Hübsche Hintern
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KULTUR mit reines Sehnsuchts-Sti- mulans. „Du bist die einzi- ge“, versprechen die fünf Schmeichler großherzig den zehntausend Mädchen, die ei- ne große Arena füllen und von trainierten Jungen-Körpern träumen. Minderjährige Kon- zertbesucherinnen betteln auf Schildern um sofortigen Ge- schlechtsverkehr: „Fick mich, Mark!“ Selbst die Londoner Zeitung Daily Express freute sich nach einem Konzert über diesen „geilen Spaß“. Und seriöse Blätter wie der britische Inde- pendent fragen sich, wie es kommen konnte, daß die weib- liche Jugend des Königreichs Teenie-Band Take That: „Manchmal weine ich und habe Angst, verrückt zu werden“ fünf Halbstarken verfällt: „Warum schreien die nur so?“ Pop Das trifft auf einem Gebiet tatsächlich Dabei ist das Phänomen nicht neu. zu: Take That sind zumindest als Verfüh- Bereits in den Vierzigern sang der junge rer derzeit auf dem Popmarkt ohne Kon- Frank Sinatra noch jüngere Amerikane- kurrenz. Tausende weiblicher Teenager rinnen um den Verstand; in den Fünfzi- Hübsche verlieren bei ihren Konzerten gewöhn- gern war es der Hüftschwung von Elvis, lich Stimme, Fassung und Verstand. der Frauen verrückt machte; und in den „Manchmal sind sie so hysterisch, daß wir Sechzigern hatten die Beatles den Hintern die Show unterbrechen müssen“, sagt schönsten Unschuldsblick und ebensol- Bandmitglied Jason Orange, 23. Eine ge- che Melodien. Die britische Popband Take That plante Fernsehsendung mit Take That Die Triebabfuhr als pubertäres Mas- singt ihr weibliches mußte kürzlichabgesagtwerden–der bri- senerlebnis wurde Ende der Achtziger tische Sender BBC konnte für die Sicher- mit medialem Geschick zur Perfektion Publikum um den Verstand. heit der Gäste nicht garantieren. getrieben: Amerika gebar New Kids on Keiner der fünf An- s war ein schwarzer Tag für Ray gehimmelten geht mehr Cokes, Moderator des Musiksen- ohne Leibwächter auf Eders MTV. Anstatt Fragen zu be- die Straße; Flughäfen antworten, begannen seine Gesprächs- betritt die Band nur partner zu kreischen. Dann entglitt durch versteckte Sei- dem Mann im Gemenge das Mikrofon, teneingänge. Fans be- die Kamera verlor ihn aus den Augen lagern sogar die Häu- – alles live auf dem europäischen Ka- ser der Eltern im hei- belkanal. matlichen Manchester. Vor der Tür des Londoner Studios Mark Owen, 21, den brüllten sich Hunderte junger Mädchen seine Verehrer zum die Kehlen heiß, sendereife Sätze wa- „liebenswertesten Pop- ren nicht dabei. Auch am Telefon star“ kürten, sitzt dann drang – aus Irland, Belgien und zu Hause hinter zu- Schweden – wenig mehr als Seufzen gezogenen Vorhängen und Stammeln ans Ohr. Der Grund für und wagt nicht, das Take-That-Fans: Ein Bube für jeden Geschmack die weibliche Verwirrung saß im Stu- Licht einzuschalten: dio und grinste breit: An solchen Auf- „Manchmal weine ich und habe Angst, the Block, eine Marionettenband, die ruhr hat sich die Popband Take That verrückt zu werden.“ verschiedene Images von Männlichkeit längst gewöhnt. Auf der Bühne jedoch schüren die und Musikstile miteinander verschmolz Die fünf Briten, alle erst um die 20, fünf das Feuer, das weibliche Teenager – der Angriff der Postmoderne auf die haben die Musikkarriere des Jahres in Erregung versetzt. Ihre Auftritte glei- Popwelt. hinter sich: Ihre Platte „Everything chen denen eines erotischen Männerbal- Take That sind nach demselben Changes“ belegte wochenlang den letts. Sie tragen nicht viel Kleidung an schlauen Prinzip zusammengesetzt – ein Spitzenplatz der britischen LP-Charts, ihren muskulösen Körpern und fassen Bube für jeden Geschmack, vom Zie- drei Singles wurden nacheinander und sich schon mal beherzt in den Schritt. genbart bis zum Milchgesicht. Und die in nur wenigen Tagen Nummer eins – Sie wechseln hinter einem fast durch- Musik ist aus dem Bodensatz gängiger einer der größten Poperfolge seit den sichtigen Seidenvorhang die Hosen, die Poptrends gefiltert. sechziger Jahren. Drei Tourneen wa- sie manchmal auch ganz herunterlassen. Wie New Kids on the Block sind auch ren bereits ausverkauft. Die Leser der Fans sind sich einig: „Die haben hüb- die neuen englischen Jungs das Kunst- größten britischen Teen-Postille Smash sche Hintern.“ produkt ihres Managers. Der nämlich Hits wußten, warum: Take That, so er- Die süßliche Musik besorgt den Rest. brachte vor drei Jahren zwei junge Mu- klärten sie per Briefwahl, sei schlicht Sie ist pures Zuckerwerk, voll weicher siker mit zwei Tänzern zusammen. Ein „die beste Band der Welt“. Beats und klebriger Melodien – und da- fünfter wurde von seiner Mutter per DER SPIEGEL 2/1994 155 KULTUR Brief empfohlen. Damals traten Take täglich den Pet-Shop-Boys-Song „Can der Erfolg solch modischer Gitarrenrok- That noch in Schulen und auch in You Forgive Her?“, begleitet von jeweils ker wie der Spin Doctors und Soul Asy- Schwulenklubs auf – Homosexuelle ge- vier Minuten knalliger Videobilder. Und lum sei fast nur auf MTV zurückzufüh- hören auch heute noch zu ihrem Publi- seit September drillte sich auch das Stück ren. Und die Stone Temple Pilots, mit kum. Ihre erste Single erschien bei einer „Go West“ in die Hörzentren der MTV- ihrem Debütwerk in den USA erfolg- kleinen Firma, die nur Tanzplatten ver- Gucker, in einer Frequenz, die bei Mar- reich, bekannten: „Ohne MTV würden legte, und kaum einer wollte sie hören. ketingstrategen „Heavy Rotation“ heißt: wir heute noch durch die Klubs touren.“ Die Band tingelte durchs Land, gab 25mal pro Woche. In Europa ist MTV vor allem da von manchmal fünf Konzerte pro Tag. Sie Als die Langspielplatte, der beide Bedeutung, wo es keine anderen Musik- brauchte zwei Jahre bis zum ersten Hit. Stücke entnommen sind, Ende Septem- sender gibt: in Schweden, Dänemark, Heute gieren 120 000 Mitglieder im ber endlich erschien, waren die Fans Holland und Belgien. In Deutschland, größten britischen Fanklub nach immer längst süchtig nach den Songs. „Very“ dem drittgrößten Popmarkt der Welt, Neuem aus dem aufregenden Leben wurde in wenigen Tagen Nummer eins sendet seit sechs Wochen der MTV- von Gary, Howard, Jason, Mark und der britischen Charts und eine der erfolg- Konkurrent Viva – bislang ohne große Robbie; 5000 Briefe treffen jeden Tag reichsten Pet-Shop-Boys-Platten. Resonanz. ein. Der Angriff der blauen Kartoffeln „Im deutschen Fernsehen findet Pop- Der Ruhm wirft auch Schatten: Zu könnte Geschichte machen: Zum ersten- musik ja gar nicht mehr statt“, klagt den dunklen Seiten des Popgeschäfts gehört die Häme der Journalisten. Denn die halten die jungen Schönen einfach nur für blöde, weil die Jungs zu- geben, daß ihre liebsten Hobbys Haus- tiere sind und Fußballvereine, Astro- logie und Bücher über den Krieg. Im Londoner Evening Standard hieß es, die Lieblinge der Mädchen hätten „Marshmallows im Hirn“. Trotzdem dämmert den Verführern in trüben Stunden die grausame Wahrheit: „Morgen schon könnten wir Geschichte sein.“ Y Stars Angriff der Kartoffeln Die Plattenbranche entdeckt den Musikkanal MTV Pop-Duo Pet Shop Boys: Genialisch schlicht als kostenlose Werbewaffe. mal hat der Plattenkonzern Emi darauf Thomas Starckjohann von der Hambur- verzichtet, eine Erfolgsband für Inter- ger Firma Polydor übers restliche Pro- ine blaue Kartoffel wabbelt durch views durch die Studios der europäi- gramm. Mit Hilfe von drei MTV-Video- den Weltenraum, rote Bälle stru- schen TV-Sender zu schleusen. Die Pet clips hat er die isländische Sängerin Edeln wie Blutkörperchen. Zwei ko- Shop Boys haben sich ganz dem Privat- Björk bekannt gemacht – der vierte ist mische Kerle in orangefarbenen Anzü- kanal MTV verschrieben. Musikclips, vor kurzem erschienen. Auch das letzte gen und spitzen Hüten dirigieren das Interviews, sogar ein ganzes „Pet Shop Werk der rappenden Beastie Boys wur- Chaos, und schnell wird dem Betrachter Boys Weekend“, alles exklusiv aus Lon- de nur mit MTV groß; Radio-Diskjok- klar, was auf dem Bildschirm vor sich don – ein perfektes Geschäft: Die Musi- keys wollten die Songs mit den unfläti- geht: Das ist die Vision vom kraftvoll ker liefern dem TV-Kanal das Pro- gen Texten nicht spielen. pumpenden Kreislauf des Popgeschäfts. gramm, und der macht für die Popware Die MTV-Begeisterung der Platten- Die orangefarbigen Männchen gehö- Werbung. Promoter hat finanzielle Gründe: Kein ren zu den Virtuosen dieser Branche. Damit hat der Musiksender, der 56 Medium ist so billig wie der Clip-Kanal, Neil Tennant und Chris Lowe, seit fast Millionen Haushalte erreicht, alle Re- die Firmen zahlen nur für die Herstel- einem Jahrzehnt besser bekannt als Pet geln der Musikvermarktung gebrochen. lung der Videos. Zum guten Ton gehört Shop Boys, sind das erfolgreichste Pop- Seit MTV-Europe, 1987 gegründet, in es, Anzeigen zu schalten, die sich häufig Duo der Welt. Ihre Platte „Very“ beleg- die Kabelnetze funkt, verlieren Zeitun- von Clips kaum unterscheiden. Firmen te Spitzenplätze in mehreren europäi- gen und Magazine, lokales Radio und und Fernsehsender veranstalten ge- schen Hitlisten – und das verdanken die Fernsehen als Werbewerkzeuge der meinsam Gewinnspiele – das kostet beiden Briten nicht nur ihrem Talent, Popbranche an Bedeutung: Für Emi ist dann wenig mehr als eine Flugreise. mit genialisch schlichten Melodien zu der Sender heute gar „das wichtigste Die sonst so fernsehfaulen Pet Shop verführen. Ihre besten Verkaufsargu- Marketinginstrument“. Boys eilten für MTV gar nach Moskau, mente sind neuerdings Bilder. Ihre Oft macht ein guter Clip einen flauen um dem Sender bei der Eroberung Ruß- Wunderwaffe heißt MTV. Seit Juni Song zum Hit: Das britische Popblatt lands zu helfen. Darüber berichtete spielte der Londoner Sender mehrmals Melody Maker behauptete vor kurzem, dann die Weltpresse. Kostenlos. Y 156 DER SPIEGEL 2/1994.