Köhler, K (2009). Urbane Kinegrafien: Überlegungen zum Verhältnis von Stadt, Körper und Film in West Side Story und -Filmen. In: Brunner, P; Gertiser, A; Jancso, N; Müller, R; Smid, T. Cinema 54: Stadt. Marburg, Germany, 135-145. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch

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Originally published at: Brunner, P; Gertiser, A; Jancso, N; Müller, R; Smid, T 2009. Cinema 54: Stadt. Marburg, Germany, 135-145. Winterthurerstr. 190 CH-8057 Zurich http://www.zora.uzh.ch

Year: 2009

Urbane Kinegrafien: Überlegungen zum Verhältnis von Stadt, Körper und Film in West Side Story und parkour-Filmen

Köhler, K

Köhler, K (2009). Urbane Kinegrafien: Überlegungen zum Verhältnis von Stadt, Körper und Film in West Side Story und parkour-Filmen. In: Brunner, P; Gertiser, A; Jancso, N; Müller, R; Smid, T. Cinema 54: Stadt. Marburg, Germany, 135-145. Postprint available at: http://www.zora.uzh.ch

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Originally published at: Brunner, P; Gertiser, A; Jancso, N; Müller, R; Smid, T 2009. Cinema 54: Stadt. Marburg, Germany, 135-145. KRISTINA KÖHLER Urbane Kinegrafien

Überlegungen zum Verhältnis von Stadt, Körper und Film in West Side Story und parkour-Filmen

"Was sind die Gefahren des Waldes und der Piärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivili­ sierten Welt verglichen?» Charles Baudelaire

Die moderne Grossstadt ist gefährlich. Sie ist für den menschlichen Körper zu gross, zu schnell, zu unberechenbar. Wer zum ersten Mal in die Grossstadt . kommt - das hat uns nicht zuletzt das Kino in unzähligen Filmen vom Typ «Provinzler kommt in die Hauptstadt» gezeigt - ist zunächst verloren inmitten der überdimensionierten Stadtarchitekturen und dem hektischen Treiben der Strassen. Metaphern wie «Dschungel» oder «Labyrinth» der Grossstadt zeu­ gen von diesem geradezu physischen Effekt, mit dem die moderne Metropole gewohnte Wahrnehmungsmuster so sehr destabilisiert, dass bereits eine kur­ ze Wegstrecke durch das Strassengewirr abenteuerlicher sein kann als ein Ritt durch die von Baudelaire evozierte Prärie. Diese Reibungsfläche von Körper und Stadt hat zugleich eine Reihe ur­ baner Körpertechniken hervorgebracht, die spielerisch mit der der Grossstadt umgehen. Schon frühe Reflexionen zur Grossstadt von Cl1arles Baudelaire, Walter Benjamin, Georg Sirnmel' entwerfen Körperstrategien, die sich genussvoll auf das städtische Treiben einlassen und darin eine neue Erfahr­ und Sichtbarkeit der Stadt entdecken. Während sich der Flaneur bei Baudelaire und Benjamin von einer Strassenszenerie zur nächsten treiben lässt, folgt Ed­ gar Allan Poes «Man of the Crowd» wie hypnotisiert dem Unbekannten durch den Strom der Massen! Die Situationisten begeben sich wiederum mit krea­ tiven Methoden auf ihre derives, indem sie die Pariser Strassen mit einem Lon­ doner Stadtplan erkunden. Damit sind nur einige Stationen einer möglichen Genealogie urbaner Körperpraktiken aufgerufen, die sich mit Breakdancern, Skateboardern, Inline-Skatern, Flashmobbern oder eben parkour bis heute fortschreiben liesse. Insbesondere filmische Medien haben Konfrontationen von menschlichem Körper und städtischen Erlebnisräumen seit jeher besonders eindrücklich in-

135 szeniert. So ist die Sequenz, in der verwandeln sich hier Harold Lloyd in Safety Last! (USA in einen Erlebnisraum, 1923) unfreiwillig die Aussenfassade der eine gewisse Kör• eines Wolkenkratzers erklimmt, zu perlichkeit zu aktivie­ einem der emblematischsten Bilder ren und zu provozieren für die ungleiche Begegnung von scheint. Die augenfällige menschlichem Körper und moderner Körperlichkeit der Cho­ Grossstadt avanciert. Die Besteigung reografien in West Side des Hochhauses wird dabei nicht nur Story war den zeitge­ zum körperlichen Risiko für Harold, nössischen Theater- und Abb. I Fassadenkletterer Harold Lloyd in dessen Aufstieg in die Schwindel er- Tanzkritikern schon Safety Last! regende Höhenakrobatik an der Fas- 1957 bei der Premiere sadenuhr mündet. Zugleich kündigt des Broadway-Musicals sich in Safety Last/-an, dass der auf Um- und Abwegen wandelnde Körper ins Auge gesprungen. umgekehrt auch zu einem Risiko für die hochroutinierten Abläufe der moder­ Der Tanzkritiker J ohn nen Grossstadt werden kann.) So versucht der Polizist in Safety Last! Harolds Martin sah in der cho­ riskante Fassadenkletterei zu unterbinden, während unten auf den Strassen reografischen Inszenie­ und Plätzen die dicht gedrängten Zuschauerrnassen die Verkehrswege unpas­ rung des Musicals durch Abb. 2-3 Über die Körperlichkeit des Tanzes und der sierbar machen. Verlässt er die vorgegebenen Wege, so scheint dieser Film zu Jerome Robbins gar ein Verfolgungsjagden wird der städtische Raum in West Side suggerieren, kann der bewegte Körper zur Irritation für das städtische Ord­ für die Entwicklung des Story erfahrbar nungssystem werden. . Musiktheaters bahnbre- Diese gegenseitige oder Destabilisierung von menschlichem chendes, «methodisches Experiment»: die Handlung des Dramas sollte pri­ Körper und städtischem Raum bildet den Ausgangspunkt für die folgenden mär durch körperliche Aktion gestaltet und weniger durch Dialoge vermittelt Überlegungen. Ausgehend von der Inszenierung urbaner Tänze in West Side werden.4 Story und mit Perspektivierung auf aktuelle Bewegungspraktiken wie par­ Erst die Verfilmung von 1961, die als eines der ersten Musicals nach On The kour sollen mögliche Konstellationen von Stadt, Körper und Film ausgelotet Town (USA 1949) an Originalschauplätzen gedreht worden war, vermochte werden. Am Fluchtpunkt der Überlegungen steht dabei auch die für das Kino jedoch, diese Körperlichkeit in die Strassenzüge der West Side rückzuführen. zentrale Frage nach der Sicht- und Darstellbarkeit der Stadt: Von wo aus ist Vor allem in den Szenen des «Prologues», dessen Choregrafien Robbins für die Stadt zu sehen? Zeigt sie sich im kartografischen Überblick oder über das die Drehorte neu entwarf, scheint das Rennen und Springen der Jugendlichen Eintauchen in das Gewimmel ihrer Strassen, Plätze und Verkehrsschneisen? als unmittelbar physische Reaktionen aus dem Stadtraum hervorzugehen. So schleichen die Jungen gebeugt durch enge Unterführungen, lauern hinter Mau­ erecken, bevor sich diese explosive Spannung auf dem weiten Basketballplatz West Side Story - Von der Macht des kartografischen Blicks zur in raumgreifenden Tänzen entlädt. Dabei wird das Leitmotiv von Robbins' Anarchie kritzelnder Körpergraffiti Choreografien - in die Höhe gestreckte, weit geöffnete Arme, ein seitlich ge­ strecktes Bein und ein sich vom Boden abdrückender Fuss - zu «an unforget­ Dort, wo die Wohnblöcke so dicht beeinander stehen, dass kein Platz für Grün• table image of reaching for sky and longing for space»5. flächen bleibt, schlendern, rennen und tanzen die Jugendbanden in West Side Auch die Filmkamera scheint von dieser überbordenden Körperlichkeit af­ Story Gerome Robbins/Robert Wise, USA 1961) durch enge Strassenfluchten, fiziert. Mit intensiven Nah- und Grossaufnahmen, Vorwärts- und Rückwarts• schlängeln sich durch Unterführungen und hangeln sich an Gitterwänden ent­ fahrten sowie extremen Untersichten folgt sie den Protagonisten dicht auf den lang. Die Häuserfluchten und Hinterhöfe der West Side, in denen sich die Jets Fersen und deckt hinter jeder Häuserecke neue Stadträume auf. Der bewegte und Sharks erbitterte Strassenkämpfe liefern, bilden nicht nur die Kulisse für Körper wird dabei zum Vektor, der die urbanen Räume aufzieht und über die die ins New York der 1950er-Jahre verlegte Romeo-und-Julia-Story, sondern Kontinuität der Bewegung miteinander verbindet. Doch noch bevor die vorbringung des städti• Kamera mit den Banden schen Raumes. Insofern in das Strassenlabyrinth der Gehende an der der West Side hinab­ «undurchschaubare(n) steigt, zeigt der Film ein und blinde(n) Beweg­ anderes Bild der Stadt. lichkeit der bewohnten In einer Top-Shot-Se­ Stadt» 6 teilhabe, aktua­ quenz schwebt die Ka­ lisiere und erweitere er mera - ein gleichsam die Bewegungswege der körperloser Blick - über Stadt. Erst aus der Distanz eines er­ Wolkenkratzerschluch - höhten Aussichtspunk­ ten New Yorks und legt tes - oder eben eines aus der Vogelperspek­ filmischen Top-Shots - tive die geometrischen lasse sich ein sicht- und patterns der Stadt frei. lesbares Gesamtbild der Dieses kartografische Stadt erkennen. Ein sol­ Abb. 4-5 Kartografische Stadtansichten in Bild des urbanen Ord­ cher Blick, beispielswei­ Abb. 6-7 Geometrische Muster schreiben sich in die West Side Story nungssystems schreibt se von einer Aussichts­ Bildkompositionen ein sich auch im Laufe des plattform «verwandelt Films immer wieder in die Bilder ein: Aufsichten legen die Geometrie von die Welt, die einen behexte und von der man war, in einen Text, den Treppenhäusern oder Strassenführungen frei; Balken, Gerüstkonstruktionen man vor sich "\Inter den Augen hat. Sie erlaubt es, diesen Text zu lesen, ein Son­ oder Wäscheleinen durchziehen die Bildkader mit horizontalen und vertikalen nenauge oder Blick eines Gottes zu sein.»7 Während sich das Gehen als raum­ Linien. Und immer wieder blickt die Kamera durch Gitterzäune, deren Ma­ bildende Handlung konstituiere, "lasse das panoptische Sehen eine Ordnung schen das Sichtfeld geometrisch unterteilen. Gerade im «Prologue» gehen diese der Orte erkennen, denen gewisse normative Handlungsvorgaben und Macht­ beiden Ansichten der Stadt immer wieder ineinander über: der körperlichen strukturen eingeschrieben seien. 8 Ebenso wie in West Side Story bilden Gehen Konstruktion des städtischen Raumes werden fortlaufend abstrahierende Auf­ und Sehen in de Certeaus Modell zwei antagonistische Pole, die sich gegensei­ sichten entgegengesetzt, die die geometrischen Wegmuster der Kampfszenen tig bedingen: Das Gehen mache die im Text der Stadt angelegten Wegmuster oder die grafisch anmutenden Gruppenchoreografi.en erkennen lassen. erst sichtbar, zugleich «bejaht, verdächtigt, riskiert, überschreitet, respektiert Mit dem Wechsel zwischen den grafischen Aufsichten und der körperlichen etc. (das Gehen) die Wege, die es ausspricht».9 . Erschliessung der Stadt führt West Side Story nicht nur einen fortlaufenden Auch das Schlendern, Gehen oder Tanzen der Jugendbanden in West Side Perspektivwechsel ein; vielmehr wird die filmische Hervorbringung des städ- Story kann als ein solches destabilisierendes Re-Mapping des urbanen Raumes ~ tischen Raums als Zusammenspiel von visuellen und körperlichen Verfahren gelesen werden. Wird die Stadt über die Allgegenwart von Zäunen und Gittern, verhandelt, die auf den verschiedenen Ebenen des Films ständig ineinander Aufschriften wie «Keep off» oder «No Exit» zunächst als ein höchst reglemen­ überlaufen, sich unterbrechen und affizieren. Damit stellt West Side Story zu­ tierter Gesellschaftsraum dargestellt, begehen die Jets und Sharks diesen Raum gleich auch die medialen Möglichkeiten des Films aus, verschiedene Bilder des auf ihren Streifzügen konsequent entgegen der dort angelegten Bewegungsvor­ urbanen Raumes miteinander in Konkurrenz und Beziehung zu setzen. schriften. Provokativ gehen sie durch eben jene Türen, auf denen «No Exit» Ganz ähnlich beschreibt der französische Soziologe und Kulturphilosoph steht, und klettern über Mauern, die die Bewegungswege eigentlich aufhalten Michel de Certeau in seinem viel zitierten Buch «Kunst des Handelns» (I980) oder umleiten sollen. Diese unkonventionelle Stadtnutzung artikuliert nicht die Produktion des städtischen Raums als Zusammenwirken gehender und se­ nur das jugendliche Aufbegehren gegen das städtische Ordnungssystem, son­ hender, performativer und abbildender Verfahren. Das Gehen in der Stadt, so dern kehrt zugleich die Normativität dieser urbanistischen Entwürfe hervor, de Certeau, konstituiere einerseits die Praxis einer genuinen, körperlichen Her- die geradezu symbolisch für die sozialen und ethnischen Grenzsetzungen zu

I39 Abb. 10-II Schriftzüge im Stadtraum kommentieren die Filmhandlung Abb. 8-9 Stadt-Schreiben: Verschriftlichungen als Aushandlungen des städtischen Raums stehen scheint, gegen die die Protagonisten ankämpfen. Auch die polizeiliche der körperlichen Verunsicherung städtischer Raumordnungen. Die Credits Ordnungsrnacht, verkörpert durch Lieutenant Schrank und seinen dumpfen des Films werden hier als Schichten palimpsestartiger Kritzeleien visualisiert. Begleiter Officer Kruppke, ist stets zur Stelle, um die Bewegungsexzesse der In den Wandgraffiti auf Mauern, Türen und Verkehrsschildern artikuliert sich Jugendlichen zu sanktionieren. Bezeichnenderweise wird schliesslich auch der damit eine geradezu anarchisch wuchernde Schrift, die nur mehr die wirre Tanz selbst zum A~~tragungsort für die Aushandlung von Bewegungsvor­ Bewegung der abwesenden Körper zu dokumentieren scheint. Unter diesen schriften und deren Uberschreitung: So versucht der Tanzlehrer beim «Dance Schriftlinien, die kaum noch auf einen ausserhalb ihrer grafischen Sichtbarkeit in the Gym» ebenso bemüht wie erfolglos, die überschwänglichen Tanzimpro­ liegenden Sinn verweisen, schimmert die Materialität der Stadt selbst hervor. visationen in geordnete Choreografien zu kanalisieren. In ähnlichem Sinne schreibt J ean Baudrillard: «Indem sie die Wände tätowie• Während de Certeau das Gehen in der Stadt über die Metapher einer wider­ ren, befreien (die Graffiti) sie von der Architektur und machen sie wieder zur spenstigen, «blinden» Lektüre imaginiert, scheint West Side Story am Schnitt­ lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt punkt von Choreografie, Kartografie und Kinematografie die Hervorbringung vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung.»') der kinematischen Stadt vielmehr in das Bild eines dynamischen Schreibvor­ Insofern die urbanen Kinegrafiellider Graffiti die der Stadt gangs zu setzen. '0 West Side Story legt eine solche Verschiebung vom Stadt-Lesen hervorkehren, verweist der Abspann des Films auf die Möglichkeit eines der Stadt: Die Körperlichkeit des Gehens und die Abstraktion des Ordnung und deren körperlicher Destabilisierung auch über die Gegenüber• Sehens stehen sich nicht mehr als entgegengesetzte Pole gegenüber, sondern stellung zweier Verschriftlichungen des städtischen Raums ausgetragen wird. laufen in der ebenso körperlichen wie bildhaften Materialität der eingeritzten Neben den kommerziellen Schriftzügen, Strassenschildern und Bodenmarkie­ Mauersteine, Fensterscheiben und Türen zusammen. Die Stadt stellt sich den rungen überziehen unzählige Kritzeleien und Graffiti den städtischen Raum, Jugendbanden nicht mehr als sozial durchwirkter Raum entgegen, sondern die bei näherem Hinsehen zumeist die Namen der Banden oderihrer Mitglieder zeigt sich schliesslich selbst als - äusserst verwundbarer - Körper. in den Stadtraum einschreiben. Diese Graffiti der «Jets» und «Sharks» fungie­ ren nicht nur als Markierungen territorialer Besitzansprüche, die während der Strassenkämpfe fortlaufend überschrieben werden, sondern bilden auch ein Ge­ Parkour: Urbane Spurenleger in instabilen Räumen genmodell zu jenen semantisierenden Schriftzügen, die den Handlungsraum der Stadt mit Vorschriften versehen. Im Gegensatz zur normativen Semiotisierung So wie die Banden in West Side Story die Strasse=üge New Yorks «unsicher» des Stadtraums über Reklame- und Verbotsschilder entziehen sich die «tanzen­ machen, scheinen auch jüngste Körperpraktiken wie parkour und free running den Graphen»II solchen festen Sinnzuschreibungen, ziehen diese gar in Zwei­ über die Konstellation choreografischer, kartografischer und kinematografischer fel. Dieser «Aufstand der Zeichen»" affiziert nicht nur den Bildraum, sondern greift auch kommentierend in die Handlungsebene fies Films ein, beispielsweise dann, wenn Maria die Nachricht vom Tod ihres Bruders erfährt: Mit dem Ab­ gang des Boten schlägt die Tür zur Dachterrasse zu und der dort aufgekritzelte Name «Nardo» wird wie ein Nachhall auf den Verstorbenen sichtbar. Diese unterschwelligen Angriffe auf das Ordnungssystem - sei es jenes der filmischen Handlung oder eines normativ verschriftlichten: Stadtraums - durch die Graffiti erweisen sich spätestens im Abspann als verdichtete Fortsetzung Abb. I2-13 Graffiti als «Aufstand der Zeichen» in West Side Story

140 Verfahren Stadt und ten die traceurs über Be­ Körper ins Verhältnis tonschluchten, mit der zueinander zu setzen. «passe-muraille» über• Spätestens seit ih­ winden sie Mauern und rer spektakulären In­ mit dem «franchisse­ szenierung in Casino ment» schlängeln sie sich Royale (GB 2006) er­ durch Lücken, Geländer fährt die sich seit Ende und Fensteröffnungen. Abb. 14 Parkour als alternative Form der Stadterfahrung der 1980er-Jahre im Standen sich in West in Banlieue 13 Abb. 15 Der kartografische Blick am AusgangspuD.kt von Pariser Vorort Lisses Side Story die lesbare parkour in - Les samourai"s des temps modernes entwickelnde Fortbewegungspraktik le parkour einen regelrechten Hype. Sicht auf die Stadt und Wenn die meterhohen Sprünge von Häuserdächern wesentlich risikoreicher deren kinesische Aneignung noch als zwei unterscheidbare Bilder des städti• als die tänzerischen Körperperformances in West Side Story wirken, so mag schen Raums gegenüber, laufen die traceurs nicht so sehr gegen urbane Bewe­ das auch daran liegen, dass parkour bereits vor seiner filmischen Inszenierung gungsvorgaben an, sondern bewegen sich in der Stadt wie auf einem virtuellen die Stuntchoreografien eines kinematografischen Imaginären aus Filmen wie Stadtplan. Dabei bildet die kartografische Ansicht der Stadt nicht mehr norma­ The Matrix (Andy und Larry Wachowski, USA 1999) oder Computerspielen tive Handlungsvorgaben oder soziale Raumordnurrgen ab, sondern erscheint aufruft. So ist kaum verwunderlich, dass sich parkour-Stunts wiederum vor nur mehr als ein abstraktes Netz grafischer Linien, Raster und Rechtecke, allem über filmische Medien inszenieren. Neben zahlreichen Amateurvideos das zahlreiche potenzielle Wegalternativen bereithält. Unwegsame Orte wie auf Internetplattformen wie Youtube, neben Sportdokumentationen wie Jump Hausdächer oder -fassaden werden in diesem kartografischen Gehen ebenso London! (Mike Christie, GB 2003) setzen rasant geschnittene Werbespots oder zu Durchgangsorten, wie private Schlaf- oder Wohnzimmer unter den Au­ Musikvideos von Madonna oder Daft Punk auf das Faszinationspotenzial die:' gen der aufgeschreckten Bewohner durchquert werden. So aktualisieren die ser Stadtakrobaten. Mit der Unterstützung von Filmemacher und Produzent traceurs die Utopie einer totalen Begehbarkeit des Stadtraums, in dem soziale Luc Besson sind die Begründer der Pariser parkour-Szene jüngst auch zu den Unterscheidungen von privatem und öffentlichem Raum, von begehbaren und Protagonisten einer Reihe französischer Action-Filme wie Banlieue 13 (Pierre unbegehbaren Orten ausgeblendet sind. Morel, F 2004), Yamakasi - Les samourais des temps modernes (Ariel Zeitoun, Diese Entgrenzungen städtischer Räume wird in Filmen wie Banlieue 13 oder F 2001) oder Yamakasi - Les fils du vent (Julien Seri, F 2004) avanciert. Yamakasi auch durch die filmische Spektakularisierung der Body-Stunts voran­ Auch parkour imaginiert die Begegnung von Körper und städtischen Räu• getrieben. In dichten Nah- und Detailaufnahmen folgt die Kamera den traceurs men über die Metapher einer Schrift- bzw. Linienbewegung. Bezeichnender­ auf Schritt und Tritt und intensiviert die Sprünge und Kletteraktionen über eine weise verstehen sich die Teilnehmer der parkour-Bewegung, die sich traceurs bewegte Kameraführung, schnelle Schnitte und extrem rasche Perspektivwech­ und traceuses (frz. Spur, Linie) nennen, als kinegrafische «Spurenleger» durch sel, angetrieben durch eine nachdrückliche Tonspur. Wenn ein einziger Sprung den städtischen Raum. Um eine beliebige Wegstrecke über Häuserdächer, Trep­ von Hausdach zu Hausdach hier bisweilen in bis zu fünf verschiedenen Einstel­ penhäuser und Aussenfassaden der cites festzulegen, wird auf einer (teilweise lungen zerlegt wird, zerfällt damit auch der urbane Raum in eine Verkettung nur noch mentalen) Stadtkarte eine direkte Luftlinie zwischen zwei Punkten A instabiler Räume, die nur noch in Abhängigkeit der sie durchquerenden Körper und B gezogen. '4 Dieser Linie gilt es, möglichst kompromisslos, unter Überwin• wahrnehmbar sind. Der Stadtraum fungiert hier, so suggerieren die Filme, nur dung aller möglichen Hindernisse nachzulaufen. Während der,urbane Raum in mehr als Funktionselement der Bewegung, der als solcher durchquert «

143 nungssystems der Stadt implodiert in den Bewegungsspuren der traceurs, die Spätestens an dieser Stelle zeichnet sich das utopische Potenzial nur mehr Bewegungsverknüpfungenkolportieren, ohne dass sich die durchlau­ perpraktiken ab. Indem sie fixierte Stad träume in dynamische fenen Räume zu kohärenten Raumkonstruktionen zusammenfügen liessen. tionen überführen und die Stadt in einen risikoreichen Erlebnisraum Wie sehr die subversiven Bewegungswege der traceurs dabei jedoch den deln, verweisen die Bewegungsexzesse in diesen Musical- und sozialen Ordnungsraum Stadt verunsichern, verhandeln die parkour-Filme immer auch auf Freiräume und Baulücken in den sozialen insbesondere auf narrativer Ebene. Auch den traceurs in Yamakasi - Les sa­ auf jenes «Somewhere», das Tony und Maria in West Side Story bC:~l.ll~'OI!. mouraisr des temps modernes stellt sich fortlaufend die polizeiliche Ordnungs­ wo sich die visuelle Repräsentation der Stadt und die körperlich-nf'rh,rl1n~t;",;; instanz entgegen, die deren subversive Stadtnutzung zu reglementieren ver­ Hervorbringung urbaner Räume gegenseitig destabilisieren - so suggerieren sucht. Insbesondere über die Getto-Thematik reflektieren und dekonstruieren diese Filme -, geht es eben nicht nur um ein anderes Sehen der Stadt, sondern die fra=ösischen parkour-Filme den Stadtraum als einen sozial-normativen um die Vision einer besseren Stadt. Ordnungsraum. Die Vorstadt wird wie beispielsweise in Banlieue 13 als ein vom Rest der Stadt abgetrennter Sozialraum inszeniert, in dem das staatliche Kontrollsystem ausser Kraft gesetzt ist und in dem (wenn überhaupt noch) Regeln gelten. Die Notwendigkeit, zu gehen, entsteht Anmerkungen hier als gleichermassen körperliche sowie moralische Reaktion auf eine zutiefst Vgl. Baudelaire, Charles: Der Künstler und 10 Von graphein (griechisch) für schreiben. destabilisierte Welt, in der die Gre=en zwischen Gut und Böse zunehmend das modeme Leben. Essays, «Salons», intime 11 De Certeau, a.a.O., S. 196. verwischen und Polizisten und Staatspräsidenten die eigentlichen «Verbre­ Tagebücher. Leipzig 1990; Benjamin, Walter: 12 Baudrillard, J ean: Kool Killer oder Der cher» sind. In diesem Kontext wird der traceur in Banlieue 13 und den Ya­ Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter Aufstand der Zeichen. Berlin 1978, S. 28. makasi-Filmen zu einem Kleinkriminellen, der sich in normativen Grauzonen des H ochk-apitalismus. Frankfurt/Main 1997; 13 Ebenda, S. 35. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geis­ 14 «Tracez sur un plan de votre ville une li­ zwischen korrumpierten Gesellschaftsnormen und einer eigenen Setzung von tesleben. Frankfurt/Main 2006. gne droite, partez du point A et rendez-vous Gerechtigkeit bewegt. «Wir machen es auf unsere Weise», so das prägnante 2 Poe, Edgar Allan: «The man of the crowd,>, au point B. Ne considerez pas les elements Credo der Yamakasi, wenn sie in Yamakasi - Les samourais des temps moder­ in ders.: The complete tales and poems. New qui sont sur votre chemin (barrieres, murs, nes für die lebensrettende Operation eines Jungen aus dem Ghetto in guter York 1938, S. 474-48l. grilles, arbres, mais on, building) comme des 3 Vgl. Smith, Jacob: «The adventures of the obstacles. Epousez-Ies: escaladez, franchissez, alter Robin-Hood-Manier in die Villen jener Ärzte einbrechen, die ihr Vermö• human fly, 1830-1930», in: Early Popular Visu­ grimpez, sautez; laissez aller votre imagination: gen mit illegalem Organhandel usurpiert haben. al Culture, 6:1,2008, S. 51-66. vous parkourez.» Severine Souard, «The Tree Besonders markant verhandelt auch der Film Breaking and Entering (USA/ 4 Vgl. Martin, John: «. In einem Gespräch mit seiner Mutter Amira deutet Mirsade an, dass ihm parkour eine neue Sichtbarkeit der Stadt ermögliche:

Amira: Jump from building to building. 15 it amazing? Mirsade: Yes .... You see the city. Amira: What is it like? Mirsade: ... (Pause) ... Better.

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