Kultur

REGISSEURE Der Feldherr von Der dänische Quälgeist und Regie-Monomane zeigt in „“ ein finsteres Amerika. Demnächst soll er Wagners Bayreuther Götter das Fürchten lehren. Von Urs Jenny

itten in Hvidovre, einem Vorort Lars von Trier hat zwei Filme gemacht, von Kopenhagen, gibt es einen die in Amerika spielen, und mindestens Mkleinen Platz, der wie das Zen- zwei weitere sollen folgen. Ihn selbst trum eines amerikanischen Provinzkaffs stört es nicht, dass sein Amerika eine in aussieht, wo vor drei oder vier Jahrzehn- Hvidovre erfundene, aus vielerlei Filmen ten die Zeit stehen geblieben ist. Ein paar und aus Büchern von Mark Twain oder verdreckte Oldtimer mit Nummernschil- Steinbeck oder Faulkner zusammenphan- dern aus Virginia stehen herum, darüber tasierte Kunstwelt ist. Doch schon sein der blanke dänische Himmel: eine rundum erster Amerika-Film, das überwältigende geschlossene Filmkulisse. Hier dreht der Melodram „“ (2000) Regisseur („Das Fest“) mit der Popsängerin Björk in der Rolle ei- den Film „Dear Wendy“, den er zusammen ner aus Osteuropa stammenden Fabrikar- mit Lars von Trier geschrieben hat. Und beiterin, die einem Justizmord zum Opfer welcher Star spielt Wendy? „Wendy is the fällt, erregte Unmut: Manche amerikani- name of a gun“, sagt Trier. Aber man sieht: sche Kritiker fanden, empfindlich wie sonst Da entsteht, made in Denmark, einmal nur Kleinstaatler, Trier habe ihr Justizsys- mehr ein ungemein amerikanischer Film. tem in ein schmählich schiefes Licht ge- Von Amerika kommt er nicht los. Lars rückt. Dabei hatte er den Knoten des Gal- von Trier, wie wohl fast jedermann, hasst genstricks, mit dem die Heldin exekutiert Amerika und liebt Amerika – beides sehr wird (eine Spezialität des Bundesstaats heftig. Das Besondere an seinem Fall ist, Washington), akkurat nachknüpfen lassen. dass das Amerika seiner Filme ausgedacht Auch Triers neuer, im Mai beim Festival ist. Er war noch nie dort und wird „ziem- in Cannes uraufgeführter Amerika-Film lich sicher“ (Trier) auch nie dorthin kom- „Dogville“, der nun, drei Stunden lang, in men: Dem steht seine Flugangst entgegen, die deutschen Kinos kommt, hat im Mut- seine Reiseangst überhaupt, seine legen- terland der Demokratie Missfallen erregt: däre Klaustrophobie und die ganze Horde Vom Prinzip der Demokratie gebe, so heißt weiterer Phobien, die hinter seiner kom- es, „Dogville“ eine ganz erbärmliche Vor- „Dogville“-Star Kidman, Regisseur Trier: Ganz plizierten Seele her sind. stellung. Und wenn schon. Trier macht es Wie lächerlich! Er ist, neben Pedro Al- sich und seinem Publikum nicht leicht: Am verlassen, doch ohne Seelsorger, seit sich modóvar, der berühmteste, wirkungsmäch- Anfang scheint alles so schön und gut zu der letzte Pfarrer davongemacht und das tigste europäische Filmemacher seiner Ge- sein, dass man seinen Augen kaum traut, Feld für einen hochmütigen jungen Spinner neration, und da steht er nun – kurz, kom- und am Ende ist es so ganz und gar böse, geräumt hat, der nun im Bethaus Moral- pakt und stoppelbärtig – unter dem hellen dass es einem den Atem verschlägt. predigten hält. Gott schaut (in der ersten Himmel von Hvidovre und lacht über die Man muss sich Dogville als ein Kaff am Einstellung des Films) aus sehr großer Höhe eigene Lächerlichkeit wie ein Faun. Arsch der Welt vorstellen. Nicht total gott- auf dieses Dogville und seine Einwohner Es gelinge ihm ja, sagt er, seinen Phobien ein Schnipp- chen zu schlagen, indem er im eigenen Wohnmobil auf Rei- sen gehe – etwa nach Cannes zu den Filmfestspielen oder neuerdings nach Bayreuth –, doch in Deutschland werde ihm schon kurz hinter der Grenze der Hamburger Elb- tunnel zum unpassierbaren Hindernis. Was für eine Posse! Er lässt sich die Glückstädter CINETEXT CINETEXT Elbfähre empfehlen. „Europa“, 1991, mit Barbara Sukowa „“, 1996

172 der spiegel 43/2003 tains. Sie scheint „die verfolgte Verletzlichkeit rührt mancher Schmerz- Unschuld“ in ihrer ganzen Blü- moment ans Unerträgliche. tenreinheit zu sein, wie sie aus In Hvidovre, Dänemark, liegen, rundum den empfindsamen Romanen hinter der potemkinschen Amerika-Kulisse des 18. Jahrhunderts (und de- von „Dear Wendy“ verborgen, die Büro- ren Gegenstücken aus der Feder und Lagergebäude des dänischen Produk- des Marquis de Sade) bekannt tionszentrums Filmbyen, zu dessen Grün- ist, auch aus Opern des 19. und dern und Hauptträgern Lars von Triers Stummfilmen des frühen 20. Firma Zentropa gehört. Was Filmbyen Jahrhunderts: Sie heißt Grace, fehlt, ist eine große Atelierhalle, deshalb und schon dieser Name gibt ihr ist Trier für die Produktion von „Dancer in über die Schönheit hinaus eine the Dark“ und dann auch für „Dogville“ messianische Aura. nach Schweden gegangen. Er überschaut Natürlich nimmt der junge das Filmbyen-Gelände, als wäre es sein Spinner und Möchtegern-Dich- Reich, doch paradoxerweise hat er dort ter namens Tom sie in seine noch nie gedreht. Für ihn ist es der Ort, wo Obhut. Er bewirkt, dass die an- er seine Filmwelten ausheckt. fangs misstrauische Gemeinde In der abgelegensten Ecke, hinter einem der Fremden ein Eckchen ein- Erdwall versteckt wie das Zwergenheim räumt – um den Preis, dass hinter den sieben Bergen, hat sich Lars von Grace sich im Turnus bei allen Trier in einem Schuppen eine geräumige rundum als Hilfskraft in Haus Schreibklause eingerichtet: Computer und oder Garten oder auf dem Video-Elektronik, durchgesessene Polster- Acker gefällig macht. Grace in garnituren und ein Ruder-Trimmgerät, eine ihrer unendlichen Sanftmut und Kaffeemaschine und vielerlei Souvenir- unerschöpflichen Güte scheint Krimskrams bis hinab zu einem post- Wunder zu wirken, das dürre kartenkleinen Bild von Ludwig II. Dem Dorf scheint zu erblühen. Märchenkönig zuliebe hat er einen seiner Doch dann, Schrittchen um Söhne Ludwig genannt, und bei der nächs- Schrittchen, wendet das Wetter ten Deutschland-Reise, wenn sie denn sein sich: Das Gute, das Grace ver- muss, soll Neuschwanstein auf dem Pro- körpert, weckt in ihren Nach- gramm nicht fehlen. barn das Böse; sie lehnen sich Wenn Trier über „Dogville“ spricht, auf und schlagen zurück, als spricht er über sich selbst. „Ganz unbe- hätte sich Grace’ allerchristlichs- dingt ist das der persönlichste Film, den ich te Nächstenliebe, von Tag zu je gemacht habe.“ Er selbst, sagt er, sei im Tag unzumutbarer, in einen höl- Grunde wie Tom, dieser besserwisserische lischen Tugend-Terror verwan- Moralist, der sich, wenn es wirklich darauf delt. Ist Reinheit etwas so Un- ankommt, als Scheißkerl erweist. Doch er erträgliches, dass sie nach Be- sehne sich mit allen Fasern danach, wie sudelung schreit? Grace zu sein: durch und durch menschen- Die schöne Fremde – durch freundlich und hilfreich und gut. Irgend- die Frauen immer fieser gede- wie ist er noch immer der Junge, den die mütigt, durch die Männer im- Vorstellung verwirrt, seine Mutter habe sich mer brutaler missbraucht – ver- eigentlich ein Mädchen gewünscht. „Dass

ROLF KONOW / ZENTROPA KONOW ROLF sucht vergeblich zu fliehen, und ich sein will wie Grace – bedeutet das, dass und gar menschenfreundlich und hilfreich und gut dann scheint ihr Leidensweg ich eine Frau sein möchte? Als ich klein schnurgerade vom Schlimmen war, habe ich mich immer ein bisschen ge- herab: Wie kleine Figürchen auf einem zum Schlimmeren und Allerschlimmsten schämt, ein Junge zu sein. Vielleicht schä- Spielbrett wirken sie da. zu führen. In der unsentimentalen Gerad- me ich mich noch immer. Schauen Sie sich Es sind die dreißiger Jahre der Armut linigkeit und Genauigkeit dieser Passions- doch um: Alle Bösewichter sind Männer. und Dürre und Depression. Eine schöne erzählung erweist sich Lars von Trier, mehr, Gibt es irgendwas Gutes auf der Welt, was junge Frau tritt auf, gehetzt, außer Atem, als man ihm zugetraut hätte, als großer die Männer gemacht haben? Nur die Frau- und hofft auf eine Bleibe, ein Asyl in dem Dramatiker, und durch das Spiel von Ni- en sind gut. Mein Leben ist von meinen weltvergessenen Nest in den Rocky Moun- cole Kidman in der hellsten Glorie ihrer Ängsten bestimmt. Vielleicht möchte ich mich wie die Heldinnen mei- ner Filme aufopfern, um die Welt zu erlösen.“ Ängste, wenn man dafür anfällig ist, lauern in jeder Si- tuation, die man nicht unter Kontrolle hat, und weil es im realen Leben bekanntlich von Fallen wimmelt, ist für den

DPA Phobiker der Beruf des Regis-

Trier-Filme Immer noch eine Passion der DEFD „Idioten“, 1998 „Dancer in the Dark“, 2000, mit Björk und Catherine Deneuve verfolgten Unschuld

der spiegel 43/2003 173 DPA MIKKEL OSTERGAARD MIKKEL OSTERGAARD Bayreuther „Ring“-Inszenierung (2000), künftiger Bayreuther „Ring“-Regisseur Trier: „Alle Bösewichter sind Männer“ seurs so verlockend und so gefährlich und schwerlich ertragen. Es geht um schöne Der Vater, offenbar stiller und eher dem so optimal: immer alles im Griff, immer al- Kunstfiguren, um eine Form, um eine Sozialdemokratischen zugeneigt, hatte jü- les auf Kommando! Dass er ein gnadenlos ästhetische Idee von Erlösung.“ dische Vorfahren, und der junge Lars lief, perfektionistischer Kontrollfreak sei, ist Trier besteigt ein tarnfarbig geschecktes um sich auf seine jüdische Identität zu tes- nicht das Schlimmste, was man Lars von Elektromobil, um durch Filmbyen zu gur- ten, gelegentlich mit einer Kipa auf dem Trier nachsagt. Doch er gibt zu: Es ist ken, ziemlich feldherrenmäßig. Vor einem Kopf herum. Auch die weitaus bedeutends- schlimm, und bei der Dreharbeit muss er Jahrhundert war das Gelände eine friedli- te Rolle, die er je in einem eigenen Film ge- manchmal durch Tricks seine Kontroll- che kleine Garnison. Aus den backsteinro- spielt hat, ist (in „Europa“, 1991) die eines obsession überlisten, damit sie ihm nicht ten Kasernen sind Apartmenthäuser ge- jungen Juden. den Schaffensprozess lahm legt. Dann ist worden, in der Kommandantur hat ein Zir- Der Kopenhagener Filmstudent Lars Chaos als Kreativprinzip angesagt (pro- kusmuseum sein Dauerquartier gefunden. Trier jedoch verlieh sich die Identität eines grammatisch in seinem Film „Idioten“), In der Turnhalle, die jetzt als Filmbyen- „Lars von Trier“, wofür es diverse, auch doch am Schneidetisch ist er dann wieder Kantine dient, erinnern patriotische Ge- widersprüchliche Begründungen gibt; ei- ganz Herr der Lage, Alleinherrscher, He- mälde an die Ereignisse von 1864. „Jeden nem provokationslustigen Ex-Jungkom- xenmeister, Master of the Universe. Krieg, den wir Dänen begonnen haben“, munisten stand die Selbstnobilitierung je- Dennoch: Kann es sein, wie manche behauptet Trier und lacht, „haben wir denfalls nicht schlecht. Auf ihrem Totenbett Anekdote unterstellt, dass Lars von Trier prompt auch verloren.“ erst, so sagt die Legende, habe die Mutter ein Regie-Sadist ist, der die Arbeit beson- An einem der langen Kantinentische dem Sohn gebeichtet, dass sein vermeint- ders für seine Heroinen-Darstellerinnen drängt sich die „Dear Wendy“-Truppe, an licher Vater nicht sein leibhaftiger gewesen zur Qual macht? „Aber nein, nein, wirklich einem anderen sitzt im proletarischen sei: Die jüdische Identität erledigte sich da- nicht“, sagt er mit einem Lächeln, das um Blaumann Triers älterer Bruder, der zur mit als imaginär, das Außenseiterbewusst- Verständnis bittet. „Ich bin doch ein Maso- sein jedoch fand sich bestätigt. chist. Oder sagen wir: Meine weibliche Sei- Eines Tages hat er sich dann auch noch te ist masochistisch und nur meine männ- „Alles in allem ist der katholisch taufen lassen, was in einem so liche sadistisch. Ich quäle meine Schau- Katholizismus für mich so triefend protestantischen Land wie Däne- spielerinnen nicht. Sie werden lachen – ich etwas wie Wagner.“ mark dem Bekenntnis zu einer recht ex- habe viel öfter das Gefühl, dass sie mich klusiven Minorität gleichkam. In Spanien, quälen.“ Und er lacht. „Dabei möchte ich Techniker-Crew von Zentropa gehört, und wo ja jedermann katholisch ist, wäre er es nur gut zu ihnen sein. Ich möchte, dass sie Trier stellt ihn als Repräsentanten einer bestimmt nicht, sagt Trier heute, sein Be- mit mir glücklich sind.“ aussterbenden Spezies vor: „Einer von Dä- dürfnis nach Besonderheit geradezu par- Es gibt eine berühmte Ausnahme, wie nemarks letzten Kommunisten.“ Als Lars, odierend. Auch sei er ein lausiger Katho- Trier zugibt: Björk. „Sie ist einfach unfähig Jahrgang 1956, noch klein war, hat ihn der lik, da er mit den Meinungen des Papstes zu jeder Art von Verstellung, von Schau- große Bruder an die Hand genommen und wenig anfangen könne. Doch unter däni- spielerei, und es gehört zu ihrer Einzig- zu Demos, Versammlungen oder derglei- schem Himmel hält er, im Vergleich mit artigkeit, dass sie überhaupt nicht kapiert, chen mitgeschleppt. Die Mutter fand das in der ungnädigen Bitterkeit des Protestan- wozu das gut sein soll. Ich habe dieses Pro- Ordnung; sie war, der Legende zufolge, tismus, den Katholizismus für die „gesün- blem nicht vorausgesehen, und weil ich Kommunistin, Anarchistin, Feministin; sie dere“ Religion: Die Idee von Beichte und ‚Dancer in the Dark‘ nicht daran scheitern vermittelte dem Jüngsten offenbar stark Vergebung sei für einen so schuldbesesse- lassen wollte, musste ich Zwang ausüben. ihren Wunsch, es solle ein Künstler aus nen Menschen wie ihn etwas Herrliches Es tut mir Leid, aber weil Björk ist, wie sie ihm werden, ließ ihn nach Laune die Schu- und erst recht der ganze Marienkult. „Al- ist, wird sie mir das nie verzeihen. Schade.“ le schwänzen und förderte seine kindlichen les in allem ist der Katholizismus für mich Draußen in der Mittagssonne vor seiner Produktionen mit der 8-mm-Kamera. so etwas wie Wagner.“ Zelle sagt Trier: „Damit wir uns nicht miss- Lars scheint eines jener Kinder gewesen Und was ihn damals zur Taufe bewegte, verstehen: Ich leide nicht unter der Wahn- zu sein, die sich sozusagen von Geburt an gilt nach wie vor: die Liebe zu einer Katho- vorstellung, dass Frauen im wirklichen als Außenseiter vorkommen, obwohl kein likin. Lars von Trier lebt, mit inzwischen Leben martyriumssüchtige Masochistin- Anlass dafür zu greifen ist; im Kampf mit vier Kindern aus zwei Ehen, noch heute in nen seien. Ich könnte solche Frauen auch diesen Gefühlen hat er sich hochgeboxt. seinem Elternhaus und möchte nie im Le-

174 der spiegel 43/2003 Kultur ben woanders hinziehen müssen. Er ist zum ersten Mal hörte, „wie ein absoluter aufführung auf leerer schwarzer Bühne, ein Flachlandmensch, auf ein paar Selbst- Tabubruch“ gewirkt: „Ein Schock! Ein wobei man sich nur das Unentbehrlichste widersprüche mehr oder weniger kommt Knalleffekt! Toll!“ Von diesem Schluss her, an Ausstattung geleistet hat. Aber wann es ihm nicht an, und er liebt, katholisch also rückwärts, hat er die „Dogville“-Ge- und wie er auf dieses Konzept gekommen oder nicht, die Märtyrerinnen. schichte entwickelt, und so wird auch sei- ist? Lars von Trier krault zögernd den Stop- „Das muss eine dänische Macke sein“, ne Grace am Ende errettet, befreit: Gott, pelbart. Das Drehbuch sei im Groben be- sagt er, denn der Regisseur, den er am in- wie fern auch immer, hat sich eines Besse- stimmt schon fertig gewesen und auch Ni- nigsten bewundert, der unergründliche ren besonnen. Wir hören Grace wie die cole Kidman schon mit von der Partie. Er Däne Carl Theodor Dreyer, hat von sei- Seeräuber-Jenny sagen: „Alle!“, und es habe unter leichtem Zeitdruck bereits Hin- ner „Passion de Jeanne d’Arc“ (1928) bis kommt wie bei Brecht: „Die Stadt wird ge- weise gesammelt, wo im Gebirge, etwa in zu „Gertrud“ (1964) wieder und wieder macht dem Erdboden gleich.“ Norwegen oder Schottland, er sein ima- Frauenmartyrien inszeniert. Und diesem Was aber hat diesen Umsturz bewirkt, ginäres Rocky-Mountains-Kaff unter zu- Genre sind auch die drei Trier-Filme vor diese Rebellion der bislang so opferwilligen mutbaren Bedingungen ansiedeln könnte – „Dogville“ zuzurechnen, die er selbst, weil Trier-Heroine, diesen beispielhaften Ex- doch dann, eines Abends beim Zappen vor sie von einem Kindermärchen angeregt zess weiblicher Rache? „Ja, wenn ich das dem heimischen Fernseher, habe er die ret- sind, seine „Goldherzen“-Trilogie nennt: doch selbst so recht wüsste“, grübelt Trier. tende Tabula-rasa-Lösung gefunden. „Ich bin nicht der Typ, der viel ins Thea- ter geht. Übrigens auch nicht ins Kino. Aber beim Zappen durch alle TV-Kanäle ist mir immer wieder aufgefallen, dass ich bei Theaterübertragungen hängen bleibe – weil sie durch ihre Andersartigkeit auf- fallen. Man hört anders zu, und man schaut anders hin, wegen der Sprache natürlich

Zu viele Stars, zu große Egos, grau geschminkt, in zu kleinen Rollen. und wegen der Kameraführung, die den Menschen mehr Raum lässt.“ Und plötzlich war für ihn klar, dass er als Drehort – auf den Boden einer großen schwarzen Bühne gemalt – nichts als den Grundriss von Dog- ville haben wollte, wie er ihn sich während der Schreibarbeit auf einem Stück Papier skizziert hatte: Theater. Natürlich ist das weit mehr als Arbeits- ökonomie und Produktionspragmatismus. Die rigorose Ästhetik hebt „Dogville“ hoch über den Mief eines kleinteiligen, krüme- ligen Milieurealismus hinaus ins Exempla- rische, und der Stil hält dem Anspruch stand. Es geht Lars von Trier immer darum,

MICHEL EULER / AP MICHEL EULER seine Sache in die klarste, entschiedenste „Dogville“-Premiere in Cannes mit Kidman und Trier: Karriere im Wohnmobil Form zu bringen, und diesmal geht es ihm um die abgründige Ambivalenz, die un- „Breaking the Waves“, „Idioten“ und „Ich könnte sagen: Die Frau in mir hat sich auflösliche Doppelköpfigkeit von Gut und „Dancer in the Dark“: Leidenswege der emanzipiert. Oder: Meine weibliche Seite Böse: Die treibt er schmerzhaft bis zum verfolgten Unschuld. ist feministisch geworden. Meine innere Äußersten. Aber wie unschuldig ist die „Dogville“- Frau will nicht mehr Opfer sein. Das ist Zu den kleinen, geradezu metaphysi- Grace? Kein Märchen, keine Heiligenle- auch für mich etwas ganz Neues.“ schen Mirakeln von „Dogville“ gehört, wie gende nennt Trier als erste, entscheidende Und nun? „Dogville“, das hat Trier von im letzten Bild in der abstrakten Leere der Inspiration für den Film, sondern die Bal- Anfang an erklärt, ist die erste Teilstrecke Szenerie ein ganz unerwartet realer, le- lade von der „Seeräuberbraut“ Jenny, die einer Trilogie, die er auch bündig mit den bendiger Hund seine Augen aufschlägt. Zu Polly in Brechts „Dreigroschenoper“ singt: Buchstaben U, S und A bezeichnet. Teil den kleinen Kunstfehlern aber gehört, dass die Geschichte der verachteten Kneipen- zwei, dessen Produktion für das nächste Trier – und sei es aus der Eitelkeit, sich magd, die von einem „Schiff mit acht Se- Frühjahr, wieder in Schweden, schon vor- das leisten zu können – als Bevölkerung geln und mit fünfzig Kanonen“ träumt, das bereitet wird, trägt den Titel „“, von Dogville zu viele berühmte Stars zu- kommen wird, um sie für die Demütigun- spielt zwei Monate nach dem Untergang sammengekauft hat: zu große Egos, grau gen ihres ganzen Lebens zu rächen. Am von Dogville und hat erneut die Gut-Täte- geschminkt, in zu kleinen Rollen. Ende, angesichts der gefangenen Einwoh- rin Grace als Hauptfigur. Das Zentralthe- Auch diese Wahl, so beteuert Trier, habe ner der Stadt, sagt sie, werde man sie fra- ma, sagt Trier, sei „Sklaverei“, also kann, er natürlich nur mit den besten Absichten gen: „Welchen sollen wir töten? Und dann wer will, einer nächsten tränenschweren getroffen, aber dann wuchs ihm die Sache werden Sie mich sagen hören: Alle!“ Frauenpassion entgegensehen. doch über den Kopf: „Ich hatte mir so Diese Schlusswendung, sagt Trier (der „Dogville“ sieht, simpel gesagt, nicht schön ausgemalt, wie wir alle zusammen sonst wenig von Brecht zu kennen behaup- wie ein regelrechter Kinofilm aus, sondern immer glücklich sein würden. Doch dann tet), habe auf ihn, schon als er den Song wie der Fernsehmitschnitt einer Theater- hatte ich all diese Leute am Hals, die dau-

176 der spiegel 43/2003 ernd geliebt sein wollen, und das wurde langsam zu einer Schwerarbeit.“ Da er so ungern reist, behauptet Trier, AUTOREN Interviews seien das optimale Kommunika- tionsmittel unter Künstlern. Beweis Num- mer eins: In verschiedenen Nicole-Kid- „Zensur ist etwas anderes“ man-Interviews hat er gelesen, dass sie gern mit ihm arbeiten würde, und hat also Der Schriftsteller Christoph Hein über gerichtliche – da sie ihn in Kubricks „Eyes Wide Shut“ fasziniert hatte – „Dogville“ mit dem Ge- Verbote von Büchern wie die Dieter Bohlens und Maxim Billers danken an sie und für sie zu schreiben be- und die Verantwortung des Dichters beim Schreiben gonnen. Beweis Nummer zwei: In einem Interview hat Trier auf die Frage, ob er bilder. Literatur ist immer eine Mischung sich auch mal eine Theaterarbeit vorstellen aus Dichtung und Wahrheit, aus Erfunde- könnte, mit seiner „üblichen Großmäulig- nem und Gefundenem. Das umfasst auch keit“ (Trier) gesagt: Wenn ja, dann müsste Personen, die ich kenne und in meine Ar- es schon Wagners „Ring“ sein, und wenn beit hineinnehme. überhaupt, dann in Bayreuth. SPIEGEL: Hatten Sie selbst schon Ärger? Wolfgang Wagner hat von diesem Inter- Hein: Öfter als die tatsächlich Gemeinten view gehört und in einem Anfall von un- meldeten sich Personen, die ich überhaupt glaublicher Unerschrockenheit Lars von nicht kannte – und die sich dennoch wie- Trier beim Wort genommen. Später wie- dererkannten. derum, in einem Interview, hat Wolfgang SPIEGEL: Wird das eine neue Mode, gleich Wagner publik gemacht, was sich Trier, zu zum Gericht zu laufen? Besuch in Bayreuth, natürlich per Wohn- Hein: Nein. Im Fall von Memoiren viel-

mobil, einmal gewünscht hat: Er wollte SANDBERG THOMAS leicht – aber bei Romanen wird vor Gericht eine ganze Nacht lang allein im leeren, Autor Hein im Allgemeinen auch weiterhin der Nach- dunklen Festspielhaus verbringen. War das „Literatur mischt Dichtung und Wahrheit“ weis schwer fallen, dass eine Figur mit eine spiritistische Séance? „Es war ein un- einer realen Person gleichzusetzen ist. Es glaublich starkes Erlebnis“, sagt Trier. Auch SPIEGEL: Herr Hein, Sie haben als Schrift- gibt einige berühmte Fälle, etwa Klaus so kann einer seine Ängste bei den Hör- steller in der DDR Zensur erlebt. Auf der Manns „Mephisto“ und Thomas Bernhards nern packen. Frankfurter Buchmesse wurde gerade das „Holzfällen“. Da waren die Vorbilder deut- Da sitzt er nun mit sturer Pünktlichkeit derzeit verbotene Buch „Hinter den Kulis- lich erkennbar, zum Teil auch gewollt er- jeden Tag vier Stunden in seiner Eremi- sen“ von Dieter Bohlen mit einer Bande- kennbar. Sonst ist es doch eher so, dass role „Zensiert“ hinter Glas ausgestellt – ein Schriftsteller mehrere Vorbilder in ei- was empfinden Sie da? ner Figur zusammenfließen lässt. „Mein Material für den ‚Ring Hein: Das hat mit Zensur nichts zu tun. SPIEGEL: Bernhard hat nach der Beschlag- des Nibelungen‘ sind Träume, SPIEGEL: Dennoch hantieren Medien wie nahmung von „Holzfällen“ verbittert ge- Erinnerungen, Phantasien.“ die „Bild“-Zeitung oder RTL im Zusam- äußert: „In Zukunft können also alle, die menhang mit Bohlen mit dem Begriff. irgendwelche Ähnlichkeiten mit sich selbst tage und schafft sich in Wagners Nibelun- Hein: Der Begriff ist genau festgelegt und in irgendwelchen Büchern finden, zu Ge- genwelt hinein. „Ich kann nicht Stapel von betrifft Eingriffe von staatlichen oder auch richt laufen.“ Hat er übertrieben? Fachliteratur in mich hineinfressen. Das wirtschaftlichen Mächten, wobei auf Grund Hein: In einem Rechtsstaat spielen in der würde mich umbringen. Mein Material sind fehlender Gewaltenteilung kein Einspruch Regel die Gerichte nicht mit. Der Kläger Träume, Erinnerungen, Phantasien, und möglich ist. Wenn man Gerichte anrufen muss schon nachweisen, dass nur er ge- ich bin dabei, meinen ‚Ring des Nibelun- kann, ist das etwas ganz anderes. meint sein kann. Andererseits hat sich in gen‘ zu schreiben, so minutiös wie nur je SPIEGEL: Sie haben 1987, auf dem X. Schrift- den Massenmedien das Gefühl für Diskre- ein Drehbuch. Es gibt – nach dem Film stellerkongress der DDR, eine Rede gehal- tion dramatisch verändert: aus Gründen ,Manderlay‘ – bis zum Sommer 2006 keine ten, die damals mutig und überraschend der Verkaufbarkeit. Und Bücher, die diese andere Arbeit für mich als den ‚Ring‘.“ war und in der es hieß: „Zensur ist unge- Diskretion verletzen, werden von den Me- Über die Angst aller Ängste, die vor dem setzlich, denn sie ist verfassungswidrig.“ dien besonders gern wahrgenommen, wie Tod, die den Schlaf ganzer Nächte ver- Hein: So mutig war das nicht mehr. Das dieses Interview belegt. schlingen kann, spricht er wohl nur mit wäre es 40 Jahre früher gewesen. Der Zer- SPIEGEL: Halten Sie ein Verbot für berech- den paar Vertrauten, von denen er weiß, fall des Staates hatte 1987 längst begonnen. tigt, wenn ein Autor private Racheakte ge- dass sie sie mit ihm teilen. „Wir probieren SPIEGEL: Heute stehen sich im Konfliktfall gen eine Ex-Partnerin als Roman tarnt? das jetzt schon so lange – wenn es dann – wie etwa bei den jetzt verbotenen Roma- Hein: Das hat es in der Geschichte häufiger einmal wirklich ans Sterben geht, verpat- nen „Esra“ von Maxim Biller und „Meere“ gegeben. Und dann hat der Romancier auch zen wir jedenfalls nicht die Szene“, soll ei- von Alban Nikolai Herbst – zwei Grund- für die Folgen geradezustehen. ner, natürlich ein Schauspieler, bei Gele- rechte gegenüber: die Freiheit der Kunst SPIEGEL: Was halten Sie davon, wenn die genheit aufmunternd zu ihm gesagt haben. und der Schutz der Persönlichkeit. Urheber der Indiskretion argumentieren, Zuletzt bringt er zögernd doch seine De- Hein: Natürlich bedeutet das für Roman- erst durch den Gang zum Gericht hätten pressionen zur Sprache, auf eine scheue, ciers eine Einschränkung – ich finde, eine die dargestellten Personen sich erkennbar beiläufige, geradezu wegwerfende Weise, zulässige. Das ist sogar ein Bestandteil des gemacht? und sagt: „Ich kann die Menschen verste- Verlagsvertrags: Der Autor versichert, Hein: Das ist ein Paradox, das bei anderen hen, die von einer hohen Brücke springen, Rechte Dritter nicht zu verletzen. Bloßstellungen auch zutrifft. Wir wissen, um diese Angst ein für alle Mal los zu SPIEGEL: Passiert das aber nicht in der Lite- dass viele vergewaltigte Frauen den Auf- sein.“ Und dann schickt er diesem Satz ratur unentwegt? tritt vor Gericht scheuen. Aber das sollte sein Lachen hinterher, dieses sehr fauni- Hein: Schon Shakespeare hat seine Figu- den Vergewaltiger nicht unbedingt beru- sche, sehr befreiende Lachen. ren nicht aus der Luft gegriffen, es gab Vor- higen. Interview: Volker Hage

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