagen, das nervt mich. Es war »Mein Lehrer im Biologie-Leistungs- schon merkwürdig, mein eigenes Gesicht kurs hat uns motiviert, an den Demos teil- auf Wahlplakaten zu sehen. Ein bisschen, zunehmen. Er hat uns schon vor Jahren wie wenn man beim Friseur zu lange in erklärt, wie CO²-Emissionen und Klima- den Spiegel schaut, irgendwann war ich wandel zusammenhängen, das hat mich von mir selbst genervt. sehr beeinflusst. Wir haben ein Plakat ge- Bei der Europawahl habe ich meine malt: ›Schule schwänzen kann man ver- Stimme den Grünen gegeben. Nachhaltig- kraften, Klimawandel eher nicht so.‹ Die
keit und Klimaschutz sind mir wichtig, ge- Parteien kümmern sich nicht genug um / DER SPIEGEL NICK HARWART
22 mung und die witzigen Ideen ha- so privilegiert zu sein wie ben mir gefallen. So hatte ich mir ich? Diese Menschen gilt Politik nicht vorgestellt. Seitdem es um jeden Preis zu bin ich regelmäßig dabei und habe schützen. auch im Wahlkampf mitgeholfen, Das versuche ich unter Plakate aufzuhängen. Auch wenn anderem durch Aufklä- viele denken, Die Partei mache vor rungsarbeit in den Insta- allem Späße und wenig ernsthafte storys auf meinem Instag- Politik, finde ich sie wichtig: Durch ramkanal, dem Podcast den Satire ansatz bekommen Men- ›Deine Homegirls‹ und in
schen Zugang zu politischen Dis- Helen Fares / DER SPIEGEL DJURIC MILOS Diskussionen im echten kussionen, die sich sonst wenig da- Leben. Gegen Unwissen, für interessieren. Das galt lange Ängste, Rassismus, Sexis- Zeit auch für mich. Ich hatte in der Vergan- mus und andere ›-ismen‹ vorzugehen steht genheit das Gefühl, dass junge Menschen im Zentrum meiner Arbeit.« in der Gesellschaft eh nicht ernst genom- men werden. Die Reform des Urheber- »Lachen, tanzen, feiern« rechts mit dem Artikel 13, inzwischen 17, SIMAITIS / DER SPIEGEL MARCUS Moritz Bayerl ist so ein Beispiel. Viele junge Menschen Sophie Thomas, 18 Jahre, auf dem Titelbild haben über die sozialen Netzwerke ihre rechts, geht in Berlin zur Schule. Sie wurde Bedenken geäußert und Argumente vorge- am Tag nach dem Wahlsonntag volljährig. da kann man schon mehr bewegen als nur bracht, die allesamt ignoriert wurden. Und »Dass ich ausgerechnet am Tag nach der ein einzelner Schüler. Aber insgesamt ist bei den ›Fridays for Future‹-Demonstratio- Europawahl 18 wurde, hat mich natürlich es leider so, dass man als junger Mensch nen heißt es dann, die jungen Leute sollten ziemlich geärgert. Ich wäre gern wählen kaum ernst genommen wird. Bisher wurde mal lieber in die Schule gehen. Das macht gegangen, ich hatte auch die Programme immer gejammert, die Jugend sei so unpo- mich wütend – zumal die Bewegung von verschiedener Parteien durchgelesen und litisch. Als wir dann auf die Straße gingen, vielen Wissenschaftlern, insbesondere Kli- den Wahl-O-Mat ausprobiert. Das Ergeb- bei ›Fridays for Future‹, sollten wir plötz- maforschern, unterstützt wird.« nis hat mich nicht sonderlich überrascht, lich doch lieber in die Schule. Aber wieso die Grünen waren bei mir ganz oben, da- sollte ich zur Schule gehen, wenn ich weiß, nach die Linke. Nachdem ich auf einigen dass es in ein paar Jahrzehnten keine Schu- »Gegen Rassismus und ›-ismen‹« Demos von ›Fridays for Future‹ war und len mehr geben wird – wenn wir jetzt nicht Helen Fares, 24 Jahre, aus Leipzig studiert über YouTube viel erfahren habe, hätte auf die Straße gehen? Schülerinnen und Psychologie und arbeitet als Moderatorin auch ich die Grünen gewählt, wenn ich hät- Schüler werden systematisch benachteiligt, und Journalistin. te wählen dürfen. Dass man unser politischer Einfluss ist ge- »Ich habe Die Linke gewählt. Das ist für erst ab 18 zur Wahl gehen ring, weil nur ein Bruchteil von mich die einzige Partei, die Themen, die darf, finde ich ungerecht- uns überhaupt wählen darf. mir wichtig sind, in den Mittelpunkt stellt: fertigt. Es geht doch um Dass wir laut werden, wird jetzt Fluchtursachen bekämpfen durch den unsere Zukunft, warum wer- von vielen unterstützt. Meine Stopp von Waffenexporten, die Seenot- den 16-Jährige ausgeschlos- Mutter würde am liebsten gleich rettung entkriminalisieren, sichere Flucht- sen? Dass Jugendliche weni- mitdemonstrieren, so toll findet wege schaffen und den schnellen Kohle- ger vernünftig oder schlech- sie das. Ich habe bei der Euro- ausstieg in ganz Europa vorantreiben. Ich ter informiert sind, ist nicht pawahl die Grünen gewählt, da fühle mich von der Politik in Deutschland wahr. sie klimapolitisch und sozial et- in einigen Punkten alleingelassen, ich den- Jede Nacht lässt unsere was bewegen wollen. Dass die
ke da an Rassismus bei der Polizei. Aus Schule alle Lichter an, das Sophie Thomas / DER SPIEGEL NICK HARWART CDU von jungen Menschen kei- Bayern und Sachsen gibt es viel zu oft Be- ganze Gebäude ist erleuch- ne Ahnung hat, hat sich ja an ih- richte über Racial Profiling und rassistisch tet. Mich regt das total auf, rer Reaktion auf das Rezo-Video motivierte Beleidigungen. Es enttäuscht das ist so unnötig! Dass Erwachsene bes- gezeigt. Ein elfseitiges PDF-Dokument – mich, dass der SPIEGEL früher Titelstorys sere Entscheidungen treffen, ist also kein ernsthaft?! Das liest sich doch kein junger wie ›Mekka Deutschland‹, ›Blutiger Islam‹ gutes Argument. Vielleicht nehmen die Er- Mensch durch. Wir brauchen Politik, die oder ›Der heilige Hass‹ gebracht hat. Un- wachsenen uns nicht ernst, weil wir eine uns zuhört und auf uns eingeht. Denn es terlegt von furchteinflößenden Bildern andere Form gefunden haben, Politik zu ist unsere Zukunft, über die sie entschei- schüren solche Berichte ohne Rücksicht machen. Auf den Freitagsdemonstrationen den. Da war ich von den Grünen auch ein auf Muslime Ängste, Hass und infolgedes- wird gelacht, getanzt, gefeiert. Das heißt wenig enttäuscht, als ich hörte, dass sie sen Rassismus. nicht, dass uns die Klimakrise weniger am sich nicht entschlossen gegen einen Uplo- Dass jetzt in Sachsen so viele Menschen Herzen liegt, aber warum sollte man beim adfilter aussprechen. Viele unter 30 sind die AfD gewählt haben, macht mich be- Protestieren keinen Spaß haben dürfen?« gegen Artikel 13, jetzt 17, und trotzdem troffen, überrascht mich aber nicht. Ich wird er durchgesetzt. Ich hoffe, dass wir verstehe, dass viele AfD-Wähler frustriert Schüler in Zukunft noch mehr bewegen und deswegen empfänglich für Populismus »Meine Mutter findet das toll« können. Bei dem Rechtsruck, den es gera- sind. Ich bin Deutschsyrerin, studiere, ar- Moritz Bayerl, 18 Jahre, besucht die zwölfte de in Europa gibt, ist es wichtig, einen Ge- beite, zahle Steuern. Ich fühle mich, um- Klasse eines Gymnasiums in Köln. genpol zu bilden. Und das tun wir. In mei- geben von 25,3 Prozent AfD-Wählern in »Für mich war die Europawahl ein ech- nem Freundeskreis gibt es niemanden, der Sachsen, unwohl und missachtet, und ich ter Lichtblick. Endlich konnte ich auch nicht gewählt hat.« habe vor allem eines: Angst. Wie soll sich wählen gehen, mich ins politische Gesche- Aufgezeichnet von Laura Backes, also jemand fühlen, der nicht das Glück hen einbringen. Das versuche ich bereits Anna-Lena Jaensch, Miriam Olbrisch hatte, in Bezug auf Bildung und Sicherheit bei der Landesschüler*innenvertretung,
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 23 »Gebot derFairness« es derdeutsche Episkopat nachderVeröffentlichung derbischöf - Entschädigungsverfahrens fürkirchliche Missbrauchsopfer, wie zu gegen. DerWorkshop giltalsAuftakt zurÜberarbeitung des Vertreter derDBKwar derKölner Weihbischof Ansgar Puff beiter desMissbrauchsbeauftragten derBundesregierung. Als fenen auchWissenschaftler, psychologische Berater undMitar - nebenBetrof- Bonn nahmen28ExpertinnenundExperten teil – gefordert. Am»Kick-off-Workshop« vergangenen Montag in gungszahlungen inMilliardenhöhe von derkatholischen Kirche brauchsopferverbänden nacheigenem Bekunden Entschädi- nisierten Arbeitstreffen habenprominente Vertreter von Miss- Pflichtverteidigung lichen Missbrauchsstudie imvergangenen Herbst zugesagt hatte. 24 ein beiBedarf vom Staatbezahlter Pflicht- die Polizei« Prozesskostenhilfe und damit spätestens vor einer Befragung durch vorsieht. Danachsoll »unverzüglich und wohl eineEuropäische Richtliniedas Anspruch aufeinenPflichtverteidiger, ob - lose Beschuldigte nichtvon Anfangan Nach deutschem Strafrecht habenmittel- Bei einemvon derDeutschen Bischofskonferenz (DBK)orga- »Wer quält,wird Kleingärtner abgewählt«, isteinSlogan, derindenGartenkolonien kolportiert wird. Missbrauchsopfer fordern Milliarden Ruf nachhohenEntschädigungen wegen psychischer Folgekrankheiten Deutschland »Die Pflichtverteidigung abderersten Stun- digte elementar und sollte rechtsstaatliche de isteinGebot derFairness, fürBeschul- die kostspieligen EU-Vorgaben gewehrt. einräumte. DieLänderhatten sichgegen Bundestagsabgeordneten Stephan Thomae ministerium (BMJV)aufAnfrage desFDP- aber nichtgeschah, wiedasBundesjustiz- was Recht umgesetzt werden müssen – linie hätte biszum 25.Maiindeutsches verteidiger bewilligt werden. Diese Richt - Katholische Kirche Experten seit Langem kritisiert,genauso wiedasbisherintrans- ten Leids«von inderRegel maximal 5000 Euro werden von von derKirche gewährten »Leistungen inAnerkennung zugefüg- psychischer Krankheiten nurbedingtarbeitsfähig.Diebislang pro Opfer. Viele Missbrauchsbetroffeneschädigung sindinfolge – Euro alsEnt- derten Betroffene Einmalzahlungen von 300000 Geschädigten aus.Bei demTreffen inBonn for-mehr als100000 missbraucht. Wissenschaftler gehen von einerDunkelziffer von 3677 Kinderund Jugendliche von 1670 katholischen Klerikern Der Studiezufolge wurden inden vergangenen Jahrzehnten sion überdieGewährung derEinmalzahlungen entscheiden. nenvertreter soll künftig eineinterdisziplinäre Expertenkommis- parente Entschädigungsverfahren. Nach demWunsch derBetroffe- »keinesfalls etwas, worauf sicheinBeschul- Thomae dasVersäumnis. Zwar könnten oder inderUntersuchungshaft. in derRegel erstnachAnklageerhebung zessordnung gibt eseinenPflichtverteidiger digter verlassen kann«.Nach derStrafpro- sei dies aber, so Thomae, wendet werden – Verankerung imdeutschen Gesetz ange- das BMJVbetont, von derJustiz auchohne einzelne Vorschriften derRichtlinie,wie Selbstverständlichkeit sein«, kritisiert ‣S. HIP 52 BHR ARNE DEDERT / DPA Sicherheitskonferenz heitskonferenz, vorausgegangen. Die eigentum Ischingers, der seine Anteile Bund zahlt zwei Millionen gemeinnützige GmbH, die die Sicherheits- inzwischen als Schenkung in die neue konferenz ausrichtet, war bisher Privat- Stiftung eingebracht hat, an der auch der Die Bundesregierung will sich voraus- Freistaat Bayern mit einer Million Euro sichtlich mit zwei Millionen Euro an der beteiligt ist. Sobald die Bundesregierung neuen Stiftung Münchner Sicherheitskon- gezahlt hat, kann die Bundeskanzlerin ferenz beteiligen. Berlin sichert sich damit den Vorsitzenden des Stifterkreises nomi- ein Mitspracherecht bei dem diplomati- nieren. Die neue Konstruktion sieht vor, schen Großereignis, zu dem in jedem Fe - dass Ischinger, 73, selbst über den Zeit- bruar auch Dutzende Staats- und Regie- punkt seines Abgangs bestimmen kann. rungschefs in die bayerische Landeshaupt- Er nominiert seinen Nachfolger, allerdings stadt kommen. Dem geplanten Einstieg im »Einvernehmen« mit dem Vorsitzen- des Bundes waren monatelange Gesprä- den des Stifterkreises und damit der Bun- che zwischen dem Politischen Direktor desregierung. Der Ex-Staatssekretär und des federführenden Verteidigungsministe- frühere Botschafter in Washington hat
riums Géza von Geyr und Wolfgang / DPA GEBERT ANDREAS klargemacht, dass er vorerst nicht die Ischinger, dem Vorsitzenden der Sicher- Ischinger in München Absicht habe, sich zurückzuziehen. HAM
Bundestagsabgeordneter In seiner Antwort vom 15. Mai weist Klimaschutz AfD-Büro in Russland Risse den AfD-Mann darauf hin, dass Regierung schont Häusle- Abgeordnetenbüros nur im Geltungs - Der AfD-Bundestagabgeordnete Robby bereich des Grundgesetzes zulässig seien. bauer und Eigentümer Schlund will in Russland eine eigene Zudem verstoße die Einrichtung eines Repräsentanz aufmachen. Ende April Büros »zur Kontaktpflege mit offiziellen Ein Entwurf von Bundeswirtschafts- schrieb der Parlamentarier aus Thüringen Stellen ausländischer Staaten« gegen die minister Peter Altmaier zum Gebäude- an den Direktor des Bundestags, er Zuständigkeit der Bundesregierung für energiegesetz erspart Bauherren be absichtige, »auf dem Gebiet der Russi- den »Verkehr mit anderen Staaten«. Ein mehr Aufwand für den Klimaschutz. schen Föderation ein persönliches Ab - persönliches Büro im Ausland sei eine Der Entwurf sieht entgegen der Erwar- geordneten-Büro zu eröffnen«. Als Mit- »rein private Angelegenheit«. Dabei sei tung vieler Umweltschützer keine höhe- glied der Deutsch-Russischen Parlamen- die Verwendung des Bundesadlers »in ren Standards für die Isolierung und tariergruppe liege ihm das Verhältnis der jedweder Form« untersagt und jeder Hin- Beheizung von Neubauten vor. Auch Länder am Herzen. Er wolle daher »mit weis auf die Mitgliedschaft im Bundestag will Altmaier keine verpflichtenden offiziellen russischen Stellen« sowie in geschäftlichen oder beruflichen An - Energiesparmaßnahmen für die beste- »gesellschaftlichen Organisationen und gelegenheiten unzulässig. Schlund, der henden Wohn- und Gewerbeimmo - Privatpersonen« Beziehungen unterhal- mit einer Russin verheiratet ist, reiste bilien. »Eine weitere Steigerung der ten. Die Kosten für dieses Büro würde er 2018 als einer von neun AfD-Wahlbeob- Bau- und damit auch der Wohnkosten nicht aus Abgeordnetenbezügen bestrei- achtern auf Einladung Moskaus zu den wollen wir unbedingt vermeiden«, ten, so Schlund, und bat den Chef der dortigen Präsidentschaftswahlen. »Wir erklärt der CDU-Politiker. »Wohnen Parlamentsverwaltung, Staatssekretär machen uns im Bundestag stark für Russ- muss bezahlbar sein.« Damit sich Mie- Horst Risse, um Hinweise, »falls mein land«, zitiert die russische Propaganda- ter und Kaufinteressierte darüber infor- Vorhaben bundestagsseitig auf zwingen- Agentur »Sputnik« den Orthopäden und mieren können, wie klimafreundlich de rechtliche Hindernisse stoßen sollte«. früheren NVA-Offizier. HAM eine Immobilie ist, muss künftig in den Energieausweisen auch deren CO²-Aus- stoß angegeben werden. Eigentümer, die auf ihrem Grundstück Solarenergie gewinnen, werden zudem bessergestellt als bisher. Werden in einem Neubau - gebiet Wärme und Strom zentral gewon- nen, so soll sich dies künftig noch stär- ker positiv auf die Energiebilanz der Gebäude auswirken. Der Chef der Deut- schen Unternehmensinitiative Energie - effizienz, Christian Noll, vermisst im Entwurf Anreize für die Sanierung von Altbauten sowie die Kontrollpflicht, ob Gebäude die im Energieausweis ausge- wiesenen Werte tatsächlich erreichen. Noll: »Ähnlich wie in Schweden könnte die Regierung anordnen, dass nach Fertig - stellung des Hauses der tatsächliche Ener- gieverbrauch gemessen wird.« Derzeit reicht in Energieausweisen lediglich ein errechneter Wert, der vom echten Heiz-
ROBBY-SCHLUND.DE bedarf einer Wohnung abweichen und Farbenfrohe Schlund-Eigenwerbung für Niederlassung in Russland neue Mieter böse überraschen kann. GT
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 25 Messerverbot Gentechnik Bedrohte Brotzeit Streit um Sicherheit Bayern macht negative Auswirkun- Am Freitag muss der Bundesrat über gen auf sein Brauchtum geltend, falls schärfere Sicherheitsstandards bei der Bundesrat eine von Niedersachsen bestimmten gentechnischen Arbeiten und Bremen angestrebte Verschärfung entscheiden. Vorab gibt es Streit um die des Waffengesetzes beantragen sollte. Empfehlungen der Agrar- und Umwelt- »Von einer derartigen Regelung wären ausschüsse zur Novelle der entsprechen- bereits Brotzeitmesser betroffen«, sagt den Sicherheitsverordnung. In einem der Leiter der Staatskanzlei Florian Schreiben, das dem SPIEGEL vorliegt, Herrmann (CSU). »Das ist ideologischer meldet Hermann Onko Aeikens, Staats - gesetzgeberischer Aktivismus, den ich sekretär im CDU-geführten Bundes- entschieden ablehne.« Die Nord-Bun- landwirtschaftsministerium »fachliche desländer wollen verbieten, Messer mit Bedenken« gegen die Empfehlungen an. einer feststehenden Klinge ab mehr als Ihnen zufolge sollen Experimente mit sechs (bislang zwölf) Zentimetern mit- »Gene-Drive-Organismen« einer höhe- zuführen; Ausnahmen für die Brauch- ren Labor-Sicherheitsstufe unterliegen, tumspflege sollen bestehen bleiben. als die Regierung vorsieht. Der Bund Trotz der Klausel ist der Bayerische möchte den Tagesordnungspunkt ver- Trachtenverband besorgt. Die Trachtler tagen. Eine höhere Sicherheitsstufe leiden nach eigenen Angaben bereits dürfte Mehraufwand für Gene-Drive- unter den verschärften Sicherheitsvor- Experimente bedeuten. Mit der Methode schriften auf Volksfesten. »Ein Trachten- wird das Erbgut von Organismen so ver- messer ist keine Waffe«, so Andreas ändert, dass sie bestimmte Erbinforma- Oberprieler, Geschäftsführer des Ver- tionen an sämtliche Nachkommen weiter- bands, »es hat Schmuckcharakter.« geben. Damit könnten ganze Popula-
Minister Herrmann erklärt, dass sich tionen etwa von Malaria- oder Gelb - / DPA JIM GATHANY schon nach geltendem Recht Messerver- fiebermücken aus gelöscht werden – Malariamücken botszonen einrichten ließen, es in indem zum Beispiel weibliche Exemplare Bayern dafür aber noch keinen Bedarf unfrucht bar gemacht werden. »Die experte der Grünen. Es sei »erschre- gegeben habe. Es drohe »ein Mehr an bisher geltenden Regeln können nicht ckend, dass dem Minis terium vorder- Bürokratie«, so Herrmann. Der Innen- zuverlässig verhindern, dass solche Aus- gründige Interessen der Biotech- ausschuss des Bundesrats hat das Thema rottungsorganismen in die Umwelt gelan- Industrie offenbar wichtiger sind als auf Anfang September vertagt. FRI gen«, warnt Harald Ebner, Gentechnik- der Schutz des Ökosystems«. JKO
Justiz befehl akzeptiert, weil die dortigen Staats- nahme besteht. Das Weisungsrecht wird »Politische Einflussnahme« anwaltschaften von der Exekutive un - hierzulande zwar nur in den seltensten abhängig seien. Wie ist das in anderen Fällen ausgeübt. Die Kritik daran ist trotz- Helmut Satzger, 52, Mitgliedstaaten der EU geregelt? dem nicht unberechtigt – gerade weil Strafrechtsprofessor Satzger: Dort sind Staatsanwälte ent- es diese Option gibt, ist Einflussnahme in München, zum weder wirklich unabhängig, oder jedenfalls nicht ausgeschlossen. Urteil des Europäi- die Entscheidung liegt bei einem Richter. SPIEGEL: Das bayerische Justizministerium schen Gerichtshofes, SPIEGEL: Auch der innerdeutsche Haft - hat SPIEGEL-Informationen zufolge wonach deutsche befehl wird von einem Richter ausgestellt. veranlasst, dass Staatsanwälte künftig die Staatsanwälte nicht Er wird ja nur vom Staatsanwalt zum Euro- Ausstellung solcher Haftbefehle bei EU-Standards päischen Haftbefehl erweitert, wenn der Gericht beantragen. Ist das ein Ausweg? genügen Beschuldigte im Ausland vermutet wird. Satzger: Vorerst – auch wenn ich daran Satzger: Das genügt dem Gericht aber zweifle, dass dabei nun wirklich in jedem SPIEGEL: Deutsche Staatsanwälte dürfen nicht. Vor allem geht es um die Frage, ob Fall eine tiefschürfende Prüfung erfolgt. laut dem neuen Luxemburger Urteil keine im konkreten Fall eine Auslieferung Wird ein solcher Antrag vom Richter aber Europäischen Haftbefehle mehr ausstel- wirklich angemessen ist. Das hätte ein nur abgenickt, ist das kein rechtsstaat - len, weil sie politischer Einflussnahme Richter zu prüfen. licher Gewinn. unterliegen können. Ist unsere Justiz nicht SPIEGEL: Zuletzt gab es Diskussionen um SPIEGEL: Was wird aus bereits bestehen- rechtsstaatlich genug? den Europäischen Haftbefehl aus Spanien den Haftbefehlen? Satzger: So pauschal kann man das nicht gegen den katalanischen Politiker Carles Satzger: Sie sollten schnellstmöglich von sagen. Allerdings hat das Gericht klar - Puigdemont. Ein deutsches Gericht hatte einem Richter bestätigt werden. Irritatio- gemacht, dass ein Europäischer Haft - seine Auslieferung wegen des Vorwurfs nen im Ausland, vor allem wenn man dort befehl nur von einer strikt unabhängigen der Rebellion abgelehnt. Dabei war der bereits auf Basis des in Deutschland ausge- Justizbehörde ausgestellt werden darf. Haftbefehl in Spanien von einem Richter stellten Haftbefehls tätig wurde, sind pro- Und das ist die deutsche Staatsanwalt- ausgestellt worden. grammiert. Langfristig sollte man deshalb schaft nicht, weil die Politik ein sogenann- Satzger: Gerade da wurde der politische bei uns an eine Reform der Stellung der tes Weisungsrecht hat. Kontext solcher Verlangen deutlich. Umso Staatsanwälte denken. In den meisten Mit- SPIEGEL: Die Luxemburger Richter wichtiger ist, dass zumindest keine recht - gliedstaaten der EU sind die Staatsanwalt- hatten 2016 einen ungarischen EU-Haft- liche Möglichkeit zur politischen Einfluss- schaften unabhängig organisiert. HIP
26 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 TISSOT heritage visodate. INSPIRIERT VON DER TISSOT VISODATE KOLLEKTION AUS DEM JAHR 1950.
#ThisIsYourTime
TISSOTWATCHES.COM TISSOT, INNOVATORS BY TRADITION XINHUA / ACTION PRESS / ACTION XINHUA Vorsitzende Nahles: »Eine glasklare Frage, die ich beantwortet haben will«
28 Deutschland »Das bringt uns alle um« Sozialdemokratie Am Mittwoch wurde Parteichefin Andrea Nahles ins Gesicht gesagt, dass sie es nicht kann: Über Stunden hörte sie sich an, was die eigene Fraktion von ihr hält. Chronik eines brutalen Tages, der die SPD noch beschäftigen wird. Von Christoph Hickmann und Veit Medick
s ist etwa Viertel vor fünf, als Sa- Vorsitzenden stünden, schreibt Groß. Der Chancen sondiert hat, verschickt eine Mail scha Raabe das Wort ergreift. Die Brief verbreitet sich, wird öffentlich. an alle SPD-Abgeordneten: »Ich werde E SPD, sagt Raabe, sozialdemokra- Nahles sieht darin eine Attacke, mit der nicht für den Fraktionsvorsitz kandidie- tischer Bundestagsabgeordneter sie schon länger gerechnet hat. Seit Wo- ren«, schreibt er. Das habe er Nahles kürz- aus dem Wahlkreis Hanau, habe nach chen kursieren Gerüchte, im Fall schlech- lich in einem Vieraugengespräch gesagt. außen vor allem zwei Gesichter: Andrea ter Wahlergebnisse drohe ihr ein Putsch. Über das Gespräch hat der SPIEGEL be- Nahles und Olaf Scholz – und er erlebe Noch am Montagabend geht sie in die Of- richtet (22/2019), seither laufen in der SPD nun einmal in seinem Wahlkreis, »so leid fensive: Sie will die für Ende September die Spekulationen, wer geplaudert habe, es mir auch tut«, dass die beiden dort nicht geplante Wahl in der Fraktion vorziehen. Schulz oder Nahles oder beide. In seiner ankämen. Sie sucht den Showdown, gegen den Rat Mail bezichtigt Schulz nun Nahles indirekt Raabe sagt das am Mittwochnachmittag führender Genossen. Es ist ein Alleingang der Indiskretion: Er selbst habe sich an das in der Sondersitzung der SPD-Bundestags- mit hohem Tempo. Sie will ihren Gegnern vereinbarte Stillschweigen gehalten. Da- fraktion. Als er redet, läuft die Sitzung die Zeit zur Vorbereitung nehmen. mit erklärt er ihr offen den Krieg, doch für schon eine Weile, es geht um den Plan von Der Bundestag hat sitzungsfrei, die Ab- die Runde im Jakob-Kaiser-Haus ist ent- Andrea Nahles, in der kommenden Woche geordneten halten sich in ihren Wahlkrei- scheidend, dass Schulz seine Ambitionen die Machtprobe zu suchen und die Wahl sen auf, doch für Mittwoch werden sie zur beerdigt hat. Der Abgeordnete Karamba zum Fraktionsvorsitz vorzuziehen. Sondersitzung der Fraktion geladen. Die Diaby äußert sich in der Sitzung verärgert: Raabe wendet sich an Scholz, Vizekanz- Diskussionen, die an diesem Tag geführt warum der Martin das nicht schon letzte ler und Finanzminister: »Du wirst wahrge- werden, sind exemplarisch für den Zu- Woche klargestellt habe. nommen als kaltherziger Technokrat.« stand dieser Partei, für das, was sie seit Dann sprechen die Abgeordneten wie- Er wendet sich an Nahles, Partei- und Jahren bewegt, bedrückt. Aber auch dafür, der über Nahles’ Plan. Viele sind dagegen, Fraktionsvorsitzende: »Ich mag dich von sie fürchten, dass die Vorsitzende mit ih- Herzen gern, und ich werde immer sagen, rem Vorstoß die Fraktion erst recht spalten dass du ’ne tolle Arbeitsministerin warst, »Was kommt dann? wird. Manche sind regelrecht verzweifelt ’ne tolle Fraktionsvorsitzende. Aber es ist Was kommt danach? angesichts der Sturheit ihrer Chefin. halt deine Tragik, dass du das nicht ver- »Ich halte die Entscheidung, nächste Wo- kauft bekommst.« Was heißt das che die Entscheidung herbeizuführen, für Was Raabe da sagt: Es ist vorbei. Ein für die Fraktion?« falsch«, sagt Fraktionsvize Sören Bartol Bruch muss her, ein Neuanfang. So kann aus Hessen nach übereinstimmenden An- es nicht weitergehen. gaben. »Machtpolitisch entspricht das dem Andrea Nahles, 48, hat schon viel hinter wie gnadenlos die SPD mit ihrem Füh- Lehrbuch. Ich glaube aber, dass das Ergeb- sich. Sie hat einen Parteivorsitzenden ge- rungspersonal umgeht. nis uns alle umbringt.« stürzt, Wahlniederlagen erlitten, persön- Die Diskussionen haben hinter ver- Er höre in fast allen Beiträgen »das Un- liche Demütigungen ertragen. Aber dieser schlossenen Türen stattgefunden. Um sie behagen über diesen Prozess«, sagt Bartol. Mittwoch dürfte einer der härtesten Tage zu rekonstruieren, hat der SPIEGEL mit »Was kommt dann? Was kommt danach? in ihrer Karriere sein. mehr als zwei Dutzend Personen gespro- Was heißt das für die Fraktion?« Er könne Als die SPD bei der Europawahl am chen, die an den Sitzungen beteiligt waren, »nur noch mal eindringlich appellieren, Sonntag auf 15,8 Prozent abstürzte, hinter hat ihre zum Teil schriftlichen Schilderun- dass wir nächste Woche nicht diese Aus- den Grünen auf Platz drei landete und erst- gen mit anderen Versionen abgeglichen, einandersetzung haben«. mals in ihrem Stammland Bremen geschla- Widersprüche hinterfragt, Formulierungen Um 14.45 Uhr verlässt Andrea Nahles gen wurde, standen sofort wieder die Fra- überprüft. Herausgekommen ist das Pro- kurz den Saal. Sie sieht einen Reporter gen im Raum, die die SPD-Führung einen tokoll eines Tages, der die SPD noch be- draußen stehen und sagt: »Die Geier krei- Wahlkampf lang zu verdrängen versucht schäftigen wird. sen.« Dann geht sie weiter. hatte: Stehen noch die richtigen Leute an Mittwoch, 13 Uhr, Sitzungssaal 1302 im Kurz nach Nahles’ Rückkehr ist die der Spitze? Stimmt die Programmatik? Jakob-Kaiser-Haus, einem Gebäude, das Abgeordnete Dagmar Schmidt an der Rei- Und hat es noch Sinn, in der Großen zum Bundestagskomplex gehört. Der he – ebenfalls aus Hessen. Schmidt hasst Koalition zu bleiben? Fraktionsvorstand tritt zusammen, er soll Illoyalitäten und Durchstechereien, wie es Vor allem die Frage nach dem Personal Nahles’ Plan absegnen, die Wahl auf nächs- sie in den Wochen zuvor zuhauf gegeben wollten Nahles und der Rest der Parteifüh- ten Dienstag vorzuziehen. hat, sie sagt: »Wenn wir so weitermachen, rung umgehen, doch Michael Groß, ein Ihre Mitarbeiter sitzen mit todernsten bewegen wir uns absolut in den Abgrund.« Abgeordneter aus dem Ruhrgebiet, verei- Gesichtern draußen. Drinnen geht es um Aber auch sie ist mit Nahles’ Plan telt das. In einem Brief fordert er am Mon- die Frage, ob sich der Showdown nicht nicht einverstanden: »Irgendeine Macht- tag nach der Wahl eine Sondersitzung der doch noch abwenden lässt. Da platzt in demonstration wird uns nicht weiterhel- Fraktion. Es müsse »klargestellt werden«, die Runde eine Nachricht: Martin Schulz, fen«, sagt sie. Deshalb habe sie »große ob die Abgeordneten noch hinter ihrer der in den vergangenen Wochen seine Sympathie dafür«, noch einmal nachzu-
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 29 Deutschland denken. »Wir sagen alle, es soll keine Per- und das »Netzwerk«, dessen Mitglieder Man brauche »einen Neuanfang ohne sonaldebatten geben. Und dann kommt sich als pragmatisch bezeichnen. Parallel Andrea«, sagt ein Abgeordneter aus Nord- am Abend das Gegenteil«, kritisiert sie. tagen auch noch Landesgruppen. rhein-Westfalen. »Das sind Entscheidungen, die die Partei Die Seeheimer tagen im Europasaal des Ein Kollege, Axel Schäfer aus Bochum, nicht zusammenführen in dieser Krise, Paul-Löbe-Hauses. Eigentlich sind sie stolz sagt, er könne Nahles nur raten, aus freien sondern weiter orientierungslos zurück - darauf, stets loyal zur Führung zu stehen, Stücken den Übergang zu organisieren – lassen.« selbst wenn es sich um eine Linke wie Nah- am besten mit einer Doppelspitze. Ein paar Unterstützer von Nahles mel- les handelt. Seeheimer-Chef Johannes Kein Redner stellt sich vorbehaltlos und den sich zu Wort, sie argumentieren etwa, Kahrs hat in den Tagen zuvor klargemacht, klar hinter Nahles, obwohl hier eigentlich dass die Vorsitzende nach ihrer Ankündi- dass sich daran nichts ändern werde. Doch ihre Verbündeten sitzen. Sie kommt aus gung nun ohnehin nicht mehr zurückkön- es kommt anders. diesem Flügel. Tatsächlich dürften die Re- ne. Doch Matthias Miersch ist anderer Dagmar Freitag meldet sich zu Wort, debeiträge in der hastig abgehaltenen Sit- Meinung. Miersch, Chef der Parteilinken Abgeordnete aus Nordrhein-Westfalen. zung nicht repräsentativ für die gesamte in der Fraktion, gilt als möglicher Kandidat Seit 1994 sei sie nun dabei, sagt Freitag, Gruppe sein. Aber in diesen wenigen Mi- für Nahles’ Nachfolge. Er sagt nun, dass sie habe viele Fraktionsvorsitzende kom- nuten ist es nach Schilderungen von Teil- er in der nächsten Woche nicht gegen Nah- men und gehen sehen. »Aber ich habe nehmern nur Niels Annen, Staatsminister les kandidieren werde. Er sagt aber auch, mich noch nie so unwohl in der Fraktion im Auswärtigen Amt, der sich voll für Nah- dass er ihr Vorgehen für falsch halte. gefühlt.« Dass Nahles eine solche Ent- les reinhängt. Wie solle er denn aussehen, »Andrea hat recht: Es braucht eine Klä- scheidung treffe und über die Medien der Neuanfang, hält er den Kritikern ent- rung. Aber eine Klärung bis Dienstag mit kommuniziere, empfinde sie »als völlig gegen. Wie es denn jetzt weitergehen solle, Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß wird der inakzeptable Geringschätzung der Frak- ruft er dazwischen. Fraktion nicht guttun«, sagt Miersch. Man tionsmitglieder«. Um kurz nach 16 Uhr trifft sich die ge- solle sich mehr Zeit nehmen, alle sollten Freitag macht klar, was sie generell von samte Fraktion in ihrem Saal unter der »miteinander sprechen und zu einer Klä- Nahles hält. Deren öffentliche Auftritte sei- Reichstagskuppel. Viele Abgeordnete feh- rung kommen, bis September oder wann en »Gegenstand jeder Diskussion mit Bür- len, sie haben es nicht nach Berlin geschafft. auch immer«. gern und Mitgliedern an der Basis mit dem Nahles eröffnet, leitet noch einmal ihre Am Ende bedankt sich Nahles für die Tenor: Das geht gar nicht«. Entscheidung her. Seit Wochen und Mo- »intensive und ehrliche Debatte«. Sie er- naten schon sei sie infrage gestellt worden, klärt noch einmal ihre Entscheidung, sie sagt sie, hinter ihrem Rücken. Viele hier sagt, sie stelle »eine glasklare Frage, die Man brauche wüssten, von wem sie rede. Einzelne Ab- ich beantwortet haben will«. Die Situation »einen Neuanfang ohne geordnete hätten ihren Rücktritt sogar öf- müsse jetzt aufgelöst werden. fentlich gefordert. Sie würde sich wün- Es ist 15.23 Uhr, als abgestimmt wird. Andrea«, sagt schen, diese Kollegen würden nun auch in Nahles fragt, wer dafür sei, die Wahl auf ein Abgeordneter. der Sitzung mal den Mund aufmachen. Dienstag vorzuziehen. 19 Hände gehen Gemeint ist Florian Post, Abgeordneter hoch. »Wer ist dagegen?« 9 Abgeordnete aus München, der sich seit Monaten so melden sich. 3 Enthaltungen. »Dann be- Der Brandenburger Abgeordnete Ul- furcht- wie ruchlos an Nahles abarbeitet. danke ich mich für die Unterstützung«, rich Freese bekennt: »Aus Überzeugung Er meldet sich als Zweiter zu Wort. sagt Nahles. Ende der Sitzung. und aus strategischen Gründen habe ich Er habe im Europawahlkampf mit vie- Nahles ist blass, als sie aus dem Saal sie damals nicht gewählt, und ich werde len Menschen gesprochen. »Kein einziger kommt. Ihre Leute eilen zu ihr hin und das auch diesmal nicht tun.« hat die Meinung ausgedrückt, dass es mit verschwinden mit der Chefin im Aufzug. Uwe Schmidt, gelernter Hafenfacharbei- dir an der Spitze gut läuft.« Post fordert Spätestens jetzt muss ihr klar sein, auf wel- ter aus Bremerhaven, erzählt, er habe neu- Nahles zum Rücktritt auf. ches Wagnis sie sich eingelassen hat: Neun lich bei einem missglückten Wahlkampf- Das weckt Widerspruch, einige Kolle- Gegenstimmen in einem Gremium, das an- auftritt hinter Nahles gesessen. Er habe sei- gen fallen regelrecht über Post her. Ein Ab- sonsten loyal zu ihr steht. Wie viele wären ne Sonnenbrille nicht abgenommen – »weil geordneter legt Post nahe, aus der Fraktion es gewesen, wenn die Abstimmung geheim ich nicht erkannt werden wollte«. auszutreten. »Das wird keiner bedauern. gewesen wäre? Auch im Europasaal sitzt ein Mann mit Es wird jeder sagen: Gott sei Dank, jetzt Für den Widerstand gibt es zwei Haupt- Sonnenbrille. Es ist Martin Schulz. Hinter ist gut.« motive. Da sind die einen, die sich schon der Brille sehe er aus »wie der Termina- Dann spricht Thomas Oppermann. Er länger vorstellen können, Nahles zu stür- tor«, sagt er Kollegen. In seinem Auge sei- ist Nahles’ Vorgänger und als Vizepräsi- zen, allerdings erst im September, mit Zeit en Adern geplatzt, man sehe nur noch Blut dent des Bundestags mittlerweile so etwas zum Planen, Sammeln und Sortieren. De- und Pupille. wie der Elder Statesman der Fraktion. Er ren Plan ist nun durchkreuzt, sie haben Am Ende der Sitzung, nach einem Wort- schlägt einen großen Bogen und redet über nur noch eine Woche. Andere sind solcher beitrag von Kahrs, fährt Schulz aus der die Große Koalition. Es laufe nicht gut. Putschgedanken unverdächtig. Sie treibt Haut. Kahrs hat gerade einen Vorschlag »Erfolge werden uns nicht zugeordnet«, die Sorge um, dass die Fraktion und mit vom Tisch gewischt, wie sich der Show- sagt er. »Uns werden alle Misserfolge zu- ihr die Partei bei einer offenen Abstim- down noch vermeiden ließe, nun geht gerechnet.« In den nächsten Monaten müs- mung noch tiefer gespalten werden. Schulz ihn an, ein Wort gibt das andere, se man hart mit der Union verhandeln – Die Abgeordneten verlassen den Sit- bis Schulz brüllt: »Du bist ein Arschloch!« und noch niemand habe behauptet, dass zungssaal, sie haben es eilig. Sie wollen zu Die Parlamentarische Linke trifft sich Nahles schlecht verhandeln würde. den Sitzungen der sogenannten Strömun- ebenfalls im Paul-Löbe-Haus, Raum E400. »Wir müssen Trophäen einfahren, oder gen, die sich vor dem Treffen der Gesamt- Seit 14 Uhr sitzen die meisten Abgeordne- wir werden Konsequenzen ziehen müs- fraktion noch rasch beraten wollen. ten hier und warten darauf, dass ihre Kol- sen«, sagt Oppermann. »Das heißt, wir Drei Strömungen oder Flügel gibt es in legen aus dem Fraktionsvorstand dazu- stehen vor der Frage: Gibt es die GroKo der Fraktion: die »Parlamentarische Lin- kommen. Die treffen gegen 15.30 Uhr ein, Weihnachten noch?« In einer solchen ke«, den konservativen »Seeheimer Kreis« die Sitzung wird nicht lange dauern. Situation sei es »keine schlaue Idee, die
30 Führung auszuwechseln«. Zumal sich Aber wer soll das sein? Schulz selbst Minister müsse sich Sorgen um seinen Pos- dann sofort die Frage stelle, wie es an der hat abgewinkt, ebenso Matthias Miersch. ten machen. Parteispitze weitergehe. Er bitte um »ein Bleibt der nordrhein-westfälische Abge- Damit ist endgültig klar: Für Nahles bisschen Fairness« im Umgang mit der ordnete Achim Post, dessen Name in den geht es nun um alles oder nichts. Fraktionsvorsitzenden. jüngsten Wochen immer wieder gefallen Es ist halb neun am Abend, die Sitzrei- Doch der Ärger über Nahles’ Vorstoß ist. Der Abgeordnete Gustav Herzog aus hen sind ausgedünnt. Viele Abgeordnete ist groß, und er entlädt sich. Rheinland-Pfalz fragt ihn direkt: ob er kan- aus Nordrhein-Westfalen sind vor Ende »Ich fühle mich vergewaltigt«, sagt der didieren werde? der Sitzung zum letzten Zug in die Heimat hessische Abgeordnete Martin Rabanus. Post drückt sich um eine Antwort he- gehastet. Manche Abgeordneten über- Daniela De Ridder aus Niedersachsen rum. Er sagt, es gehe nun um die Zukunft nachten in Berlin. Und der Parteivorstand nimmt Nahles zunächst in Schutz: Andrea der SPD als Volkspartei, er referiert die berät in einer Telefonschaltung über die- sei eine Kämpferin, sagt sie. Es dürfe nicht Lage der sozialdemokratischen Parteien sen Tag. In der Schalte verkündet Nahles gelten, dass der Erfolg viele Väter habe, in Europa. Zu seinen Ambitionen, so wird laut Teilnehmern, sie sehe in der Fraktion der Misserfolg aber nur eine Mutter, näm- es geschildert, sagt er demnach nichts. eine klare Mehrheit für sich. lich Andrea Nahles. Sollte Nahles aber bei Zwischendurch ergreift Nahles das Wie geht es nun weiter? ihrem Plan bleiben, sagt De Ridder, fühle Wort. Sie liest aus der Onlineausgabe der Nach diesem Mittwoch ist kaum vorstell- sie sich »genötigt«, würde sich zurückzie- »Bild«-Zeitung vor. »Es geht nicht mehr bar, wie die SPD mit Nahles weitermachen hen und mit Nein stimmen. darum, wer es wird, sondern nur darum, soll, wie man all diese Verletzungen heilen könnte, wie die Genossen zurückfinden wollen in eine Art Arbeitsmodus. Nur: Was wäre daran anders, wenn sich ein Gegenkandidat durchsetzen würde? Die Spaltung bliebe ja die gleiche, nur dass ein anderes Lager enttäuscht wäre. Dieser Tag wird auch über die SPD hinauswirken. Ganz gleich, was in den nächsten Tagen passiert, die Große Koali- tion wird nicht mehr dieselbe sein wie vor Nahles’ Alleingang. Vielleicht setzt Nahles sich noch einmal durch, mit Machtpolitik alter Schule. Doch die Aussprache in der Fraktion, in den Strömungen und im Vorstand hat offenge- legt, wie leid viele Abgeordnete die ewige Rationalität, die Disziplinierung sind, das Basta, mit dem schon Gerhard Schröder und Peter Struck durchgriffen. Diese Er- fahrung wird den Regierungsalltag prägen. Am Donnerstag, an Christi Himmel- fahrt, geht es schon los, es kommen erste Rufe, das Bündnis zu beenden. Sie dürften lauter werden, spätestens nach den drei
MICHAEL KAPPELER / DPA Landtagswahlen im Osten, nach der Som- Galerie der SPD-Fraktionsvorsitzenden im Bundestag: Es geht nun um alles oder nichts merpause. Allerspätestens. Fiele Nahles am Dienstag, wäre die Gro- ße Koalition womöglich noch schneller am Es folgt Martin Schulz. Er entschuldigt wer es nicht bleibt: Andrea«, so wird dort Ende. Verliert Nahles den Fraktionsvor- sich für seinen »überemotionalen Wortbei- während der laufenden Sitzung anonym sitz, kann sie den Parteivorsitz gleich mit trag« beim Seeheimer-Treffen. Auch bei ein Abgeordneter zitiert. Nahles’ Kom- niederlegen, ihre Machtbasis wäre weg – Kahrs persönlich hat er sich da schon ent- mentar: »So viel zu unserer Vertrauens- und damit ein Eckpfeiler dieser Koalition. schuldigt. Er wehrt sich noch einmal dage- kultur.« Auch Vizekanzler Olaf Scholz, den viele gen, dass ihm ein Putschversuch und Indis- Aber sie hat auch Unterstützer. Der Ab- Genossen als Teil des Problems wahrneh- kretionen unterstellt wurden. Er werde ja, geordnete René Röspel erklärt, er werde men, müsste dann um sein Amt fürchten. sagt Schulz laut Teilnehmern, von manchen sie wieder wählen. Und Außenminister Nahles’ Unterstützer streuen das drohen- mittlerweile mit Sigmar Gabriel verglichen. Heiko Maas wirft die Frage auf, ob man mit de Ende der Koalition als Schreckens- Bei allem Respekt, aber das treffe ihn sehr, einem Mann auch so umgegangen wäre szenario. Doch es löst in der SPD immer sagt Schulz. Klar, sagt Schulz, »ich quatsche wie mit Nahles. Nein, befindet Maas – be- weniger Schrecken aus. manchmal auch dummes Zeug«. Aber seit stimmte Auftritte hätte man einem Mann In der Fraktionssitzung am Mittwoch hat seinem Rücktritt habe er versucht, »hier nicht so vorgehalten. Dafür gibt es kräfti- sich auch ein junger, aufstrebender Abge- loyal mitzuarbeiten«. gen Applaus. Den gibt es ansonsten kaum. ordneter zu Wort gemeldet, Falko Mohrs, Es gehe, sagt Schulz, um eine Grund- Die Stimmung bleibt gedämpft. 34, aus Wolfsburg. Alle schauten auf den satzentscheidung: Bekäme Nahles in der Das Schlusswort hat natürlich Andrea Dienstag, sagte Mohrs. Aber wie gehe es nächsten Woche eine Mehrheit, hätte sie Nahles. Da kursiert bereits die nächste Zei- weiter? »Ich frage mich die ganze Zeit, was Anspruch auf Unterstützung. Bekäme je- tungsmeldung, wonach sie einen Ausweg eigentlich am nächsten Mittwoch passiert.« mand anderes eine Mehrheit, hätte auch finden und als Ministerin ins Bundeskabi- Wie, fragte er, wolle die SPD danach wie- der darauf Anspruch. »In der Demokratie nett wechseln könnte. Das könne sie aus- der einen »Teamgeist« entwickeln? setzt sich eben immer jemand durch.« schließen, sagt Nahles in der Fraktion, kein
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 31 Deutschland
ie Analyse der Wahlniederlage war D schonungslos. Die Partei sei derzeit Wahnsinn und Klimbim weder inhaltlich noch organisato- risch noch personell in der Lage, einen Union Wahlkampf zu führen, sagte Annegret Annegret Kramp-Karrenbauer ist erst ein halbes Kramp-Karrenbauer am Montag vor den Jahr im Amt, doch die Zweifel an der CDU-Vorsitzenden wachsen. Führungsgremien der CDU. Dann listete Ausgerechnet ihr engster Vertrauter verschärft die Krise. sie nach Angaben von Teilnehmern eine Reihe von Fehlern auf: Die Reaktion auf das Video des YouTubers Rezo gegen die CDU sei nicht gut gewesen. Beim Thema Klimaschutz gebe die Union keine konsis- tente Antwort. Und auf personeller Ebene habe die Partei ebenfalls kein attraktives Angebot, das Köpfe mit wichtigen The- men verbinde. Damit schob sie einen Teil der Verant- wortung ihrer Vorgängerin zu, die 18 Jahre lang für die Partei verantwortlich war. Angela Merkel ließ sich jedoch nicht wi- derspruchslos zur Mitschuldigen für das schlechte Ergebnis bei der Europawahl ma- chen. Mit Formulierungen wie »Gender- wahnsinn« und »Sozialklimbim« gewinne man keine jungen Leute, sagte sie in der Präsidiumssitzung der CDU. Sozialklimbim ist ein Wort des CDU- Wirtschaftspolitikers Joachim Pfeiffer, das auch in den eigenen Reihen Kritik ausge- löst hatte. »Genderwahnsinn« verstanden manche Anwesende als Anspielung Mer- kels auf einen Scherz Kramp-Karrenbau- ers, die sich bei einem Karnevalsauftritt im Februar über Toiletten für das dritte Geschlecht lustig gemacht hatte. Beide Frauen haben recht, das ist das Problem der CDU. Merkel hat ihrer Partei die inhaltlichen Konturen abgeschliffen. Zu den großen Themen, neben dem Klima auch die Digitalisierung, hat die CDU we- nig zu sagen, und Kramp-Karrenbauer hat es nicht geschafft, der Partei wieder mehr Profil zu verleihen. Bei der Europawahl rutschte die Union um 6,5 Prozentpunkte ab, auf nur noch 28,9 Prozent. Knapp ein halbes Jahr nach ihrer Wahl ist in der CDU eine Debatte darüber ent- brannt, ob Kramp-Karrenbauer eine ge- eignete Nachfolgerin Merkels ist. Bei dem Versuch, die Partei von der Kanzlerin zu emanzipieren, hat die neue Vorsitzende Fehler über Fehler gemacht. Unter Merkel war klar, dass die Union vor allem die Wähler der liberalen Mitte ansprechen wollte. Das fanden viele falsch, die sich einen konservativeren Kurs gewünscht hät- ten. Unter Kramp-Karrenbauer ist unklar, ob es überhaupt eine Linie gibt. Es habe sich der Eindruck verfestigt, es gebe einen Rechtsruck in der CDU, sagte die Parteivorsitzende am Montag. Das sei aber eine Fehlwahrnehmung. Zu dieser hat sie selbst viel beigetragen. Ihr wichtigster Beitrag zur Programm- debatte war ein sogenanntes Werkstattge- STOCKI / ACTION PRESS / ACTION STOCKI spräch zur Flüchtlingspolitik in der Partei- Parteichefin Kramp-Karrenbauer: Was schiefgehen kann, geht schief zentrale, das ein Signal der Distanzierung
32 von Merkels Linie sein sollte. Kramp-Kar- »vermeintlicher Rechtsruck bei der JU so- halten ihn viele für ungeeignet. Hochran- renbauer war das wichtig, um eine Spal- wie die medial sehr präsente, sogenannte gige CDU-Politiker haben dies Kramp- tung der Partei zu verhindern und auch WerteUnion« hätten neben anderem zu Karrenbauer in den vergangenen Tagen den Flügel an sich zu binden, der sich einer deutlichen Abkehr unter 30-jähriger auch mitgeteilt. Die Entscheidung, eigent- Friedrich Merz an der Parteispitze ge- Wählerinnen und Wähler geführt, heißt es lich für die Klausurtagung des Vorstands wünscht hatte. dort. Lange verärgerte damit gleichzeitig am Sonntag geplant, wurde verschoben. Als sie weiter so agierte, als wollte sie die Konservativen und die Parteijugend. In Langes Wahlanalyse findet sich der vor allem den Konservativen in der Partei Das Papier war auch eine Selbstrecht- Satz: »Bei dieser Europawahl trat erst- gefallen, ärgerte das auch ihre Unterstüt- fertigung. Die Europawahlkampagne mit malig der zu erwartende Effekt eines Wahl- zer. Das Gender-Witzchen fanden viele den Schlagworten »Wohlstand«, »Sicher- kampfes ohne Ausspielen des Bevölke- Unionspolitiker unangemessen. »Wir dür- heit«, »Frieden« hat Lange konzipiert. Die rungsrückhaltes der Bundeskanzlerin ein.« fen nicht den falschen Eindruck erwecken, Bedeutung des Themas Klimaschutz hatte Das kann man so lesen, als sei es ein Fehler dass die CDU nach rechts rückt«, sagte die er unterschätzt. gewesen, Merkel durch Kramp-Karrenbau- schleswig-holsteinische Bildungsministe- Es war nicht sein erster Schnitzer. Die er zu ersetzen. Die Kanzlerin sieht das rin Karin Prien schon im April. Die Inte- missglückte Antwort der Partei auf das möglicherweise so. grationsbeauftragte Annette Widmann- Video des YouTubers Rezo geht auf sein Merkel empfand das Werkstattgespräch Mauz beschwor Kramp-Karrenbauer im Konto. Lange soll es gewesen sein, so be- als unnötig. Hätte Kramp-Karrenbauer kleinen Kreis, endlich die Positionen zu richten Eingeweihte, der Bundestagsabge- eine mögliche Schließung der Grenzen als vertreten, für die sie gewählt worden sei. ordneten davon erzählte, dass die CDU mit offizielle CDU-Position formuliert, hätte Noch mehr schadete der Parteivor - einem Video des jungen Philipp Amthor Merkel sich öffentlich dagegengestellt, sitzenden ein programmatischer Artikel auf Rezo antworten werde. Er gab auch ein heißt es in ihrer Umgebung. Im Lager der zu Europa, den sie im März in der »Welt Foto der Aufnahmen an die »Bild«-Zeitung. Parteichefin nimmt man Merkel dagegen am Sonntag« als eine Antwort auf die Vor- übel, dass sie sich aus den Wahlkämpfen schläge des französischen Präsidenten Em- der Partei heraushält. manuel Macron veröffentlichte. Mit For- 41,5% Zeitenwende Die Schwäche Kramp-Karrenbauers derungen wie der, das EU-Parlament nicht CDU/CSU hat die Machtverhältnisse verändert. Vor mehr in Straßburg tagen zu lassen, pro- 32,9% wenigen Wochen debattierte die Partei vozierte sie die Franzosen und verärgerte die Frage, ob die Vorsitzende Merkel zum die Europapolitiker in den eigenen Reihen. 28,9% Rückzug als Kanzlerin zwingen werde. Kramp-Karrenbauer handelte bislang 25,7% Nach dem Wahldesaster vom Sonntag vor allem taktisch. Sie denkt als Partei- SPD bekannte sich Kramp-Karrenbauer im vorsitzende. Der hätte man einen unaus- 20,5% 20,5% Präsidium zur Fortsetzung der Großen gegorenen Zeitungsartikel oder einen Koalition. Merkel hatte keinen Zweifel da- missglückten Karnevalsscherz vielleicht ran gelassen, dass sie bis zum Ende der verziehen. Aber Partei und Öffentlichkeit Grüne Legislaturperiode regieren will. 8,9% 15,8% interessiert die Frage, ob diese Frau auch 8,4% Das bedeutet, dass Kramp-Karrenbau- Kanzlerin könnte. Toilettenwitze gelten ers Dilemma sich verschärfen wird. Sie vorläufiges dabei nicht als Qualifikation. amtliches kann sich nicht von der beliebten Kanzle- Kramp-Karrenbauer muss nun eine Endergebnis rin absetzen, weil die eigenen Unterstüt- Erfahrung machen, die ihre Amtskollegen zer das nicht mitmachen würden. Aber von der SPD seit Jahren kennen: Wenn Bundestags- Bundestags- Europawahl wie soll sie dann Akzente setzen? Bislang es erst einmal schlecht läuft, dann geht wahl 2013 wahl 2017 2019 hat sie auf diese Frage keine Antwort. alles schief, was schiefgehen kann. Eine Eine offene Personaldiskussion will unbedachte Äußerung über Regeln zum die CDU vermeiden. Kritiker äußern sich Wahlkampf im Internet brachte ihr den Kramp-Karrenbauer erreichten bereits nur im Hintergrund. Das könnte sich nach Vorwurf ein, sie wolle die Meinungs - Anrufe besorgter Landeschefs und Gene- den Landtagswahlen in Sachsen, Bran- freiheit im Internet einschränken. Dass ralsekretäre, bevor sie von der Idee des denburg und Thüringen in der zweiten Laschet und der Vorsitzende der Jungen Videos mit Amthor wirklich überzeugt Jahreshälfte ändern, sollte die AfD in ein Union (JU), Tilman Kuban, darauf hinwie- war. Das mag sie auch dazu bewogen ha- oder zwei Ländern stärker als die CDU sen, die Meinungsfreiheit sei ein hohes ben, die Veröffentlichung abzusagen. werden. Gut, ließ sie noch schlechter aussehen. Wäre die Nachricht von dem Video nicht Die Debatte deutet sich bereits an. »Die Viele Fehler sind der Unerfahrenheit dank Lange schon im Umlauf gewesen, Volksparteien haben in der Substanz zu Kramp-Karrenbauers in der Bundespolitik hätte das nicht für Aufsehen gesorgt. So den großen Veränderungen, die vielen geschuldet. Umso wichtiger wäre es für aber wirkte es, als lasse sich die Partei von Menschen Angst machen, kaum etwas an- sie, erfahrene Berater an ihrer Seite zu einem jungen YouTuber vorführen. zubieten. Das schließt auch die CDU ein«, haben. Doch ausgerechnet ihr wichtigster Auch die verhängnisvolle Antwort an sagt der Vorsitzende des Auswärtigen Aus- Mann, CDU-Planungschef Nico Lange, Macron hat Lange verfasst. Er besprach schusses, Norbert Röttgen.»Schlagwörter wirkt mit dieser Aufgabe überfordert. sich vorher weder mit Abgeordneten und Worthülsen sind keine Konzepte. Das Lange, ein ehemaliger Zeitsoldat, war noch mit der Fachabteilung im Konrad- zu ändern ist die Aufgabe, an der sich die für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Adenauer-Haus, wie Mitarbeiter berich- Zukunft der Partei, aber auch die von An- verschiedenen Ländern tätig. Sein Selbst- ten. Die hätte die Forderung, endlich EU- negret Kramp-Karrenbauer entscheiden bewusstsein übertrifft seine Erfahrungen Beamte zu besteuern, wohl aus dem Text wird.« Dass ein CDU-Politiker, der Kramp- in der Berliner Politikszene. Am Abend gestrichen. Eine Steuer gibt es längst. Karrenbauer gegen Merz unterstützt hatte, der Europawahl verfasste er nach Anga- Lange galt als Favorit für die Nachfolge ihre Zukunft infrage stellt, dürfte ihr end- ben von Mitarbeitern eine spontane Wahl- des scheidenden Bundesgeschäftsführers gültig den Ernst der Lage klarmachen. analyse und verschickte sie an die Partei- Klaus Schüler. Damit würde seine Macht Ralf Neukirch spitze, ein ungewöhnlicher Vorgang. Ein weiterwachsen. Doch im Parteipräsidium
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sieben Jahren vorgestellten Programm gab Die Weisheit des er den Titel »Freude ist nur ein Mangel an Information«. In der Rolle eines weisen, maulwurfs- grummeligen Eremiten kombiniert Sems- Maulwurfs rott die Schilderung von privaten Mise- ren – darunter Studienabbruch, Hilf- Wahlen losigkeit im Liebesleben und eine durch Nico Semsrott wird von vielen jungen Menschen als Satirestar keine Therapie kurierbare Schwermut – verehrt. Nun hat er für »Die Partei« ein Mandat in Brüssel errungen. mit der Schilderung einer pathologischen Gesellschaft. Den Leistungsdruck des Kapitalismus, die mediale Über- an kann womöglich Fort- forderung, vor allem aber die Dau- M schritt dazu sagen. Vor an- ererregung der Rechtspopulisten derthalb Jahren, im Bun- und ihrer Anhänger kontert der En- destagswahlkampf, trat der Satiri- tertainer Semsrott mit maximaler ker Nico Semsrott noch unter dem Lethargie. Motto »Weil ich mir egal bin« an. Sein bislang grandiosester Streich Auf Wahlplakaten blickte er bleich ist ein YouTube-Video, in dem er und traurig, die Schrift verkündete: mit fast schon komatöser Seelen - »Wir geben der Krise ein Gesicht.« ruhe das Weltbild der AfD zerlegt, Es klappte nicht mit dem Mandat. indem er diverse AfD-Parolen vor- Nun aber ist er mit dem Slogan trägt und sie durch Zuspitzung ent- »Besser als nix« tatsächlich ins Eu- zaubert. »Ich sehe was, was du ropäische Parlament gewählt wor- nicht siehst, und das ist die Islami- den. Erbaulicher? Semsrott spricht sierung des Abendlandes«, heißt es mit betont tonloser, leiernder Stim- in diesem Video, das seit August me. »Das ist bei uns jetzt kein opti- 2016 mehr als 2,6 Millionen Mal mistischer Ansatz wie bei den Grü- angeklickt wurde. nen, so in der Art: ›Ey, die Blumen Das Paradoxe am scheinbar völ- sprießen, die Schmetterlinge flat- lig ehrgeizfreien Spiel des Satiri- tern, wir bauen jetzt das neue kers Semsrott, der lieber nicht Co- Europa.‹ Nee, wir sagen: Eigentlich median genannt werden will (»Sa- ist alles im Arsch. Aber wir schauen tire muss wehtun. Alles andere ist mal, was wir noch rausholen kön- belanglos, also Comedy.«), ist der nen, indem wir die letzten Kräfte aufklärerische Ehrgeiz, den er als mobilisieren.« Bühnenheld wie als Politiker offen- Der Unterhaltungskünstler Nico bart. Seine Arbeit als Komiker be- Semsrott, 33, hat bei der Europa- schreibt er so: »Die Figur, die ich wahl eines der beiden Mandate spiele, weiß zwar, dass alles schon für die Satirepartei »Die Partei« er- Semsrott-Plakat verloren ist, aber sie setzt sich trotz- rungen. Das andere ging an Martin »Die Figur, die ich spiele, weiß, dass alles schon verloren ist« dem zur Wehr. Weil sie die Arsch- Sonneborn, 54. Sonneborn hat löcher und das Böse nicht gewin- »Die Partei« im Jahr 2004 mit ein paar dent Sloweniens, ebenfalls ein Comedian – nen lassen will.« Über seine Pläne für die Mitstreitern im Dunstkreis der Zeitschrift wie im Grunde ja auch Donald Trump. An- Abgeordnetenzeit in Brüssel sagt er: »Viel- »Titanic« gegründet. 2,4 Prozent der Stim- tipolitiker sind gerade beliebte Politiker, leicht gehe ich am Ende enttäuscht raus men holte »Die Partei« nun bundesweit und Humor ist eine scharfe Waffe. Oder aus der Politik. Mein Vorteil ist, dass ich bei den Wahlen fürs Europäische Parla- wie Semsrott 2017 für sich warb: »Liebe schon enttäuscht reingehe.« ment. Unter den Wählern, die jünger als Nichtwähler, wenn’s euch egal ist, wer im Solche Sätze sagt Semsrott in schneller 30 Jahre sind, brachte sie es zur viert- Bundestag sitzt, wäre es dann nicht schön, Folge, ohne dass man ihm irgendeine Mühe stärksten Kraft hinter den Grünen, der von jemandem vertreten zu werden, dem’s anmerkt. Er ist in Hamburg aufgewachsen, Union und der SPD, noch vor den Linken. egal ist, dass er im Bundestag sitzt?« hat nach dem Abitur tatsächlich ein Studi- Semsrott selbst sagt bei einem Telefonat Auf der Bühne trägt Semsrott stets um abgebrochen und diverse Praktika, un- am Dienstag nach der Wahl, das er aus einen dunklen Kapuzenpulli. Die Augen- ter anderem bei SPIEGEL ONLINE, absol- Brüssel führt, wo er gerade die Lage er- lider auf halbmast, die Gesichtszüge blei- viert. Mit seinen Poetry-Slam-Auftritten, kundet: »Ich bin ein lebendes Mahnmal ern, die Körperhaltung schlaff, so trägt er für die er bejubelt und preisgekrönt wurde, für die vergessene Jugend in Europa.« vor, was er über eine traurige Welt und sei er »in eine Karriere reingescheitert«, Und so überraschend der Erfolg der seine meist depressive Grundstimmung wie er das ausdrückt. »Partei« ohnehin ist – noch erstaunlicher zu berichten hat. Er selbst nennt sich ei- Der Erfolg der Partei »Die Partei« habe dürfte sein, wie sehr Satiriker gerade die nen »Demotivationstrainer«. Zunächst damit zu tun, glaubt Semsrott, »dass viele europäische Politik verändern: Beppe Gril- bei Poetry-Slam-Wettkämpfen, dann auf der jüngeren Wähler sich einfach nicht von lo und seine Fünf-Sterne-Bewegung in Kabarettbühnen und seit 2017 als wieder- den anderen Parteien repräsentiert fühlen«. Italien, Jón Gnarr, der die isländische kehrender Gast der »heute-show« im ZDF Aber eben auch mit dem Auftreten der Hauptstadt Reykjavík als Bürgermeister hat sich Semsrott ein großes Publikum »Partei«-Kandidaten und ihren Wahlwer- regierte. Wolodymyr Selenskyj, der neue erspielt, das hingerissen seinen Vorträgen bespots, in denen zum Beispiel ein Höchst- ukrainische Präsident ist immerhin ein Se- folgt. Seine Monologe sind fast immer wahlalter für Senioren gefordert wird. Für rienstar, Marjan Šarec, der Ministerpräsi- Katastrophenberichte. Einem erstmals vor einen ihrer Spots zur EU-Wahl hatte »Die
34 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Partei« der Flüchtlingshilfsorganisation Sea-Watch den Sendeplatz freigeräumt, da- mit sie Bilder eines im Mittelmeer ertrin- kenden Jungen zeigen konnte. Semsrott formuliert es so: »Wir machen ernste Poli- tik, die manchmal auch Lust bereitet.« Mit hörbarem Stolz berichtet er von einer Studie, die ihm unter allen deutschen EU-Parlamentskandidaten die größte Reichweite und den größten Impact be- Jetzt im scheinigt habe, was Instagram, Twitter oder YouTube angehe. »Wir haben eine an die Zeit angepasste Kommunikation. Handel Wir sind unterhaltsam. Man guckt sich unsere Sachen freiwillig an, man schickt sie an Freunde weiter.« Die Leitartiklerfloskel, dass der Erfolg der »Partei« ein Zeichen von Politikver- drossenheit sei, bringt Semsrott in Rage. »Das Wort ist falsch. Die Leute sind par- teienverdrossen, aber politisch so interes- siert und engagiert wie sonst was.« Er selbst staune, sagt Semsrott, wie viele Bür- ger in den vergangenen zwei Jahren im Kampf um den Hambacher Forst und ge- gen die schärferen Polizeigesetze, gegen die Klimakatastrophe und gegen rechts den Weg auf die Straße gefunden hätten. »Das ist doch beeindruckend, wie sehr die- se Zivilgesellschaft on fire ist«, findet der Satiriker. »Große Teile der deutschen Be- völkerung sind politischer als die Politiker selbst.« Regelrecht wütend mache ihn die Lei- denschaftslosigkeit der Mächtigen in Ber- lin, die zum Beispiel in der Bundespresse- konferenz demonstriert werde, sagt Sems- rott. »Wie unglaublich langsam unsere Politiker ihre Debatten führen! Wie un- fassbar zäh über erneuerbare Energien www.spiegel-geschichte.de oder die mörderische Grenzpolitik der EU geredet wird!« Ein unter den Fans längst berühmter Satz der Bühnenfigur Semsrott, die sich nur schwer zu irgendeiner Aktion aufraf- fen kann, lautet: »Jede Entscheidung ist X Auch als App für iPad, Android der Tod von Milliarden Möglichkeiten.« sowie für PC/Mac. Hier testen: An der Wählerentscheidung, Sonneborn und ihn nach Brüssel zu schicken, gibt es geschichte.spiegel.de/digital eines, was den Politiker Semsrott, wie er sagt, »aufrichtig deprimiert«. »Die Partei« wird mit zwei männlichen Abgeordneten ins EU-Parlament einziehen, eine erst auf Listenplatz drei gesetzte Kandidatin na- mens Lisa Bombe hat es knapp nicht ge- schafft. »Natürlich ist es nicht gut, dass wir eine männliche Doppelspitze haben«, sagt Nico Semsrott. »Satire hin oder her. Mir Lesen Sie in diesem Heft: ist das peinlich.« Wolfgang Höbel Goethe »Wo die Zitronen blüh’n« Video »Depressive Antifa!« Mafi a Ein Pate aus dem Ruhrpott spiegel.de/sp232019semsrott oder in der App DER SPIEGEL Wenn bei Capri …
35 Der Soundtrack zum Fernweh »Wer auf YouTube zum Battle gefordert wird, muss reagieren«
SPIEGEL-Gespräch CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt über die Angst der Union vor Blamagen im Internet, seine Vorstellungen von ambitioniertem Klimaschutz und zu der Frage, wie lange Annegret Kramp-Karrenbauer im Schatten der Kanzlerin stehen kann
Dobrindt, 48, Vorsitzender der CSU-Abge- ordneten im Bundestag, eilt verspätet in das Restaurant Vestibül im Wiener Burg- theater. Soeben hat er Gespräche mit der schwedischen Klimaaktivistin Greta Thun- berg und mit Arnold Schwarzenegger ge- führt, der für seine Klimainitiative »R20 Austrian World Summit« nach Wien einge- laden hatte. Dobrindt ist mit dem Flugzeug angereist, aber, das stellt er sofort klar, er hat dafür eine Klima-Ausgleichsabgabe gezahlt. Der CSU-Mann, früher schärfster Kämpfer seiner Partei gegen grüne Ideo- logen, erfindet sich in den Tagen nach der Europawahlschlappe der Union und dem Triumph der Grünen neu – als Klimaretter.
SPIEGEL: Herr Dobrindt, wie alt waren Sie, als Sie in die CSU eingetreten sind? Dobrindt: Ich bin mit 16 Jahren Mitglied bei der Jungen Union geworden. Mitte der Achtzigerjahre lag ich damit nicht wirklich im Mainstream. SPIEGEL: Wie kam es zu diesem Schritt? Dobrindt: Es hat mich fasziniert, wie Hel- mut Kohl mit dem Wechsel zur christlich- liberalen Koalition die politische Wende in Deutschland eingeleitet hat. An einen Sitz im Bundestag habe ich damals nicht gedacht. Ich wollte einfach mitgestalten an politischen Entscheidungen. SPIEGEL: Junge Leute unter 25 fühlen heu- te anders: Nur zwölf Prozent haben bei der Europawahl CDU oder CSU gewählt. Ist die Union ein Klub für alte Leute? Dobrindt: Nein. Wir sind in allen Alters- gruppen ab 35 Jahren die stärkste Kraft und damit nach wie vor breit aufgestellt. Das muss uns jetzt auch wieder bei den Alters- gruppen darunter gelingen. Es ist kein Na- turgesetz, dass wir bei jungen Wählern von den Grünen abgehängt werden. Bei der Landtags- und bei der Bundestagswahl 2013 waren wir als CSU die mit weitem Abstand stärkste Kraft bei den Jungwählern in Bay- ern. Dafür müssen im Wahlkampf die In- halte und die Kommunikation stimmen. SPIEGEL: Sie spielen auf den Umgang der Union mit dem YouTuber Rezo an, der in seinem millionenfach angeklickten Video / DER SPIEGEL PERTRAMER INGO »die Zerstörung der CDU« betreibt? Abgeordneter Dobrindt: »Zur Instagram-Ikone taugen andere besser«
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Dobrindt: Wenn man eine Woche vor dem nen Gesellschaft. Aber Gesellschaften, in SPIEGEL: Sie meinen den Klimaschutz? Wahltermin auf YouTube zu einem Battle denen das Netz komplett staatlich über- Dobrindt: Klimaschutz, Naturschutz, die herausgefordert wird, muss man reagieren. wacht wird, sind solche, in denen wir nicht Bewahrung der Schöpfung – genau diese SPIEGEL: Wo sahen Sie die Gefahr? leben wollen. Themen machen den Gencode christlicher Dobrindt: Das Video verdichtet in einer SPIEGEL: Kann unsere Demokratie Schritt Volksparteien aus. Ausgerechnet hier ha- schnellen Abfolge komplexe Inhalte zu halten mit der Digitalisierung? ben wir aber im Wahlkampf – auf der Stra- sehr einfachen Botschaften, sodass ein ver- Dobrindt: Wir erleben in ganz Europa, ße wie auch im Netz – zu wenig Angebote tieftes Nachdenken über das Gesprochene dass die größten Profiteure von Meinungs- gemacht. beim Zuschauer gar nicht stattfindet. Hän- freiheit und demokratischer Transparenz SPIEGEL: Ist das nicht auch Ihr Erbe? Als gen bleibt, dass die Volksparteien versagen genau diese Werte infrage stellen. Manche CSU-Generalsekretär haben Sie Ökos und oder falsch handeln. In Zeiten einer hoch ganz bewusst, weil sie wie die Rechtspopu- Vegetarier verspottet, als Verkehrsminister dynamischen Kommunikation in den so- listen unsere Demokratie destabilisieren die Autoindustrie gehätschelt. zialen Netzwerken und Plattformen muss und letztlich einen Systemumsturz wollen. Dobrindt: Ich mag Autos, das stimmt. man auf so etwas reagieren, und zwar auf Andere unbewusst, weil ihnen zum Bei- Aber ich mag keine Betrügereien. Da habe dem Feld, wo man attackiert worden ist. spiel die Dynamik des Föderalismus zu ich bei der Automobilindustrie im Diesel- SPIEGEL: Hätte die Union mit einem Vi- langsam ist. Ich glaube, dass in Wahrheit skandal immer einen klaren Strich gezo- deo antworten sollen statt mit einem elf- nur Demokratien in der Lage sind, tech- gen. Und ich finde es geradezu grotesk, seitigen PDF-Dokument? nologische Umbrüche in der Gesellschaft wenn ein Konzern verkündet: Wir bauen Dobrindt: Wenn der Gegner dich zum so zu steuern, dass sie zum Vorteil für alle Elektroautos, wenn die Politik es will. Ich Schachspiel auffordert, kannst du jeden- und nicht zum Nachteil für viele werden. sage, ein Autokonzern hat die verdammte falls nicht antworten: Okay, ich gehe mal SPIEGEL: Sie haben drei Handys vor sich Pflicht, sein Angebot so weiterzuent- meine Würfel holen. Man kann Schlachten auf dem Tisch liegen, sind aber nicht auf wickeln, dass er auch in Zukunft die mo- nur gewinnen, wenn man auf demselben Instagram oder Twitter. Wie weit her ist dernsten, innovativsten und besten Autos Spielfeld steht wie der Angreifer. es mit ihrer Social-Media-Kompetenz? der Welt baut, und nicht einfach auf die SPIEGEL: Wenn die CDU gegen einen Dobrindt: Ich bin auf Facebook, die CSU Ansage der Politik zu warten. Schachgroßmeister aber nur Amateure im Bundestag ist auch auf Instagram und SPIEGEL: Sie haben hier in Wien mit Greta aufbieten kann, dann war es vielleicht Thunberg und Arnold Schwarzenegger zu- klug, dem Duell vorerst auszuweichen. sammengesessen und über Klimaschutz Dobrindt: Wer zaudert, wird Debatten diskutiert. Was sagen Sie denen, welchen nicht gewinnen können. Außerdem teile »Der Wahlkampf hat Beitrag Sie dazu leisten? ich Ihren Vorhalt von Meister und Ama- gezeigt, dass wir beim Dobrindt: Wir haben alle kein Verständnis teuren nicht. für Menschen, die sich einreden, der Kli- SPIEGEL: Warum nehmen Sie die You- wichtigsten Thema zu mawandel würde sich irgendwie von allein Tube-Community als Angreifer wahr und wenig präsent waren.« auflösen. Aufgeklärte Menschen können nicht als Wählerschaft, mit der man viel- eigentlich nur noch über die Frage streiten, leicht besser Frieden schließt? wie schnell und mit welchen Mitteln wir Dobrindt: Ich unterscheide sehr wohl zwi- unseren CO -Ausstoß verringern können. ² schen dem einzelnen Absender, der uns an- Twitter. Aber in einer breiten Volkspartei Und da ist meine Position seit Langem, da- gegriffen hat, und den Millionen Empfän- wie der CSU muss nicht jeder alles bedie- für braucht es Anreize, Zwangsmaßnah- gern, die wir als Wähler erreichen wollen. nen. Zur Instagram-Ikone taugen andere men fruchten nicht. Aus Bürgern, die sich Die Volksparteien haben einen Nachhol- Kolleginnen und Kollegen besser. Doro- von gefühlten politischen Gängelungen für bedarf beim Thema digitale Kommu - thee Bär zum Beispiel, unsere Staatsminis- den Klimaschutz ausgegrenzt fühlen, wer- nikation. Die Dynamik der digitalen Kom- terin für Digitalisierung, leistet einen star- den mit Sicherheit keine überzeugten Kli- munikation kann man nicht beklagen, ken Beitrag für unsere Wahrnehmung in maaktivisten. Die Klimawende gelingt sondern man muss versuchen, sie zu nut- den digitalen Medien. durch Innovationen, nicht durch Verbote. zen, um für unsere Politik zu werben. SPIEGEL: Ein CDU-Abgeordneter twitter- Öko muss Spaß machen, um die Menschen SPIEGEL: Anders als CDU-Chefin Anne- te, dass die Jungwähler schon zur Vernunft in der Breite zu erreichen. Wir brauchen gret Kramp-Karrenbauer sinnieren Sie kommen und konservativ wählen würden, deshalb eine Politik, die Anreize für Inno- nicht über Regeln für die »Meinungsma- sobald sie ihr erstes eigenes Geld verdien- vationen setzt. che« im Internet? ten. Sehen Sie das auch so? SPIEGEL: Sie selbst haben bislang prak- Dobrindt: So habe ich sie nicht verstanden. Dobrindt: Je weniger man sich als junger tisch nichts für den Klimaschutz erreicht. Fortschritt lässt sich auch nicht aufhalten. Wähler mit der Union identifiziert, desto Dobrindt: Schönes Vorurteil. Aber wir ha- Genauso wie sich Arbeitnehmer auf die schwerer lässt man sich später von unseren ben zum Beispiel die größte Dynamik im Veränderung ihrer Arbeitssituation durch politischen Inhalten überzeugen. Wir sind Aufwachsen der erneuerbaren Energien. die Digitalisierung einstellen müssen, muss keine Partei für eine bestimmte Einkom- Bei der Mobilität haben wir die Halbie- auch die Politik zu Veränderungen bei der mensgruppe oder Altersschicht. Wir sind rung der Dienstwagensteuer für Hybrid- Wählerkommunikation bereit sein. eine Volkspartei, und als solche haben wir und Elektrofahrzeuge umgesetzt. Das war SPIEGEL: Hinter der Plattform YouTube den Anspruch, uns nicht von jungen Wäh- meine Initiative, und sie zeigt auch schon steht der Riese Google. Muss eine Regie- lern zu entkoppeln. Wirkung, aber dabei muss es nicht bleiben. rung nicht neue Technologien genau beob- SPIEGEL: Welche Lehre soll die Union also Ich will einen Schritt weitergehen – mit ei- achten und, wenn nötig, regulieren? aus dem Europawahlergebnis ziehen? ner Nullbesteuerung von reinen E-Dienst- Dobrindt: Natürlich darf im Netz nicht al- Dobrindt: Die Erkenntnis kann doch nur wagen. So kann es uns gelingen, dass wir les erlaubt sein. Deswegen gibt es zu Recht lauten: Volksparteien, überprüft eure zügig auch einen breiten Gebrauchtwagen- das Hatespeech-Gesetz, das Beleidigun- Schwerpunkte. Der Wahlkampf hat ge- markt für E-Fahrzeuge bekommen. Das gen, Diskriminierung und Rassismus un- zeigt, dass wir bei dem wichtigsten Thema, Gleiche gilt für steuerliche Förderungen terbinden soll. Das ist der Rahmen für die das uns der Wähler vorgegeben hat, zu we- bei der energetischen Gebäudesanierung. Kommunikation in einer freien und offe- nig präsent waren. Eines darf man allerdings auch nicht ver-
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 37 gessen, wir retten in Deutschland das Welt- alle« und »alle Grenzen zu«, zwischen klima nicht allein, Deutschland ist für zwei »Klimaschutz um jeden Preis« und »Klima- Prozent der weltweiten CO -Emissionen wandel gibt es nicht«. Diese Konflikt - ² verantwortlich. dimensionen spalten unser Land. SPIEGEL: Was schließen Sie daraus? SPIEGEL: Was heißt das für die Union? Dobrindt: Die »R20«-Klimaschutzkonfe- Dobrindt: Ich glaube, dass es den bürger- renz hier in Wien zeigt doch, dass das alte lichen Volksparteien CSU und CDU gelin- Motto »Think global, act local« unserer gen kann, das politische Angebot für den Verantwortung als Industrienation nicht gesellschaftlichen Ausgleich zu schaffen. gerecht wird. Wir brauchen ein neues Pa- Wir haben in der zweiten Hälfte des vori- radigma: »Think global, act global«. Denn gen Jahrhunderts den Konflikt zwischen während Staaten wie Deutschland oder Markt und Staat gelöst mit der sozialen Frankreich ihre Emissionen stetig reduzie- Marktwirtschaft und damit eine verbin- ren, verschlechtert sich die weltweite Kli- dende bürgerliche Klammer gebildet, hin- mabilanz, und dafür sind vor allem China, / DER SPIEGEL PERTRAMER INGO ter der sich die Mehrheit in unserem Land Indien und die USA verantwortlich. Dobrindt, SPIEGEL-Redakteurinnen* versammeln konnte. Diese bürgerliche SPIEGEL: Während Greta auf Sie zeigt, zei- »Öko muss Spaß machen« Klammer brauchen wir jetzt auch bei den gen Sie auf China? neuen Konfliktdimensionen Ökologie und Dobrindt: Ich sage ausdrücklich, unsere SPIEGEL: Der alte Alexander Dobrindt Identität. Beide Sehnsüchte, Umwelt- Verantwortung für die Welt ist größer, als hätte die Schüler vielleicht »Klima-Kra- schutz und kulturelle Identität, sind übri- nur auf die deutsche Energiewende zu wallos« genannt. Ihr neues Ich ist geradezu gens im Kern konservative Anliegen, weil schauen. Wir können gar nicht so viele unheimlich verständnisvoll. sie Dinge bewahren wollen. Kohlekraftwerke abschalten, wie gleich- Dobrindt: Letztlich fordern die Schüler SPIEGEL: Warum profitiert die Union zeitig in Afrika neue geplant und gebaut ein, was wir im Pariser Klimaabkommen dann nicht von diesem neuen Zeitgeist? werden. Wenn wir erneuerbare Energien vereinbart haben. Das Klimaabkommen Dobrindt: Vielleicht weil es noch nicht ge- in Dritte-Welt-Ländern fördern und aus- hat auch meine Zustimmung. Ich kritisiere, nügend gelingt, den Wählern zu vermit- bauen, nutzt das der globalen Klimabilanz wenn Ideologie vor der Vernunft steht, teln, dass nur eine Volkspartei beide An- mehr als manche nationalen Maßnahmen. was ich den Grünen immer mal wieder an- liegen versöhnen kann. Zu diesem Kurs SPIEGEL: Ganz schön clever, das Problem laste. gehört auch die harte Abgrenzung von der Klimaschutz zu exportieren. SPIEGEL: Früher haben Sie die Grünen als AfD. Das Wesen der Rechtspopulisten, die Dobrindt: Nein. Das heißt nicht, dass wir »Protestsekte« bezeichnet, als »verlänger- sich ein Land zur Beute machen wollen, unsere Anstrengungen bei der Einsparung ten Arm von Brandstiftern und Steinewer- hat man jetzt auf schockierende Weise bei von CO verringern sollten. Im Gegenteil: fern«. Sind Sie jetzt so diplomatisch, weil der FPÖ in Österreich gesehen. ² Wir sollten schneller werden. Der Kohle- Sie sich den Grünen vielleicht demnächst SPIEGEL: Finden Sie eigentlich, um im ausstieg bis 2038 könnte auch ambitionier- als Juniorpartner andienen müssen? YouTube-Sprech zu bleiben, dass die AfD ter sein. Dobrindt: Gott bewahre. Aber es stimmt, »zerstört« gehört? SPIEGEL: Sie wollen den Kohlekompro- dieses Zitat hat in die damalige Zeit ge- Dobrindt: Ich will sie überflüssig machen. miss wieder aufschnüren? Laufen Sie jetzt passt, ich hab’s in letzter Zeit nicht wieder Wer glaubt, er könne die AfD einfach zer- auch mit bei »Fridays for Future«? verwendet. Zwar habe ich selten einen stören, hat die Dimension dieser Aufgabe Dobrindt: Der Fehler bei diesem Kompro- politischen Fehdehandschuh liegen lassen, nicht begriffen. miss ist, dass er ohne eine breite Debatte aber alles hat eben seine Zeit, und man SPIEGEL: Angela Merkel trat im Europa- zwischen Politik und Gesellschaft stattge- merkt, dass die Bevölkerung vieler Kon- wahlkampf fast nicht auf. Hat sie ihre Par- funden hat. Wenn wir ein Bewusstsein für flikte überdrüssig ist und sich einen ande- tei im Stich gelassen? die große Herausforderung, aber auch die ren Stil wünscht. Und was die Grünen an- Dobrindt: Die Union muss lernen, auch enorme Chance schaffen wollen, dass wir geht – bei den Jamaikaverhandlungen zukünftig Wahlen zu gewinnen, ohne An- als erstes Land der Welt gleichzeitig aus konnten sogar Toni Hofreiter und ich in gela Merkel. der Kernenergie und der Kohle aussteigen der Verkehrspolitik Kompromisse erzielen. SPIEGEL: Die stiehlt als eine Art Königin und die erneuerbaren Energien ausbauen, Ich will nicht ausschließen, dass eine neue von Europa derzeit ihrer Nachfolgerin An- dann brauchen wir eine breite Debatte Jamaikaverhandlungsrunde ganz anders negret Kramp-Karrenbauer die Show. Wie dazu. Das findet bisher nicht statt, weil ausgehen könnte als vor zwei Jahren. lange kann die neue Parteivorsitzende das wir darüber nicht politisch streiten, son- SPIEGEL: Bei der Europawahl lag die durchhalten, bis sie verbrannt ist? dern ein Expertenzirkel entschieden hat. AfD in zwei Bundesländern vorn. Steht Dobrindt: Die Union hat sich für eine Per- SPIEGEL: Es saßen doch alle mit am Tisch. der größere Gegner für Sie rechts oder sonalaufstellung entschieden, zu der ich Politik, Umweltverbände, Industrie und links? nur raten kann, eindeutig zu stehen. Wo Gewerkschaften. Breiter geht es kaum. Dobrindt: Das klassische Links-rechts- man hinkommt, wenn man ständig Spit- Dobrindt: Aber genau dieses Outsourcing Schema ist heute ergänzt worden durch zenpersonal infrage stellt, sieht man bei von politischen Kompromissen an solche zwei neue Konfliktlinien: Ökologie und der SPD. Schuld am dortigen Wahldesas- Runden führt doch dazu, dass Entscheidun- Identität. Auch hier geht es um Extrem- ter ist nicht Andrea Nahles, sondern es gen am Schluss zwar mit allen erdenklichen positionen zwischen »Grenzen auf für sind jene Teile der Partei, die einen weite- Lobbygruppen entstehen, aber nicht im ren Linksruck fordern. Wer Enteignungs- Dialog von Bevölkerung und Poli tik. Ich gedanken und Sozialismusideen diskutiert sehe auch nicht, dass die Anwesenheit von »Die Union muss und sich daraufhin wundert, dass das Wäh- Greenpeace-Vertretern am Verhandlungs- lerstimmen kostet, leidet offensichtlich an tisch die Schüler vom Streiken gegen den lernen, auch zukünftig politischem Realitätsschwund. Kohlekompromiss abgehalten hätte. Wahlen zu gewinnen, SPIEGEL: Herr Dobrindt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. * Melanie Amann und Anna Clauß in Wien. ohne Angela Merkel.«
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schätzen. Das ist jene Organisation rund lament gewählt, formuliert schon Ansprü- Quote für um den Thüringer Landes- und Fraktions- che an die Bundespartei: »Wir streben chef Björn Höcke, die vom Verfassungs- zwei Plätze im Bundesvorstand an«, sagt schutz als »Verdachtsfall« eingestuft wird. er. Aktuell hat Sachsen dort keinen Ver- den Osten Während Jörg Meuthen, Parteichef und treter, es dominieren Parteifreunde aus Europa-Spitzenkandidat aus Baden-Würt- westlichen Ländern, die zum Ärger des temberg, die Partei als wirtschaftsliberal »Flügels« eine Taskforce gegen rechtsex- Parteien Die AfD ist in den und bürgerlich-konservativ bewirbt, wol- treme Umtriebe an der Basis einsetzten. ostdeutschen Ländern stärker len die »Flügel«-Leute noch radikalere An- In der Brandenburger AfD gibt Andreas sagen, »sozialpatriotische« Positionen zur Kalbitz, der auch im Bundesvorstand ist, denn je. Nun wollen die rechten Parteiräson machen und quasi eine Quote den Ton an. Der »Flügel«-Koordinator, oft Landesverbände die Ausrichtung für den Bundesvorstand. als »Mann hinter Höcke« beschrieben, war der Bundespartei verändern. Mittwochabend, Dresden, Landesge- einer der Ersten, die bei der Wahlparty schäftsstelle der AfD: Die Parteispitze sitzt am Sonntag stolz die Ost-Wahlergebnisse zusammen und überlegt, ob man einen zitierten. Auch er meldet nun Ansprüche ino Chrupalla, Bundestagsabge- Ministerpräsidentenkandidaten aufstellen für die Vorstandswahlen Ende November T ordneter und Vizechef der AfD- soll. Teilnehmer der Runde berichten, dass an. Sollte sich Alexander Gauland, der Fraktion, sitzt im Restaurant Die sie sich am Ende geeinigt hätten, auf den auch Brandenburger ist, vom Parteivorsitz Eins unten im Gebäude des ARD-Haupt- Ausgang der Wahl zum Oberbürgermeis- zurückziehen, will Kalbitz neben seinem stadtstudios und isst Haxe vom Schwein. ter in Görlitz zu warten – denn da ist einer eigenen weitere Posten für den Osten: »Es Wenige Tage nach der Europawahl ist der ihren in der Stichwahl. ist richtig, wenn der Osten angemessen im Chrupalla in Feierlaune: »Die AfD ist im Falls Sebastian Wippel nicht Oberbür- Bundesvorstand abgebildet ist«, sagt er. Osten die Volkspartei, das haben die Wah- germeister wird, heißt es, würde er in Gör- Im Westen Deutschlands brauche es offen- len am Sonntag gezeigt«, sagt bar noch ein bisschen Zeit, bis er und grinst. die AfD so stark verwurzelt sei Es sind gute Zeiten für Chru- wie in seiner Region. palla, der aus Sachsen kommt. Zahlenmäßig sind die Westver- Dort ist die AfD bei der Europa- bände der AfD freilich stärker, wahl mit 25,3 Prozent stärkste deshalb scheiterten ostdeutsche Partei geworden, mit gut zwei Kandidaten und Themen oft auf Prozentpunkten vor der CDU. Parteitagen. Kalbitz wünscht Bei den Kommunalwahlen lan- sich, dass die Kollegen im Wes- dete sie in allen Landkreisen auf ten programmatisch von seiner Platz eins oder zwei – nur nicht AfD-Region lernen: »Der sozial- in den studentischen Groß- politische Fokus, den wir gesetzt städten Dresden und Leipzig. haben, ist das Erfolgsrezept.« Chrupalla, der vor der Politik Vor allem wenn man das mit als Malermeister gearbeitet hat, »klaren, pointierten Zielgruppen- und seine Kollegen im Landes- ansprachen« kombiniere. verband haben nun Großes Ähnlich klingt es bei Höcke. vor – in Sachsen, wo sie am Wo- Nach den Wahlen teilt der chenende direkt ein Regierungs- Thüringer mit, dass die Ergeb- und nicht nur ein Wahlpro- nisse »die erneute Bestätigung gramm verabschieden wollen, unseres Kurses in Thüringen, aber auch auf Bundesebene. der Solidarität und Patriotismus
Die Europawahl, bei der die / AGENTUR FOOCUS DÖRING / DER SPIEGEL SVEN verbindet«, seien. Während AfD bundesweit mit elf Prozent AfD-Abgeordneter Chrupalla: In Feierlaune »das bundesweite Ergebnis der viel schlechter abschnitt als von AfD enttäuscht«, triumphiert ihr selbst erwartet, verschiebt Höcke, habe man in seinem die Machtbalance in der Partei gen Osten. litz zur Landtagswahl antreten dürfen. Land die »starken 22 Prozent« der Bun- Während fast alle guten Europalistenplät- Sollte er aber gewinnen, würde der Bun- destagswahl verteidigen können. ze mit westdeutschen Kandidaten besetzt destagsabgeordnete Chrupalla dort als Noch beschwichtigen die »Flügel«-Ver- waren, schaffte die AfD im Westen nur Direktkandidat antreten – in jenem Wahl- treter, sie planten »keine Machtergreifung« schwache Ergebnisse. In Sachsen und kreis, in dem auch Ministerpräsident Mi- in der Bundespartei. Doch gemäßigte AfD- Brandenburg dagegen war sie stärkste Par- chael Kretschmer kandidiert. Chrupalla Vertreter sehen die Entwicklung mit Sorge. tei, in Thüringen, Mecklenburg-Vorpom- hat Kretschmer schon einmal besiegt und »Der ›Flügel‹ marschiert mit jeder Wahl mern und Sachsen-Anhalt direkt hinter den CDU-Mann aus dem Bundestag ver- mehr ins Zentrum der Partei, quasi wort- der CDU. Da in drei Ostbundesländern im drängt. Dieser AfD-Mann, so die Gedan- wörtlich«, sagt ein Bundesvorstandsmit- September und Oktober auch Landtags- kenspiele, könnte vielleicht als Kandidat glied. Auch Parteichef Meuthen zeigt sich wahlen stattfinden, wächst der Einfluss für die Staatskanzlei aufgestellt werden. schon mal vorsichtig ablehnend, was den der Sachsen, Brandenburger und Thürin- Landeschef Jörg Urban ist sich sicher, Anspruch auf Plätze im Bundesvorstand ger in der AfD – mit erheblichen Folgen dass seine AfD im September die »mit angeht: »Wir haben keinen Regionalpro- für den Kurs der gesamten Partei. Abstand stärkste Partei« in Sachsen wird. porz.« Aber: »Jeder, der sich berufen fühlt, Die drei Ostverbände stehen deutlich Dann werde man im Parlament nach ist frei, dann zu kandidieren.« weiter rechts als ihre Pendants im Westen, Mehrheiten suchen. Ziel sei »eine Re - Ann-Katrin Müller, Steffen Winter und sie werden von Männern angeführt, gierung unter Führung der AfD«. Urbans Mail: [email protected] die dem »Flügel« angehören oder ihn Vize Maximilian Krah, frisch ins EU-Par-
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 39 Deutschland
Und eine Kanzlerin im Abgang, die bis zum Schluss die mächtigste Frau Europas Übler Rückfall bleiben will. Anderthalb Stunden lang haben Merkel und Macron am Abend der Europa Europawahlen telefoniert, aber von einer Brexit, Nord Stream, Eurozone: Das Verhältnis zwischen Annäherung beim Streit um das Spitzen- Berlin und Paris ist angespannt. Jetzt droht personal ist nichts zu spüren. auch noch Streit um das europäische Spitzenpersonal. Wenn Macron das Wort »Spitzenkandi- dat« ausspricht, kann jeder hören, wie we- nig er von der Idee hält. Er hastet durch er Raum, in dem die deutsche Kanz- vertreten kann. Sie muss verhindern, dass das lange deutsche Wort, Betonung auf D lerin den französischen Präsidenten ein Kommissionspräsident gegen den Wil- der dritten Silbe, die Konsonanten fallen von ihrem Spitzenkandidaten über- len der Deutschen bestimmt wird. wie kleine Speere in den französischen zeugen will, ist deutsch eingerichtet: eine Macron dagegen hat sich mit den euro- Satz. Aus dem Mund von Macron klingt Sitzgruppe aus braunem Leder, am Fenster päischen Liberalen zusammengeschlossen »Spitzenkandidat« ein wenig wie Stachel- eine einsame Topfpflanze. Auf dem Tisch und will, am liebsten gemeinsam mit den draht. steht eine Plastikflasche mit Mineralwas- Grünen, die Dominanz der großen Blöcke, Nach dem gemeinsamen Essen der ser und eine Thermoskanne mit Kaffee. der Konservativen und der Sozialdemo- Staats- und Regierungschefs erklärt Ma- Kein Zweifel: mehr Kanzleramt als Élysée. kraten, ein für alle Mal beenden. Er lehnt cron zum wiederholten Male, wie wenig Dorthin, in einen der deutschen Delega - das Spitzenkandidatenprinzip ab, vor al- er von diesem Auswahlprinzip hält, nach tionsräume im vierten Stock des neuen lem aber den Mann, für den Merkel kämp- dem nur Kommissionspräsident werden Ratsgebäudes in Brüssel, ziehen sich An- fen muss: Manfred Weber (CSU). kann, wer bei den Wahlen als Spitzenkan- gela Merkel und Emmanuel Macron am So stehen sie sich gegenüber: ein frus- didat angetreten ist. Schon vor Wochen Dienstagnachmittag zurück, bevor sie trierter Präsident, enttäuscht von Kleinmut hat er gesagt, es gebe keine rechtliche 45 Minuten später zu ihren Kollegen beim und Bedenkenträgerei der Deutschen, ent- Grundlage für das Verfahren. Nun, nach informellen EU-Dinner stoßen. Merkels schlossen, Europa notfalls mit anderen Part- den Wahlen, ist das Verfahren für ihn erst Sprecher postet noch davor ein Foto auf nern voranzubringen (SPIEGEL 21/2019). recht nicht mehr zeitgemäß, weil es die al- Twitter, Angela Merkel und Emmanuel Macron, beide lächelnd. Doch der Schein trügt. Das Verhältnis zwischen Berlin und Paris ist so ange- spannt wie lange nicht mehr. Seit Macron vor zwei Jahren in den Élysée-Palast ein- gezogen ist, hat das deutsch-französische Verhältnis eine neue, hitzigere Betriebs- temperatur. Macron will Europa ver- ändern, doch die Deutschen wiegeln ab. Das ist die Ausgangslage. Berlin hat Macrons Reform der Eurozo- ne abgelehnt, man streitet über Rüstungs- projekte und Waffenexporte, beim Brexit gelang es mit Mühe, einen Kompromiss zu finden, ebenso im Streit um die deutsch- russische Gaspipeline Nord Stream 2. Und jetzt, nach den Europawahlen, da die EU ihre wichtigsten Posten neu besetzt, droht wieder Ärger. Im Ringen um das europäische Spitzenpersonal verfolgen Pa- ris und Berlin unterschiedliche Interessen. Macron will den Augenblick nutzen, um die EU zu verändern, sie zu erneuern – wie er es in so vielen Reden angekündigt hat. Dafür braucht er einen tatkräftigen Kommissionschef, der in seinem Sinne agiert. Merkel muss dagegen den deutschen EVP-Spitzenkandidaten Manfred Weber unterstützen. Das erwartet ihre Partei, die ihr ohnehin vorwirft, sie im Europawahl- kampf im Stich gelassen zu haben. Seit Merkel den CDU-Parteivorsitz abgegeben und ihren Rückzug aus der Politik ange- kündigt hat, ist sie, was man eine »lame duck« nennt, eine lahme Ente. Um zu ver- hindern, dass ihre Macht weiterbröckelt, muss die Kanzlerin beweisen, dass sie in
Brüssel immer noch deutsche Interessen PRESS PRESS / ACTION SIPA
40 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 ten Machtverhältnisse, die Dominanz der Spitzenkandidatensystems. Sie hält Weber in der EVP, wehrten sich gegen Barnier. einst großen Volksparteien, widerspiegelt. für einen akzeptablen Kandidaten, da ist »Bloß kein Franzose«, laute das Diktum »Diese Wahlen markieren einen Wende- sie von der CSU Schlimmeres gewohnt. aus Berlin, so erzählt es ein führender punkt für Europa«, sagt Macron in Brüssel. Vor allem aber weiß die Kanzlerin: CDU europäischer Konservativer. Als einen Zum ersten Mal seit 1979 könnten die bei- und CSU in der Heimat erwarten von ihr, »üblen Rückfall in Nationalismen«, die den großen Parteien zusammen keine dass sie Weber in Brüssel durchbringt. Die man eigentlich überwunden haben wollte, Mehrheit bilden. »Da können wir nicht harte Opposition Macrons und anderer beschreibt ein Beobachter die Verhand- einfach weitermachen wie gewohnt.« findet sie daher verstörend. lungen. Die Gegenbewegung hat Macron gera- Aus Sicht der Deutschen verstößt Ma- Diese Gefahr sieht man auch in Paris: de beim Dinner zu spüren bekommen, bei cron mit seinem kämpferischen Auftritt »Es geht jetzt zuallererst um Inhalte und Schweinefilet mit Spargel und Bohnen gegen ein ungeschriebenes Gesetz der nicht um Nationalitäten, die Besetzung stellte sich Merkel eindeutig hinter Weber, Gemeinschaft. Die »Chefs«, wie die Gip- des Kommissionsvorsitzes ist kein Kampf die Chefs waren unter sich und konzen- felteilnehmer genannt werden, wissen um eine Landesflagge«, mahnt Amélie de triert, es ging zur Sache, der Handyemp- voneinander, was zu Hause von ihnen Montchalin, Staatssekretärin für europäi- fang war ausnahmsweise blockiert. erwartet wird, jeder kennt die Zwänge aus sche Angelegenheiten im französischen Merkel wehrte sich gegen Macrons Argu- eigener Erfahrung, daher versuchen sie in Außenministerium. »Es geht hier nicht um ment, Weber fehle die nötige Erfahrung. Das der Regel, Kompromisse nicht durch öffent - eine Auseinandersetzung zwischen Frank- habe man über sie selbst auch gesagt, als sie liche Äußerungen unnötig zu erschweren. reich und Deutschland, das hat damit vor 14 Jahren ins Amt gekommen sei, sagte Doch gerade das tut Macron. Er hat die nichts zu tun.« sie. Der Abend endete mit einem Zwischen- Kanzlerin öffentlich unter Druck gesetzt Während Merkels CDU bei den Euro- sieg der Kanzlerin, einer Atempause für We- und die Personalfrage damit zur Machtfra- pawahlen eine Niederlage einstecken ber. Versuche von Franzosen und anderen, ge gemacht. Nun verteidigt Merkel Weber musste und ihrer Regierung durch die bereits am Dienstag einen festen Kriterien- auch deshalb, weil ihr nicht gefällt, wie Selbstzerfleischung des Koalitionspartners katalog für den künftigen Kommissionschef lautstark Macron in Brüssel auftritt. SPD eine Krise droht, kam Macron ge- festzulegen, hatte Merkel abgewehrt. Macron ist der vierte französische Prä- stärkt nach Brüssel. Zwar erreichte La Merkel war, das muss man wissen, ähn- sident, mit dem Merkel es in ihrer Kanz- République en marche, seine Regierungs- lich wie Macron nie eine Anhängerin des lerschaft zu tun hat. Um den zappeligen partei, am Sonntag nur Platz zwei hinter Nicolas Sarkozy zu verstehen, soll sie an- Marine Le Pens Rassemblement National. geblich Louis-de-Funès-Filme angeschaut Aber der Abstand zu den Rechtspopulis- haben, François Hollande wirkte dagegen ten war mit nur 0,9 Prozentpunkten ge- neben der deutschen Kanzlerin wie eine ringer als befürchtet. Schlaftablette. Macron aber bietet Merkel Vor allem aber sieht sich La République Paroli. Er will Europa gestalten, er macht en marche durch die Wahl als neue politi- ihr den Platz als unumstrittene Nummer sche Kraft im Land bestätigt. Die klassi- eins in Europa streitig. sche Rechte, Merkels Verbündete in der Merkel weiß, dass es einen Punkt geben EVP, ging mit 8,5 Prozent unter, ein histo- könnte, an dem sie Weber vielleicht auf- rischer Tiefstand; die Sozialisten kamen geben müsste. Dafür hat sie am Dienstag- knapp über 6 Prozent. Für En marche hat abend vorgebaut: Die EU müsse »hand- dieser Wahlabend bestätigt, dass die Be- lungsfähig« bleiben. Die Dinge, so sieht wegung die französische Parteienland- es die Kanzlerin, dürfen sich beim Perso- schaft unumkehrbar verändert hat. Das nal nicht so verkanten, dass gar nichts hat Konsequenzen auch für Brüssel. Wa- mehr geht. Man solle »pfleglich miteinan- rum, so argumentiert En marche, sollten der umgehen«, mahnt sie beim Gipfel. die Franzosen nun Weber, einem Vertreter Doch Macron scheint entschlossen, das der klassischen Rechten, noch dazu der zumindest befürchten Diplomaten in Brüs- CSU, die Europapolitik anvertrauen? sel, die Mahnung zur Mäßigung als Zeichen Der Streit um die Spitzenposten ist nur der Schwäche auszunutzen und Merkels Nie- einer der vielen Konflikte, die das deutsch- derlage als seinen Sieg zu feiern. Entspre- französische Tandem lähmen. Derzeit neh- chend deutlich mache Berlin in Richtung men Deutsche und Franzosen in Brüssel Paris klar, so ist zu hören, dass Macron nicht immer öfter entgegengesetzte Positionen darauf zu hoffen brauche, einen Franzosen ein. Für Europa, das geben auch Diploma- auf einen der Topjobs zu hieven, wenn Mer- ten kleinerer Länder unumwunden zu, ist kel keinen Deutschen durchbekomme. diese Entwicklung gefährlich. Denn als Alternative zu Weber präfe- Der polnische Ratspräsident Donald riert Macron entweder den Brexit-Unter- Tusk sprach das beim Abendessen am händler Michel Barnier oder die liberale Dienstag hinter verschlossenen Türen aus: Dänin Margrethe Vestager. Barnier ist, wie Eigentlich sähen die kleineren EU-Mitglie- Weber, Mitglied der EVP – also der nach der es nicht besonders gern, wenn der wie vor stärksten Fraktion – und außer- deutsch-französische Motor brumme, dem natürlich: Franzose. denn dann hätten alle anderen nicht mehr Genau das ist das Problem. Vor allem viel zu melden. Jetzt aber würden sich alle die CDU, also die Deutschen, so heißt es wünschen, dass Deutschland und Frank- reich sich endlich mal wieder einig wären. Julia Amalia Heyer, Christiane Hoffmann, Kanzlerin Merkel, Präsident Macron in Berlin Peter Müller, Britta Sandberg »Pfleglich miteinander umgehen«
41 Deutschland Auf verlorenem Posten
Militär Ein Soldat prangert Rechtsextremismus in den eigenen Reihen an, meldet zahlreiche Verdachtsfälle an den Geheimdienst. Jetzt soll er gefeuert werden.
atrick J. wollte Deutschland die- nen, er war bereit, sein Leben zu P riskieren, wenn es denn nötig sein würde. Ihm schwebte vor, als Elite- soldat weltweit im Einsatz zu sein. Doch aus einer Karriere beim streng geheim agie- renden Kommando Spezialkräfte wird wohl nichts. Statt auf verdeckter Mission im Ausland verbringt Patrick J. seine Tage mit Fahrdiensten in Ostdeutschland. Die Bundeswehr hat ihn kaltgestellt. Die Führung wirft ihm unter anderem vor, er habe vor zweieinhalb Jahren einen Untergebenen in der Spezialausbildungs- kompanie in Pfullendorf grundlos stramm- stehen lassen. Vor allem aber habe er Dut- zende Kameraden rechtsextremer Umtriebe bezichtigt. In vielen Fällen hätten sich die Vorwürfe jedoch »als übertrieben und halt- los erwiesen«, heißt es in einem Schreiben des Personalamts der Bundeswehr an ihn. Das allerdings ist bestenfalls die halbe Wahrheit. Denn Patrick J. hat neben zahl- reichen Fällen, die in einer Grauzone lie- gen, durchaus handfeste Hinweise auf rechtsextreme Umtriebe in der Bundes- wehr geliefert. So führt der Militärische Abschirm- dienst (MAD), der Geheimdienst der Bun- deswehr, laut einem vertraulichen Schrei- ben des Bundesverteidigungsministeriums mehrere »nachrichtendienstliche Opera- tionen zu Verdachtspersonen, die auf In- formationen des Herrn J. zurückzuführen sind«. Auch das Bundeskriminalamt prüfe die Hinweise auf eine »mögliche strafrecht- liche Relevanz«. Dennoch wird der Unteroffizier vermut- lich nur noch wenige Wochen Teil der Truppe sein. Ende April hat er einen Brief vom Personalamt bekommen, in dem ihm seine Entlassung angekündigt wird. Der Vorgang ist bemerkenswert. Er er- zählt eine Menge über die Bundeswehr und große Teile der militärischen Führung, die Fehlverhalten in den eigenen Reihen gern ohne großes Aufsehen klären würde und regelmäßig als bedauerlichen Einzel- fall abtut. Zugleich illustriert der Fall die erstaun- liche Wendung von Verteidigungsministe- rin Ursula von der Leyen. Ihre Entschlos- senheit zur Aufklärung rechter Tendenzen in der Bundeswehr hat die CDU-Politike- rin mittlerweile gegen politischen Pragma- tismus eingetauscht. Sollte die Bundeswehr Patrick J. raus- DOMINIK BUTZMANN werfen, würde das ein fatales Signal an all Unteroffizier J. vor dem Bundestag: »Ziemlich viele Einzelfälle«
42 jene Soldaten senden, die sich trauen, Missstände in der Truppe anzuprangern. Im Bundestag sorgt der Verdacht, dass mit J. ein unliebsamer Whistle blower still und leise entfernt werden soll, bereits für Unruhe. Nächste Woche will das Parlamen- tarische Kontrollgremium beraten, ob man den Soldaten in den abhörsicheren Raum des Geheimdienstgremiums einlädt, damit er seine Sicht der Dinge schildern kann. Patrick J., 31, ein kompakter Mann mit breiten Schultern, erscheint zum Gespräch im Berliner SPIEGEL-Büro mit Gepäck. Darin ist seine Uniform verstaut, akkurat gefaltet. Für die Fotoaufnahmen vor dem Reichstagsgebäude legt er sie stolz an.
Bevor er als Zeitsoldat zur Bundeswehr / DPA SEEGER PATRICK kam, erzählt J., habe er überlegt, Polizist Wandschmuck*: Auf der Suche nach Wehrmachtdevotionalien zu werden. Zwischendurch studierte er für mehrere Jahre Jura. Er habe sich immer eher dem konservativen Lager zugeordnet te, die Poli zei habe Anweisungen, »je- Ähnlich hat Verteidigungsministerin Ur- als dem linken. den, der sich gegen das antideutsche sula von der Leyen noch im Frühjahr 2017 Schon zu Wehrdienstzeiten vor bald Merkel-Regime stellt, hinzurichten«. argumentiert. Damals war gerade der rechts- zehn Jahren habe er aber gemerkt, dass Anstatt den Wirrkopf zurechtzuweisen, radikale Soldat Franco A. aufgeflogen, der einige Kameraden ein rechtslastiges Welt- verlor sich der Soldat selbst in Ver- sich als Flüchtling getarnt und womöglich bild hätten, das über das hinausgehe, was schwörungstheorien: »Das einzigste über einen Anschlag nachgedacht hatte. tolerierbar sei. Durch die Flüchtlingskrise was wir sind, sind dumme Arbeiter, die Schnell stand fest, dass es schon Jahre zu- sei das Problem noch massiver geworden. einer großen GmbH angehören«; vor Hinweise auf die Gesinnung des Solda- Im Sommer 2016 meldete Patrick J. zum ‣ einen Stabsunteroffizier, der schutzsu- ten gegeben hatte, die aber von Vorgesetz- ersten Mal einen Verdacht an den MAD. chende Syrer »Fahnenflüchtige« ge- ten als Spinnereien abgetan worden waren. Patrick J. ist ein Mann mit einer Mission: nannt haben soll. In einer WhatsApp- Von der Leyen blies daraufhin zum »Die Bundeswehr muss ihr Rechtsextremis- Gruppe habe er ein Foto von einem mit Kampf gegen den »falsch verstandenen musproblem endlich ernst nehmen«, sagt Nazitattoos übersäten Oberkörper ge- Korpsgeist«. Massiv unter Druck, attestier- er. Weil sie das aus seiner Sicht bisher nicht postet. SS-Runen sind darauf zu erken- te sie ihrer Truppe ein »Haltungsproblem«. genügend getan habe, begann er auf eigene nen, ein Porträt von Adolf Hitler und Die Befehlshaberin ordnete eine Durch - Faust zu recherchieren, in den Kasernen der Schriftzug »Sieg Heil«. Wer der suchung der Stuben in allen Kasernen an und in den sozialen Netzwerken. Heraus- Mann auf dem Foto ist, ist unklar; und ließ nach Wehrmachtdevotionalien gekommen ist ein mehr als hundert Seiten ‣ einen Stabsunteroffizier, der auf Insta - fahnden. Generäle liefen Sturm gegen die dicker Bericht, der inzwischen im Berliner gram mit rechter Szenekleidung sowie Befehlshaberin, viele Soldaten fühlten sich Regierungsviertel die Runde macht. einem Tattoo posierte, das an einen zu Unrecht pauschal verurteilt. Von dem Patrick J. hat darin zahlreiche Hinweise Reichsadler erinnert. Unter den Face- Vertrauensverlust in der Truppe hat sich auf mögliche rechtsextreme Umtriebe in book-Freunden des Mannes fanden sich von der Leyen bis heute nicht erholt. der Truppe zusammengetragen. Einiges Rechtsextremisten, die das KZ Ausch- Die Ermittlungen gegen Franco A. förder- spielt sich in einem Graubereich ab, ist ver- witz mit Legosteinen nachbauen oder ten auch Verbindungen zu merkwürdigen mutlich weder strafbar noch eindeutig ver- zum Geburtstag Hitlers eine Torte mit Chatgruppen zutage, in denen sich Soldaten fassungsfeindlich. Ansatzpunkte, genauer der Zahl »88« posten, ein Neonazicode und andere Staatsdiener offenbar auf den hinzusehen, liefert sein Dossier aber alle- für »Heil Hitler«. Zusammenbruch der Bundesrepublik vor- mal. So entdeckte er etwa: Patrick J.s Material ist derart umfang- bereiteten. Derzeit untersucht der Geheim- ‣ einen Stabsgefreiten, der auf Instagram reich, dass er den Behörden eine CD er- dienstbeauftragte des Bundestags, ob sich vor der preußisch-königlichen Kriegs- stellte, mehr als hundert Namen meldete ein bedrohliches rechtes Netz gebildet hat. flagge posierte und sich mit seinen er. Einen Auftrag für die Recherchen hatte Die Ministerin aber hält sich seit ihrem Hashtags als »Ibster« outete – als Sym- ihm niemand erteilt. Er ist überzeugt, et- harsch kritisierten Vorstoß öffentlich zu- pathisanten der vom Verfassungsschutz was tun zu müssen, was andere aus fal- rück. Selbst als gut ein Jahr später eine beobachteten »Identitären Bewegung«; schem Kameradschaftsgeist unterlassen. Abschiedsfeier des Kommandos Spezial- ‣ einen Hauptgefreiten, der sich in Chats »Wenn rechtsextreme Vorfälle in der Bun- kräfte öffentlich wurde, bei der rechte Mu- als »durch und durch rechts« bezeich- deswehr bekannt werden, ist oft die Rede sik gespielt und der Hitlergruß gezeigt wor- nete: Er kämpfe »gegen die komplette von bedauerlichen Einzelfällen«, sagt er. den sein sollen, beließ es von der Leyen Selbstaufgabe der weißen Nationen« Natürlich sei nicht die ganze Truppe rechts- bei der lauwarmen Bewertung, das Spek- und »den linken Schwachsinn, der ei- lastig, er erhebe keinen Generalverdacht. takel sei »geschmacklos« gewesen. nem in der Schule, in den Nachrichten »Es sind aber ziemlich viele Einzelfälle.« Dem MAD hat Patrick J. mit seinem und in den Medien eingeprügelt wird«; Report in den vergangenen Monaten viel ‣ einen Oberstabsgefreiten, der auf Face- Arbeit gemacht. Nie zuvor hat der Militär- book mit der »Reichsbürgerbewegung« Vor zwei Jahren blies geheimdienst so viele detaillierte Hinweise sympathisierte, die an der völkerrecht- von der Leyen zum Kampf lichen Legitimität der Bundesrepublik gegen den »falsch ver- * Darstellung eines Wehrmachtsoldaten, Wehrmacht - zweifelt. Im Netz tauschte sich der Sol- maschinenpistole in Aufenthaltsraum der Kaserne dat mit einem Mann aus, der behaupte- stan denen Korpsgeist«. Illkirch 2017.
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 43 auf angeblich rechtsgesinnte Soldaten auf sein will. So soll im Frühjahr 2017, als am Heikel sind auch Grenzüberschreitun- einmal bekommen. Anders als von der Bun- Zaun der Kaserne im thüringischen Son- gen, die Patrick J. in der Staufer-Kaserne deswehr wird Patrick J. beim MAD nicht dershausen eine Gruppe mutmaßlicher in Pfullendorf vor etwa zweieinhalb Jah- als übereifriger Nazijäger abgetan. Der Migranten vorbeilief, ein Oberfeldwebel ren mitbekommen haben will. So habe Dienst prüft laut Ministerium jeden der sinngemäß gerufen haben: »Igitt, wo kom- dort das Gerücht von Scheinerschießun- rund hundert Hinweise, er ermittelt gegen men die denn bloß alle her?« gen die Runde gemacht. Ein Kamerad sieben Soldaten. Die Hinweise sind also kon- Als die Truppe beim Marschieren nicht habe auf seiner Stube rechtsextreme Mu- kret genug, um eine nachrichtendienstliche die Formation eingehalten habe, habe ein sik gehört, zwei andere hätten unter ihrer Beobachtung zu rechtfertigen. Die Hürden Unteroffizier angeblich gesagt: »Was wür- Feldbluse einen Ritteraufnäher mit dem hierfür sind hoch. Zwei weitere Soldaten de Hitler sagen, wenn er euch marschieren einstigen Schlachtruf der Kreuzzügler ge- hat der MAD ohnehin bereits im Visier. sehen würde?« Und ein Gefreiter habe den tragen, »Deus vult«, Gott will es. Und ein In zwei der insgesamt neun Fälle wurde weiterer Soldat habe in der Kantine den der Verdacht auf ein eindeutig rechtsextre- Spruch gemacht: »Wenn du nicht zu Hause mes Weltbild oder fehlende Verfassungs- Will die Truppe mit bist, dann fickt der Neger deine Freundin.« treue seit dem Frühjahr ausgeräumt. Die dem angeblichen Einzelne Teile seiner Aussagen bestätig- anderen sieben Operationen aber laufen ten sich. So hatten Kameraden tatsächlich noch. Daneben hat der MAD Informatio- Querulanten schnellen Kreuzritterabzeichen bei Ebay geordert. nen über mehrere der durch Patrick J. ge- Prozess machen? Auch räumte einer der Männer ein, beim meldeten Zivilisten, die sich in den sozialen Abendessen einen rassistischen Witz ge- Medien als Rechtsextreme geoutet hatten, macht zu haben, allerdings habe er an den Verfassungsschutz weitergereicht. Sprachassistenten Siri auf seinem iPhone »Schwarzer« gesagt, nicht »Neger«. Belege, Für die Bundeswehr und das Verteidi- so eingestellt, dass es ihn mit »mein Füh- dass rechtsextreme Musik gehört wurde, gungsministerium ist Patrick J. unange- rer« angeredet habe. gab es nicht. Und den schwersten Vorwurf, nehm. Wie viele Whistleblower ist er kein Das Verteidigungsministerium teilte auf die angeblichen Scheinerschießungen, konn- ganz einfacher Mensch, er wirkt bisweilen Anfrage mit, man begrüße es, wenn »cou- ten die bundeswehrinternen Ermittler eben- getrieben. Man kann sich vorstellen, dass ragierte Angehörige der Bundeswehr Hin- falls nicht bestätigen. Die Staatsanwalt- in der Truppe manche von seinen zahlrei- weise zu möglichen extremistischen Sach- schaft stellte ihre Ermittlungen ein. chen Schriftsätzen genervt sind. Aber darf verhalten zur Meldung bringen«. Allen Konsequenzen gab es für die Soldaten of- das ein Kriterium sein? Vorwürfen werde nachgegangen. Man fenbar nicht, für Patrick J. allerdings schon. In seinem Bericht führt Patrick J. nicht könne aber zu »einzelnen Verdachtsfall- Bei den Zeugenbefragungen beschuldig- nur Funde aus dem Internet an, sondern bearbeitungen und laufenden Operatio- te ihn einer seiner Kameraden: Er habe auch Vorfälle, deren Zeuge er gewesen nen keine Angaben machen«. ihn auf der Stube im Schlafanzug stramm- stehen lassen, einfach so. Was nach einer Lappalie klingt, ist in der Welt der Bun- deswehr ein »Missbrauch der Befehlsbe- fugnis«. Die Justiz verurteilte Patrick J. zu 1500 Euro Geldstrafe, was er nicht hinneh- men will; er bestreitet den Vorwurf. Patrick J. ist nun ein Soldat auf verlore- nem Posten. Der Abend auf der Stube und seine vielen, angeblich häufig falschen Ver- dächtigungen hätten gezeigt, dass ihm die »charakterliche Eignung« fehle, schrieb ihm die Bundeswehr. Am 15. Juni soll sein letzter Tag in der Truppe sein. Es sei denn, in letzter Minute setzt noch ein Umdenken ein. Nachdem ein Bundes- tagsabgeordneter und der SPIEGEL diese Woche Nachfragen zu dem Fall gestellt hatten, forderte Staatssekretär Gerd Hoofe, die rechte Hand von Verteidigungsministe- rin von der Leyen, umgehend die Akten der Bundeswehr über die geplante unehrenhaf- te Entlassung an. Schon nach einer groben Durchsicht wurde Hoofe misstrauisch, denn die Akten legen nahe, dass die Truppe mit dem angeblichen Querulanten ungewöhn- lich schnellen Prozess machen will. »Der Umgang mit dem Fall J.«, teilte das Verteidigungsministerium einige Stun- den später mit, »wird noch mal über- prüft.« Gleich für Anfang kommender Woche sei ein Gespräch zwischen Hoofe und dem Soldaten angesetzt. Matthias Gebauer, Wolf Wiedmann-Schmidt Gemeinsam machen wir das deutsche Gesundheitssystem zu einem der besten der Welt. Erfahren Sie mehr unter www.pkv.de/uwe 44 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Deutschland
tern vor Ort gelangen, die Steuerhinter- käme, würde zudem auf personell ausge- Teures zieher ausfindig machen sollen. dünnte Finanzämter treffen. Dort fehlen An Daten jedenfalls fehlt es nicht: Das bundesweit rund 6000 Beamte. Bundeszentralamt für Steuern hat für die Sorgen bereiten, zumindest der Oppo- Versäumnis Jahre 2014 bis 2017 knapp vier Millionen sition und dem Bundesrechnungshof, die Datensätze aus EU-Partnerstaaten erhal- Angaben für das Jahr 2014. Es droht Ver- Finanzen ten. Das geht aus der Antwort des Bun- jährung, monieren die Prüfer in einem Bund und Länder tun desfinanzministeriums (BMF) auf eine Gutachten vom Herbst vorigen Jahres. sich schwer, Steuerdaten aus dem Kleine Anfrage der FDP-Fraktion hervor. Das Scholz-Ministerium wiegelt ab: Für Ausland zu verarbeiten. Die Die Daten geben Aufschluss über Ver- einen Großteil der Fälle verlängere sich mögenswerte von durchschnittlich 47 Mil- die Verjährungsfrist, weil die Steuererklä- Suche nach Betrügern scheitert liarden Euro und Einkommen von 32 Mil- rung nicht immer pünktlich im Folgejahr an der notwendigen Software. liarden Euro, dazu zählen etwa Einkünfte abgegeben wurde. Hätten die Steuerpflich- aus Mieten oder Ruhegehälter. tigen die Einkommen absichtlich oder Hinzu kommen noch einmal 6,5 Millio- leichtfertig verschwiegen, steige die Ver- inanzminister Olaf Scholz (SPD) be- nen Datensätze, in denen Erträge in Höhe jährungsfrist sogar auf bis zu zehn Jahre. F sitzt ein feines Gespür dafür, wann von 478 Milliarden Euro aufgeschlüsselt Alles also halb so wild? Eher nicht. es sich lohnt, ein Thema zu besetzen. werden. Diese Angaben wurden nach Selbst wenn Scholz’ Leute recht hätten, Ob er zuständig ist oder nicht, spielt dabei einem OECD-Standard in rund 80 Län- wären »noch mehrere Hunderttausend keine Rolle. Zur europäischen Datensätze des Jahres 2014« Arbeitslosenversicherung äu- von der Regelverjährung betrof- ßert er sich ebenso wie zur Zu- fen, kritisiert der Rechnungshof. kunft der Rente – Scholz hat zu Am Ende drohen dem Fiskus allem etwas zu sagen. deshalb Steueransprüche in Mil - Leise wird der Minister aller- liardenhöhe zu entgehen. dings, wenn die Dinge in sei- Auch auf die Verlängerung nem eigenen Hause nicht plan- der Verjährungsfrist kann Scholz mäßig laufen. Wenige bis gar nicht bauen. Denn dazu müss- keine Äußerungen von Scholz ten die Finanzbehörden jeden finden sich deshalb zu einem einzelnen Vorgang als Fall für Problem, das Deutschland Mil- die Steuerfahndung anlegen. liarden Euro kosten könnte. Das ist aufwendig, und auch da- Es geht um den »automati- für fehlt das Personal. schen Informationsaustausch« Wahrscheinlich werden sich steuerrelevanter Daten auf in- viele Finanzämter deshalb mit ternationaler Ebene. Um sicher- einem Kniff behelfen, der sich zustellen, dass Steuerpflichtige schon im Umgang mit den Steu- ihr Geld nicht im Ausland vor er-CDs bewährt hat. Sie wollen dem deutschen Fiskus verste- die Steuerzahler anschreiben, sie cken, sind die Behörden auf mit dem Hinweis auf eingelaufe- Informationen aus anderen ne Informationen verunsichern Staaten angewiesen. Auch die und dann auf die Möglichkeit der Abgeltungsteuer ließe sich nur Selbstanzeige verweisen. abschaffen, wenn Klarheit be- Auf psychologische Tricks stünde, wie viel Geld im Aus- wollen sich jedoch nicht alle ver- land noch zu holen ist. Die Steu- lassen. »Steuerdelikte in astro- er ist vor allem unter Genossen nomischen Summen drohen zu verhasst, weil sie viele Kapital- verjähren«, kritisiert Markus erträge pauschal nur mit 25 Pro- Herbrand, Finanzpolitiker der zent belastet. FDP-Bundestagsfraktion. Und
Scholz’ Schweigen hat einen JENS OELLERMANN / BILD das nur, weil sich die Finanz- Grund. Seit einiger Zeit liefern Minister Scholz minister nicht für eine funktio- die Partnerstaaten zwar eine Alles halb so wild? nierende IT-Infrastruktur ein - Flut von Daten. Doch sobald gesetzt haben. »Ein Totalausfall diese in Deutschland anlanden, ist Schluss dern erhoben und betreffen Kapitalerträge für Deutschlands Beitrag im internatio- mit der geplanten Automatik. Seit Jahren aus den Jahren 2016 und 2017. nalen Kampf gegen Steuerhinterziehung« werkeln der Bund und die Länder, die für Die Finanzbehörden in Deutschland sei das, schimpft Herbrand. die Finanzverwaltung zuständig sind, an könnten nun prüfen, ob sich in dem Da- Der Bundesrechnungshof in Bonn will einer einheitlichen Computersoftware. tenwust Hinweise auf Schwarzgeld oder Scholz und seinen Kollegen aus den Län- Die wird zwar aufgebaut, die Schnittstel- unversteuerte Zinserträge finden. Wenn dern nun noch ein paar Monate Zeit geben. len aber funktionieren noch nicht, die Wei- alles glatt liefe. Tut es aber nicht. Im nächsten Jahr werden sich seine Ex- tergabe der Daten stockt. Zwar hat das Bundeszentralamt damit perten das Verfahren erneut anschauen. Das Problem ist nicht neu und auch begonnen, die Informationen an die Län- Es ist davon auszugehen, dass sie wieder nicht allein von Scholz zu verantworten. der weiterzugeben. Bei den Behörden vor etwas zu beanstanden haben. Schon sein Vorgänger schlug sich mit der Ort sind laut Deutscher Steuer-Gewerk- Christian Reiermann Frage herum, wie die Daten vom Bundes- schaft bisher jedoch keine Daten an - Mail: [email protected] zentralamt für Steuern zu den Finanzäm- gekommen. Die Datenflut, wenn sie denn
45 Deutschland Protokolle des Grauens Zeitgeschichte Vor 75 Jahren landeten die Alliierten in der Normandie, um Hitlers Wehrmacht niederzukämpfen. Geheime Abhördokumente von Gesprächen deutscher Soldaten in Kriegsgefangenschaft zeigen, wie diese die Normandieschlacht erlebten.
ie leben, aber sie reden vom Ster- ten drehten sich um die eigene Achse, die ben. Wovon auch sonst, so groß hatten das De-Gaulle-Abzeichen drauf war der Schrecken, so alltäglich in Rot, und so ein paar Lausejungens, S vierzehnjährige oder dreizehnjährige, das Grauen. Jetzt, am 17. Novem- ber 1944, sind Georg Hornung und Josef fielen auch auf die Fresse. Lessman in Sicherheit, zwei deutsche Kriegsalltag 1944. Soldaten in US-amerikanischer Kriegs - Die Schlacht um die Normandie zählt gefangenschaft. auch dank Hollywood zu den wohl be- Was die beiden nicht wissen: Die Ame- rühmtesten Waffengängen der Weltge- rikaner hören in Fort Hunt bei Washington schichte. Millionen Menschen haben im mit, was ihre deutschen Gefangenen mit- Laufe der Jahrzehnte Klassiker wie Ste- einander besprechen, und schreiben es auf. ven Spielbergs »Der Soldat James Ryan« Die Schlacht um die Normandie liegt einige (1998) gesehen. Wochen zurück, die Erinnerung ist noch Zum 75. Jahrestag hat der SPIEGEL eini- frisch. Und so erzählt Hornung an diesem ge Tausend Kopien alliierter Abhör proto - Tag dem Kameraden, wie ein Major sei- kolle deutscher Kriegsgefangener aus Som- nem Regiment vorgeschlagen habe, sich mer und Herbst 1944 ausgewertet. Die Ori- den Alliierten zu ergeben, weil die Lage ginale liegen in Archiven in Washington aussichtslos gewesen sei. O-Ton Hornung: und London und sind Teil eines größeren Und unser Regimentskommandeur sag- Bestandes, den die Historiker Sönke Neit- te zu dem Major, was haben Sie gerade zel und Felix Römer vor wenigen Jahren gesagt? Und da hat der Major es ihm auftaten und für ihre Forschungen auswer- wiederholt. Da hat der Regimentskom- teten*. Die Zitate daraus sind hier, um der mandeur ihm mit der Hand eins über besseren Lesbarkeit willen, teilweise ge- den Schädel gehauen. Und dann hat er kürzt wiedergegeben. gesagt: Kameraden, der Mann ist vogel- Manchmal geht aus den Unterlagen frei, den könnt ihr erschießen. Und da der Name des Gefangenen hervor. In an- ist einer von uns hingegangen und hat deren Fällen sind nur der militärische den Major erschossen. Rang, die Einheit sowie Ort und Datum Auch der Kriegsgefangene Nummer DZ der Gefangennahme vermerkt. Die Pa- 7765 (M) – ein Leutnant der Wehrmacht – piere erlauben es in jedem Fall, dicht an hat in der Normandie gekämpft. Er ist in die Wehrmachtsoldaten einem Lager in Trent Park im eng lischen heranzukommen. Middlesex inhaftiert. Die Briten hören ihre Was haben sie – vom »Da fuhren dann die Torpedoboote, Gefangenen ebenfalls ab; laut Protokoll er- Gefreiten bis zum General, zählt der Leutnant seinen Mitgefangenen: von der Marine bis zur Landungsboote, Trossschiffe, Da lag ich mit Unteroffizier Winzel allein Waffen-SS – über die al- man sollte es nicht für möglich halten.« auf der Straßenkreuzung. Ich hatte noch liierte Invasion erzählt? zwei Maschinengewehre und zwei Ma- Damals, als sie unter sich Zitat aus einem Protokoll gazine voll, da kamen auf uns zugerannt, waren, als die Erinnerung vielleicht entfernt noch von uns 200 m, noch frisch war und nicht ungefähr 20 Amerikaner und ungefähr überformt durch Filme oder Angelesenes 5 De-Gaullisten, dabei noch so halbwüch- aus Büchern. sige Jungen. Ich sagte: »Winzel, jetzt ist Es begann im Morgengrauen des 6. Juni die Scheiße am Stinken.« Haben wir bei- 1944 mit der größten Landungsopera- de uns hinter die Mauer gekniet und ha- ben mit einem halben Magazin dazwi- * Sönke Neitzel: »Abgehört«. List; 640 Seiten; 10,95 Euro. schengehalten. Da kullerten ein paar Felix Römer: »Kame raden. Die Wehrmacht von innen«. Amerikaner durcheinander, zwei Zivilis- Piper; 544 Seiten; 12,99 Euro.
46 Alliierte Soldaten am Omaha Beach im Juni 1944 GAMMA / LAIF
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 47 Deutschland tion in der Geschichte der Menschheit. Bundesrepublik, keine Nato, keine US- Allein am D-Day, dem ersten Tag der Präsenz in Europa heute. Es ist also kein Invasion, brachten die Alliierten eine Wunder, dass Wissenschaftler und Jour- Streitmacht aus Großbritannien über den nalisten beinahe jedes Detail der so be- Kanal nach Frankreich, die beinahe so deutenden Kämpfe ausgeleuchtet haben. groß war wie die Bundeswehr heute: Wer hat erfolgreicher gekämpft, Briten mehr als 150 000 Mann und 16 000 Pan- oder Amerikaner? Antwort: am D-Day zer, Jeeps, Lastwagen. Etwa 1,5 Millionen die Briten, später die Amerikaner. Soldaten sollten allein in den nächsten Wie viele alliierte Soldaten brachen psy- acht Wochen folgen – vorwiegend Briten chisch zusammen? Ungefähr 25000. und Amerikaner, aber auch Kanadier, Die Abhörprotokolle zeigen nun, wel- Franzosen, Polen, Tschechen, Belgier, Nie- ches Leid sich hinter den Analysen und derländer, Norweger. Zahlen verbirgt, welche Furcht die Sol- Die Normandieschlacht endete mit daten peinigte. der deutschen Niederlage im Kessel von Wir waren in einem Bunker drin. Wir Fa laise im August 1944. Alle Träume haben fast keine Luft mehr gekriegt; wir Adolf Hitlers, die Westalliierten aus waren 30 Mann. Kannst dir vor- Europa zu vertreiben, hatten sich damit stellen, was wir für Angst hatten. als Illusion erwiesen. Für die Sieger war Wenn die mit den Flammenwer- »Es gab Offiziere, die fanden keinen der Weg nach Paris frei. Und Hitler muss- fern gekommen wären, auf den te nun einen Mehrfrontenkrieg führen, einen Ausgang nur, da wären anderen Weg mehr. Die haben auf den die Wehrmacht nicht gewinnen wir zusammengeschmolzen. ihre eigenen Truppen geschossen.« konnte. (Ein Unteroffizier, abgehört am Zurück blieben Tote über Tote, Ver- 10. Juli) Ein Oberleutnant wundete, eine verwüstete Landschaft. Über den Druck auf Kamera- Die Wehrmacht beklagte den Verlust von den, die nicht kämpfen wollten: 240000 Soldaten; Briten, Amerikaner, Ka - Man musste immer 200 bis 300 Meter nadier verloren ungefähr 225000 Mann. nach hinten flitzen, die Männer, die in- Sie wurden in der Normandieschlacht von zwischen stiften gegangen waren, wie- Bomben zerfetzt, von Maschinengeweh- der ranzuholen, teilweise mit der Pistole. ren niedergemäht, durch Granaten ver- Ich selbst habe das immer peinlichst ver- letzt. Zudem kamen knapp 20000 fran- mieden, obwohl es mir ein paarmal be- waren den Überwachungsprotokollen zu- zösische Zivilisten um. Längst vergleichen fohlen war, von der Waffe Gebrauch zu folge immer die anderen: Marineoffiziere Experten das Sterben am Atlantik mit machen. Aber es gab Offiziere, die fan- schimpften über das Heer (»so eine Plei- dem Grauen von Stalingrad. den keinen anderen Weg mehr. Die ha- te«), Heeresoffiziere über die Marine (»In Noch wichtiger als die militärische war ben auf ihre eigenen Truppen geschossen. jedem Krieg versagen diese Leute«). Und die politische Bedeutung der Normandie- (Ein Oberleutnant, abgehört am 6. Juli) alle ätzten über die Luftwaffe. Gängiger schlacht: Briten und Amerikaner verhin- Über das Plündern der französischen Zivil- Spott: »Wenn du ein schwarzes Flugzeug derten durch ihre Präsenz auf dem euro- bevölkerung: siehst, so ist es ein Engländer, wenn du päischen Festland, dass die Rote Armee Oberst Kessler: »Die Fallschirmjäger ha- ein weißes siehst, so ist es ein Amerika- des Kremldiktators Josef Stalin Deutsch- ben sich benommen wie die Schweine. ner, wenn du gar nichts siehst, ist es die land und möglicherweise sogar Frank- Hinten in Avranches haben die die Tre- Luftwaffe.« reich allein besetzte und befreite. Ohne sore der Juweliere mit Hafthohlladun- Der »Führer« hatte der Landung der die Landung in der Normandie keine gen gesprengt.« Alliierten augenscheinlich gelassen entge- Oberst Reimann: »Um zu klauen?« gengeblickt. Als er am Mittag des D-Day, Oberst Kessler: »Ja.« eines Dienstags, auf seinem idyllisch ge- Oberst Reimann: »Sind das Deutsche?« legenen Berghof bei Berchtesgaden vom Oberst Kessler: »Deutsche Fallschirm- Beginn der Invasion erfuhr, zeigte er sich jäger. Es wird alles gedeckt.« (Abgehört sogar erfreut: »Solange sie in England am 9. August 1944) waren, konnten wir sie nicht fassen. Jetzt Und natürlich über den Frust der Nie - haben wir sie endlich dort, wo wir sie derlage. schlagen können.« Ungefähr 200000 Deutsche ergaben In der Bevölkerung wurde die Neuig- sich in der Normandieschlacht. Nur ein keit »mit großer Begeisterung aufge- kleiner Teil wurde in alliierten Internie- nommen«, wie der Inlandsgeheimdienst rungslagern abgehört, doch nach ihren des Reichssicherheitshauptamtes meldete. Aussagen kann es keinen Zweifel geben, Die Rote Armee näherte sich bereits Ost- dass der Sieg der Alliierten einen Stim- preußen, die Westalliierten hatten Südita- mungsumschwung herbeiführte. »Ich bin lien samt Rom befreit, britische und ame- immer ein Optimist gewesen. Ich habe nie- rikanische Bomber legten Deutschlands mals geglaubt, dass wir den Krieg verlie- Städte in Ruinen. Da hofften viele, ein Er- ren, aber heute bin ich davon überzeugt«, folg an der Westfront könnte das Blatt gestand ein Major, während heimlich ein wenden. Band lief. Hitler hatte dort mit viel Propaganda- Und da nur der Erfolg viele Väter hat, getöse den Atlantikwall bauen lassen. NATIONAL ARCHIVES, WASHINGTON ARCHIVES, NATIONAL begann bald die Suche nach den Gründen Dieser sollte einen alliierten Angriff so Dokument aus Fort Hunt für die Niederlage bei anderen. Schuld lange an der Küste aufhalten, bis Ver -
48 kommen – wohl wissend, dass die Mit - gefangenen vor dem inneren Auge sahen, was gemeint war. Und dann kam die alliierte Flotte. Im Morgengrauen war die Armada vor der normannischen Küste aufgetaucht, mehr als 1000 Kriegsschiffe, darunter Schlacht- schiffe, Kreuzer und Zerstörer, die aus allen Rohren feuerten, und gut 4000 Lan- dungsboote: »Wir sahen die ganze Be- scherung da draußen liegen, Schlacht- kreuzer am Horizont, so ungefähr 20 Ki- lometer Entfernung, und da fuhren dann die Torpedoboote, Landungsboote, Tross- schiffe, man sollte es nicht für möglich halten.« So steht es in einem Abhör- protokoll. Die deutsche Marine verfügte im Lan- dungsbereich über gerade einmal einige Dutzend Boote. Und an den fünf Lan- dungsabschnitten kämpften nach Schät- zungen insgesamt nicht mehr als 2000 An- gehörige der Wehrmacht. Die Offiziere hatten sich vor der Inva- sion schriftlich verpflichten müssen, ihre Stellung bis zum letzten Mann zu vertei- digen. Auch Oberst Ludwig Krug unter-
ALAMY / LOC PHOTO / MAURITIUS IMAGES / MAURITIUS PHOTO / LOC ALAMY zeichnete ein solches Dokument. Sein Kapitulierende deutsche Soldaten bei Ravenoville im Juni 1944 Gefechtsstand war jedoch sofort umzin- gelt, und der enttäuschte Krug (»Ich habe mir die Invasion anders vorgestellt«) bat stärkung aus dem Hinterland eintraf. Die Das Grauen von Omaha Beach ist seinen Vorgesetzten um Weisung. Beide Zahlen waren beeindruckend: Zwischen später vielfach bezeugt worden: die Angst fürchteten offenkundig, vor ein Kriegs- Nordnorwegen und der spanischen Gren- der Männer in den Booten, das Erbrechen gericht gestellt zu werden, und schoben ze hatten Soldaten und Zwangsarbeiter wegen des hohen Wellengangs, die Schutz- einander die Verantwortung zu. rund 17,3 Mil lionen Tonnen Beton in losigkeit am Strand gegenüber den Deut- Laut Krug verlief das Gespräch wie Bunkeranlagen verbaut; allein an den schen, die aus ihren höher gelegenen Stel- folgt: französischen Küsten legten sie 6,5 Mil- lungen auf die GIs feuerten. Krug: »Herr General, ich bitte lionen Minen. Wie sprachen die gefangenen Soldaten um Befehl.« Wie aus den Abhörprotokollen hervor- über den Beginn der Invasion? Der General: »Was soll ich Ihnen geht, wussten die Soldaten vor Ort aller- Viele erlebten am 6. Juni erstmals die befehlen?« dings um die Schwächen des Atlantikwalls. volle Feuerkraft der größten Luftwaffe Krug: »Herr General, ich weise Er wies in der Normandie größere Lücken (USA) und der größten Marine (Großbri- auf diesen Befehl hin, den ich auf. Hitler und die Führung der Wehr- tannien) der Welt. Mehr als 14000-mal unterschrieben habe.« macht hatten vermutet, die Invasion werde überquerten alliierte Bomber oder Jäger Der General: »Tun Sie, was Sie für mehr als 200 Kilometer nordöstlich am im Laufe des Tages den Kanal. Tausende richtig halten.« Pas-de-Calais stattfinden, und vor allem Fallschirmjäger und hölzerne Lastensegler, Krug: »Wollen Herr General nicht dort die Befestigungen verstärkt. beladen mit Jeeps oder Haubitzen, lande- einen Befehl geben?« In der Normandie seien nur einige ten im Hinterland. Der General: »Nein, ich übersehe Punkte ausgebaut worden, berichtete der »Der Himmel war schwarz. Flugzeug die Lage nicht.« Major Hans-Joachim Förster einem Mit- nach Flugzeug, unglaublich! Wir gaben auf Krug: »Ich auch nicht.« gefangenen, »was dazwischenliegt, ist un- zu zählen. Und so tief flogen sie. Sie wuss- Der General: »Handeln Sie nach gefähr Käse«. ten genau, dass da keine Flak war«, be- Ihrem Gewissen.« Und ein Obergefreiter rätselte sogar richtete ein Überlebender einem anderen Krug ergab sich. über den Standort des Bollwerks, das ihn Gefangenen. Das Bombardement sei »un- Heute gilt die Invasion als überwiegend hatte schützen sollen: »Wo ist denn der glaublich« gewesen. amerikanische Operation. Seit Ronald Atlantikwall?« Antwort eines Offiziers: Die Gefangenen bedienten sich meist Reagan haben die US-Präsidenten die Er- »Oben in Calais.« Kommentar des Ober- einer distanzierten Ausdrucksweise. Sel- innerung an den D-Day als Gedenken an gefreiten: »Da nützt er doch nichts.« ten war die Rede davon, dass Gliedma- einen selbstlosen Kampf amerikanischer Der alliierte Plan sah vor, am D-Day ßen abgerissen oder Leiber zerfetzt wur- Helden zur Befreiung der Unterdrückten innerhalb eines 70 Kilometer langen Be- den. Das Stöhnen der Verwundeten, die dieser Welt inszeniert. reichs bei Caen zu landen. Briten, Ameri- Schreie der Sterbenden, das behielt jeder Allerdings ist die Saga unvollständig, kaner, Kanadier eroberten vier Strand - für sich, eingekapselt in der Erinnerung, vor allem die Bedeutung der Briten war abschnitte in etwa einer Stunde; nur am die oft lebenslang nachhing. beträchtlich: Ihre Navy stellte mit Ab- Omaha Beach kämpften die Amerikaner Stattdessen sprachen die Gefangenen stand den Großteil der Schiffe, die den fast den ganzen Tag lang und verloren davon, sie seien »kaputt geschossen« wor- Kanal überquerten. Am D-Day waren rund 4000 Mann. den oder hätten »fürchterliche Hiebe« be- ungefähr so viele Bomber und Soldaten
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 49 der Briten im Einsatz wie der Amerika- ner. Und der Landungsplan stammte maßgeblich von dem britischen General Bernard Montgomery (Spitzname »Mon- ty«), Befehlshaber der alliierten Boden- truppen. Erst später zementierte sich die militä- rische Dominanz der Amerikaner, wie der Invasionsexperte Peter Lieb in seinem Buch »Unternehmen Overlord« schreibt. Und noch etwas stimmt nicht an der Heldenversion: Die amerikanischen Sol- daten kämpften keineswegs so edel, wie häufig beschworen, was freilich nicht verdecken sollte, dass sie einen gerech- ten Krieg führten. Deut- sche Soldaten wurden nach der Gefangennah- »Da fing einer hinten an, eine weiße me vielfach umgebracht (SPIEGEL 17/2010). Fahne an einem Stock zu wedeln. Diese gewährten ihrer- Den haben wir dann auf 100 m umgelegt.« seits auch kein Pardon, wie die Abhörprotokolle Hasso Viebig belegen. »Da sind zehn amerikanische Fallschirm- jäger gekommen, die haben wir unter
der Hand abgemacht«, vertraute ein AFP Obersturmführer der Waffen-SS einem Major Viebig (r.), Kameraden nach Gefangennahme durch Alliierte bei Falaise im August 1944 Mitgefangenen an. Ein Grenadier berich- tete in kleiner Runde, ein Oberst habe einen Obergefreiten angeschissen, weil Historiker glauben, dass auf deutscher Sei- einem Stuhl schnupperten, habe Sperrle der 35 Gefangene gemeldet – und nicht te insbesondere Einheiten der Waffen-SS gesagt: »Was machen die beiden da? Fickt ermordet hatte. Und anders als die Al- Kriegsverbrechen begingen, auf alliierter ihr schon wieder?« Kommentar des Erzäh- liierten verübten die Deutschen in Frank- Seite US-Fallschirmjäger und Kanadier. lers: »Kein Wunder, dass wir den Krieg reich zahlreiche Kriegsverbrechen an Zi- Die Briten hingegen verhielten sich offen- verlieren. Das war das Niveau.« vilisten. bar weitgehend korrekt. Vermutlich lag es Schon in den Wochen vor dem D-Day Ein Unteroffizier namens Kaun vom am Selbstverständnis der Truppen Seiner hatten Royal Air Force und U.S. Army Air Jäger-Regiment 31, ebenfalls in britischer Majestät: Die Ermordung Gefangener galt Forces systematisch Straßen, Brücken, Gefangenschaft, erzählte laut Abhörpro- als »unbritisch«. Gleise in Frankreich zerstört, die Richtung tokoll einem Mitgefangenen von einem Die Wehrmacht hätte wohl überhaupt Normandie führten. Kriegsverbrechen in der Normandie, des- nur eine Chance gehabt, die Invasion ab- Es sei »unmöglich« gewesen, sich auf sen Zeuge er wurde: zuwehren: wenn es ihr gelungen wäre, der Straße zu bewegen, erzählte ein Leut- Da waren SS-Leute, die haben da so eine jenes Wettrennen zu gewinnen, das am nant, »was an Reserven von hinten ran - Kolonne von Gefangenen nach hinten D-Day begann. Noch war der alliierte Brü- geführt worden ist, ist restlos zur Sau geschleppt, die wurden eskortiert von ckenkopf klein, es ging für beide Seiten gemacht worden«. sechzehnjährigen Burschen – das war ein darum, möglichst schnell weitere Truppen Dennoch kamen die Alliierten deutlich ulkiger Anblick! Diese großen Kanadier und insbesondere Panzer heranzuschaffen. langsamer vorwärts als geplant. Erst am und unsere ausgemergelten, dünnen … Allerdings verfügten die Alliierten über 19. Juli fiel Caen, was für den D-Day vor- Es war ein Weg von 2 km, und da haben die totale Luftüberlegenheit – ein Dauer- gesehen war. die Kanadier auch einen Verwundeten thema in Fort Hunt und Trent Park. Man Die britischen wie auch die amerika - von uns tragen müssen. Und auf einmal sei schon beim Start abgeschossen worden nischen Streitkräfte sind später scharf stellt der eine von den Gefangenen die und überhaupt nur ganz selten bis zur Front kritisiert worden: zu schwerfällig, zu pas- Bahre nieder und sagt, er trägt nicht gelangt, jammerte ein deutscher Pilot. siv, zu schwach. Dabei können Armeen mehr. Nun kommt da ein Panzerwagen Kaum ein Soldat zeigte Verständnis für nur jene Kriege führen, die ihnen ihre Ge- gefahren, und der hat seinen Kopf oben die eigene Luftwaffe. Er habe doch Hugo sellschaften zugestehen, wie Historiker raus und sieht da, wie die debattieren. Sperrle erlebt, Generalfeldmarschall und Lieb schreibt. Die Kanadier waren sogar Da sagt der: »Einen Moment«, steigt zur als Oberbefehlshaber der Luftflotte 3 mit- Freiwillige. Und in den Demokratien in Turmluke raus, hat eine Spitzhacke in verantwortlich für das Desaster, erzählte Großbritannien, Kanada, den USA war es der Hand und geht auf den los und sagt, ein Offizier. Das sei ein »Bulle, ziemlich den Wählern wichtig, möglichst wenige ob er das jetzt heben will, und der sagt: verfettet, der nach jeden paar Worten so Söhne, Brüder, Ehemänner zu verlieren, »Nein«. Und da hat er erklärt: »Mir ha- stöhnt«. Mit großem Begleitkommando, was zumindest tendenziell gelang. Die ben sie zu Hause im Sudetenland meinen eigenem Küchenwagen und zwei Hunden Zahl der eigenen Verluste war zwar hoch, Vater und zwei Schwestern hingemacht, habe Sperrle die Verteidigungsstellungen blieb aber deutlich unter den Erwartungen. mein Haus und alles, mir ist alles inspiziert. Zum Essen sei er in schneewei- Überrascht erzählte ein deutscher Ma- wurscht«, und nimmt die Spitzhacke und ßem Anzug erschienen, mit weißen Schu- jor seinen Mitgefangenen von einem Ge- trifft ihn gerade auf den Schädel. Na, der hen und Monokel, und habe sich vor allem spräch mit einem amerikanischen Offizier. war natürlich sofort weg. für seine Hunde interessiert. Als die an Der habe erklärt, US-Truppen legten kei-
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nen sonderlichen Wert darauf, »tapfer zu bezeichnete ein Landser es, wenn nie- sein«. Ihnen genüge es, die Wehrmacht mand die sicheren Räume verlassen ZDFZEIT mit ihrer Überlegenheit zu erdrücken. wollte. Andere berichteten vom »Hori- DIENSTAG, 4.6., 20.15 – 21.00 UHR | ZDF Und das taten sie auch. zontschleichen«: Statt wie befohlen auf Deutschland und die Nach den Erzählungen der deutschen schnellstem Weg zur Hauptkampflinie Flüchtlinge – Die große Gefangenen muss der Beschuss fürchter- vorzurücken, mäanderten die Männer Bürgermeister-Bilanz lich gewesen sein. »Ich hatte einen Ober- parallel zur Front, in der Hoffnung, es leutnant, ein ganz schneidiger Hund, nach werde sie nicht treffen. Immer mehr Rund 1,6 Millionen Flüchtlinge hat der dritten Nacht kam der fertig zu mir streckten die Waffen, anstatt den angeb - Deutschland seit 2015 aufgenom- und sagte: ›Die Leute halten das nicht lichen Heldentod zu sterben. men. Wie haben sie das Land verän- mehr aus‹«, erzählte Konteradmiral Wal- Man erkenne an Uniform, Haarschnitt, dert? Deutschlands Bürgermeister ter Hennecke, der sich am 26. Juni ergab. Rasur, ob jemand für Volk und »Führer« ziehen Bilanz. An der 150 Kilometer langen Front gekämpft habe, meinte einer: »Die ge- der Amerikaner gingen im Durchschnitt kämpft haben, haben zerrissene Kleider 35 000 Granaten pro Tag auf die Wehr- gehabt, da hat man ausgesehen wie ein macht nieder. Und so langsam zermürb- Schwein.« ten die Verluste, die Angst, der Lärm, Angesichts der Überlegenheit der Bri- der Schlafmangel die Truppe. General - ten und Amerikaner ist es auf den ersten leutnant Erwin Menny, Kommandeur Blick erstaunlich, dass am Ende der Nor- der 84. Infanteriedivision, erzählte laut mandieschlacht der Blutzoll beider Seiten Abhörprotokoll: ungefähr gleich groß war. Doch den Deut- Durch dieses irre Artilleriefeuer und die- schen spielte das Gelände in die Hände. se wahnsinnigen Fliegerangriffe waren Teile der Normandie waren von Knicks die Landser demoralisiert. Wenn da ein durchzogen, die einem Verteidiger De- Amerikaner auftauchte, auch wenn es ckung boten. gar nicht notwendig war, dann liefen Und natürlich zahlte sich die Erfahrung sie eben zurück. Wenn irgendwo mal aus den vergangenen Kriegsjahren aus. zehn Panzer durchgebrochen waren, Der deutsche Panzer »Tiger« war den al- was ja kein Unglück ist – das genügte, liierten Modellen überlegen, die 8,8-cm- dass da eine ganze Division ausriss. Flak bei Briten und Amerikanern gefürch- Und dann die entmutigende Unterlegen- tet, die Offiziere und Unteroffiziere der Ausbildungszentrum in Essen heit, die ein Dauerthema unter den Gefan- Wehrmacht dem Gegner oft voraus. genen war: Panzer, die stehen blieben, Auch an Härte gegenüber den eigenen weil der Sprit aus war. Geschütze, die ver- Männern, womit einige im Internierungs- stummten, weil es an Munition mangelte. lager prahlten. Major Hasso Viebig etwa SPIEGEL TV REPORTAGE Divisionen, die nur über einige Hundert erzählte: DIENSTAG, 4.6., 23.10 – 1.15 UHR | SAT.1 Kämpfer verfügten. Es wurde langsam hell, und da sahen Ramsch oder Reibach? – Im fünften Kriegsjahr war es unmöglich, wir in der gegenüberliegenden Hecke Auf der Suche nach die Verluste auch nur annähernd zu erset- Amerikaner. Da haben wir so etliche dem verborgenen Schatz zen. Mitte Juli verzeichnete die Wehr- umgelegt mit MG und Maschinenpistole. macht in der Normandie 117000 Gefallene, Plötzlich ein Saufeuer aus der ganzen Das Auktionshaus Eppli bekommt an deren Stelle gerade einmal 10000 neue Hecke mit Kanonen und MG und weiß Post aus dem Weltall: Der Brief soll Männer traten. Und die Nachrücker waren Gott was allem. Da fing einer hinten an, mit der »Apollo 15« zum Mond ge- oft nicht die besten Soldaten. Ein Offizier eine weiße Fahne an einem Stock zu flogen sein. Eine geheime Aktion, klagte laut Abhörprotokoll: wedeln. Den haben wir dann auf 100 m die damals einen Skandal auslöste. Einen mit verkrüppelter Hand. Zwei umgelegt. Mit einer weißen Fahne, wis- Nun wird die Schmuggelware ver- hatten Sehschwäche – ganz furchtbar, sen Sie, das passte uns nicht, da hätten steigert. Startgebot: 22000 Euro. sie konnten gar nicht schießen. Keiner sie uns lieber totschießen sollen. Hinter den Kulissen eines Auktions- war im Sportverein, keiner gehörte der Es ist eine Ironie der Geschichte, dass Leu- hauses. Partei an, Sportabzeichen hatten, glau- te wie Viebig mit der Gefangennahme be ich, zwei. Das Alter setzt sich zusam- durch Briten oder Amerikaner belohnt men: einmal ganz junge Leute, 18-Jäh- wurden, denn der Krieg war für sie vorbei. SPIEGEL GESCHICHTE rige, 19-Jährige, hatten keinen Arsch in Viebig kehrte 1946 nach Deutschland zu- DIENSTAG, 4.6., 23.15 – 1.05 UHR | SKY der Hose; zum Teil ältere Leute, über 35, rück und stieg später zum Brigadegeneral Nach dem Massaker – die schon verarbeitet waren, Familien- in der Bundeswehr auf. Flucht vom Platz väter. Ja Menschenskind, wem gebe ich Die alliierten Soldaten hingegen muss- des Himmlischen Friedens nun die hoch qualifizierten Waffen über- ten weiterkämpfen, bis zum 8. Mai 1945. haupt? Viele von ihnen bezahlten das mit dem Im Frühjahr 1989 protestieren chine- Der Feind hingegen verfügte über schein- Leben. Klaus Wiegrefe sische Studenten auf dem Platz des bar unerschöpfliche Ressourcen. Rund Mail: [email protected] Himmlischen Friedens in Peking. Sie 1200 deutschen Panzern standen bald setzen sich für mehr Freiheit und die knapp 3800 alliierte Panzer gegenüber, auf Demokratisierung der Gesellschaft 400000 deutsche Soldaten kamen 1,5 Mil- Video ein. Anfang Juni schlägt die kommu- Filmaufnahmen von lionen Männer der Invasionsstreitkräfte. Operation »Neptune« nistische Führung den Aufstand bru- In der zweiten Julihälfte sank die Kampf- spiegel.de/sp232019normandie tal nieder. Die Anführer der Bewe- moral der Deutschen nachweislich. Die oder in der App DER SPIEGEL gung werden zu Staatsfeinden erklärt »Bunkerkrankheit« breitete sich aus – so und auf Fahndungslisten gesetzt.
51 Deutschland Parzelle um Parzelle
Umwelt In großen Städten sollen Kleingärten verschwinden, damit dort Wohnungen und Schulen gebaut werden können. Muss das sein?
utz Klinke hat in diesem Frühjahr Wohnungen gebaut, auf Kosten von ker, Verwaltungsangestellte und Kran - schon die Beete vom Unkraut be- 150 Gärten. Auch in Erfurt, Potsdam und kenpfleger. L freit, jetzt müsste er neuen Rasen Gießen mussten sich Kleingärtner wegen Alle sollen sich ein Stückchen Grün leis- aussäen, um die vertrockneten Bauprojekten neue Hobbys suchen. ten können, so das Selbstverständnis der Stellen wieder grün zu bekommen. Und Muss das wirklich sein? Kleingartenvereine. Deshalb schreibt das die Wände seiner Hütte brauchten einen Ja, sagen die, für die Kleingärten von Bundeskleingartengesetz auch eine güns- neuen Anstrich. Er weiß nur nicht, »ob Spießern bevölkert werden, die sich vom tige Pacht vor. Selbst in Städten zahlt man sich der Aufwand noch lohnt«. Rest der Stadtgesellschaft abschotten und nur wenige Hundert Euro pro Jahr für eine Klinke, 54, von Beruf Handwerker, be- wertvollen Baugrund besetzen. Nein, sa- Parzelle. Sofern man das Glück hat, eine sitzt eine von 80 Parzellen der Kleingar- gen jene, für die Kleingärten die letzten zu ergattern.Die Nachfrage nach den Par- tenkolonie »Morgengrauen« in Berlin-Ma- Oasen zwischen durchbetonierten Häuser- zellen ist riesig. Wer in einer deutschen riendorf. Doch sein grünes Idyll könnte schluchten sind. Großstadt einen Kleingarten haben möch- bald Geschichte sein. Auf dem Grundstück Der Konflikt um die Lauben ist Aus- te, muss sich jahrelang gedulden. Allein in sollen ab 2020 eine Schule und eine Kita druck des modernen Verteilungskampfes Berlin stehen zurzeit 12000 Menschen auf gebaut werden, so sieht es ein Entwurf des den Wartelisten. Spaten und Harke sind Senats vor. Noch wird verhandelt, aber wieder hip, fast jede zweite Parzelle wird wenn es schlecht läuft für Klinke und seine an eine junge Familie vergeben. Nachbarn, muss die ganze Kolonie weichen. Die Gärten wecken Begehrlichkeiten aus Es geht um drei Hektar Land. Klinke allen Richtungen. Geht es nach dem Klein- lässt seinen Blick über die Kleingärten gartenentwicklungsplan des Berliner Se- schweifen. »Wenn ich diese Fläche sehe«, nats, sollen ab dem kommenden Jahr etwa sagt er, »dann frage ich mich: Soll hier 850 Parzellen mit Schulen, Sportplätzen ein Olympiastadion hinkommen? Warum oder Verkehrsprojekten bebaut werden. brauchen die so viel Platz?« Für ihn geht Wie viele Wohnungen dazukommen, legt es um die Frage, ob er noch einen Eimer der Stadtentwicklungsplan Wohnen fest. Farbe für seine Hütte kaufen soll. Für Ber- Noch ist er nicht beschlossen, doch laut der lin geht es darum, was in einer wachsen- Senatsbaudirektorin haben die Planer den Großstadt Vorrang hat: neue Schulen, 26 Kolonien im Blick, die ab 2030 für 7000 Straßen und Wohnungen? Oder die Nah- Wohnungen in Anspruch genommen wer- erholung seiner Bürger? den könnten. Die Behörden versprechen Deutschland ist das Land der Klein- den Gärtnern, Ersatzflächen anzubieten. gärtner, laut dem Bundesverband Deut- Der Landesvorsitzende vom Bund Deut- scher Gartenfreunde gibt es hierzulande scher Architekten fordert sogar, so viele 900000 Parzellen. Fünf Millionen Men- Kleingärten zu opfern, dass 300000 Woh- schen nutzen einen Kleingarten, sie pflan- nungen Platz finden. Ähnlich denkt Chris- zen Tomaten und Radieschen an oder su- tian Müller, Vorstandsmitglied der Bau- chen in ihrem eigenen kleinen Reich Ab- / DER SPIEGEL DJURIC MILOS kammer in Berlin. Seit Jahrzehnten würden stand vom stressigen Alltag. Hobbygärtner Klinke Kleingärtner »wie heilige Kühe« behandelt, Seit Planer, Politiker und Investoren in »Warum brauchen die so viel Platz?« sagt der Ingenieur. Sich in Zeiten von ex- den Großstädten die letzten Baulandreser- plodierenden Mieten und Wohnungs - ven zusammenkratzen, sind die Kolonien in den Ballungsräumen. Es ist der Kampf notstand nicht an die Gärten ranzutrauen, akut gefährdet. Sie liegen oft günstig, mit- um das wertvollste Gut, das es in Städten halte er für »eine Fehlentscheidung«. Kürz- ten in Wohngebieten mit guter Anbindung heutzutage gibt: Platz. lich verschickte seine Baukammer eine und Infrastruktur. Würde man die Hütten Seit 27 Jahren hat Kleingärtner Klinke Pressemitteilung: »20 Prozent der Klein- abreißen, könnte man sofort losbaggern. seine Laube in Berlin. Weil damals das gärten an Straßenland bebauen heißt Zumal die Grundstücke der Klein gärten Geld nicht reichte für ein Haus mit 200000 Neubauwohnungen.« Er erntete oftmals in städtischem Besitz sind. Garten, legte er sich den Kleingarten zu, einen Shitstorm der Pächter. In den vergangenen fünf Jahren ver- erzählt er. Fast jeden Tag kommt er her, Müller sagt: »Das Problem ist, dass wir schwanden in Deutschland insgesamt kümmert sich um den Rhabarber. Er ist seit drei Jahren nicht hinter dem Bedarf 6500 Kleingärten, weil die Flächen umge- stolz auf seinen Kirschbaum, genießt an neuen Wohnungen hinterherkommen.« wandelt wurden oder noch werden. Das es, die Vögel zwitschern zu hören. Die Das ist nicht nur in Berlin so. Laut einer geht aus einer bislang unveröffentlichten Kolonie »Morgengrauen« ist fast hundert Studie der Hans-Böckler-Stiftung fehlen Studie des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- Jahre alt, über die Hecken und Zäune hin- in deutschen Großstädten fast zwei Mil- und Raumforschung hervor. In Hamburg- weg grüßen sich Urberliner wie Klinke, lionen bezahlbare Wohnungen, selbst in Barmbek hat es 330 Gärten erwischt, aber auch Menschen mit türkischen oder Moers oder Ulm gibt es viel zu wenig. dafür entstehen 1400 Wohnungen, in Ber- indischen Wurzeln. Unter Kleingärtnern Die Bundesregierung hat sich deshalb lin-Schmargendorf werden derzeit 1000 findet man Lehrerinnen und Informati- vorgenommen, bis 2021 rund 1,5 Millio-
52 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 MILOS DJURIC / DER SPIEGEL DJURIC MILOS Kolonie »Morgengrauen« in Berlin-Mariendorf: Würde man abreißen, könnte man sofort losbaggern
53 Deutschland nen neue Wohnungen zu schaffen. Wie verfasste einen offenen Brief an die Ober- leicht so, wie es derzeit in Hamburg ver- das funktionieren soll, weiß niemand so bürgermeisterin, veranstaltete Pressekon- sucht wird. Jedes Jahr, so hat es der Senat genau. Manche Planer wollen zusätzlichen ferenzen, organisierte Demos. Burg hielt 2011 entschieden, sollen 10000 neue Woh- Wohnraum auf Park- und Bürohäuser set- Vorträge in der Bezirksvertretung, sie er- nungen gebaut werden. Gleichzeitig muss zen. Andere wollen zur Nachverdichtung zählte, dass stündlich 5000 Fahrzeuge an die Stadt ein Versprechen einhalten, das auch an die Kleingärten ran. der Kleingartenanlage vorbeirauschen und sie dem Landesbund der Gartenfreunde Es gibt ein Menschenrecht auf Wohnen, dass die Obstbäume und Beerensträucher vertraglich zugesichert hat: Für jeden es ist im Sozialpakt der Vereinten Natio- dringend benötigten Sauerstoff produzie- Kleingarten, der aus triftigen Gründen wei- nen verankert. Von einem Recht auf einen ren würden. Sie erzählte, dass in den Klein- chen muss, wird Ersatz geschaffen. Schrebergarten steht dort nichts. gärten Eulen und Falken Schutz fänden. Marianne Haustein, 67, ist eine der Ein Anruf beim Bundesverband Deut- Und dass Freiland in den Städten genauso Kleingärtnerinnen, die es womöglich trifft. scher Gartenfreunde. Der Geschäftsführer wichtig sei wie Bauland. Ihre Parzelle im Heimgartenbund in Alto- Stefan Grundei ist ein freundlicher Mann Am Ende stimmte der Stadtrat dagegen, na ist 450 Quadratmeter groß, seit vielen mit ruhiger Stimme, man darf ihn nur nicht die Bebauung der »Flora«-Anlage weiter Jahren bewirtschaftet sie den Garten. Jetzt auf die Neubaupläne ansprechen: »Wir re- zu prüfen. Burg ist trotzdem nicht beruhigt. soll auf dem Grundstück eine Schule ent- den ständig davon, wie wir mit den Folgen »Es wird weitergehen«, sagt sie, »Klein- stehen, möglicherweise sogar zwei. Und des Klimawandels fertigwerden, wie Städ- gärten werden wieder und wieder von neue Wohnungen müssen auch her. te und Regionen robuster werden gegen der Politik infrage gestellt, weil es leider Haustein wird deswegen wohl umzie- Starkregen und Hitzeperioden. Wir reden hen müssen. Ihr neuer Garten würde über davon, dass wir Artenvielfalt erhalten wol- der Autobahn A7 liegen. Die wird gerade len, und gleichzeitig machen wir Kleingär- an einigen Stellen überdacht, um Lärm ten platt? Das ist doch verrückt.« und Schmutz einzudämmen. Auf den Grundei sagt, dass von den Kolonien Deckeln wird Platz für rund 400 neue sehr wohl alle in den Städten profitierten. Kleingärten entstehen. Die Gärten würden Lärm abpuffern und Die Kleingärtner in Altona wehren sich seien »Frischluftschneisen«. Das Grün in gegen die Umzugspläne. Der Hamburger den Anlagen würde an heißen Sommerta- Wohnungsbaukoordinator Matthias Kock gen die Temperatur in den Städten senken. sagt, er könne den Frust verstehen. Trotz- »Die Gärten sind damit ökologische Kli- dem sei das »die Lösung, von der die meis- maanlagen.« ten Menschen profitieren« würden: Mehr Wer ihm zuhört, ahnt: Die Hobbygärtner Wohnraum, weniger Verkehrsbelastung, lassen sich nicht einfach so aus ihren Lau- und die Kleingärtner stünden nicht mit lee- ben vertreiben, ihre Lobby ist stark. Das ren Händen da. Die versprochenen Ersatz- mussten zuletzt auch die Stadtplaner in parzellen werden allerdings wohl deutlich Köln erfahren, als sie es mit Barbara Burg kleiner ausfallen. und ihren Mitstreitern zu tun bekamen. Hobbygärtnerin Haustein fällt es schwer, Burg, 56, Fotografin und Hobbygärtne- sich mit ihrem Schicksal abzufinden. Zur rin, hat an einem Tisch in ihrer Parzelle Not, sagt sie, werde sie auf den Deckel im Kölner Stadtteil Nippes Platz genom- umziehen, so wie ihre Nachbarn auch. men. Sie habe »hart dafür gekämpft«, dass »Zumindest bleiben wir dann als Gemein- sie heute noch unter ihrem Kaiser-Wil- SIMAITIS / DER SPIEGEL MARCUS schaft beisammen.« helm-Apfelbaum sitzen könne, erzählt sie. Laubenbesitzerin Burg Auch ihre Kollegen in Köln und Berlin Der Kleingartenverein »Flora« hat 322 »Der Umgang mit Grün ist diabolisch« kämpfen weiter. Kleingärtner Klinke rech- Parzellen, sie liegen auf dem Inneren net zwar damit, dass im Februar die Kün- Grüngürtel, einem schmalen Bogen aus im Trend liegt, überall die Böden zu ver- digung kommt, aber er will nicht einfach Wiesen, Bäumen und Parks, der sich um siegeln.« so aufgeben. In der Kolonie »Morgengrau- das Kölner Stadtzentrum legt. Burgs Gar- Burg zieht ein Tablet aus ihrer Tasche. en« wollen sie nun Unterschriften sam- ten befindet sich neben vierstöckigen Häu- Darauf hat sie eine Präsentation gespei- meln und Protestplakate aufhängen. sern, mit dem Fahrrad sind es von hier nur chert, in der sie mit Fotos dokumentiert In Köln hat Gärtnerin Burg kürzlich zehn Minuten zum Hauptbahnhof, ein hat, wo in Köln zuletzt Grünflächen ver- einen Brief von der Stadt bekommen. Un- Sahnestück für den Wohnungsbau. schwunden sind. 22 Kunstrasensportplät- ter ihrer Parzelle seien »sehr hohe Boden- Vor drei Jahren zog das Amt für Stadt- ze mit Hunderten Tonnen Granulat da - belastungen« aufgrund von Altablagerun- entwicklung die Kleingartenanlage für rauf gibt es laut Burg inzwischen. Für den gen festgestellt worden, schrieb das Amt eine Wohnungsbauoffensive in Betracht. 23. Platz seien kürzlich mehr als 20 Bäu- für Landschaftspflege und Grünflächen. Die Fläche gehört der Stadt, der Verein me gefällt worden. »Der Umgang mit Burg vermutet dahinter einen Trick, um ist nur Pächter. Burg erzählt, sie habe aus Grün in der Stadt ist diabolisch.« sie doch noch loszuwerden. Sie traut der der Zeitung von den Plänen erfahren. Sie Aus dem Kölner Baudezernat ist zu hören, Stadt inzwischen alles zu. und andere Gärtner gründeten eine dass es »derzeit keine Pläne« gebe, Klein- Lukas Eberle, Anna-Lena Jaensch, Bürgerinitiative, die Grüne Lunge Köln. gärten zu opfern. Man wolle die Klientel in Veronika Völlinger Schnell hatten sich mehr als hundert Geg- den Kleingärten nicht weiter vergraulen. Mail: [email protected] ner des Bauvorhabens zusammengefun- »Wer Kleingärtner quält, wird abge- den, eine schlagfertige Truppe im Kampf wählt«, lautet ein Slogan, der in den Gar- ums Grün. tenkolonien kolportiert wird. Die Urbani- Video Kampf für Kölns Sie setzte eine Onlinepetition auf, sierung wird das nicht aufhalten, bis 2050 Grüne Lunge »Kleingärten schützen, Bebauung verhin- werden voraussichtlich 84 Prozent der spiegel.de/sp232019schrebergaerten dern«, in gut sieben Monaten unterschrie- Deutschen in Städten leben. Es müssen oder in der App DER SPIEGEL ben 20000 Menschen. Die Grüne Lunge also Kompromisse gefunden werden, viel-
54 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 www.volkswagen-nutzfahrzeuge.de
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im militärischen Nachrichtenwesen anstre- ben. Oder Mitarbeiter des BND oder eines Die Master-Spione Amts für Verfassungsschutz. Ihre Identität bleibt geheim. Uwe Borghoff, Vizepräsi- Studium dent der Bundeswehr-Uni München und Wie wird man eigentlich Geheimdienstler? Hochschulen einer der beiden Leiter des Studiengangs, in Berlin und München bilden Führungskräfte für die sagt nur so viel: »Jeder ist hier immatri - deutschen Sicherheitsbehörden aus. Nicht jeder ist willkommen. kuliert mit einem Namen.« Die Schutzmaßnahmen hätten ihren Grund, sagt Jan-Hendrik Dietrich, Profes- ein Name ist frei wählbar, den ech- Initiative, den Studiengang einzurichten, sor an der Hochschule des Bundes und S ten gibt er sowieso nicht preis. Also kam vom Kanzleramt. Es will Führungs- Borghoffs Co-Leiter. Die Planer des Stu- soll er hier Frank Müller heißen. nachwuchs für die Verfassungsschutzäm- diengangs wollten ausschließen, dass ein Frank Müller ist 47 Jahre alt, seit 15 Jahren ter in Bund und Ländern sowie den Bun- ausländischer Dienst eine angehende Ge- im Dienst, gelernter Verwaltungsbeamter desnachrichtendienst (BND) heranziehen. heimdienstfachkraft ins Visier nehme und und arbeitet für den Verfassungsschutz Bislang gab es Fortbildungen hier und Kur- anwerbe. Niedersachsen. Der Mann ist spezialisiert se da, aber kein abgestimmtes Curriculum. Wer MISS-Master werden will, muss auf Rechtsextremismus, zuletzt war er Drei Dutzend Männer und Frauen stu- sich der höchsten Sicherheitsüberprüfung nicht operativ tätig. dieren auf dem umzäunten Gelände eines Ü3 unterziehen, berichten die Studienlei- Die Angaben lassen sich nicht überprü- ehemaligen Fliegerhorsts in Neubiberg. ter. Das aufwendige Verfahren koste pro fen, es ist unklar, welche Details die Aus- Dort hat die Universität der Bundeswehr Person bis zu 50000 Euro. Die Biografie sagegenehmigung umfasst, die er vor dem München ihren Sitz. Sie bietet den Studien - des Bewerbers wird genau durchleuchtet. Interview mit einem Journalisten bei sei- gang gemeinsam mit der Hochschule des Der Kandidat muss drei Bekannte benen- nen Vorgesetzten einholen musste. Gesi- Bundes für öffentliche Verwaltung in Ber- nen, die zu seinem Lebenslauf befragt wer- chert ist hingegen, dass Müller gerade eine lin an. Auf dem Lehrprogramm stehen den können. Wer die Überprüfung über- Juravorlesung verlassen hat, um in einem Lesungen von Islamwissenschaftlern und steht, muss sich alle Reisen in Staaten mit Nebenraum Auskunft zu geben, warum er Russlandexperten ebenso wie Referate aus besonderen Sicherheitsrisiken – unter an- studiert: Ihn interessiere das Auswerten der Bundesanwaltschaft oder Terrorismus- derem China und Russland – von seiner großer Datenmengen, aber auch der ethi- Fallstudien. Dienstbehörde genehmigen lassen. sche Rahmen nachrichtendienstlicher Ar- Der Masterstudiengang ist auf zwei Jah- Den Studiengang dürfen derzeit nur beit. »Man muss aufpassen, dass man nicht re angelegt, 120 Credit-Points werden nach deutsche Staatsangehörige belegen. Dabei meint, mit undemokratischen Mitteln die dem gängigen Studienpunktesystem ver- ist eines der Ziele des Programms der pro- Demokratie schützen zu müssen.« geben. Wer mitmachen will, braucht einen fessionelle Austausch, um sich internatio- Um über solche Fragen zu reflektieren, Bachelor oder einen vergleichbaren Ab- nalen Standards anzunähern. In den USA hat Müller sich für den neuen Studiengang schluss. Mittelfristig soll es rund 70 Plätze und Großbritannien gibt es solche Studien - »Master in Intelligence and Security Stu- pro Jahrgang geben. Aber sich einfach mal gänge längst. Experten lehren in Oxford, dies« (MISS) eingeschrieben. Die Teilneh- bewerben? Das geht nicht. Die Studenten in Cambridge oder am King’s College in mer lernen in München und Berlin. Die sind Bundeswehroffiziere, die einen Job London. »Das Fach ist dort im Unter-
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schied zu Deutschland positiv besetzt«, Ein Hauptziel des Studiengangs sei es, Staatssekretär, der im Kanzleramt für die sagt Hochschullehrer Dietrich. »kritische Geister hervorzubringen«, sagt Geheimdienste zuständig ist. Die Kosten In Deutschland sind die Geheimdienste Leiter Dietrich. »Wir wollen nicht zeigen, tragen die Hochschule des Bundes und mit einigen der dunkelsten Kapitel der Ge- wie man besser spionieren kann. Es soll die Bundeswehr-Uni in Neubiberg. In Neu- schichte verwoben. Auf das Reichssicher- reflektierter zugehen.« In den Kursen biberg baut der Bund ohnehin für meh - heitshauptamt und die Gestapo folgten die taucht immer wieder der Umgang der zu- rere Millionen Euro große IT-Kompetenz - Stasi in Ostdeutschland und Behör- zentren mit zusätzlichen Profes- den im Westen, in denen niemand suren auf. zurückblicken mochte. »Bei uns Vom Know-how vor Ort profi- bleibt das Bild: antidemokratisch, tieren die angehenden Nachrichten- ungesetzlich«, sagt der Lehrbeauf- dienstler ebenso. »Unsere Absol- tragte Wolfgang Krieger, pensionier- venten«, sagt Borghoff, »sollten ter Professor an der Universität Mar- sich mit Spezialisten unterhalten burg. Kaum ein journalistischer Text können.« Dabei gehe es weniger über Nachrichtendienste komme um potente Spähprogramme als ohne den Begriff »Machenschaften« etwa darum, Datenbanken mitei- aus, beklagt der Zeithistoriker. nander zu verknüpfen. Im Vertie- Er sieht jedoch nicht nur Image- fungsfach »Intelligence and Cyber
probleme, sondern auch Defizite in- / AP PRODUCTIONS EON Security« lernen Studenten unter nerhalb der Dienste. »Es gehört James-Bond-Darsteller Daniel Craig: »Positiv besetzt« anderem Verschlüsselungstechnik. nicht zur deutschen Tradition, sich Die Chancen der Absolventen mit den eigenen Fehlern zu beschäf- scheinen auch außerhalb der Behör- tigen«, sagt Krieger. »Die angelsächsischen ständigen Ämter mit der rechten Terror- den nicht schlecht. Reiseunternehmen und Dienste sind sehr viel selbstkritischer.« gruppe NSU auf. »Der NSU ist ein Lehr- Technologiekonzerne hätten sich schon Hierzulande lasse man sich auch im Nach- stück, wie man es nicht machen sollte«, nach den künftigen MISS-Absolventen er- hinein nur ungern in die Karten schauen. sagt Dietrich. »Insofern ist die Akademi- kundigt, berichtet Borghoff. Andere An- Der Zugang zu ehemals klassifizierten Do- sierung eine Reaktion auf dieses Desaster.« rufer seien indes abgewiesen worden: allzu kumenten sei vergleichsweise restriktiv, Erst politische Gremien hätten das NSU- Wissbegierige aus dem Ausland. für den Blick auf vergangene Entscheidun- Versagen aufgearbeitet. Jan Friedmann gen fehle Historikern wie ihm der Zugang Die Politik redet auch beim neuen Stu- Mail: [email protected] zu zentralen Quellen. dienangebot mit. Dessen Beirat leitet der
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Gläubiger-Identifikationsnummer DE50ZZZ00000030206 Ä DRID, Hamburg Gesellschaft
»Mutige Reden führen die Zuhörer immer irgendwohin.« ‣S.62
1953 verunglückte Chet Miller. 1952 Früher war alles schlechter 1956 1 2 2 4 1 2 1 1 Nº 178: Tod in der Formel 1 1962
1963 1965 19711972 1976 1979 1 1 1 1 1 2 2 1 1 1 1 1980
1981
1998 1997 1996 1995 1993 1992 1991 1990 1989 1988 1987 1986 1985 1984 1983 1999 2 2
2000 1994: Roland Ratzenberger und Ayrton Senna
2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 2015 2016 2017 2018 2019 1
Fahrer, die bei der Weltmeisterschaft im Training oder während des Rennens verunglückten und starben 2014: Unfall Jules Bianchi
Der Tod fuhr immer mit. So auch in der siebten Runde des Gro- in die Zuschauer flog, 15 von ihnen tötete und 60 weitere ver- ßen Preises von San Marino, als Ayrton Senna in seinem Renn- letzte. Oder der 5. September 1970, als Jochen Rindts Lotus nach wagen aus der Tamburello-Kurve schoss und in die Strecken - einer Karambolage auseinanderbrach und Rindt posthum zum begrenzungsmauer knallte. Die Fernsehbilder von diesem 1. Mai Weltmeister gekürt wurde. Während die Autos immer schneller 1994 zeigen Sennas Rennwagen aus der Hubschrauberperspek - wurden, starben in den Sechziger- und Siebzigerjahren insgesamt tive, ein Wrack ohne Frontflügel und rechtes Vorderrad. Stunden 16 Fahrer. Sennas Unfall markiert eine Zeitenwende. Bis zum Tod später erklärten Ärzte den wahrscheinlich besten Rennfahrer Jules Bianchis 2015 gut neun Monate nach seinem Unfall blieb aller Zeiten für tot. Bereits am Vortag war der Österreicher Senna 21 Jahre der letzte Fahrer, der an den Unfallfolgen starb. Roland Ratzenberger in der Qualifikation tödlich verunglückt. Als Reak tion auf seinen Unfall 1994 reduzierte die Dachorganisa- Das Wochenende im Mai 1994 gilt als eines der schwärzesten in tion FIA den Motorhubraum der Autos, verschärfte die Crash - der Geschichte dieses Motorsports. Senna war der 31. Tote der tests und veränderte die Streckenführungen. Die Folge ist, dass Formel 1 seit ihrem Start 1950. Unvergessen ist auch der 10. Sep- Formel-1-Fahrer heute kaum noch bei der Ausübung ihres tember 1961, als der Ferrari von Wolfgang Graf Berghe von Trips Berufs sterben. Das Risiko bleibt. Max Polonyi, [email protected]
Erziehung synchronisiert. Wer sich dort einen Krimi fremdsprachige Serien und Filme als aus den USA anschauen will, muss das auf Anreiz gut. Wenn sie untertitelt sind, ist Sollten unsere Kinder Englisch tun und dabei lesen. Also wird das Gehirn mehr gefordert. Wir konzen- mehr Serien gucken, auch die Lesekompetenz gefördert. trieren uns besser auf die Sprache, weil SPIEGEL: Sollten Kinder also mehr Pro- wir mitlesen. Das funktioniert sogar für Herr Boeckmann? duktionen mit Untertiteln sehen? die Muttersprache. Wissenschaftler in Klaus-Börge Boeckmann, 54, ist Boeckmann: Ja. Es gab schon Experimen- Indien haben Teile von Bollywoodserien Sprachendidaktiker an der Pädagogischen te, bei denen Kinder, die kein Wort Unga- untertitelt und damit funktionalen An - Hochschule Steiermark. risch konnten, Filme mit ungarischen alphabeten das Lesen beigebracht. Untertiteln anschauten. Hinterher konnten SPIEGEL: Schauen Sie sich Filme und SPIEGEL: Stundenlang Serien anschauen sie ein paar Worte Ungarisch. Man nimmt Serien in fremden Sprachen an? macht dumm, sagen viele Eltern. Es kann Untertitel wahr, auch wenn man es nicht Boeckmann: Ja, und es funktioniert auch auch schlauer machen, sagt ein Befund will. Natürlich funktioniert das nur, wenn umgekehrt: Man sieht den Film auf der University of London – wenn es die Kinder alt genug sind, um mitzulesen. Deutsch und schaltet die Untertitel auf Serien mit Untertiteln sind. Stimmt das? SPIEGEL: Ist die Schrift Englisch ein. Mit »Down - Boeckmann: Die EU-Kommission hat mal so wichtig? Die Mutter- ton Abbey« habe ich die Fremdsprachenkompetenz zwischen sprache lernt man ja es so gemacht. Die beiden Ländern verglichen, in denen eher syn- auch, ohne lesen und Sprachen verschmelzen. chronisiert wird, wie in Deutschland, oder schreiben zu können. Kurz danach konnte nicht synchronisiert, aber untertitelt, wie Boeckmann: Bei der ich gar nicht mehr sagen, in Skandinavien. Skandinavier können Zweitsprache ist es ob ich die Folge auf
besser Englisch als die Deutschen. Auch in so: Wir müssen sie ler- KIKA Deutsch oder auf Englisch den Niederlanden wird traditionell nicht nen wollen. Da sind »Peppa Pig«-Szene gesehen hatte. CAT
60 DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 Er sah, wie sich ein Mann dem Chevrolet näherte. Der Mann Eine Meldung und ihre Geschichte öffnete die Tür, setzte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor. Chance habe zuerst gedacht, der Mann sei von einem Park- Klack, klack service, der zum Krankenhaus gehört. Doch der Mann sprach eine Sprache, die Chance nicht verstand. Er konnte nicht vom Parkservice sein. »Die Leute vom Parkservice sprechen Wie ein Junge zum Helden von Ohio wurde meistens Englisch«, sagt Chance am Telefon. Irgendetwas stimmte hier also nicht. Nita Coburn hörte die Schreie ihrer beiden Urenkel, so ür Chance Isaiah Blue, acht Jahre alt, begann der er innert sie sich heute. Sie ließ den Rollstuhl los und rannte F 25. April wie ein normaler Donnerstag. Er trug ein hinaus. Der Mann trat aufs Gaspedal, das Auto beschleunigte. T-Shirt, auf dem eine Gruppe von Superhelden namens Chance schnallte sich ab. Er hätte jetzt einfach aus der linken Avengers zu sehen war, er frühstückte Cornflakes mit Milch Tür springen können, in die Freiheit, doch seine Schwester und spielte mit seiner Schwester vor der Haustür Football. war noch angeschnallt. Also rollte sich Chance auf ihre Seite, Es waren Osterferien in Middletown, einer kleinen Stadt im half ihr beim Abschnallen, griff ihren Arm und stürzte sich US-Bundesstaat Ohio. aus der rechten Seitentür. Sein Körper hing schon halb aus Dass dieser Tag nicht so normal enden würde, wie er be- dem Auto, da langte der Mann nach hinten und erwischte gonnen hatte, dass Chance nur wenige Stunden später sich den Pullover, den Skylar um die Hüfte gebunden hatte. selbst und seine zehnjährige Schwester Skylar aus einem fah- Chance zog an ihrem Arm und zog, dann fielen beide auf renden Auto retten würde, war an diesem Morgen nicht ab- den Asphalt. zusehen. Nita Coburn war währenddessen dem Auto hinterher- Am Telefon erzählen er und seine Urgroßmutter Nita gerannt und bekam den Türgriff zu fassen. Sie riss die Tür Coburn wenige Tage später von seiner heroischen Tat, de- auf, der Mann zog sie wieder zu. Wenige Meter lief sie mit, rentwegen ihn Politiker im Senat von Ohio ehrten und die dann fiel auch sie hin. Dass ihre Urenkel sich zu diesem Zeit- »Washington Post« die Poli- punkt schon aus dem Auto zei zitierte mit den Worten: befreit hatten, bekam sie zu- »Dieser kleine Junge ist ein erst nicht mit. Das Auto raste Held.« davon. Chance und Skylar sind Man kann sich die Szene Halbgeschwister. Sie wuchsen im Internet anschauen, eine beide nach ihrer Geburt zu- Überwachungskamera des erst bei ihrer anderen Urgroß- Krankenhauses hat die Ret- mutter auf, bis die verstarb. tungsaktion von Chance ge- Ihre leibliche Mutter ist ab- filmt. hängig von Opioiden, Ohio ist Skylar hatte sich den Knö- einer der US-Staaten, die von chel aufgeschürft, Nitas Hand der Schmerzmittelepidemie lief später blau an, Chance am stärksten betroffen sind. blieb unverletzt.
Nita Coburn sagt: »Chance NEWS FOX Die Polizei stoppte den und seine Schwester hatten ei- Geschwister Chance, Skylar Mann nicht weit entfernt von nen holprigen Start ins Le- Chance’ Haus. Sie identifizier- ben.« Heute kümmern sich te ihn als Dalvir Singh, einen Coburn, 69, und Großtante 24-Jährigen, der wegen seiner Angela zusammen um die bei- Heroinabhängigkeit im Kran- den Kinder. kenhaus behandelt wurde. Ob Am besagten Tag im April, Von der Website Rtl.de er nur den Wagen stehlen es war mittlerweile Nachmit- wollte oder auch die beiden tag, klagte Angela wieder über Magenschmerzen. Sie war Geschwister entführen, wird gerade in einer Gerichtsver- zwei Tage lang nicht zur Arbeit gegangen. Sie stiegen ge- handlung geklärt. meinsam in Coburns silbernen Chevrolet Malibu, die Groß- Chance und Skylar hätten den Rest des Tages noch viel tante auf dem Beifahrersitz, Nita Coburn am Lenkrad, hinter geweint, erinnert sich ihre Urgroßmutter. Chance sagt, er ihr Chance und neben ihm seine große Schwester Skylar. Sie habe abends ferngesehen, es lief »Last Man Standing«, eine fuhren los, in Richtung Atrium Medical Center. TV-Serie. Als die vier am Krankenhaus eintrafen, parkte Nita Coburn Drei Wochen nach dem Tag im April reiste der Achtjährige ihren Wagen unter dem Vordach nahe der Notaufnahme. Sie nach Columbus, in die Hauptstadt Ohios, wohin ihn zwei re- besorgte einen Rollstuhl, in den sie Angela setzte. Weil es publikanische Senatoren eingeladen hatten. Der Senat von schnell gehen sollte, ließ sie den Autoschlüssel stecken. Sie Ohio tagt in einem Saal mit Tischen aus glänzendem Holz drückte den kleinen Knopf an der Innenseite der Tür hinunter und Teppichboden. An diesem Tag standen dort Chance und und schloss den Wagen damit ab, klack, die Zentralverriege- seine Schwester Skylar. Senator Steve Wilson beugte sich hi- lung griff an jeder Seite. Es gab danach ein weiteres Klack, nunter zu seinem Ehrengast und sagte: »Wie wir heute sehen, denn die Zentralverriegelung funktioniert nur, wenn der gibt es Helden in allen Formen und Größen.« Schlüssel nicht steckt. Alle Türknöpfe sprangen wieder hoch. In wenigen Tagen beginnen für Chance die Sommerferien. Das zweite Klack hörte Nita Coburn jedoch nicht. In der dritten Klasse möchte er ins Footballteam seiner Schule. Während Coburn den Rollstuhl mit Angela nun zum Ein- Und wenn er, der Held von Ohio, später erwachsen ist, will gang schob, saß Chance im Auto, neben ihm seine Schwester. er Feuerwehrmann werden. Yannick Ramsel
61 Obama 2016 Blair 2007 MARK REINSTEIN / ALAMY / MAURITIUS / ALAMY MARK REINSTEIN ALESSIA PIERDOMENICO / REUTERS ALESSIA PIERDOMENICO »Angela Merkel ist 16 Jahre lang sehr gut ohne die große Rede ausgekommen«
SPIEGEL-Gespräch Philip Collins, ehemaliger Redenschreiber von Tony Blair, über die Kraft der Sprache – und die Sehnsucht nach der großen politischen Rede
Trump 2016 Merkel 2018 DAMON WINTER / NYT/ LAIF WINTER / NYT/ DAMON MURAT TUEREMIS / LAIF MURAT
62 Gesellschaft
Collins, 52, war Investmentbanker, bevor Wo Sie nicht enden: bei dem, was eine gro- Die Luftschlacht um England – und sein er Chefredenschreiber des damaligen briti- ße Rede ausmacht. Wirklich große Reden berühmter Satz, gerichtet an die britische schen Premierministers Tony Blair wurde. sind mehr als nur schöne Worte. Sie ver- Luftwaffe: »Nie zuvor in der Geschichte Nach Blairs Rücktritt im Sommer 2007 sah ändern die Welt. menschlicher Konflikte hatten so viele so es kurz so aus, als würde Collins selbst in SPIEGEL: Die Deutschen, viele Europäer wenigen so viel zu verdanken.« Rhetorik die Politik gehen, er entschied sich aber sehnen sich trotzdem seit Jahren nach der und Anlass kommen zusammen. Großartig. anders. Heute ist er Kolumnist der Zeitung großen Rede, zur Einwanderung, zu SPIEGEL: Stimmt es, dass Churchill gestot- »The Times«. 2017 veröffentlichte er das Europa, zur Ungleichheit. Woher kommt tert hat? Buch »When They Go Low, We Go High«, diese Sehnsucht? Collins: Als er jung war, ja. Er musste ler- in dem er 25 berühmte Reden der Welt - Collins: Aus dem Wunsch nach Führung. nen, seine Stimme zu kontrollieren. geschichte analysierte. Und aus dem Wunsch, dass jemand aus- SPIEGEL: Wenn er »Nazis« sagte, klang drückt, was bis dahin unfertig in meinem das wie »Narzees«. SPIEGEL: Herr Collins, wann haben Sie Kopf war – und das ich selbst nicht formu- Collins: Er wusste natürlich, wie man das zuletzt eine Rede gehört, die Sie begeistert lieren könnte. ausspricht. Aber auf diese Weise zeigte er hat? SPIEGEL: Die Menschen sehnen sich also seinem Publikum, dass er keine Angst vor Collins: Das ist lange her. Es hat nicht nur zu Recht? ihnen hatte. Dass er sie nicht ernst nahm. damit zu tun, dass die Politiker schlecht Collins: Absolut. Führung ist mehr, als nur SPIEGEL: Einmal soll er sogar eine Rede sind, obwohl das eine Rolle spielt. Ich darüber zu klagen, wie kompliziert alles gehalten haben, ohne die Zigarre aus dem glaube, dass es heutzutage schwerer ist als ist. Andererseits: Angela Merkel ist 16 Jah- Mund zu nehmen. früher, eine große Rede zu halten, weil die re lang sehr gut ohne die große Rede aus- Collins: Weil er sich darüber ärgerte, dass großen Themen fehlen. Und wenn es gro- gekommen. er eine Rede wiederholen sollte. Am Nach- ße Themen gibt, hat ein Einzelner kaum SPIEGEL: Finden Sie? mittag hatte er im Unterhaus gesprochen, die Möglichkeit, etwas zu verändern. Neh- jetzt wollte die BBC die Rede fürs Radio men Sie die Einwanderung. Als Premier- aufnehmen. Wegen der Zigarre hörte es minister kann ich dazu die beste Rede mei- sich an, als wäre er betrunken. Aber er nes Lebens halten – meine Möglichkeiten war nüchtern, was selten genug vorkam. zu handeln sind beschränkt. Weil ich für SPIEGEL: Mal angenommen, Hitler hätte das meiste nicht zuständig bin. Ähnlich ist den Krieg gewonnen. Würden wir Chur- es mit dem Klimawandel. Politik machen chill dann immer noch für einen großarti- heißt heutzutage, wo alles mit allem zu- gen Redner halten? sammenhängt, Millionen kleine Entschei- Collins: Sicherlich nicht. Der Glanz dungen zu treffen. kommt zu einem großen Teil daher, dass SPIEGEL: Früher war das anders? Großbritannien auf der Seite der Sieger Collins: Oh ja! Benjamin Disraeli beispiels- stand. Man findet in der Anthologie gro- weise, der frühere Premierminister. 1872 ßer Reden wenige Verlierer. Geschichte redete er in Manchester über öffentliche wird von den Siegern geschrieben. Gesundheit, über Cholera und andere an- SPIEGEL: Ob eine Rede als »groß« in die steckende Krankheiten, über Slums, über Geschichte eingeht, ist oft Glückssache. die Wohnungsnot. Er tat es, weil die Re- Als der damalige US-Präsident John F. gierung damals die Möglichkeit hatte, Din- Kennedy in einer berühmten Rede das ge zu ändern, Wohnungen zu bauen oder Mondprojekt ankündigte, wusste er, dass
eine Kanalisation. Heute sind alle anste- MICHA THEINER / DER SPIEGEL die Mission auch scheitern könnte. ckenden Krankheiten besiegt. Was wir ha- Kolumnist Collins Collins: Tatsächlich gab es eine Rede für ben, sind chronische Krankheiten. »Rhetorik ist näher an Musik als an Poesie« den Fall, dass die Astronauten nicht zu- SPIEGEL: Aber es gibt doch genug große rückkehren. Eine der großen ungehaltenen Probleme, Ungleichheit zum Beispiel. Reden. Collins: Nehmen wir mal an, ich könnte Collins: Politisch auf jeden Fall. Das zeigt SPIEGEL: Kennedy wie auch Bill Clinton daran etwas ändern – es würde mich Jahre schon die reine Dauer ihrer Amtszeit. Man gelten bis heute als große Redner. kosten. Rhetorisch macht es einen großen kann ohnehin nicht sagen, dass große Collins: Clintons Problem war, dass es Unterschied, ob ich sage: Ich werde anste- Redner immer die besten Politiker sind. Amerika während seiner Präsidentschaft ckende Krankheiten ausrotten. Oder ob Winston Churchill zum Beispiel war ein wirtschaftlich gut ging. Ihm fehlte die Ge- ich sage: Ich werde die Ungleichheit in den fürchterlicher Politiker. Er lag in fast allem legenheit zur Größe. Glück, sagt Henry nächsten fünf Jahren geringfügig reduzieren. falsch, zeitweise war er regelrecht ge- de Montherlant, schreibt mit weißer Tinte SPIEGEL: Vielleicht waren Politiker damals fährlich. auf weiße Blätter. einfach mutiger als heute. SPIEGEL: Aber immer war ihm Rhetorik SPIEGEL: Macht es für einen Redenschrei- Collins: Und wenn ich mutig wäre? Was wichtig. ber einen Unterschied, ob er für eine gute müsste ich tun, um die Ungleichheit auf Collins: Er war besessen davon. Zu Beginn oder schlechte Sache arbeitet? der Welt zu beseitigen? seiner Karriere machte er große Worte Collins: Wer eine Rede schreibt, ist mög- SPIEGEL: Uns fielen Millionen Dinge ein … über kleine Dinge. Er trat bespielsweise licherweise davon überzeugt, einer guten Collins: Das bezweifle ich. Und selbst bei irgendeiner Nachwahl auf und sagte: Sache zu dienen. wenn Ihnen Millionen Dinge einfielen, »Nie zuvor in der Geschichte menschlicher SPIEGEL: War Hitler ein großer Redner? zeigt das doch nur, dass ich recht habe. Konflikte haben so viele Menschen in Old- Oder nur ein lauter? Was immer Sie machen: Sie landen bei der ham so ausreichend zu essen gehabt.« Collins: Seine Argumente waren lächer- Erledigung von Millionen kleinen Dingen. SPIEGEL: Eine Redefigur, die später bei lich. Kaum einen Gedanken brachte er zu ihm wieder auftauchte. Ende. Er widersprach sich ständig. Einfach Collins: Das Gespräch führten die Redakteure Hauke Goos 1940, praktisch über Nacht, war dumm. und Jörg Schindler in London. der Augenblick endlich groß genug für ihn. SPIEGEL: Trotzdem wurde er bejubelt.
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 63 Gesellschaft
Hitler um 1940 Churchill 1949 KPA / ZUMA KEYSTONE KPA INTERTOPICS / DDP INTERTOPICS
»Ich habe nichts anzubieten außer Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß.« Winston Churchill
Collins: Weil die Emotion, das Theatespek- kann den ganzen Rest ihrer Argumente dem, was die Menschen glauben, dann takel seiner Reden unglaublich waren. Das von diesem einen Satz herleiten. Das leis- sagt man, dass ihre Sicht falsch oder un- machte sie gewaltig und sehr wirkungsvoll. ten nicht viele Reden. vollständig ist. In einer Demokratie ist das Die Zuschauer waren eindeutig aufge- SPIEGEL: Das hinzukriegen ist die Aufga- Argument die Währung der Politik. peitscht. Man muss seine Reden hören, nicht be von Leuten wie Ihnen, oder? SPIEGEL: Martin Luther King war Predi- lesen. Wenn man sie liest, sind sie grotesk. Collins: Jawohl: einen Satz zu finden, der ger, Barack Obama hörte sich häufig an SPIEGEL: Muss der Redner Leidenschaft die Grundidee der Rede ausdrückt. Die wie ein Prediger. Als Obama Präsident für seine Sache haben? Oder reicht es, Lei- meisten berühmten Reden haben einen wurde, wollte plötzlich jeder reden kön- denschaft zu spielen? Leitsatz, der sie zusammenfasst. Chur- nen wie er. Collins: Ich glaube, das Publikum würde chills »Their finest hour«. Martin Luther Collins: Oh ja. Ich habe aufgehört zu zäh- den Unterschied erkennen. Der Redner Kings »I have a dream«. Kennedys »Ask len, wie viele britische Politiker mich ba- muss schon wahrhaftig sein. Und zwar auf not what your country can do for you«. ten, ich möge ihre Reden ein bisschen nach eine Weise, die die Menschen erhebt und Das ist kein Zufall. Obama klingen lassen. Jedes Mal sagte ich: zum Handeln bewegt. SPIEGEL: Weiß man als Redenschreiber, Lassen Sie mich all die Gründe aufzählen, SPIEGEL: War die britische Premierministe - welche Zeile sich einprägen wird? weshalb Sie nicht Obama sind. Obama hat- rin Margaret Thatcher eine große Rednerin? Collins: Mitunter findet man keine Zeile. te das Gewicht seines Amtes – das erlaubt Collins: Technisch nicht. Ihr Vortrag war Wenn man gut ist, weiß man’s, wenn man es, rhetorisch ein bisschen aufzudrehen. dürftig, gestelzt. Aber sie hatte etwas mit- eine hat. Manchmal allerdings wird eine SPIEGEL: Warum ist Obama als Redner so zuteilen. Sie kämpfte gegen eine kriselnde Zeile historisch, die gar nicht in der Rede gut? Wirtschaft. Und sie wusste sehr klar, was vorgesehen war. Collins: Einerseits wegen seiner persönli- sie wollte. SPIEGEL: Zum Beispiel? chen Geschichte – ein schwarzer Präsident SPIEGEL: Sie war gut zu verstehen, weil Collins: Martin Luther King wollte seine der Vereinigten Staaten. Andererseits weil sie so langsam redete. Rede in Washington eigentlich anders nen- er seine Reden praktisch singt. Seine Stim- Collins: Sehr langsam, sehr bedächtig, ein nen. Er hatte die Formulierung »I have a me ist großartig. Sein Vortrag hat Rhyth- wenig gönnerhaft; es war irritierend, ihr dream« schon so oft benutzt, dass seine mus; er kann relativ schmucklose Prosa in zuzuhören. Kein Rhythmus, kein Gefühl Leute sagten: Bitte nicht schon wieder. Er Musik verwandeln. Es gibt nicht viele Red- für Sprache. Ihre Reden klingen gelesen nannte die fertige Rede dann »A cancelled ner, die das können. besser als gesprochen, weil sie gut argu- check«, »Ein nicht eingelöster Scheck«. SPIEGEL: Man muss Reden also hören. mentiert. Sie ließ einen nie darüber im Kein Wort vom Traum. Collins: In seinem Fall: ja. Kings »I have Zweifel, was sie dachte. SPIEGEL: Wieso nahm er es am Ende rein? a dream«-Rede ist auch groß, wenn man SPIEGEL: Wie hat Ihnen die Rede gefallen, Collins: Die Gospelsängerin Mahalia Jack- sie nur liest. Obamas Reden klingen gele- die Greta Thunberg, die 16-jährige Schwe- son stand neben ihm auf dem Podium und sen oft professoral. Aber wenn er sie vor- din, in Davos gehalten hat? Die Zeile »Ich sagte: Erzähl ihnen von dem Traum! Also trägt, sind sie erhebend. will, dass ihr in Panik geratet«. improvisierte er. Außergewöhnlich. SPIEGEL: Er hat ein bemerkenswertes Collins: Technisch war das eine ziemlich SPIEGEL: King beschreibt in dieser Rede Gefühl für Timing. gute Rede. Die Tatsache, dass Sie sich an etwas, das es noch nicht gibt – er be- Collins: Und für Pausen. Seine Pausen diese Zeile erinnern; dass ich mich an diese schreibt es also, damit es kommt. sind besser als die Reden vieler anderer. Zeile erinnere, beweist das. Eine Weltsicht, Collins: Mutige Reden führen die Zuhörer Er hat die große Fähigkeit, einfach zu war- zusammengefasst in einem Satz. Man immer irgendwohin. Man beginnt mit ten. Als Zuhörer hat man trotzdem jeder-
64 King 1967 Kennedy 1962 MICHAEL OCHS ARCHIVES / GETTYMICHAEL OCHS ARCHIVES IMAGES AP
»Ich bin ein Berliner.« John F. Kennedy
zeit das Gefühl, dass er die vollkommene Collins: Rhetorik ist meiner Meinung nach schlüpfrig. Andererseits ist »authentisch« Kontrolle hat. Nie klingt es so, als hätte er näher an Musik als an Poesie. Ich zum Bei- nicht das richtige Wort. Es ist nicht zwin- vergessen, was er sagen wollte. Man hat spiel höre Musik, während ich schreibe. gend notwendig, authentisch zu sein. Hit- vielmehr den Eindruck, dass er absichtlich Aber nicht, um poetisch zu schreiben. Mir ler war authentisch, aber er war böse. Trump langsamer wird, damit wir über das Ge- geht es um den Rhythmus. Ich suche die ist authentisch. Ich wollte, er wäre es nicht. sagte kurz nachdenken können. Die meis- Musik in der Poesie. Wenn überhaupt, dann geht es darum, au- ten Redner sprechen zu schnell, wenn sie SPIEGEL: Damit eine Rede ihre Musikali- thentisch und moralisch integer zu sein. auf dem Podium stehen. tät entfalten kann, braucht sie Zeit. Ver- SPIEGEL: Hat Trump einen Redestil? SPIEGEL: Trotzdem sagen Sie, in seiner schwindet etwas, wenn Politiker ihre Bot- Collins: Er ist nicht besonders nachdenk- Familie sei er nur der zweitbeste Redner. schaften immer häufiger twittern? lich. Er redet einfach. Und er hat die selt- Collins: Ein Scherz. Aber Michelle Oba- Collins: Ich denke nicht. Die großen Dinge same Eigenart, dieselben Dinge wieder mas Rede auf dem Parteitag war fantas- werden immer noch in Reden beschrieben. und immer wieder zu sagen. Seine Rheto- tisch. Ein Satz, der sich sofort einprägt: Und die Soundbites und Einzeiler, die es rik ist sehr emotional. Auf gewisse Weise »When they go low, we go high.« Sie hatte braucht, damit man sich erinnert, lassen zu sehr. Ein Übermaß an Gefühlen, nicht dasselbe Team von Redenschreibern wie sich auch in einer Rede unterbringen. Als besonders gut ausgedrückt. ihr Mann. Sie sind sehr gut. Und sie arbei- Redenschreiber weiß ich, dass von einer SPIEGEL: Haben Sie seine Rede zur Amts- ten völlig anders als Redenschreiber an- halbstündigen Rede des Premierministers einführung gesehen? derswo. In den USA arbeitet ein ganzes 20 Sekunden in den Abendnachrichten Collins: Deprimierend. Alle Amtseinfüh- Team an einer Rede. So entsteht Wett- landen. Welche 20 Sekunden sind also die rungsreden sind im Grunde ähnlich: Nach bewerb. In Großbritannien bevorzugen wichtigsten? Schon beim Schreiben bemü- dem Wahlkampf, der notwendigerweise Politiker meist einen einzigen Schreiber. hen wir uns, den Inhalt der Rede aufs We- spaltet, bringen sie das Land wieder zu- SPIEGEL: Tony Blair hatte nur Sie? sentliche zu reduzieren. Trumps »Make sammen. Ein schöner Moment. Der Sieger Collins: Natürlich haben auch andere Vor- America great again« war eine Rede, be- lässt die Schärfe des Wahlkampfs hinter schläge gemacht, die Entwürfe gelesen, Kri- vor es ein Tweet wurde. sich und sagt: Von nun an bin ich der Prä- tik geübt. Aber ich war der einzige Schrei- SPIEGEL: Wie ist Trump als Redner? sident aller Amerikaner. ber. Blair hat selbst viel geschrieben, er war Collins: Eigenartig wirkungsvoll. Er ist im- SPIEGEL: Und Trump? erheblich beteiligt. So sollte es auch sein. merhin Präsident der Vereinigten Staaten. Collins: Tat nichts dergleichen. Er ver- SPIEGEL: Gibt es eine Rede, auf die Sie Und er hat Persönlichkeit. Er hat ein ent- stärkte das Trennende noch: Amerika ist besonders stolz sind? schiedenes Gefühl für seine Trumphaftig- bankrott. Amerikanische Politik funktio- Collins: Die letzte Parteitagsrede von keit. Als Redner ist er nicht langweilig. Er niert nicht. Eine Schande. Alles manipu- Blair. Wenn man sich die heute noch mal ist unterhaltsam. Interessant. Und er hat liert. Eine Verschwörung. In diesem Mo- anschaut, sieht man, dass es um die Glo- genug Eigenarten und Gesten, um paro- ment war klar: Er würde ein sehr entzwei- balisierung und ihre Opfer ging. Um die diert zu werden, das ist immer ein gutes ender Präsident sein. Ungleichheit, die sie verursacht. 2006! Es Zeichen. Theresa May ist sehr schwer SPIEGEL: Trump hält sich manchmal an ist Quatsch, so zu tun, als wäre diese Er- nachzumachen, weil sie so konturlos ist. das, was seine Leute ihm aufschreiben, kenntnis neu. Trump ist als Redner unterscheidbar. manchmal auch nicht. Wie war die Zusam- SPIEGEL: Muss man musikalisch sein, um SPIEGEL: Ist er authentisch? menarbeit zwischen Ihnen und Blair? eine gute Rede zu schreiben? Oder um gut Collins: Definitiv. Auch sein Verhältnis zur Collins: Eng und partnerschaftlich. Der zu reden? Wahrheit ist authentisch – wenn auch ganze Prozess dauerte meistens etwa zwei
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 65 Gesellschaft
Thatcher 1987 Reagan 1987 DAVE CAULKIN / AP CAULKIN DAVE AP
»Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor!« Ronald Reagan
Wochen. Ein erstes Meeting mit ein paar Collins: Wenn er sprach, klang es, als wür- SPIEGEL: Reden müssen komplexe Sach- Leuten; eine Diskussion über die große de er plaudern. Sehr bemerkenswert. Eher verhalte vereinfachen. Die Linie zwischen Linie; ein erster Plan. Die Hauptarbeit unrhetorisch im herkömmlichen Sinn, Vereinfachung und Lüge ist häufig sehr geschah dann in den zwei Tagen vor der aber sehr wirkungsvoll. fein. Rede. Normalerweise schrieb ich den SPIEGEL: Jedenfalls hat er seine Gelegen- Collins: Richtig. Andererseits ist es in einer Hauptteil einer Rede, während er den An- heit zur Größe genutzt. wachsamen Demokratie praktisch unmög- fang und das Ende übernahm. Am Morgen Collins: Es war Kalter Krieg. Und Reagan lich zu lügen. Es ist eindeutig möglich, die der Rede kamen wir noch einmal zusam- stand vor dem Brandenburger Tor und sag- Wahrheit auszuschmücken. Oder zu um- men, er und ich, gingen das Ganze durch te: »Tear down this wall« – das bedeutete gehen. Oder zu unterdrücken. Aber mit und schauten, dass die Teile zusammen- schon etwas. Es war aber nur bedeutungs- einer Lüge durchzukommen, wenn so vie- passten. voll, weil sein sowjetischer Gegenspieler le Menschen zuhören, ist sehr schwer. SPIEGEL: Was macht der Redenschreiber, Michail Gorbatschow die Möglichkeit an- SPIEGEL: Was heißt das in der Praxis? wenn der Politiker die Rede hält? gedeutet hatte, dass die Mauer geöffnet Collins: Als ich für Blair arbeitete, hatten Collins: Irgendwo sitzen und bangen. Tat- werden könnte. Die Worte hatten Kraft, wir ein ganzes Team von Faktencheckern. sächlich hört man dann all die Formu- weil ein Amerikaner sie sprach. Die meisten Fakten bekamen wir von Re- lierungen, die nicht funktionieren. Sätze, SPIEGEL: Gefühl für den Augenblick also. gierungsbehörden. Also gab es eine zweite, die zu lang sind. Wo der Rhythmus nicht Collins: Wobei dieser berühmte Satz gar unabhängige Gruppe von Leuten, die alles stimmt. Man leidet. nicht im Manuskript sein sollte. Sein Re- noch mal überprüfte, sobald das geschrie- SPIEGEL: Haben Schreiber und Redner im- denschreiber hatte den Satz geschrieben, bene Manuskript vorlag. Denn wenn nur mer ein partnerschaftliches Verhältnis? dann war er aber wieder gestrichen wor- eine Sache nicht gestimmt hätte, hätte die Collins: Unterschiedlich. Kennedy und den. Colin Powell, der kurz darauf Reagans ganze Rede nicht gestimmt. Und der Feh- sein Redenschreiber Ted Sorensen bei- Sicherheitsberater wurde, hatte abgeraten, ler wäre das Einzige, woran sich die Leute spielsweise hatten ein Verhältnis auf Au- ebenso George Shultz, sein Außenminister. erinnert hätten. genhöhe; Kennedy schrieb selbst mit, kri- Reagan fuhr dann mit seinem Redenschrei- SPIEGEL: Aber Trump lügt, oft mehrmals tisierte viel. Ronald Reagan war anders. ber Peter Robinson zum Brandenburger am Tag, ohne dass daraus etwas folgt. Er war beteiligt, aber er trug so gut wie Tor. Und sagte im Auto einfach: »I think Collins: Trotzdem denke ich, dass Wahr- nichts bei. Er war der Schauspieler, der am I’m going to say it.« heit wichtig ist. Ich weiß, dass Trump ein Ende ablieferte. SPIEGEL: Populisten beklagen, dass man unfassbar lockeres Verhältnis zur Wahr- SPIEGEL: Die Menschen glaubten ihm, heute nicht mehr sagen dürfe, was man heit hat. Am Ende aber wird ihn die Wahr- was er sagte. denke. Es gebe keine Redefreiheit mehr. heit einholen. Collins: Seltsamerweise ja. Es ist nicht Ist da was dran? SPIEGEL: Herr Collins, wir danken Ihnen ganz ungefährlich: Das Risiko liegt darin, Collins: Ich kann damit nichts anfangen. für dieses Gespräch. dass der Redner ohne Überzeugung Ich habe nicht das Gefühl, dass es Dinge spricht. Jemand anders hat die Worte ge- gibt, die ich nicht sagen darf. Abgesehen schrieben, die er vorträgt; wenn man nicht von jenen Dingen, von denen ich froh bin, Videoanalyse Das Obama- sehr begabt ist, geht da viel verloren. Nicht dass man sie nicht sagen darf. Vieles von Prinzip so bei Reagan. Er war in der Lage, sich dem, was wir Political Correctness nennen, spiegel.de/sp232019rede den Text zu eigen zu machen. ist doch nichts anderes als Höflichkeit und oder in der App DER SPIEGEL SPIEGEL: Worin lag seine Wirkung? gute Umgangsformen.
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erklärte es mir wie eine Geschlechtsumwandlung. Ich beglei- tete ihn vor vielen Jahren zu einem letzten Saisonspiel. Da- Andere Liga mals spielte Union in der dritten Liga. Wir sind noch nicht so weit, sagte mein Freund. Es war ein Kackspiel, aber alle Leitkultur Alexander Osang über die historische schienen glücklich. Ein alter Berliner Reporterkollege schrieb mir gelegentlich Köpenicker Spielberichte nach New York, Mission des 1. FC Union Berlin als ich dort lebte. Mein Freund Carsten schickte mir Bilder vom Weihnachtssingen, mein Freund Robert nahm mich mit zu Spielen, wenn sein Sohn nicht konnte. Als das neue Sta- ergangene Woche saß ich auf einem Stein in der jorda- dion eingeweiht wurde, das Union-Fans mitaufgebaut hatten, V nischen Wüste und sah in den roten Abendhimmel. In lud mich ein Kollege aus dem Westen ein, die Eröffnung an- meinem Rücken betete ein Beduine namens Suleiman, zusehen. Er schien mir etwas beweisen zu wollen. Wowereit der uns auf den Berg geführt hatte, um uns die Stille zu zeigen. war da, Gysi und Maschine von den Puhdys. Auf einem Stein neben mir saß mein Sohn. Es war wirklich Das letzte Mal war ich im Herbst mit meinem Kumpel Step unglaublich still. Nur das Feuer, auf dem Suleiman süßen Tee dort, mit dem ich einst Pumpenschlosser gelernt habe. Step kochte, mit dem er gleich sein Fasten brechen würde, knis- folgte nach dem Mauerfall der Arbeit in den Westen. Manch- terte ein wenig. mal kommt er nach Hause, um seine Eltern zu besuchen und Mein Sohn beugte sich zu mir herüber und fragte leise: »Wann ein Spiel. Wir sahen ein fürchterliches Gewürge gegen einen fängt eigentlich das Spiel an?« Er meinte das erste Relegations - Gegner, den ich vergessen habe. Am Ausgang traf ich einen spiel der Fußballbundesliga, Stuttgart gegen Union Berlin. der besten konservativen Zeitungskommentatoren, die ich Der Junge wurde in Köpenick geboren, ist aber in New kenne. Er stammt aus Frankfurt am Main, trug einen Union- York groß geworden, hat in Großbritannien Psychologie Schal und wirkte so glücklich wie die anderen. studiert und eine Freundin aus London. Ich hatte gedacht, Sie holten ein 2:2 in Stuttgart. Dann ging der Mond auf dass die Ost-Berliner Gene ausgewaschen sind. Aber etwas über der jordanischen Wüste und löschte den Sternenhimmel. hat überlebt. Mein Sohn schien zufrieden. Ich sah in den großen Mond Wir waren für ein paar und fragte mich, ob er mich Tage nach Jordanien gefahren. irgendwann auch schlucken Meine Frau, mein Sohn, seine würde. Der Aufstieg des 1. FC Freundin und ich. Rotes Meer, Union schien so zwangsläufig Weltwunder in Petra und so wie früher die historische Mis- weiter. Diese Nacht schliefen sion der Arbeiterklasse. wir in einem Beduinenlager Der Junge erlebte das zwei- in der Wüste. Es war eine te Relegationsspiel in Berlin, Art Achtsamkeitscamp. Keine ich sah es mit meiner Frau auf Plastikflaschen, keine Steck - dem Sofa in Tel Aviv. Meine dosen, kein Alkohol, kein Niko - Frau nimmt Fußball normaler- tin, und die Handybenutzung weise nur alle vier Jahre wahr, außerhalb der Zimmer war wenn Weltmeisterschaft ist. ver boten. Das Abendessen war Aber das hier war Union. Sie vegan. Wir aßen bei Kerzen- war mal als Kind An der Alten schein und tranken Wasser. Försterei und brachte später Anschließend kletterten wir ihren Opa noch im Rollstuhl
aufs Dach der Unterkunft und / DER SPIEGEL ALEXANDER OSANG zum Stadion. Sie zeigen im ließen uns von einem Beduinen Feiernde nach Union-Sieg (im israelischen Fernsehen) israelischen Fernsehen Fuß- die Sterne erklären. Ich dachte ballspiele aus allen europäi- an den 1. FC Union Berlin und schen Ligen, auch die zweite fühlte mich sehr allein im Universum. Selbst die Freundin mei- Bundesliga. Die meisten Reporter haben, glaube ich, keine nes Sohnes ist schon mal im Stadion gewesen. Sie ist Anthro- Ahnung von Fußball, wollen aber auch dazugehören. Wie pologin, hat aber auch keine Erklärung dafür, was dort passiert. ich. Es war ein Gewürge wie immer, aber mit hebräischem Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, hat mich mein Vater Kommentar. Als am Ende rot gekleidete Menschen das mit zu einem Union-Spiel genommen. Nick Hornby hat ein Spielfeld stürmten, Menschen mit Gesichtern, in denen solcher Fußballnachmittag mit seinem Vater zum lebenslan- sich Glück und Entbehrung mischten, hatte ich kurz das gen Arsenal-Fan gemacht. Bei mir passierte nichts. Gefühl aufzusteigen. Ich bin kein Union-Fan, müsste aber einer sein. Ich bin Es war schnell vorbei. Am nächsten Tag sah ich in der Arbeiter, ich komme aus Ost-Berlin, ich mag den BFC Dyna- »Tagesschau« einen Bericht über die Berliner Nacht, der mo nicht und Hertha BSC schon gar nicht. Alle Menschen in klang, als wäre der Aufstieg Unions ein Event zum 30-jähri- meiner Nähe sind Union-Fans. Nina Hagen singt die Hymne. gen Mauerfalljubiläum. Der »Kultklub« sei in der Bundesliga Wenn ich ihre Stimme höre, zieht mein Leben an mir vorbei. angekommen. Spätestens wenn man in der »Tageschau« Kult Ost-Berlin, Sex, New York und das Weltall. genannt wird, ist es vorbei mit dem Kult. Union, hieß es, sei Ich war in keinem Fußballstadion so oft wie An der Alten ein »Schmuddelkind« des DDR-Fußballs gewesen, von Funk- Försterei. Meine Freunde nahmen mich mit, weil sie davon tionären gehasst, aber bei Arbeitern und Bauern beliebt. Bei ausgingen, dass ich fühlte wie sie. Es ist nicht nur so, dass die Bauern? Klar, auch bei Bauern. Bauern aus Oberschöneweide. Westler denken, die Ostler seien alle gleich. Die Ostler den- Die Sprecherin Linda Zervakis kommentierte die Meldung ken es auch. Wir sind sinnlicher, wütender, scheuer, stiller. mit einem Lächeln, als würde sie gleich ein Union-Hütchen Wir sagen Kaufhalle, supi, Plaste und lieben Union. aufsetzen und in die Nacht tanzen. Ich habe einen guten Kollegen, der etwa zehn Jahre nach Union gilt als anderer Fußballklub. Wenn aber alle anders dem Mauerfall vom BFC Dynamo zu Union wechselte. Er sind, fragt man sich irgendwann: anders als wer eigentlich? I
DER SPIEGEL Nr. 23 / 1. 6. 2019 67 Wirtschaft
»Die Tagelöhner sind die Unsichtbaren, die in keiner Statistik auftauchen.« ‣S.74
Kraftwerk Datteln ZIESE / BLICKWINKEL / IMAGO ZIESE / BLICKWINKEL
Kohleausstieg Großkraftwerk Datteln soll ans Netz Wirtschaftsministerium spielt Inbetriebnahme durch, um ältere Meiler schnell schließen zu können.