Deutschland

Mögliches Kabinett: Bundeskanzler Gerhard Schröder, 54, SPD Die rot-grüne Regierung Rund ein Drittel der Bundesbürger erwartet nach der Wahl Vizekanzler und eine Zusammenarbeit von Sozialdemokraten und Grünen. Außenminister Wirtschaft, , Technologie, Gesundheit Umwelt 50, B’ 90/Grüne Zukunft Finanzen Inneres Verteidigung Arbeit, Soziales , Jürgen Trittin, Jost Stollmann, , , Günter Verheugen, Walter Riester, 38, B’ 90/Grüne 44, B’ 90/Grüne 43, parteilos 54, SPD 66, SPD 54, SPD 54, SPD

Weitere Kandidaten... Kanzleramtsminister Frank-Walter Steinmeier, 42, SPD Wie viele Bundesbürger halten eine rot-grüne Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye, 57, SPD Koalition nach der Bundestagswahl für Hubert Kleinert, 44, B’ 90/Grüne wahrscheinlich... Ergebnisse einer Emnid-Umfrage für den SPIEGEL, 18. und 19. August, ...und die Führungsriege in Parlament Angaben in Prozent 1004 Befragte und Fraktionen Anhänger von Bundestagspräsident , 54, SPD Befragte insgesamt CDU/ B’90/ SPD-Fraktionschef , 50 CSU SPD Grüne FDP PDS Grüne-Fraktionschefs Rezzo Schlauch, 50 33 13 56 46 28 45 Kerstin Müller, 34

Sprung von der Protest- zur Staatspartei vollziehen die Ex-Spontis jedoch mit Josch- ka Fischers Einzug ins Auswärtige Amt. Koalition der Krise In einer ähnlichen Rollenteilung wie Schröder und SPD-Parteichef Oskar La- Rot-Grün wird nicht so wild, wie die Gegner fürchten und fontaine müssen die beiden Konkurrenten zugleich dafür sorgen, daß sowohl das Re- die Anhänger hoffen. Doch der Bruch droht, wenn gierungsimage wie die Parteiseele gepflegt die grüne Basis das Programm ihrer Spitze nicht mitträgt. wird, daß sich Linke wie Realo-Flügel ver- treten fühlen. Etliche Grüne fürchten al- m 28. September geht die Welt un- Dennoch wird ein rot-grünes Deutsch- lerdings, daß ihnen Fischer als Außenmini- ter. Deutschland tritt aus der Nato land weder das soziale Paradies noch eine ster auf Welttournee mehr Ärger beschert, Aaus, Autos werden verboten, Flug- Öko-Diktatur. Radikale Beschlüsse – wie als die Partei verkraften kann. reisen sowieso. Die Industrie verläßt den fünf Mark für den Liter Benzin oder Tem- Die Genossen übernehmen vor allem Standort panikartig. Die Bürger schlurfen po 100 auf Autobahnen – gibt es mit einem die für sie zentralen Ressorts der Finanz-, auf selbstgestrickten Socken einer postin- Auto-Kanzler Gerhard Schröder nicht. Für Arbeits- und Sozialpolitik. Schaltstelle ist dustriellen Neu-Steinzeit entgegen. üppige soziale Wohltaten hat er kein Geld. das Finanzministerium, wo der Parteichef Am 28. September geht die Sonne auf. Utopische Forderungen wie den Austritt und heimliche Vizekanzler im Kabinett Von allen deutschen Dächern funkeln bald der Bundesrepublik aus der Nato haben Schröder, Lafontaine, nun seiner Passion die Solarzellen, die Öko-Steuer wird zum die Grünen schon selbst zurückgenommen. nachgehen kann: die „völlig verfehlte Wirt- Modell für den Rest der Welt, die soziale Ihr Image als Bürgerschreck taugt ohnehin schafts- und Finanzpolitik“ der Regierung Gerechtigkeit ist legendär. Das Drei-Liter- nicht mehr, seit sie in etlichen rot-grünen Kohl und Waigel zu korrigieren. Erklärtes Auto wird zum größten Exportschlager al- Ländern mitregieren. Daß sie ihr Partei- SPD-Ziel ist es, vor allem die Arbeitneh- ler Zeiten. Die Deutschen sind glücklich. programm als Juniorpartner in einer Ko- merhaushalte bei der Steuer zu entlasten So wuchtig die Szenarien von Feinden alition mit den Sozialdemokraten nur in und für mehr soziale Gerechtigkeit zu sor- und Freunden eines Regierungsbündnisses Teilen umsetzen können, wissen die Grü- gen. Gleichzeitig will Lafontaine damit die aus Rot und Grün, so unrealistisch sind sie nen längst. Um so wichtiger ist es für die schwache Binnenkonjunktur ankurbeln, auch. Zwar wäre der Wahlsieg von SPD gereiften Ökopaxe, Ministerämter zu be- für ihn eines der Haupthemmnisse auf dem und Bündnis 90/Grüne eine politische Zä- setzen, mit denen sie auch unter SPD- kriselnden Arbeitsmarkt. sur in der 50jährigen Geschichte der Bun- Führung ihr Profil ausbauen können. Den Dialog mit Wirtschaft und Gewerk- desrepublik. Erstmals würde eine Regie- Jürgen Trittin, den die im „Babelsberger schaften sollen zwei Quereinsteiger vor- rung komplett von der Opposition ab- Kreis“ organisierte Parteilinke sogar zum antreiben: IG-Metall-Vize Walter Riester gelöst. Und die einstige Sponti-Partei wäre Innenminister machen möchte, darf sich als Arbeits- und Sozialminister sowie Com- auf dem langen Marsch durch die Institu- wohl als Umweltminister um das Urthema puter-Unternehmer Jost Stollmann als Res- tionen endlich oben angekommen. der Grünen kümmern. Den eigentlichen sortchef für Wirtschaft und Technologie.

26 der spiegel 36/1998 schen Image einer alten Industrie- Auf Schröders USA-Visite Anfang Au- arbeiter-Partei.Wie schnell und in gust wollten fast alle Gesprächspartner wis- welchem Ausmaß die Schröder- sen, was denn von einem Außenminister Fi- Riege Arbeitsplätze schaffen kann, scher zu halten sei. „Keinerlei Veränderun- Familie, Bildung, wagt keiner vorherzusagen. gen“, beruhigte Schröder. „Kontinuität“, Bau, Verkehr Justiz Senioren, Jugend Kultur Quer steigt die SPD auch ins In- versicherte der Grüne von daheim. Franz Herta Christine Michael nenressort ein. Rechtsanwalt Otto Die erste außenpolitische Bewährungs- Müntefering, Däubler-Gmelin, Bergmann, Naumann Schily zwingt die Partei auf eine probe für das Schröder-Kabinett könnte 58, SPD 55, SPD 58, SPD 56, SPD ungewohnte Linie bei der inneren Sicherheit: Wie Schröder plädiert der Ex-Grüne, dicht an der CDU, Was im Koalitionsvertrag für einen starken Staat und kon- steht, muß verläßlich sequente Strafverfolgung. Für die Grünen ist Schily eine ständige sein, dahinter kann es kein Reibungsfläche – mit Bruchgefahr. Zurück mehr geben Um das Kabinett zu verkleinern, will Schröder die Bereiche Jugend, Frauen, Familie und Senioren dem umgehend anstehen: eine internationale Gesundheitsministerium zuschla- Militärmission mit deutscher Beteiligung gen. Und auch ein Bauministerium im Kosovo, womöglich ohne Uno-Mandat. soll es nicht mehr geben. Und schon gäbe es den ersten Koali- ...und wie viele halten sie für Die junge Regierung steht un- tionsstreit: Die pazifistisch orientierten kompetent, die anstehenden ter dem Druck, schnell interna- Grünen waren bisher mehrheitlich gegen Probleme zu lösen? tional Vertrauen zu gewinnen. Ka- solche Kriegsaktionen. Die SPD dagegen pitalmärkte wie westliche Bünd- schließt ihr Einverständnis nicht aus. nispartner sehen eine rot-grüne Um Grundsatzkonflikte von vornherein Befragte Anhänger von Koalition in Bonn mit verhaltener zu entschärfen, drängen beide Seiten auf insgesamt CDU/ B’90/ Skepsis. einen klaren, nicht interpretationsfähigen CSU SPD Grüne FDP PDS Um solche Sorgen zu besänfti- Koalitionsvertrag. „Was man darin verein- 22 gen, hat Schröder schon vor Wo- bart, muß verläßlich sein“, so SPD-Ge- 2 39 67 0 52 chen die Geschäftsgrundlage ei- schäftsführer Franz Müntefering, „dahinter nes rot-grünen Bündnisses klar- kann es kein Zurück mehr geben.“ gemacht: „Erstens: ökonomische Im Mittelpunkt eines Handlungsplans für Stabilität. Zweitens: keine Dis- die ersten 100 Tage steht die Bekämpfung Während Riester im Kampf gegen die kussionen und Relativierungen in puncto der Arbeitslosigkeit sowie die Korrektur Massenarbeitslosigkeit vor allem ein funk- innere Sicherheit. Und drittens: Kontinuität sozialer Ungerechtigkeiten. Dazu gehören: tionierendes Bündnis für Arbeit zustande in der deutschen Außenpolitik.“ π ein Bündnis für Arbeit mit Unterneh- bringen will, soll Cyberspace-Überflieger men und Gewerkschaften, Stollmann neue Märkte und Zukunftstech- * Beim SPD-Wahlkampfauftakt im August in Bonn mit π ein Sofortprogramm gegen Jugendar- (1. v. l.), der Bonner Oberbürger- nologien erschließen. Der Modernisierer meisterin Bärbel Dieckmann (2. v. l.) und Anne Haigis beitslosigkeit, das 100000 Stellen schaf- Schröder will weg vom sozialdemokrati- (4. v. l.). fen soll,

Sozialdemokraten Schröder, Lafontaine, Scharping, Müntefering*: Weg vom Image einer alten Industriearbeiter-Partei L. SALZ / LS-PRESS Deutschland

für Jugendliche wieder bezuschußt werden, Deshalb dürfen die Grünen auf manche Alte und chronisch Kranke sollen bei Me- Überraschung gefaßt sein, was die Sturheit dikamenten nicht noch mehr zuzahlen. der SPD bei Streitthemen wie Gentechnik SPD wie Grüne wollen Studiengebühren und Transrapid angeht. verbieten sowie das Bafög reformieren. Konfliktstoff gibt es reichlich: Deutsche Schnell einigen können sich die Regie- Militärtransporter in Kurdistan oder ein rungspartner auch über eine Reform des Atomkraftwerk, das nach Meinung der grü- Staatsbürgerschaftsrechts für in Deutsch- nen Basis nicht rechtzeitig abgeschaltet land geborene Ausländerkinder (ein- schließlich doppelter Staatsbürgerschaft) sowie auf Neuverhandlungen mit den Der Genußmensch Stromkonzernen über einen Energiekon- Schröder und der sens. Der soll nicht nur einen Zeitplan für den Atomausstieg bringen, sondern auch Neo-Asket Fischer würden endlich den Streit um die Entsorgung des sich schnell einigen Nuklearmülls beilegen. Widerstand aus dem Bundesrat, an dem die Kohl-Regierung etwa mit der Steuer- wird – solche Szenarien könnten zum Kri- reform scheiterte, hat die neue Regierung senfall für die Koalition werden. Der ge- nicht zu erwarten. In der Länderkammer wohnheitsmäßige Genußmensch Schröder sichert ihr eine rot-grüne Mehrheit Unter- und der Neo-Asket Fischer würden sich da

AP stützung für ihre Vorhaben. wohl noch schnell einigen. Und auch mit PDS-Politiker Pau, Gysi Alle Wohltaten stehen freilich unter dem dem linken Lautsprecher Trittin „kann Hoffen auf drei Direktmandate Finanzierungsvorbehalt. Als erste Regie- man reden“, findet Schröder. rungsmaßnahme hat SPD-Finanzchef La- Doch viel stärker als je ein Minister der π der Einstieg in eine Steuerreform mit fontaine einen Kassensturz angekündigt. straff geführten SPD sind die grünen Entlastung für untere Einkommen (Ein- „Wir müssen streng die konjunkturelle Si- Kabinettskollegen von ihrer Basis abhän- gangssteuersatz zunächst von derzeit tuation beachten“, erklärt Lafontaine, der gig. Schon das Votum von drei Landesver- 25,9 auf 21,9 Prozent, später auf 15 Pro- früher leidenschaftlicher Verfechter der sammlungen reicht aus, um einen Sonder- zent) und leichter Absenkung des Spit- Öko-Steuer war. Die Sozialdemokraten parteitag einzuberufen und die Regie- zensteuersatzes von derzeit 53 auf zu- sind offenbar entschlossen, die Wirt- rungsvertreter zu fesseln. nächst 49 Prozent, schaftskompetenz, die ihnen die Wähler in Die Realos um Joschka Fischer rechnen π ein Rentenkorrekturgesetz, um vor al- Umfragen neuerdings bescheinigen, nicht fest damit, daß es noch im ersten Jahr der lem Kleinstrenten von Frauen nicht zu wieder zu verlieren. Regierung zu einer solchen Kraftprobe schmälern, Kanzler Schröder, der an die guten Jah- zwischen Pragmatikern und Fundamenta- π Rücknahme der Einschränkungen bei re der Schmidt-Ära anzuknüpfen sucht, listen kommen wird. Setzen sie sich durch, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und hat die Erwartungen dabei hochgeschraubt: so hoffen die Realos, ist der Konflikt ein für beim Kündigungsschutz. „Wir werden uns daran messen lassen, ob allemal entschieden. Um Familien zu unterstützen, wollen wir die Trendwende auf dem Arbeitsmarkt Wenn aber nicht, dann scheitert Rot- beide Parteien das Kindergeld erhöhen schaffen.“ Grün schon im ersten Jahr. Und in der (SPD auf 250, Grüne auf 300 Mark). Im Ge- Berliner Republik regiert die Große Ko- sundheitswesen soll zudem der Zahnersatz * Im mecklenburgischen Malchin. alition. VERSION DVU-Versammlung mit Parteichef Frey (r.)*: Die Rechten sind die große Unbekannte

28 der spiegel 36/1998