BAUFORSCHUNG

Gottfried Gruben: Klassische Bauforschung

Das Forschungsgebiet Die „Bauforschung“ behandelt alles, was mit dem Bauen zu tun hat. Die technische Bauforschung, eine junge, erst nach 1945 gegründete Disziplin, untersucht heutige Baumethoden und -materialien. Die histo- rische Bauforschung versucht das ganze Spektrum des menschlichen Bauens, von der prähistorischen Hütte bis zum gegenwärtigen Hochhaus, vom Lehmziegel bis zur Stadtanlage, zu erforschen.1

Das weite Feld der historischen Bauforschung umfaßt die Entdeckung (zum Beispiel durch Ausgrabung), die Dokumentation (zeichnerische Aufnahme, Foto, Modell, Beschreibung), die zeichnerische Rekon- struktion, die Konservierung und Restaurierung (Denkmalpflege), die Wiederaufrichtung (Anastilosis), die materielle Rekonstruktion sowie die Einordnung und das Verständnis im kulturellen Kontext (tech- nisch, funktional, ästhetisch, historisch, religiös). Die Klassische oder Archäologische Bauforschung be- schränkt sich zwar (gemeinsam mit der Klassischen Archäologie) auf ein Teilgebiet der Geschichte, die griechisch-römische Antike, ist aber historisch und methodologisch die „Mutter“ der Bauforschung seit dem 15. Jahrhundert.

Der hier umrissene Katalog von praktischen und theoretischen Aufgaben bildet das Arbeitsgebiet von Ar- chitekten, die Vermessung und Darstellung räumlicher Gebilde ebenso wie Konstruktion und Entwerfen beherrschen, die solide praktische Erfahrungen und, nicht zuletzt, eine breite historische Bildung besitzen. Fügen wir die conditio sine qua non hinzu: zeichnerisches Talent, Kombinationsfähigkeit, Formenge- dächtnis, schöpferische Phantasie verbunden mit pragmatischer Rationalität. Die Berufswahl ergibt sich meist aus Erlebnissen im Studium oder beruht auf romantischen Illusionen. Wenn daraus eine „Berufung“ wird, die vom Gegenüber, der antiken Architektur ausgeht, dann ist der weitere Weg auch über Hinder- nisse hinweg vorgezeichnet.

Die Bauwerke einer Epoche sind als historische und künstlerische Zeugnisse wahrhaft „umfassend“: als urbaner Lebensbereich der Gesellschaft, als Schale vergangenen Lebens, als monumentaler Ausdruck ei- ner Kultur, als Gehäuse des Glaubens. Sie für unsere Gegenwart zu gewinnen und zu erhalten, ist eine bedeutende Aufgabe. Die „klassische“ Antike nimmt dabei den ersten Rang ein, vornehmlich wegen ihrer radikal-einfachen Lösungen, der plastischen Gestalt der griechischen Tempel und der Raumschöpfungen der römischen Kunst.

Umreißen wir zunächst das Arbeitsfeld des Bauforschers. Es beginnt mit dem Handwerk. Eine Ruine oder ein Ausgrabungsbefund ist zunächst exakt aufzunehmen, in Steinplänen, Ansichten und Schnitten, welche auch Details, zum Beispiel Klammern, deutlich wiedergeben sollten, also im Maßstab 1:50 bis 1:20. Da- bei sind alle wichtigen Niveaus, und zwar Ober- und Unterkanten, einzutragen. Bauteile sind vollständig, das heißt von allen Seiten mit Winkelkontrolle und Werkspuren zu zeichnen (Maßstab 1:10 bis 1:1). Stei- ne, mit denen man zunächst nichts anfangen kann, sollten als „Rätsel“ besonders genau erfaßt werden. Bei der Vermessung sind Theodolit und Nivelliergerät für die Einrichtung eines Quadratnetzes und exak- ter Meßpunkte unerläßlich. Moderne „Zauberbesen“ wie die Photogrammetrie oder digitale Methoden der Vermessung und Darstellung (CAD) sparen zwar tatsächlich Zeit, haben aber einen Nachteil: Der Appa- rat denkt nicht. Der Architekt hingegen ist, wenn er nicht selbst nur mechanisch arbeitet, gezwungen, je- den Stein beim Zeichnen zu betrachten und zu beurteilen, um die Zusammenhänge zu verstehen. Ähnlich steht es mit Grabungsschnitten, deren Anfertigung oft dem Grabungsarchitekten übertragen wird: Erd- schichten, Gruben, Artefakte, Mauern klären sich beim (möglichst farbigen und naturalistischen) Zeich- nen, verbinden sich räumlich mit anderen Schnitten, erzählen „Geschichte“. Schnitte müssen dabei stets räumlich, gewissermaßen gläsern, gesehen werden, in dauerndem Gespräch mit dem Archäologen, der die Funde bearbeitet. Bei Bauwerken operiert der Architekt lieber mit gezielten Schnitten, vor allem quer zu Mauern (Aufschlüsse über Baugruben, Fußböden, Verschüttung, Zerstörung). Der Archäologe zieht die von Sir Mortimer Wheeler in Mesopotamien perfektionierte Flächengrabung in fixierten Quadraten vor.2 Ein Kompromiß kann die Vorteile beider Methoden vereinen. Stets ist dabei aber die Partnerschaft beider Seiten die Voraussetzung für das Gelingen. Eine Ausgrabung ist so heikel wie eine Operation. Wenn die Erde abgehoben ist, ohne ihre Informationen hergegeben zu haben, ist der Patient unwiederbringlich ver- loren. Beide Partner sollten in eigenen Tagebüchern jeden Schritt des Grabungsprozesses festhalten und diskutieren.

Die nächste Stufe ist die zeichnerische Rekonstruktion. Das bedeutet zunächst die Klärung aller Aussagen der Stratigraphie für das ergrabene Bauwerk (Datierung, Abfolge der Mauern, Reparaturen, Ausraubung, sogenannte „Geistermauern“,3 Zerstörung, Sturzlagen). Damit kommt man der Ergänzung lückenhafter Fundamente zum Grundriß vom Boden her näher. Von oben her erreicht man durch das Einpassen zuge- wiesener Bauglieder, zum Beispiel von Säulen oder Architraven, eine dreidimensionale Präzisierung des Bauwerks. Der Weg dorthin führt über ein räumliches Puzzle-Spiel, von dem die meisten Teile zerbro- chen oder verloren sind. Doch im Gegensatz zum zweidimensionalen Kinder-Puzzle wird das Spiel desto komplexer, je mehr Steine verfügbar sind. Beim Tempel von Sangri auf Naxos zum Beispiel waren 1600 meist fragmentarische Werkstücke, alle auf Karten aufgenommen, zusammenzufügen.4 Das Spiel hat zehn Sommer lang gedauert, erbrachte dafür aber eine lückenlos gesicherte Rekonstruktion. Verfügt man hingegen lediglich über wenige charakteristische Bauteile und einen Fundamentrest, ist schnell ein ganzer Bau zusammengezimmert, da das System nach Analogien anderer Beispiele einfach übernommen wird. Ebendieses Verfahren führt meist zu einer Kette von Zirkelschlüssen. So wurde der Eckakroter des Aphaia-Tempels von Aigina 1853 als Greif rekonstruiert, bis der Oberkörper einer Sphinx dazu gefunden wurde. Inzwischen war aber der Greif auf eine ganze Reihe von rekonstruierten Tempeln und an dieser Rekonstruktion orientierten klassizistischen Kulturbauten mit Greifen gewandert. Der bereits 1904 rekon- struierte -Tempel von Priene ist mittlerweile architekturgeschichtlich umrahmt von nach seinem Vorbild ergänzten „Verwandten“, die dank ihrer Anleihen an den Befund in Priene eine homogene Grup- pe vortäuschen. Daraus folgt ein leider oft verletzter Grundsatz, der bereits im 17. Jahrhundert von Antoi- ne Desgodetz vertreten wurde: Bei einer zeichnerischen Rekonstruktion sind in situ erhaltene Teile deut- lich von ergänzten zu unterscheiden.

Damit kommen wir zu der für den Architekten, der lieber zeichnet als schreibt, oft mühsamsten Aufgabe. Die Ergebnisse müssen vollständig und verständlich dokumentiert und erläutert werden, sonst war nicht nur die Arbeit umsonst, sondern es gehen die Erkenntnisse über die dem Verfall ausgesetzte Ruine verlo- ren. Pläne, Schnitte, Einzelaufnahmen müssen für den Druck meist in Tusche umgezeichnet werden, stets mit Maßstab, da sie in der Regel verkleinert werden. Fotos ergänzen die Darstellung. Isometrien und Per- spektiven, eventuell auch Modelle, tragen zur Anschaulichkeit bei, bergen aber die Gefahr, daß sie wie gesicherte Fakten in die Handbücher gelangen, auch wenn sie weitgehend hypothetisch sind. Der Text – Baubeschreibung, Katalog der Bauteile, Begründung der Rekonstruktion, baugeschichtliche Einordnung – sollte unbedingt von dem verantwortlichen Bearbeiter selbst geschrieben werden, wenn auch durchaus in partnerschaftlicher Arbeitsteilung mit dem beteiligten Archäologen.5 Das immer noch praktizierte „wort- lose“ Abliefern der Zeichnungen führt zu einer Verfremdung und Demontage der vom Architekten geleis- teten Arbeit.

Ein ausgegrabenes Areal muß selbstverständlich konserviert und denkmalpflegerisch gestaltet werden, wenn es nicht wieder zugeschüttet werden kann (was die radikalste und sicherste Konservierung dar- stellt). Dabei ist der Architekt unerläßlich. Verstreut gefundene Bauglieder können anschaulich an ihrem richtigen Ort aufgestellt oder zu „Architekturproben“ zusammengefügt werden. Auch die bewahrende Restaurierung noch stehender Bauwerke ist eine zwingende Verpflichtung. Man denke nur an den Parthe- non in Athen, wo Außerordentliches geleistet wird.

Ein umstrittenes Kapitel stellt die Anastilosis (Wiederaufrichtung) eines gestürzten Monumentes dar. Der Wunsch, ein Bauwerk möglichst in alter Form wiederherzustellen, ist zwar angesichts des Massentouris- mus und der öffentlichen Wirkung allzu verständlich, kann aber kein genuin wissenschaftliches Anliegen sein, da mit den stets unumgänglichen Ergänzungen die Authentizität der Ruine verloren geht.6 Die erste Anastilosis, die Wiedererrichtung des Nike-Tempels von 1836, ist so überzeugend gelungen, daß sie zweifelhaftere Versuche nach sich zog. Auch ist die Grenze zur Rekonstruktion, welche die Charta von Venedig ausdrücklich untersagt, fließend. In jedem Fall muß der Bauforscher, dem eine Anastilosis ange- tragen wird, das Pro und Kontra gewissenhaft abwägen.

Ein Gebiet, in dem sich die Kompetenzen des Bauforschers und die des Archäologen oder auch des Kunsthistorikers überlagern, bildet die Architekturgeschichte. Hier geht es um die übergreifende Darstel- lung der Architektur von Epochen oder Landschaften, um die typologische Gruppierung von Bauten, um Bauplastik und -ornament, um stilistische und ästhetische Entwicklungen, um schriftliche Zeugnisse – um Gebiete also, die dem geistesgeschichtlich orientierten Archäologen oft zugänglicher sind als dem Archi- tekten. Grundlegende Analysen und Zusammenfassungen zu diesen Themen haben deshalb auch Archäo- logen beigetragen, und oft zugleich Schulen von Architekturhistorikern begründet.7 Hier führt ein dialek- tischer Agon zwischen den beiden Disziplinen, welche den gemeinsamen Gegenstand von verschiedenen Standpunkten aus betrachten, zu einem komplementären, allseitigen Bild. Allerdings muß der Architekt, der die Technische Universität und seine praktischen Lehrjahre absolviert hat, im geistesgeschichtlichen Selbststudium einiges nachholen. Gerade dies aber wird durch den ständigen Umgang mit historischer Baukunst angeregt und bildet wiederum die Grundlage für die Lehre, die den erfahrenen Bauforscher für die Ausbildung von jungen Architekten in den Fächern Baugeschichte, Bauaufnehmen und Denkmalpfle- ge an einer Hochschule qualifiziert, womit sich der Kreis schließt.

Die Stationen der in Deutschland üblichen Ausbildung eines Archäologischen Bauforschers seien kurz markiert: Studium an einer Architekturfakultät mit Promotionsrecht, Betonung einschlägiger Fächer, in den Semesterferien möglichst Teilnahme an Grabungen als Praktikant. Nach einem guten Diplom Assis- tenz an einem Lehrstuhl mit eigenem Forschungsthema oder Teilnahme an einer größeren Grabung und einem ausbaufähigen Projekt, vielleicht mit einer kleineren Untersuchung als erster Veröffentlichung. Das einjährige Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts ist als ungebundene Studienreise ge- rade für den Bauforscher, der mehr von den Denkmälern als aus Büchern lernt, unentbehrlich. Nach der Promotion – meist im Rahmen eines Forschungsprojekts – eröffnet sich dem Bauforscher, der Gelegen- heit hat, in seinem Feld weiterzuarbeiten, ein großes Feld, da sein Thema ja das Bauen ist, so weit und so- lange Menschen auf der Erde gebaut haben – vom Neolithikum bis zur Gegenwart. In der Realität ist je- doch eine Spezialisierung unumgänglich, die sich nach Neigungen, Vorarbeiten und den oft schwierigen Berufschancen richten muß.

Zur Geschichte der Bauforschung

Die Wiedergeburt der Antike und die Suche nach Vorbildern Eine Geschichte der Baugeschichte ist bisher nicht vorgelegt worden.8 Ihre Vertreter sind zu pragmatisch mit ihren Objekten beschäftigt, um über ihr Tun und dessen historische Wurzeln zu reflektieren. Ich kann hier nur einige Mosaiksteine beitragen, die der Leser sich zum Bild ergänzen möge. Dabei steht Griechen- land, mein Arbeitsgebiet, im Vordergrund.

Unser Ahnherr heißt Vitruv. Er schrieb ein dem römischen Kaiser Augustus gewidmetes Lehrbuch De ar- chitectura, das praktische Anweisungen zum Bauen mit geschichtlichen Grundlagen verbindet, die bis in die archaische Zeit zurückreichen. Leider sind die zugehörigen Zeichnungen nicht erhalten. Vitruvs Ent- wicklungstheorien über die dorische und ionische Ordnung sind heute noch so aktuell und umstritten wie vor zwei Jahrtausenden. Das Mittelalter kannte Anweisungen für das richtige Entwerfen und Bauen zum Beispiel in Form von Hüttenbüchern, doch fehlte die historische Dimension.

Ein neuer Anstoß zur „Baugeschichte“ erfolgte erst im 15. Jahrhundert durch das erwachende Interesse der Renaissance an antiken Vorbildern und Texten. Damit fiel 1414 die Entdeckung eines vollständigen Exemplars der Schrift Vitruvs zusammen, die sofort zur „Bibel“ der Architekten erhoben wurde. Fra Gio- condo illustrierte 1513 den schwer verständlichen Text, nach ihm im Jahr 1556 Andrea Palladio. Diese Zeichnungen sind schöpferische Rekonstruktionen. Der Architekt Filarete projektierte nach 1451 eine ldealstadt für die Herzöge von Mailand in Anlehnung an Vitruv. Leon Battista Alberti begann antike Bau- ten zu studieren und gab 1452 einen kritisch überprüften „Gegen-Vitruv“ heraus. Er verwendete und ver- wandelte antike Bauten und Proportionen für seine eigenen „modernen“ – der Ausdruck kam damals auf – Entwürfe, so zum Beispiel die Maxentius-Basilika in Rom, die als Tempel des Friedens galt für Sant Andrea in Mantua. In Rom und Umgebung setzte ein eifriges Antikenstudium der namhaften Architekten ein. Die erhaltenen Skizzen und Bauaufnahmen sind heute eine unentbehrliche Quelle für die Erforschung seitdem verschwundener Denkmäler. Raffael wurde 1514 vom Papst zum Baumeister der Peterskirche und 1515 zum Denkmalpfleger von Rom ernannt und gab ein vorbildliches Memorandum zum Schutz und zur fachgerechten Aufnahme (mit Grundriß und Aufriß!) der antiken Ruinen heraus,9 ein Vorbild, das später allerdings kaum befolgt wurde. Zur gleichen Zeit fing man auf der Suche nach Statuen an aus- zugraben. Die in der verschütteten römischen Prachtvilla des Nero, den grotte, entdeckten Wanddekorati- onen wurden gezeichnet und gingen als „Grottesken“ in das Ornament-Repertoire ein.

Hier wären viele berühmte Namen von forschenden Architekten zu nennen, für die nur einer stehen soll: Andrea Palladio. Schon sein Name – nach Pallas Athene – bezeichnet ein Programm, noch mehr seine Bauwerke, welche vornehmlich die klassisch geprägten römischen Monumente in reinen und strengen Formen weiterführten. Für die Zukunft bestimmend blieb aber sein Hauptwerk, I quattro libri dell’architettura von 1570, in dem er fünfundzwanzig römische Bauwerke, ergänzt mit Grundriß, An- sicht, Schnitt und Details, sorgfältig vermaßt und kommentiert vorführt. Ebenso stellt er die Säulenord- nungen und seine eigenen Werke dar. Diese „Bauforschung“ und Dokumentation, die einige seitdem gänzlich verlorene Monumente überlieferte, hat sich über Europa verbreitet; Architektur-Traktate trans- portierten die „moderne“ Renaissance-Architektur und setzten zugleich Maßstäbe für die strenge Darstel- lung von Gebäuden. Mit dem Manierismus und Frühbarock ließ der unmittelbare Forschungsdrang nach, weil sich die eigene Bauästhetik von den antiken Vorbildern emanzipiert hatte.

Im 17. Jahrhundert kam dann ein neuer Anstoß aus Frankreich. Die von Ludwig XIV. im Jahr 1671 ge- gründete Académie Royale d’Architecture (seit 1795 École des Beaux-Arts) sandte 1678 den Architekten Antoine Desgodetz mit dem Auftrag nach Rom, die wichtigsten antiken Bauwerke aufzunehmen. Das mit unbegreiflicher Arbeitskraft in zwei Jahren vermessene und gezeichnete Resultat erschien 1682 als Folio- Band in Paris: Édifices antiques de Rome. Mesurés très exactement mit Aufnahmen von vierundzwanzig Monumenten in bis heute kaum erreichter Exaktheit und Anschaulichkeit. Die Publikation war der Vor- läufer einer neuen Romwelle. Seit der Gründung der Académie de France à Rome (1633) und der Verlei- hung des Grand Prix de Rome mit einem vierjährigen Stipendium in der Villa Medici vollendeten die be- gabtesten Architekten Frankreichs ihre Ausbildung mit einer prachtvollen antikischen Rekonstruktion, die allerdings oft eher einen Phantasie-Entwurf darstellte. Die Italiener Giovanni Battista Piranesi und Gio- vanni Paolo Panini standen als Zeichenlehrer in Verbindung mit den Stipendiaten, was zu wechselseitigen Eskalationen der Phantasie antrieb. Diese Praxis führte einerseits zu perfekten Bauaufnahmen, zum Bei- spiel der Trajanssäule, andererseits zu den architektonischen Alpträumen der Carceri Piranesis und zu den erdrückenden, erratischen Visionen von Claude-Nicolas Ledoux und Etienne-Luis Boullée im Vor- feld der französischen Revolution.

Im 18. Jahrhundert trat auch die griechische Architektur ins Blickfeld. 1750 erlebte Jacques-Germain Soufflot, der spätere Hofarchitekt Ludwigs XV. und Erbauer des Panthéon in Paris, die Tempel von Paestum, die einen überwältigenden Eindruck auf ihn machten. Die alsbald folgenden Publikationen wur- den aber weit übertroffen von Piranesis. Darstellungen (1778). In Paris wurden nun wuchtige dorische Säulen Mode.

Eine breitere europäische Wirkung ging von Johann Joachim Winckelmann aus. Auch er stand 1758 vor den drei Tempeln von Paestum, kam allerdings über eine genaue, doch trockene Beschreibung nicht hin- aus.10 Aber Winckelmann öffnete mit seiner sensitiven, genau unterscheidenden Beschreibung der in Rom angehäuften Kunstwerke erstmals den Blick auf die Grundlage der griechischen Klassik. Mit seiner epo- chalen Geschichte der Kunst des Altertums von 1764 begründete er die vergleichende Betrachtung und auch das Modell einer kontinuierlichen Entwicklung der Kunst. In Europa begann der strenge, ruhige Stil des Klassizismus. Die jungen Architekten des Prix de Rome wandten sich nun auch den Tempeln in Süd- italien und Sizilien, seit 1845 denen in Griechenland zu. Die Farbigkeit der Bauten wurde entdeckt und diskutiert (Carl Haller von Hallerstein, Jakob Ignaz Hittorff, Leo von Klenze, Gottfried Semper), stilisti- sche Wandlungen von Bauformen und Ornamenten wurden – nach dem Beispiel Winckelmanns – vergli- chen und zugeordnet. Je mehr aber die anspruchsvolle wissenschaftliche Erfassung der Monumente zu- nahm, desto weiter entfernten sich diese Aufgaben vom gleichzeitigen Berufsbild der Architekten.

Nach ihrem außerordentlichen Anlauf zur Bearbeitung der Antike verschrieb sich die französische Bau- forschung – weiterhin in unlösbarer Verbindung mit dem aktiven Bauen – der historischen Vielfalt, be- ginnend mit Napoleons von einem wissenschaftlichen Stab begleiteten Feldzug nach Ägypten, über Em- pire, Neugotik und Neorenaissance zum Historismus. Der eigene Zeitstil lief den antikischen Grundlagen gewissermaßen davon. Dabei haben drei Architekturforscher durch ihr enzyklopädisches Wissen überra- gendes geleistet: Eugène-Emmanuel Viollet-le-Duc sowie Georges Perrot und Charles Chipiez.11 Es ist die große Zeit der Restaurierung der durch die Revolution beschädigten gotischen Kirchen. Der Prix de Rome wurde weiterhin verliehen und damit die elitäre Schulung an antiker Architektur weitergeführt, nur daß nun die „modernen“ Meisterwerke der Renaissance aus dem Schatten traten; sie fanden in Paul Marie Letarouille ihren meisterhaften Darsteller.12

Der Prix de Rome, sicher die großzügigste Ausbildungsförderung für Architekten, bestand bis in das 20. Jahrhundert (1968), als seine stilbildende Aufgabe schon längst überholt war. Henri Labrouste, Stipendiat in Rom von 1824 bis 1830, beschäftigte sich mit den Tempeln von Paestum und ihrer Polychromie. Acht Jahre später errichtete er in Paris seine beiden Bibliotheken – Meis- terwerke der frühen Eisenkonstruktion. 1870 erklärte Charles Garnier, der Erbauer der Pariser Oper, die archäologische Baufor- schung und die Archäologie seien Wissenschaften, die man den „trockenen Früchten“, den fruits secs, überlassen solle. Und J. Guadet deklarierte 1882 die Archäologie sogar zum Feind des schöpferischen Architekten: L’archéologie, voilà l’ennemi. Tony Garnier erhielt 1899 den Prix de Rome und erarbeitete während seines Stipendiums seine Cité industrielle, ein Pionierwerk der Moderne. Da tat sich eine Kluft zwischen Archäologen und Architekten auf, die sich bis heute nicht geschlossen hat.

Italien, die Heimat der „Wiedergeburt der Antike“, wurde im 18. Jahrhundert die Heimat der Architektur- vedute, welche die objektive Darstellung fast völlig verdrängte. Die englischen noblemen, die ihre Grand Tour absolvierten, bildeten eine reiche Kundschaft. Der geniale, vom „Fieber der Erfindungen“ umgetrie- bene Giovanni Battista Piranesi13 überragte die ganze tüchtige Stecherzunft. Seine verzauberten vibrie- renden Veduten halten ein „Über-Rom“ fest. Als Wissenschaftler versuchte er, die Überlegenheit der heimischen römischen und etruskischen Architektur über die griechische zu beweisen. Er untersuchte technische Geräte und erforschte zum Beispiel den 2 km langen unterirdischen Abfluß des Averner Sees. Sein Sohn Francesco setzte sein Werk bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts fort, vor allem mit der Voll- endung der Stiche der Tempel von Paestum, die den Blick auf griechische Architektur eröffneten, und durch die bis heute vollständigste und genaueste Bauaufnahme des Pantheon in Rom – ein exemplari- sches Werk, in dem er verschiedene Bauperioden nachzuweisen suchte. Dennoch, die Herrschaft der Ve- dute, heute abgelöst durch Fotoapparat und Postkarte, blieb auch im 19. Jahrhundert ungebrochen und hat wohl die weitere Entwicklung der maßstäblichen, objektiven Bauaufnahme, welche die Voraussetzung für jede Erforschung ist, bis in unser Jahrhundert behindert.14

England entwickelte im 17. und 18. Jahrhundert durch die begeisterte Aufnahme Palladios fast eine Ar- chitekturreligion der antikischen Klarheit. Inigo Jones und Christopher Wren begründeten einen strengen, klassischen Barock. Colin Cambell ging bis zu genauen Nachbauten, zum Beispiel der Rotunda von Pal- ladio. Der bauende und der forschende Architekt vereinten sich in England stets in derselben Person. Das stellt eindrucksvoll das Londoner Wohnhaus von John Soane, heute Museum, vor Augen. Soane hielt be- reits Vorlesungen an der Royal Academy. Aus der eigentümlichen Verbindung von Praxis und Theorie ergab sich der Ruf nach der Erforschung bisher unbekannter Ruinen. Unterstützt durch die Möglichkeiten des britischen Empire, erforschten und publizierten Robert Wood und James Dawkins Palmyra (1753) und Baalbek (1757); diese unerhörten hellenistisch-römischen Großbauten erschlossen eine neue histori- sche Perspektive. 1764 folgte die meisterhafte Untersuchung und Darstellung von Robert Adam – einem der stilbildenden Architekten seiner Zeit – über den Palast des Kaisers Diokletian in Spalato (Split). Schon 1732 hatte sich die Society of Dilletanti konstituiert, eine Gesellschaft wohlhabender Kunstliebha- ber und Amateur-Architekten, die historische Forschungen unterstützte. Mit ihrer Förderung reisten die Architekten James Stuart und Nicholas Revett 1751 in das damals türkische Athen,15 um in dreijähriger Arbeit die Denkmäler der halbvergessenen Provinzstadt in dem von Antoine Desgodetz gesetzten Stan- dard aufzunehmen. Ihr 1762 erschienenes Werk The Antiquities of , eine Inkunabel der Baufor- schung, gab endlich den Blick frei auf die Baukunst der griechischen Klassik, die schon Palladio hinter den römischen Tempelfassaden gesucht hatte.16 Das Werk wurde mit weiteren Mitarbeitern, darunter spä- ter berühmten Baumeistern, fortgesetzt. Bis 1815 erschienen fünf Bände der Antiquities of Ionia , ein grundlegendes Corpus der ionischen Architektur. Diese Vorbilder gaben der europäischen Baukunst eine andere Richtung: zum griechischen Klassizismus. Weiterhin studierten und erforschten englische Bau- meister griechische Monumente und verarbeiteten ihre Erfahrungen in eigenen Werken, so Charles Ro- bert Cockerell (1811-14 in Griechenland), William Wilkins, Sir Robert Smirke (der Erbauer des Briti- schen Museums), John P. Gandi, Henry William Inwood und andere.17 Der englische Ingenieur-Offizier William Martin Leake begründete mit seiner Topography of Athens 1821 die archäologische Topogra- phie. Als 1821 der griechische Befreiungskrieg losbrach, wurde die Erhebung von Engländern, voran Lord Byron, unterstützt – von Engländern, die vorher Teile der Parthenon-Plastik, eine Kore und eine Säule des Erechtheion aus Athen sowie den Fries des Apollontempels aus Phigalia/Bassai (Cockerell) in das „hellenische“ Britische Museum geholt und damit die Griechenland-Begeisterung in Europa entzün- det hatten.

Die Einheit der Person von entwerfendem und forschendem Architekten blieb auch nach der Gründung des griechischen Staates (1830) bewahrt. Doch eben deshalb erlosch in England wie in Frankreich wäh- rend des 19. Jahrhunderts der Elan für die Erforschung der griechischen Architektur: Die Neugotik, die Pluralität der Stile, die Suche nach neuen Zweckformen für Wohnungs- und Industriebau verdrängten den Klassizismus und mit ihm die aktiven Architekten aus der entsprechenden Forschung, bevor sich ein auf Klassische Bauforschung spezialisierter Berufszweig ausbilden konnte. Bis heute kommt deshalb die eng- lische Klassische Archäologie weitgehend ohne Bauforscher aus und zieht von Fall zu Fall Zeichner hin- zu. Natürlich gab und gibt es bedeutende Ausnahmen: Der Mathematiker, Astronom und Architekt Fran- cis Penrose zum Beispiel studierte mit Hilfe verfeinerter Meßmethoden die refinements des Parthenon, die Kurvaturen, Neigungen und Schwellungen, welche die plastischen Spannung des scheinbar orthogo- nalen Bauwerks bewirken.18 Er öffnete damit den Blick für ein meßbares organisches „Atmen“ der klassi- schen Baukörper, das die klassizistische Sicht der „reinen Geometrie“ aufhob.

Die Ausbildung einer wissenschaftlichen Disziplin Das 19. Jahrhundert steht im Zeichen einer ungeheuren Expansion der Archäologie und Bauforschung durch systematische Ausgrabungen und Untersuchungen antiker Ruinen. Zwei Faktoren lenkten dabei die Energien auf das antike Griechenland: der „griechische“ Klassizismus und die Gründung des griechischen Staates, der 1830 von den europäischen Großmächten bestätigt wurde und 1832 einen philhellenischen König aus Bayern erhielt. Auch die Westküste der Türkei stand für Ausgrabungen offen. Der Erfolg der archäologischen Unternehmungen, die Gründung großer Antikenmuseen und die nationale Konkurrenz steigerten zusehends Anspruch und Systematik der strategisch geplanten „Kampagnen“. Da überall Kunstwerke gesucht, aber hauptsächlich Bauwerke gefunden wurden, wuchs der Bauforschung eine Schlüsselrolle zu.

Die griechische Architektur bildete die erste Stufe wissenschaftlicher Bearbeitung. Nach der Großtat von Stuart und Revett, die sich auf die Aufnahmen stehender Ruinen beschränkt hatten, standen wiederum Engländer an der Spitze. Wilkens studierte zunächst die Bauten in Athen, um auf dieser Grundlage die Tempel Großgriechenlands, also Unteritaliens und Siziliens, zu erforschen.19 Auch Cockerell setzte seine grundlegende Bearbeitung der Heiligtümer von Aigina und Bassai mit dem Studium der Tempel von Agrigent fort, vor allem des einzigartigen Zeus-Tempels mit seinen Atlanten.20

Eine neue Chance für die übernationale Forschung lag in der Vereinigung Xeneion, die 1811 als Bund der Freunde Griechenlands „auszog, um Monumente zu entdecken und zu dokumentieren“. Mitglieder waren die Engländer Ch. Cockerell und J. Foster, die Deutschen C. Haller von Hallerstein (gemeinsam mit Schinkel und Klenze ein Schüler von David Gilly) und Jakob Linckh, der Däne Peter Oluf Brönsted und der kunstsinnige baltische Baron Otto Magnus von Stackelberg.21 Ihr erstes „Abenteuer“, der Aphaia- Tempel auf Aigina, brachte große Überraschungen: zunächst die Farbigkeit der Architektur, dann die Reste der Giebelfiguren. Sofort wurde ausgegraben, die Skulpturen wanderten über eine Versteigerung auf Malta in die neu geplante Glyptothek von München. Die in der Werkstatt Bertel Thorwaldsens er- gänzten Giebelfiguren erregten Aufsehen in ganz Europa. Der sorgfältig aufgenommene spätarchaische Tempel hingegen wurde erst 1860 von Cockerell publiziert. Die nächste Expedition galt 1812 dem hoch in den arkadischen Bergen gelegenen, von Pausanias gerühmten Tempel von Bassai, auch hier zunächst mit den reinsten Absichten zur Erforschung der Architektur. Hallers erhaltene Aufnahmezeichnungen ge- hören zum Vollendetsten dieser Art. Als aber die Forscher in ein Loch schauten, wo sich ein Fuchs über einer Reliefplatte seine Höhle eingerichtet hatte, gab es kein Halten: Ausgrabung, Verschiffung, Verstei- gerung des 30 m langen Frieses, der dann an das Britische Museum ging. Der Tempel, ein originelles Spätwerk des lktinos, des Architekten des Parthenon, wurde 1826 von Stackelberg und 1860 von Cocke- rell veröffentlicht. Über seinen Entwurf rätseln wir heute noch. Eine vollständige Abtragung der Ruine und ihre Neuerrichtung wird gegenwärtig vorbereitet; diese Attraktion für den Tourismus bedeutet aber das Ende des authentischen Monuments.

Im 19. Jahrhundert teilte sich die Archäologische Bauforschung deutlich in nationale Zweige auf, die wir differenziert betrachten wollen.

England England war vom 18. Jahrhundert an begünstigt durch das Machtgeflecht des Empire – in jeder Mittel- stadt gab es einen englischen Konsul –, durch seine hervorragende, schon im Barock klassisch ausgerich- tete Architektur und die Vorarbeit der Dilettanti seit 1751, die Maßstäbe setzte. Zwischen 1800 und 1821, dem Ausbruch des griechischen Aufstands, wurde ein Studienbesuch englischer Architekten in Athen ge- radezu Mode, was hellenische Anregungen in die englische Architektur übertrug (Greek Revival) und die Erforschung der Bauten auf der Akropolis förderte. Je mehr aber die Verbindung zum eigenen Schaffen und die Suche nach Vorbildern abriß, desto mehr trat nach 1830 die Suche nach Wissen und neuen Ent- deckungen in den Vordergrund.

Francis Cranmer Penrose verfeinerte 1846 die Meßmethoden bei seiner Untersuchung am Parthenon. Edward Dodwell – ein Mei- ster der Landschaftsvedute – beschrieb Stadtmauern (1819). Sir Charles Fellows erreichte mit der Entdeckung von Xanthos in Lykien und der transmission to England des sogenannten Nereiden-Monurnents (1843) die Randgebiete griechischer Kultur. 1864 griff Robert Murdoch Smith mit der Entdeckung der griechischen Kolonie Kyrene auf Nordafrika über. Es folgte die Er- schließung der ionischen Küste Kleinasiens: Sir Charles Newton legte 1861-1863 seinen Bericht über Halikarnassos – ein Dauer- thema der Bauforschung –, Knidos und Didyma vor. 1862 erforschten Richard P. Pullan und Charles Texier die Städte Teos und Priene; 1869 fand John Turtle Wood das Artemision von Ephesos, eines der Sieben Weltwunder, das erst nach 1900 von David George Hogarth und W. R. Lethaby, neuerdings von österreichischen Bauforschern untersucht wird. William Matthew Flinders- Petrie grub 1886 die griechische Kolonie Naukratis in Ägypten aus.

Vereinigte Staaten In den USA hat sich trotz der nachhaltigen Blüte der klassizistischen Architektur, die als Wahrzeichen der freien Staaten galt, keine spezielle Bauforschung ausgebildet An der ersten Grabung in Assos (Klein- asien) nahm noch als deutscher Gastarchitekt der junge Robert Koldewey teil. Es waren Einzelkämpfer, die im 20. Jahrhundert Spitzenstellungen erreichten: Howard Crosby Butler 1910 mit dem Artemis- Tempel von Sardis, James Morton Paton und der Architekt Gorham Philipps Stevens 1927 mit der exem- plarischen Bearbeitung des Erechtheion sowie Bert Hodge Hill 1927 mit der Untersuchung der Vorgänger des Parthenon in Athen. Die Freilegung der ganzen Stadt Olynth 1928-1938 blieb ein unerreichbares Ge- meinschaftswerk, ebenso die Erforschung von Korinth und Isthmia. Die Ausgrabungen der Agora von Athen, die das politische Leben der Stadt ans Licht brachte, ist bis heute ein Vorbild an Systematik, Ge- nauigkeit, Publikation und Präsentation. Als Architekt arbeitete dort der griechische Bauforscher John Travlos, dem das gegenwärtig gültige Gesamtbild von Athen und Attika zu danken ist.22 Sein Nachfolger wurde William B. Dinsmoor jun., Sohn und geistiger Erbe des gleichnamigen Forschers, dessen Hand- buch „The architecture of ancient Greece“ (1927, 3. Aufl. 1950) in knapper Form das gesamte Wissen zu- sammenfaßt, zu dem der Autor selbst in zahlreichen Untersuchungen beigetragen hat.

Frankreich Frankreich eröffnete das archäologische Jahrhundert buchstäblich mit zwei Feldzügen. Die von Napoleon veranlasste, ab 1809 veröffentlichte Description de l’Egypte blieb bis heute als Dokumentation einmalig. Auch die nach der Schlacht bei Navarino unternommene Erforschung des Peleponnes, die Expédition de Morée23 von 1828 brachte unter dem Prix-de-Rome-Architekten Abel Blouet erste Ausgrabungen und ex- akte Aufnahmen, zum Beispiel von Olympia und Aigina. Die malerische und poetische Phase der Rezep- tion, welche Dichter wie Hölderlin und Lord Byron, Schriftsteller oder Zeichner wie Julien David Le Roy oder Marie Gabriel Comte de Choiseul-Gouffier24 getragen hatten, wurde abgelöst von wissenschaftlichen Ansprüchen. Einen entscheidenden Auftrieb brachte 1846 die Gründung einer athenischen Dependance der römischen Villa Medici für die Träger des Prix de Rome, die École Française d’Athènes, die einen längeren Studienaufenthalt in Griechenland ermöglichte. Die dabei entstandenen Arbeiten, die über ein Jahrhundert bis 1951 reichen, sind 1982 für eine Ausstellung in Paris eindrucksvoll vorgestellt worden.25 Die Abschlußarbeit sollte ein antikes Bauwerk darstellen. Es sind Meisterzeichnungen, die uns heute vor Neid erblassen lassen. Die neuentdeckte Farbigkeit beflügelte die Phantasie, aber die geduldige Rekon- struktion Stein für Stein konnte bei diesen „Gastrollen“ nicht einmal begonnen werden.

Als französische Großgrabung bot sich seit 1873 Delos an, das schon bei der Expédition de Morée erforscht worden war. Die seit 1877 bis heute laufenden Grabungen haben seitdem die Heiligtümer und ganze Stadtviertel der heiligen Insel freigelegt; sie wur- den von Théophile Homolle mit vorrangigem Interesse an Inschriften und Kunstwerken begonnen, aber von Anfang an von Ar- chitekten begleitet (E. Loviot 1878; H.-P. Nénot 1882). Nénot erarbeitete den ersten Gesamtplan des Heiligtums und ein buntes Panorama aus „Dichtung und Wahrheit“, das auch nach 100 Jahren Forschung von der schlichten Realität nicht erreicht wird. Unter den Mitarbeitern der Grabung spielten auch weiterhin die Inhaber des Prix de Rome (Lefevre 1910; Hilt 1937; Debuisson 1947) stets eine hervorragende, aber kurze Gastrolle. Erst im 20. Jahrhundert wirkten hauptberufliche Bauforscher mit: Joseph Replat, der Däne Gerhart Poulsen, der Russe Y. Fomine und andere. Trotz einer auf sechsunddreißig Bände angewachsenen Pub- likation ist dem Notstand nicht abzuhelfen, daß die effiziente Ausgrabung des mit 23 ha umfangreichsten Ruinenareals Griechen- lands26 von einer angemessenen Dokumentation nicht mehr eingeholt werden kann, da die Häuser zerfallen und Monumente res- tauriert werden müssen, ehe sie publiziert sind.

Das wichtigste und teuerste Grabungsprojekt der französischen Schule war Delphi. Nach einem Tauzie- hen zwischen Deutschland und Amerika konnte 1892 Th. Homolle die Arbeit beginnen, für die zunächst das ganze Dorf Kastri mit 1000 Häusern umgesiedelt werden mußte. Die Funde bleiben im örtlichen Mu- seum, weshalb die wissenschaftlichen „Befunde“ zum Hauptziel aufstiegen. Homolle gewann 1894 den Prix-de-Rome-Architekten A. Tournaire für fünf Jahre, der in dieser Zeit schier Unglaubliches leistete: Steinpläne und Ansichten des ganzen Heiligtums im Maßstab 1:100, ein phantastisches Panorama, das heute wieder die Touristen entzückt, perfekte Rekonstruktionen von Einzelbauten.27 Aber das Schreiben überließ er Homolle. Die Zeichnungen erhielten auf der Weltausstellung 1900, wo 1:1-Modelle des Schatzhauses von Knidos (gemischt mit Baugliedern des Schatzhauses von Siphnos) und der Sphinx- Säule der Naxier Furore machten, einen Grand Prix, und Tournaire begann nach diesem Intermezzo seine erfolgreiche Karriere als Architekt. Die Erforschung der Architektur, der bislang neunzehn Bände der Publikation und zahlreiche Aufsätze gewidmet sind, verlief ähnlich wie in Delos. Der Text blieb dem ar- chäologischen homme de lettre vorbehalten, Darstellung und Rekonstruktion war Sache wechselnder Ar- chitekten, was nicht ohne Spannungen ablief. Gerade auf diese Situation gründet sich aber die gegenläu- fige Spezialisierung hervorragender Archäologen – wie Fernand Courby und René Vallois – auf die zu behandelnden Bauwerke, sozusagen ein „zweiter Weg“, bei dem jedoch das Fehlen der konstruktiven Er- fahrung des Architekten schwer auszugleichen war.

Der Däne O. V. Spreckelsen zeichnete 1956 die Steine des Knidier-Schatzhauses in Delphi und erbaute 1983 den gigantischen Kubus der Grande Arche in Paris. Und einer der letzten Träger des Prix de Rome, J. Dubuisson, arbeitete 1946 auf Delos, unter- suchte mit Jean Delorme griechische Gymnasien und entwarf ab 1962 ein streng geometrisches Museum und avantgardistische Großbauten in Paris, die Maine-Montparnasse und die Tour Lyonnaise. Läßt sich erwarten, daß sich wieder – wie am Anfang des Prix de Rome – eine Wahlverwandtschaft zwischen dem Studium der antiken Baukunst und der gegenwärtigen Architektur ab- zeichnet? In jedem Falle hat sich gezeigt, daß stets wechselnde „Gastarchitekten“ den gestiegenen Anforderungen und der Kom- plexität der Aufgaben nicht gewachsen sind, sondern daß spezialisierte Architekten, das heißt Bauforscher, jede Ausgrabung von Anfang bis Ende betreuen müssen.28 Nach der gelegentlichen Mitwirkung von internationalen Bauforschern und dem kurzfristi- gen Einsatz von fünfunddreißig Architekten der Akademie in Kopenhagen im 20. Jahrhundert29 arbeiten nun in Delphi – und e- benso in den französischen Ausgrabungen in Delos, Thasos, Xanthos in Lykien und Mallia auf Kreta – wieder langfristig tätige Grabungsarchitekten mit großem Erfolg.

Deutschland Der Übervater der deutschen Bauforschung war ein Baumeister und Künstler, der nie selbst einen Bau er- forscht hat: Karl Friedrich Schinkel (1781-1841). Dieses Paradox, das unsere Disziplin bis heute prägt, ist zunächst zu begründen: Im sparsam-nüchternen Preußen Friedrichs des Großen wurden Künstlerreisen in den Süden selten dotiert. Im benachbarten Fürstentum Anhalt-Dessau führte Friedrich Wilhelm von Erd- mannsdorf, der 1766 in Rom Winckelmann begegnet war, einen eleganten palladianischen Stil ein, der Carl Gotthart Langhans in anregte. Dessen Brandenburger Tor von 1788 verarbeitete bereits die Publikation der Athener Propyläen von Stuart und Revett. 1790 erhielt Heinrich Gentz ein Stipendium und brachte Zeichnungen von Paestum und Agrigent mit. 1796 erschien die kommentierte Vitruv- Übersetzung von August Rode. Einen Umbruch bewirkte der Entwurf des erst fünfundzwanzig Jahre jun- gen Friedrich Gilly für ein Denkmal Friedrichs des Großen (1797); Gillys „verzehrenden Enthusiasmus für alte griechische Simplizität“ hoben schon Zeitgenossen hervor. Die 1799 gegründete Bauakademie war durch Vater David und Sohn Friedrich Gilly geprägt. Haller von Hallerstein kam eigens nach Berlin, um bei Gilly zu studieren und nahm an einem Zirkel der Architektur-Heroen F. Gilly, H. Gentz, Aloys Hirt, L. von Klenze und eben Schinkel teil. Es war die zunächst aufs Praktische ausgerichtete Bauakade- mie, die 1836 in den berühmten Neubau Schinkels zog und durch Schinkel Weltgeltung in der Baukunst und in der Bauforschung gewann. Schinkels Architekturauffassung war Goethe und Hegel, der ab 1818 in Berlin lehrte, verpflichtet, der „Selbstbewegung des Geistes“: „Die Welt der Kunstformen läuft parallel mit den Formen der Natur. […] In der Baukunst muß wie in jeder Kunst Leben sichtbar werden. Man muß die Handlung des Gestaltens der Idee sehen […]“. Die Voraussetzung für die „Entfaltung der Bau- kunst ist […] die Kenntnis des gesammten historisch Vorhandenen“, deren Erforschung auch Sache der Gelehrten – er nennt Winckelmann – sein soll. Von seinen beiden Reisen nach Italien brachte er Tagebü- cher in der Nachfolge Goethes mit, dazu schon von der ersten Reise (1803-1805) über vierhundert le- bensnahe Zeichnungen und Aquarelle, die Natur, Architektur und Menschen vereinen.30 Die griechischen Tempel gehören dazu. Sie werden „examiniert“, aber nicht vermessen und rekonstruiert. Schinkel hat als Künstler, Baumeister, Lehrer und Leiter des preußischen Bauwesens ein Leben in ständiger schöpferi- scher Spannung geführt. In Arbeitspausen schuf er historische Panoramen, zum Beispiel „Die sieben Weltwunder“ oder phantastische Bühnenbilder. Seine universale Vorstellung umfaßte von Anfang an e- benso das Mittelalter (Mausoleum für Königin Luise, 1810) wie die Antike als Grundlage, keinesfalls a- ber als Maskerade. Der Zweck (heute: die Funktion) stand bei jeder Aufgabe, von einer Tasse bis zum Museum, oben an. Der „Schinkelstil“, der Preußen bis zum Rhein beherrschte und gotische, italienische und griechische „Ideen“ weiterführte, erwies sich als selbständig gegenüber dem sich in Europa durchset- zenden Historismus, vor allem dem prachtvollen Neobarock. Schinkels Lehre wurde eröffnet mit Vorbil- dern für Fabrikanten und Handwerker, einer Grundlehre mit klaren Beispielen für die „Tektonik“ des Bauens. Sein großes Lehrbuch konnte Schinkel nicht mehr vollenden. Die Spannweite seiner produktiven, in der Geschichte wurzelnden Phantasie zeigen die „schönen Träume“ seiner Entwürfe für ein Kö- nigsschloß auf der Akropolis und in Orianda auf der Krim von 1834 und 1838.

Warum aber „Übervater der Bauforschung“? Es ist die neue Dimension der Geschichte als lebendig wir- kende Kraft, die eine tiefere Sicht auf historische Werke verlangt. Nicht nach Vorbildern, sondern nach Sinnbildern wird gefragt, mit Hegel und Schinkel nach der „Idee“. Eben diese Fragen verlangen nach Präzision: Warum diese Farbgebung? Warum gerade diese minimale Formänderung eines Kapitells? Was bedeutet der Turm des Straßburger Münsters? Wie bedingen sich Leben (Gesellschaft) und Architektur? Aus solchen Fragen, die Winckelmann noch nicht stellen konnte, entsteht „Baugeschichte“. An der neuen Berliner Bauakademie fand sich ein erlesenes Gremium zusammen: Vater und Sohn Gilly, die Anreger; Aloys Hirt mit der ersten der Antike gewidmeten Geschichte der Baukunst (1809); Heinrich Gentz lehrte Stadtbaukunst; Wilhelm Stier seit 1828 „vergleichende Baugeschichte“; 1839 folgte mit Carl Boetticher der wichtigste Theoretiker mit seiner Tektonik der Hellenen, einem bis heute unerschöpflichen Werk; mit J. M. v. Mauchs Architektonische Ordnungen (1836) haben Generationen von Studenten gearbeitet. Nach Schinkels Tod führten bedeutende Architekten seine Schule fort. Friedrich August Stüler, Lehrer an der Bauakademie seit 1846, vollzog die Wendung zu einem disziplinierten Historismus.

Es lag an der Kraft Schinkels und seiner Schule, daß die „klassische“ Tradition nicht abriß, als die Epoche des Klassizismus endete. Jetzt machte sich die Geschichtsforschung gegenüber dem Entwerfen als eigene Disziplin selbständig. Friedrich Adler, der erste Inhaber des Lehrstuhls für Baugeschichte an der 1880 er- öffneten Technischen Hochschule in Berlin Charlottenburg, sorgte für Konstanz. Er überbrückte als Leh- rer die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, von 1859 bis 1903. Neben seiner hemmungslosen Bautätigkeit, von der über dreihundert Kirchen in Preußen zeugen, trug er phänomenale historische Kenntnisse zu- sammen und gab mit seinen Studenten ein Corpus Denkmäler der Baukunst heraus, in dem die Darstel- lung erstmals fachgerecht vereinheitlicht ist. 1872 begleitete er Ernst Curtius auf seiner Expedition nach Kleinasien, ab 1874 leiteten beide in vorbildlicher Partnerschaft die Ausgrabung von Olympia.

Die Vertiefung der historischen Forschung an der 1810 eröffneten Berliner Universität und die Gründung des zunächst übernationalen Instituto di Corrispondenza Archeologica (1829), aus dem das Deutsche Ar- chäologische Institut (DAI) hervorging, führten ebenso zu einer Expansion der Forschung wie die vom preußischen König finanzierte, von dem Archäologen Richard Lepsius und dem Architekten Georg Erb- kam geleitete wissenschaftliche Expedition nach Ägypten (1842). Zu nennen sind auch die Forschungs- reisen Alexander von Humboldts nach Südamerika sowie die Begründung einer Kulturgeographie durch Carl Ritter und einer archäologischen Topographie durch Heinrich Kiepert und J. A. Kaupert. Diese Ge- lehrten wirkten in Berlin, wo Hegel seine Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte gehalten hatte und Franz Kugler sein grundlegendes Handbuch der Kunstgeschichte (1841) sowie seine Geschichte der Baukunst (1856) schrieb.

Aus diesem Boden ging die Bauforschung als Hauptberuf hervor. Die Schüler und Nachfolger Adlers an der Berliner Technischen Hochschule bestimmten den Rang des Faches in Europa. Die Professoren Ri- chard Borrmann (seit 1904), Daniel Krenker (seit 1922), Armin von Gerkan (seit 1924), Walter Andreae (seit 1946) und Ernst Heinrich (seit 1951) erweiterten den Horizont nach Syrien und zum Vorderen Ori- ent. Die größte Wirkung dieser „Bauschule“ entfaltete sich in der Feldforschung. Zu den großen systema- tischen Ausgrabungen wurden historisch und technisch ausgebildete Architekten von Berlin in alle Him- melsrichtungen gerufen. Wir nennen nur die bedeutendsten.

Carl Humann, 1860 Schüler der Berliner Bauakademie, dann Topograph und Eisenbahningenieur in der Türkei, entdeckte die Reliefs des großen Altars von und initiierte die bis heute andauernden Ausgrabungen der hellenistischen Residenz- stadt. Museumspolitik und wissenschaftlicher Eros ergänzten sich. Der Altar, ein Weltwunder, bildet den Mittelpunkt des „Per- gamon-Museums“. Richard Bohn wurde von Adler 1877 nach Olympia mitgenommen. Dann erarbeitete er die erste zuverlässige Rekonstruktion der Propyläen auf der Athener Akropolis (1882) und widmete endlich seine ganze Kraft der Erforschung von Pergamon. Wilhelm Dörpfeld (1853-1940), wohl der bekannteste Bauforscher überhaupt, kam als Assistent von Bohn nach O- lympia. Im Alter von fünfundzwanzig Jahren wurde ihm bereits die technische Grabungsleitung übertragen. Mit präziser Beo- bachtung und Systematik entwickelte er neue Grabungsmethoden, welche die historischen Resultate vervielfachten: genaue Steinaufnahme, Steinpläne mit Sturzlagen, Schichtbeobachtungen, das heißt Stratigraphie31, und gewissenhaft begründete Re- konstruktionen. Der vierte „Gründer“, Robert Koldewey, nur zwei Jahre jünger als Dörpfeld, wechselte als Student von Berlin nach München und Wien. Als Forscher wirkte er vom Tigris bis nach Rügen mit gleicher Ausdauer und schöpferischer Perfekti- on. 1882/83 arbeitete er als Architekt in Assos (Kleinasien), der ersten amerikanischen Grabung. Mit seinen archäologischen Kollegen lebte er in einem dialektischen Verhältnis „ständiger Kontrolle“, das er später mit seinem Freund Otto Puchstein fort- führte. Dieses Paar erarbeitete in zwei Jahren, von 1892/93, ein säkulares Werk über Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sizilien (1899) mit unvergleichlichen Aufnahmen, Beschreibungen und Analysen – nach heutigem Ermessen ein Lebenswerk. Ausgrabungen auf Lesbos und in Neandria (in der Westtürkei), Untersuchungen der Hethiter-Stadt Sendschirli und der Ruinen von Baalbek (Libanon) bereiteten seine Hauptaufgabe vor, die von Kaiser Wilhelm II. geförderte Ausgrabung von Babylon, die er von 1898-1917 ungeachtet des Weltkrieges strategisch organisiert durchführte. Die Ausbeute war das Ischtar-Tor im Perga- mon-Museum, aber auch ein ungeheurer wissenschaftlicher Gewinn. Koldewey hat die Methoden der „klassischen Baufor- schung“ und der Stratigraphie erweitert und übertragen auf die Lehmziegelstädte Mesopotamiens. Sein Grabungsschüler Walter Andreae, seit 1922 Dozent in Berlin, hat seine Arbeit in Assur weitergeführt. Ab 1905 verdiente Oscar Reuther seine Sporen in Babylon, bearbeitete mit gleicher Sicherheit die Ruinen von Ktesiphon, islamische Bauten in Baalbek, indische Paläste und den großen Dipteros, den Tempel der Hera auf Samos. An dieser „interkulturellen“ Kompetenz zeigt sich, daß Handwerk und Metho- de, Kombinatorik und Beobachtung die Grundlage der Bauforschung in jeder Kulturlandschaft bildet. Eine Maxime von Kolde- wey könnte jedem jungen Bauforscher ins Stammbuch geschrieben werden: „Niemand kann mir weismachen, daß er ein antikes Bauwerk ganz versteht, wenn er es nicht gemessen und gezeichnet hat […] unmittelbar vor dem Objekt. Das Papier ist die Platte, das Auge das Objektiv, aber ein denkendes Objektiv […].“

Bayern ging in der Architekturgeschichte – wie auch sonst – seine eigenen Wege. Die traditionellen Ver- bindungen wiesen nach Italien. Als das Land 1806 zum Königreich von Napoleons Gnaden avancierte, vollzog sich eine Wendung zum strengen französischen Klassizismus, vor allem durch Karl von Fischer, der auch an der Akademie der Bildenden Künste Architektur lehrte. Der Kronprinz Ludwig – seit 1825 König Ludwig I. – steigerte sich in Rom, umgeben von Künstlern wie dem „nordischen Phidias“ Thor- waldsen, in eine romantische Griechenland-Begeisterung hinein, die seine ganze Regierung bestimmen sollte. Er traf 1814 auf Leo von Klenze, einen in Paris weitergebildeten Studiengenossen Schinkels, dem er bereits 1816 die Planung für die Glyptothek und den Königsplatz in München übertrug (für die Haller von Hallerstein, der Entdecker der „Aigineten“, bereits geniale Entwurfsskizzen vorgelegt hatte). Die Biographie Klenzes verläuft fast parallel zu der Schinkels. Von seinen Reisen nach Italien (die erste 1806, drei Jahre nach Schinkel) brachte er gekonnte, meist genau konstruierte Zeichnungen mit. Wo Schinkel Bauwerk, Landschaft und Leben vereinigte, begann Klenze der Sache auf den Grund zu gehen, vermaß exakt Kapitell-Profile in Agrigent oder Segesta, rekonstruierte etruskische Tempel und publizierte seit 1821 seine Forschungen.32 Er war Bauforscher und Architekt, Schinkel war umfassender Baumeister. Klenzes Auffassung bleibt streng rational: „Der ganze griechische Tempel, wie das geringste Bauteil des- selben, ist allen Geheimnisvollen, Rätselhaften vollkommen bar. Wir verstehen nicht nur mechanisch das ganze Wort, wir können es auch in Buchstaben zerlegen, wir besitzen […] das gesamte architektonische Alphabet. […] wenn wir mit diesem Alphabet schreiben […] können wir neue und treffliche Werke her- vorbringen.“33 Hier spricht der Lehrling des rationalistischen Theoretikers Jean N. Durand, der kühle A- nalytiker. Schinkel vollzog immer lebendige Synthesen. Wer war der bedeutendere Architekt? Kein Zweifel; aber wer war der bessere Bauforscher? Es ist dies eine Gewissensfrage auch noch für heutige Kollegen. Gründet die Forschung auf einer „Idee“, auf einer übergreifenden geistigen Vorstellung, in die eingebunden Befunde beobachtet und in einer Synthese vereinigt werden? Oder bauen wir streng auf den reinen Befund, der ohne „Ausschweifungen“ gewissenhaft zu „buchstabieren“ ist? Glücklicherweise gibt es hier ein „Sowohl als auch“.

Klenze erzog als kühler Hofintendant keine Schule. An der Münchner Akademie lehrte Friedrich Gärtner, der Renaissance und Rundbogen zum Vorbild erhob und den Historismus einleitete, den Friedrich von Thiersch mit seinem neobarocken Justizpalast 1887 eröffnete. Dennoch lief der griechische Klassizismus als disziplinierende Unterströmung weiter. Der Gärtner-Schüler Gottfried von Neureuther erbaute die 1868 gegründete Münchner Technische Hochschule und lehrte hier „Höhere Architektur, Baustile und Geschichte der Baukunst“. Schon sechs Jahre später erhielt August Thiersch ebendort den Lehrstuhl für „Bauformenlehre der antiken Baukunst“. Damit wurde eine Basis der wissenschaftlichen Bauforschung geschaffen, die einerseits in die normale Ausbildung eingebunden und andererseits fähig war, größere Forschungsaufgaben zu übernehmen. A. Thiersch hat mit seinen Untersuchungen über Proportionen in der Architektur den Anfang gemacht. Seitdem ist in München die Tradition und Wendung nach Griechen- land nicht abgerissen. Joseph Bühlmann, Ordinarius seit 1878, legte sein monumentales Werk Die Archi- tektur des klassischen Altertums vor; Hubert Knackfuss, Ordinarius seit 1919, schuf die mustergültige Publikation des Riesen-Tempels von Didyma; Friedrich Krauss, Ordinarius seit 1946, trat mit seinen Ar- beiten in Milet und Paestum sowie der bis heute gültigen Deutung der drei Tempel von Paestum hervor. Es ist also in München ähnlich wie in Berlin gelungen, die Brücke zu schlagen vom Studium bestimmter Vorbilder für das Entwerfen zur autonomen Wissenschaft, die auch in der Zeit des „Neuen Bauens“, wel- che die Last der Geschichte abwerfen wollte, viel zu sagen hatte. Von beiden Lehrstühlen, Berlin und München, gingen Ausstrahlungen aus: auf andere Technische Hochschulen und Fachhochschulen sowie auf Universitäten bis in die USA.

In Deutschland folgten fast alle Gründungen Technischer Hochschulen dem Berliner Beispiel mit der Ein- richtung baugeschichtlicher Lehrstühle, zunächst meist kombiniert mit Entwurfsaufgaben. In Karlsruhe stand mit J. Friedrich Weinbrenner ein „Gründer“ an der Spitze, der 1800 nach dem Muster der Berliner Bauakademie eine eigene Bauschule gründete. Hier wirkte mit Joseph Durm (seit 1868) eine überragende Figur. Er notierte auf Reisen mit Zeichenfeder und Stift alles, was ihm vor die Augen kam und füllte da- mit drei dicke „Handbücher der Architektur“. Auch hier hat der Lehrstuhl bis heute diese Schwerpunkte durch Karl Wulzinger und Arnold Tschira bruchlos erhalten und erweitert. In Hannover gab der vielseiti- ge Hofbaudirektor Georg Laves 1814 die Richtung an. Mit Uvo Hölscher stieg der Lehrstuhl 1906 zum Zentrum der Ägyptologischen Bauforschung auf. Eine besondere Rolle spielte die damalige Akademie in Dresden durch die Berufung des Gärtner-Schulers Gottfried Semper (1834), des berühmtesten Architek- ten seiner Epoche. Semper reiste drei Jahre durch Italien und Griechenland. Ihn beschäftigte das Problem der Farbe, genauer das Verhältnis von fester (oder „tektonischer“) Form und schmückender (ornamenta- ler) Hülle oder Gewand. Er mußte, wie sein Freund Richard Wagner, 1848 aus Deutschland fliehen und fand nach Stationen in Paris und London 1855 seinen Sitz an der Polytechnischen Schule in Zürich. Dort erschien sein theoretisches Hauptwerk, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, eine Sum- ma der Bauästhetik. Mit den Wiener Museumsbauten schloß er sein Werk ab. Beide Hochschulen konn- ten die Kontinuität nicht wahren. Immerhin lehrte in Dresden seit 1920 der schon genannte Bauforscher Oskar Reuther, und in Zürich hat sich - in den theoretischen Bahnen Sempers - ein namhaftes Institut für Geschichte und Theorie der Architektur etabliert. In Darmstadt gab der klassizistische Baumeister Georg Moller ein Vorspiel für die 1836 gegründete Polytechnische Hochschule, als er 1814 einen Originalriß der Turmfront des Kölner Doms fand. Schon für Schinkel galt die Gotik als der zweite Pol neben der Antike. Mit der „Domvollendung“ 1880, der wohl größten handwerklichen Leistung des 19. Jahrhunderts, wurden nicht nur allenthalben neue gotische Kirchen, Burgen, Bahnhöfe usw. gebaut, auch die alten Monumente wurden erforscht. Von den zwölf deutschen Technischen Hochschulen vor 1914 sind Danzig (mit Fritz Krischen und Karl Gruber) und Stuttgart (mit Ernst Fiechter) hervorzuheben.

Zur gegenwärtigen Situation Der Erste Weltkrieg setzte der imperialen Archäologie ein Ende. Die Bauforschung war von ihrem Feld abgeschnitten und wurde an den Hochschulen angesichts der Notlage zum Bildungsfach reduziert. Im E- xistenzkampf nach 1918 fanden sich keine idealistischen Architekten mehr, die ihren Beruf ohne sicheres Auskommen auf die Erkenntnis der Vergangenheit setzen wollten – abgesehen vom tiefen Umschwung, den das „Neuen Bauen“ brachte, eine Architektur jenseits der Geschichte. Diese Krise der Bauforschung beschrieb Armin von Gerkan, ein ebenso bedeutender wie kritischer Wissenschaftler, 1924 in einem pro- grammatischen Aufsatz über die Lage der gegenwärtigen Bauforschung (Liebe Catharine, bitte einen Link zu diesem Text einbauen!). Er war es, der dabei den Terminus Bauforschung prägte und deren bal- digen Stillstand prognostizierte.34 Sein Aufruf bewirkte, daß sich dreiundzwanzig damals aktive Baufor- scher 1926 zur Gründung der bis heute wirkenden Koldewey-Gesellschaft zusammenfanden, welche das Fach repräsentieren sollte.35 Der selbstbewußte Verein, der heute zweihundert Mitglieder aufweist, konnte sowohl an den Technischen Hochschulen wie auch am Deutschen Archäologischen Institut einiges be- wirken. Diese Ansätze wurden jedoch durch die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg zunichte ge- macht. Allerdings konnte seit 1935 – anläßlich der Olympiade von 1936 – wieder ertragreich in Olympia gegraben werden36; 1925 wurden die Grabungen in Samos unter Ernst Buschor mit den Architekten Oscar Reuther und Hans Schleif sowie 1929 die Grabungen in Tiryns und im Athener Kerameikos wieder auf- genommen.

Nach 1945 verschärfte sich die Krise. Hochschulen standen als Ruinen, der Krieg hatte Opfer gekostet, der Nachwuchs fehlte. Nur wenige Lehrstühle der Baugeschichte konnten vor 1950 mit kompetenten Ver- tretern der Baugeschichte besetzt werden, vor allem Berlin mit Ernst Heinrich, München mit Friedrich Krauss, Karlsruhe mit Arnold Tschira; in Darmstadt kam 1967 Wolfgang Müller-Wiener hinzu. Die Hochschulen konsolidierten sich, doch sind die „Aufgaben ungeheuer weit größer“ (so Gerkan 1926). Ein Schuldenberg aus dem Grabungsboom vor 1914 hat sich trotz vorbildlicher Publikationen aufgetürmt: Vor einhundert Jahren freigelegte Ruinen zerfallen ohne Dokumentation, zum Beispiel das in der dritten Generation bearbeitete Theater von Milet oder das Dipylon, das Doppeltor in Athen, das rätselhafte Py- thion sowie das Artemision auf Delos, das Maussolleion von Halikarnass, das Olympieion in Athen. Wir könnten mit dem Schuldenregister seitenlang fortfahren. Bei römischen Ruinen gehören die angemessen bearbeiteten Monumente zu den Ausnahmen.

Hinzu kommt die notwendige Zweitbearbeitung von Monumenten, die auf neue Methoden und Fragen neue Antworten geben, so im Falle der griechischen Tempel in Segesta und Paestum, in Aigina und Prie- ne und beim Apollon-Tempel in Delphi. Die Lehrstühle für Baugeschichte, deren Aufgabe vorrangig die Grundausbildung für die ganze, vornehmlich die neuere Baugeschichte ist, sind dem nicht gewachsen. Außerdem haben die Forschungsthemen sich vervielfältigt. Nach der Zerstörung der Städte und ihrer zweiten Zerstörung durch den Wiederaufbau ist die Denkmalpflege in den Vordergrund getreten. Man hat sehr bald erkannt, daß eine Sanierung ohne vorhergehende Bauaufnahme und -untersuchung schiefgeht. Die Methoden liefert die bewährte, durch Dörpfeld begründete Praxis der „klassischen“ Bauforschung. So gibt es zum Beispiel eine „Stratigraphie“ der Putzschichten nach gleichem Muster. Die Denkmalpflege, aufgespalten in „Entwerfen in alter Umgebung“ und „Bewahrung“ stellt neue, wichtige Aufgaben. Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege gründete 1985 eine Abteilung für Bauforschung mit vier fest angestellten Bauforschern und etwa einhundert externen Mitarbeitern für die Bauaufnahme.37 Andere Denkmalämter folgten. Die Ausbildung lastet auf den Lehrstühlen für Baugeschichte und für Kunstge- schichte; die Professoren für Denkmalpflege haben meist mehr mit dem „angepaßten Entwerfen“ zu tun. In diesem Rahmen entwickeln sich neue Arbeitsgebiete, von der Stadt- und Hausforschung bis zur Indust- riearchäologie oder zur Bunkerforschung. Diese Aufsplitterung schwächt die traditionelle Bauforschung und die entsprechende Ausbildung. Damit kein Ende: An einigen Hochschulen wird die Kunstgeschichte – ein Grundfach für Architekten! – für überflüssig gehalten und mit der Baugeschichte zusammengelegt, meist in Händen eines Kunsthistorikers. Schinkels Einsicht, daß die geschichtliche Dimension der Bau- kunst mit der Praxis, mit dem Handwerk verschränkt ist und eine Sache von Architekten für Architekten sein muß, ist oft verlorengegangen. Hinzu kommen Sondergebiete Architekturtheorie und -soziologie. Es hat sich bei Neubesetzungen eine postmoderne Vielfalt ausgebreitet, die eine Bündelung der Kräfte vertut und das alte, aber buchstäblich grundlegende Ethos der Bauforschung „Stein auf Stein“ gegen intellektu- elle Pluralität austauscht. Die beiden komplementären Fächer „Baugeschichte“ und „Kunstgeschichte“ dürfen an keiner Technischen Universität oder Technischen Hochschule, die ihren Namen verdient, feh- len.

Die Universitäten haben diesen Engpaß oft früher erkannt als manche Architektur-Fakultäten. An der Universität Köln wirkt eine Abteilung „Architekturgeschichte“ als Teil des Kunsthistorischen Instituts. In Berlin, dem alten Zentrum der Bauforschung, wur- de eine entsprechende Professur dem Archäologischen Seminar der Freien Universität angegliedert, um ein Defizit an der Tech- nischen Universität auszugleichen. In Bamberg hat sich ein Aufbaustudium für Bauforschung vornehmlich für Denkmalpfleger bewährt. Das sind wichtige Forschungszentren, nur fehlt ihnen für die Lehre oft die unabdingbare Voraussetzung eines vollen Architekturstudiums. Denn die grundlegenden Kenntnisse und Erfahrungen unseres Berufs werden beim Entwerfen und bei der Konstruktion vermittelt. Die Hoffnung auf Nachwuchs ruht einzelnen Fachhochschulen, in deren solider Architekturausbildung die Baugeschichte hervorragend vertreten ist. Ohne eine Konsolidierung der „Baugeschichte“ an den Architektur-Fakultäten ste- hen wir an dem Punkt, den Gerkans Kassandrarufe 1926 betrafen: „Wir müssen Nachwuchs haben und dazu auf Mittel und Wege sinnen.“ Nicht zu vergessen: Die Baugeschichtslehre dient nur nebenbei der Forschung. Sie gibt den jungen Architektinnen und Architekten das Fundament für ihr gegenwärtiges Bauen.

Das Deutsche Archäologische Institut (DAI) bildet das zweite Standbein der Bauforschung. Wilhelm Dörpfeld, seit 1882 (mit 29 Jahren) fest angestellt, seit 1886 Zweiter Sekretär (Direktor) und wenig später Leiter der Zweigstelle des Instituts in Athen, war der erste Bauforscher in Diensten des DAI. Er steht an der Spitze einer Reihe von tüchtigen Architekten, die als Direktoren oder Referenten einen erheblichen Anteil am Forschungsspektrum des DAI vom Iran bis nach Portugal und neuerdings bis nach Mit- telamerika haben. Für die Synergie dieses weitgespannten Netzes und als Ausgleich für die abbröckelnde Bauforschung an den Hochschulen hat die Zentrale des DAI ein Architekturreferat eingerichtet, das auch eigene Forschungen durchführt – vor allem über die antike Stadt. Dieses neue Schaltzentrum der Bauforschung verspricht auch einen positiven Effekt für die Ausbildung, weil interessierte Architekturstudenten in Zusammenarbeit mit erfahrenen Forschem „durch Tun lernen“ können.

Werfen wir noch einen abschließenden Blick auf die klassische Architekturforschung anderer Länder. Die Lage in Österreich und der Schweiz entspricht der deutschen. Schwierige Aufgaben stellt die österreichi- sche Großgrabung in Ephesos, auch mit ihren touristisch attraktiven, aber bedenklichen Rekonstruktio- nen. Die nordischen Länder sind, wohl dank ihrer bis in die moderne Architektur fortwirkenden klassi- sche Tradition, an der Forschung mit eigener Stimme beteiligt, führend die Akademien in Kopenhagen und Upsala. Die Schwerpunkte liegen in Rom und Kleinasien. Die Stärke der französischen Forschung ist traditionell die Architektur-Archäologie, verbunden mit Epigraphik und Geschichte. Französische Über- blicke, Architekturgeschichten und das Dictionnaire méthodique sind vorbildlich. Die „Bauforschung“, wie sie in Deutschland ausgebildet wurde, ist neuerdings im Kommen. Die Ausbildung hat zwar nur eine schmale Basis an den Écoles d’Architecture, doch soll die Lücke durch ein Aufbaustudium in Strasbourg geschlossen werden. Die Forschung wird gebündelt durch das neue Institut de Recherche sur l‘Architecture Antique (IRAA) mit fast einhundert Mitarbeitern, an dem die Universitäten von Paris, Ly- on, Aix-en-Provence und Tours teilnehmen. Das IRAA ist seinerseits eingebunden in das übergeordnete Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS). Bauforscher, die vor Ort die Ruinen bearbeiten, sind allerdings noch dünn gesät. In Italien ist die Architekturforschung fest in der Hand von Archäologen, was auch mit dem dortigen System der Antikenverwaltung zusammenhängt. Architekten werden von Fall zu Fall zugezogen. Es gibt zu viele Monumente; allein ihre Erhaltung übersteigt die Kräfte der besten Fachleute. In Griechenland verfügt der Archäologische Dienst über Architekten, die am Polytechneion, der Technischen Hochschule in Athen und in Thessaloniki, fachgerecht ausgebildet wurden. Die For- schungsarbeit, die auf der Athener Akropolis von Bauforschern, gewissermaßen als Nebenprodukt der Restaurierung, der Anastilosis geleistet wird, hat internationale Anerkennung gefunden. Auch in der Tür- kei haben sich jüngere Architekten in der Forschung qualifiziert. Die angelsächsische Bauforschung hat sich nach dem Krieg kaum verändert. Das berühmte Royal Institute of British Architecture (RIBA) bietet keine Ausbildung an. Ähnlich steht es in den USA. Das Archaeological Institute of America, dessen Eh- renpräsident der ältere Dinsmoor war, initiiert die vorbildlichsten Grabungen zunächst ohne Bauforscher. Aber – und das ist sehr amerikanisch – es finden sich dann irgendwoher interessierte Architekten ein, die als selfmademen ihre Aufgabe meistern.

Dieser abgekürzte Überblick kann zeigen, daß Archäologie und Bauforschung in einem internationalen Verbund wirken, bei dem keiner den anderen entbehren kann. Sind auch die Gewichte verschieden ver- teilt, so setzt sich doch überall die Erkenntnis durch, daß man Bauwerke konkret nur durch Architekten dokumentieren, verstehen und rekonstruieren kann, ebenso wie die Geschichte des Bauens nicht durch Theoretiker, sondern durch solche Architekten den Studenten weitergereicht werden sollte. Das Bauen bildet die stärkste kulturelle Konstante in der Geschichte der Menschheit, eine Achse durch die Zeiten. Die durch das Handwerk „tradierte Tradition“ des Bauens führte über Jahrtausende, ohne abzureißen. Die bewußte Geschichte gibt erst seit der Antike Rechenschaft darüber. In allen Wechseln und Brüchen dik- tierte das Gesetz von Tragen und Lasten die Grenzen jeder Veränderung. Auch in der Bauforschung hat sich die Arbeitsweise kaum verändert. Wir messen und zeichnen (trotz Theodolit und Computer- Zeichenprogramm CAD) wie Palladio; und wir forschen, auch wenn sich die Methoden verfeinert und die Ziele erweitert haben, fast ebenso wie er.

in: Klassische Archäologie. Eine Einführung (hrsg. von Adolf Heinrich Borbein, Tonio Hölscher und Paul Zanker). Berlin 2000, S. 251-279

1 Es wird nur für den Zusammenhang wichtige Literatur zitiert. Im Text werden lebende Forscher nicht genannt. Für die kritische Durchsicht des Manuskripts danke ich den Kollegen W. Koenigs, D. Mertens, K. Nohlen, A. Ohnesorg, F. Rakob und W. Schir- mer sowie besonders A. Borbein für die verständnisvolle Kürzung. 2 M. Wheeler, Archaeology from the Earth (1945). Wie der Titel andeutet, handelt es sich um meist prähistorische Erdgrabungen, wo die Stege zwischen den gegrabenen Quadraten ein Gitter von Schnitten ergeben. Bei einem dichten Baubefund muß man je- doch Grabung und Schnitte flexibel und gezielt nach den Mauern ausrichten. Wheeler verlangt zwar vom Direktor der Grabung „some specific architectural training“ (a.a.O. 133), hat aber im Staff keinen Architekten, sondern gleich drei Zeichner („drafts- men“, a.a.O. 145). 3 Der Archäologe Ernst Buschor und der Architekt Hans Schleif haben schon 1930 den Grundriß des 105 m langen von Rhoikos erbauten Hera-Tempels auf Samos aus den ausgeraubten Fundamentgräben erschlossen: Mitteilungen des Deutschen Archäologi- schen Instituts Athenische Abteilung 55, 1930, 72 ff. 4 G. Gruben, Die Tempel der Griechen (41986), 342 ff. 5 Vorbildliche, aber seltene Produkte einer solchen Zusammenarbeit sind: R. Koldewey – O. Puchstein, Die griechischen Tempel in Unteritalien und Sizilien (1899) und F. Krauss – R. Herbig, Der korinthisch-dorische Tempel am Forum von Paestum (1939). 6 Vgl. H. Schmidt, Wiederaufbau (1993); G. Gruben, Kunstchronik 50, 1997, 657 ff. 7 Auf diesem Gebiet sind Frankreich und England führend, da dort im 20. Jahrhundert die „zünftige“ Bauforschung fast völlig aus- gefallen ist. In Deutschland ist die Behandlung von Architektur und Urbanistik wegen ihrer gesellschaftlichen Relevanz wieder in den Vordergrund getreten. 8 Ansätze unter begrenzten Aspekten finden sich in den Tagungsberichten der Koldewey-Gesellschaft, vor allem 1955 und 1988 ((Liebe Catharine, bitte einen Link zu diesen Inhaltsverzeichnissen einbauen, auch wenn es sie noch nicht geben sollte!); G. Grossmann, Einführung in die historische Bauforschung (1993); G. Stanzl, in: Fremde Zeiten, Festschrift J. Borchardt (1996), 319 ff.; J. Cramer (Hrsg.), Bauforschung und Denkmalpflege (1987), vor allem der Beitrag von W. Schirmer; R. Kurzrock (Hrsg.), Baugeschichte und europäische Kultur I (1985). 9 Vgl. Ch. Frommel (Hrsg.), Raffaello architetto (1984); G. Grimm, Antike Welt 29, 1998, 481 ff. mit Literatur. Wäre man der von Raffael gewiesenen Richtung gefolgt, so stünden zahlreiche antike Monumente noch, die der Bauwut der Päpste zum Opfer ge- fallen sind. 10 J. J. Winckelmann, Kleine Schriften und Briefe (1980), 201-219. 11 E. Viollet-le-Duc, Dictionnaire raisonné de l’architecture fran›aise (1854 ff.); G. Perrot – Ch. Chipiez, Histoire de l’art dans l’antiquité (1882 ff.). 12 P. M. Letarouille, Edifices de Rome moderne (1825-1868). 13 Vgl. J. Wilton-Ely, Giovanni Battista Piranesi (1978). 14 Eine rühmliche Ausnahme bildet Luigi Canina mit seinem sechsbändigen Werk Gli edifizi di Roma (1848). 15 Beide hatten vorher ihre Sporen in Rom verdient, indem sie den 1748 ausgegrabenen Obelisken der riesigen Sonnenuhr des Kai- sers Augustus exakt zeichneten und rekonstruierten (Hinweise M. Korres). 16 Die gründliche Ausarbeitung dauerte von 1753 bis 1762. Inzwischen war ihnen ein Architekt der französischen Akademie in Rom, Julien David Le Roy, zuvorgekommen, der im pittoresken Stil Piranesis Les Ruines des plus beaux monuments de la Grèce bereits 1758 sehr erfolgreich herausbrachte, ohne jedoch die gewissenhafte Treue seiner Konkurrenten zu erreichen. 17 Vgl. M. Korres, in: Koldewey-Gesellschaft, 39. Tagung 1996, 11 ff. 18 F. Penrose, An Investigation of the Principles of Athenian Architecture (21988); Bis heute wird jedoch gelegentlich an der von Vitriv beigebrachten Erklärung dieser Abweichungen als „optische Korrekturen“ festgehalten. 19 W. Wilkins, The Antiquities of Magna Grecia (1807). 20 Ch. R. Cockerell, The Temple of Jupiter Olympicus at Agrigentum (1830). 21 Vgl. H.-G. Bankel, Haller von Hallerstein passim; W. Hautumm, Hellas (1983), 77 ff. 22 J. Travlos, Bildlexikon zur Topographie des antiken Athen (1971); ders., Bildlexikon zur Topographie des antiken Attika (1988). 23 A. Blouet, Expédition scientifique de Morée (1831-38). 24 M. G. F. A. de Choiseul-Gouffier, Voyage pittoresque de la Grèce I-III (1782-1822). Vgl. F.-M- Tsigakou, Das wiederentdeckte Griechenland (1982), 42 ff. 25 Paris – Rome – Athens (Ausstellungskat. Paris 1982).

26 Vgl. die urbanistische Analyse von A. Papageorgiou-Venetas, Delos (1981). 27 Tournaires Zeichnungen eröffneten den ersten Band der Delphi-Publikation von 1902. 28 Die Architekten der Académie de France à Rome sind im Ausstellungskatalog Roma Antiqua (1985), die der École Fran›aise d’Athènes im Katalog Paris – Rome – Athens (1982) mit hervorragenden Abbildungen dokumentiert. Zur Geschichte der franzö- sischen Bauforschung vgl. M.-Ch. Hellmann, Bulletin de Correspondance Hellénique 120, 1992, 191 ff.; dies., L’archeologia de- gli architetti 15, 1993, 55/3, 60 ff. 29 W. B. Dinsmoor bearbeitete grundlegend die Schatzhäuser zwischen 1912 und 1946. Der dänische Architekt E. Hansen legte mit seiner Publikation des Siphnier-Schatzhauses 1987 eine Meisterleistung unserer Bauforscher-Generation vor. Die klarste Zu- sammenfassung biete G. Maass, Das antike Delphi (1993) mit ausführlicher Literatur. 30 G. Riemann, Karl Friedrich Schinkel, Reise nach Italien (1979). 31 Unabhängig von Dörpfeld entwickelte zur gleichen Zeit der englische Offizier und Gutsherr Baron Pitt-River ähnliche Methoden der stratigraphischen Ausgrabung im prähistorischen Bereich. Vgl. F. G. Maier, Neue Wege in die alte Welt (1977), 137 ff. 32 Vgl. O. Hederer, Klassizismus (1976), 100 f. 33 Erschöpfend dargestellt von F. Hamdorf in: Ein griechischer Traum (Ausstellungskat. München 1986), 117 ff. 34 A. von Gerkan, Von antiker Architektur und Topographie (1959), 9 ff.; vgl. ebd. 99 ff.; Kursus für Bauforschung 1930. 35 Periodische Berichte der Koldewey-Gesellschaft, besonders 1955 und 1988 (C. Meckseper). 36 Vgl. 100 Jahre deutsche Ausgrabung in Olympia (Ausstellungskat. München 1972). 37 Vgl. den grundlegenden, den Spuren Gerkans folgenden Rechenschaftsbericht von G. Mader, in: J. Cramer (Hrsg.), Baufor- schung und Denkmalpflege (1987), 34 ff. Ausführlicher zu Aufgaben und Methodik: M. Petzet – G. Mader, Praktische Denkmal- pflege (1993). Dort wird auch aufgezeigt, daß die Kosten einer echten Sanierung mit vorbereitender Bauuntersuchung günstiger liegen als die einer Sanierung „ins Blaue“.