G. Eley Ua (Hg.): Wilhelminism
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Geoff Eley, James Retallack. Wilhelminism and Its Legacies: German Modernities, Imperialism, and the Meaning of Reform, 1890-1930. Essays for Hartmut Pogge von Strandmann. Oxford: Berghahn Books, 2003. 269 S. $75.00, gebunden, ISBN 978-1-57181-223-0. Reviewed by Christian Müller Published on H-Soz-u-Kult (November, 2003) „Wilhelminism and its Legacies“ stellt die scher Geschichtsschreibung“ und die Desiderate, Festschrift für Hartmut Pogge von Strandmann die sich aus dieser Diskussion ergaben, stehen da‐ dar, die sich, wie Volker Berghahn im Vorwort be‐ her im Mittelpunkt des einleitenden Kapitels von tont (S. VIII), von gängigen Festschriften deut‐ Eley und Retallack (S. 1-15) und durchziehen im‐ schen Zuschnitts dadurch abzugrenzen sucht, plizit mit der von Blackbourn schon 1980/84 for‐ dass sie in Aufsätzen von Schülern des Jubilars mulierten Frage „What Kind of Reform?“ die meis‐ ein kohärentes Thema behandelt. Das Anliegen ten Beiträge des Bandes. Vgl. Blackbourn, D., The des Bandes besteht in der Erweiterung der politi‐ Discreet Charm of the Bourgeoisie. Reappraising schen Geschichtsschreibung des Kaiserreichs um German History in the Nineteenth Century, in: verschiedene Ausprägungen von Reform- und Mo‐ Ders., Eley, G. (wie Anm. 1), S. 159-292, S. 276ff. Die dernitätskonzepten (S. 4f.). beiden Herausgeber plädieren für eine grundsätz‐ Ein wesentliches Anliegen des Historikers liche Neubewertung der Verbindungen und ge‐ Pogge war und ist die Analyse deutscher Ge‐ genseitigen Beeinflussungen von modernisieren‐ schichte seit der Revolution von 1848 in kritischer den und vermeintlich rückständigen Faktoren im Auseinandersetzung mit der ‚Sonderwegsthese’. Kaiserreich (S. 5f.). Diese Forderung ist, ebenso Blackbourn und Eley erwähnen Pogge explizit im wie der Ansatz einer Politikgeschichte in der Er‐ Vorwort der englischen Auflage für die Hilfestel‐ weiterung, an sich nicht neu. Erstere bestimmte lungen und Anregungen sowohl bei der Entste‐ schon den Tenor einiger Kritiker der „Mythen“ zu hung des Buches als auch bei der Fertigstellung Beginn der 1980er-Jahre, Letzterer ist seit einigen der deutschen Ausgabe, vgl. Blackbourn, D.; Eley, Jahren in der Forschung dominierend. So u.a. G., The Peculiarities of German History. Bourgeois Langewiesche, D., Entmythologisierung des „deut‐ Society and Politics in Nineteenth-Century Germa‐ schen Sonderweges“ oder auf dem Wege zu neuen ny, Oxford 1984, S. V-VI. Die Forschungskontrover‐ Mythen?, in: AfS 21 (1981), S. 527-532. Dieser Sam‐ se um das 1980 erschienene Buch „Mythen deut‐ melband zeigt daher exemplarisch die Vielschich‐ tigkeit von „Modernität“ im Kaiserreich. Wie H-Net Reviews Klaus Tenfelde jüngst bemerkte, sei es eine der ei‐ tischen Praxis des deutschen Kaiserreichs, beson‐ gentümlichen Paradoxien des Kaiserreichs gewe‐ ders nach 1890, verorten können. sen, dass auch gerade die konservativen Elemente Die Aufsätze des Sammelbandes setzen sich der wilhelminischen politischen Konstellation mit drei Schwerpunkten auseinander und spie‐ „eine ganz eigentümliche Modernität“ in vielen geln somit einige der Forschungsschwerpunkte sozialen und politischen Teilbereichen hervor‐ des Jubilars wider. Zum einen beschäftigen sie brachten. Vgl. Tenfelde, K., 1890-1914: Durch‐ sich mit der kritischen Historisierung sozialwis‐ bruch der Moderne? Über Gesellschaft im späten senschaftlicher Ansätze von „Modernisierung“ Kaiserreich, in: Gall, L. (Hg.), Otto von Bismarck und „Demokratisierung“, zum zweiten mit For‐ und Wilhelm II. Repräsentanten eines Epochen‐ men und Funktionen von Imperialismus und Ko‐ wechsels? Paderborn 2000, S. 119-141, bes. S. lonialpolitik im Kaiserreich, und zum dritten mit 140-141. Daher plädieren die Herausgeber anstel‐ Handlungsspielräumen und Erwartungshorizon‐ le einer neuen Sonderwegsdebatte, die inzwi‐ ten in der „Krise der Moderne“ (S. 219). schen als abgeschlossen gelten kann Vgl. Kühne, Im ersten Themenbereich fokussieren die Au‐ T., Das deutsche Kaiserreich 1871-1918 und seine toren die schon in der Einleitung kritisierten und politische Kultur. Demokratisierung, Segmentie‐ oftmals paradigmatisch vorgetragenen ‚Moderni‐ rung, Militarisierung, in: NPL 43 (1998), H. 2, S. sierungstheorien’. V.a. Wehler, H.-U., Modernisie‐ 206-263, bes. S. 248. , für eine Erweiterung des rungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975. Sie Blickfeldes auf „politische Modernisierung“, um argumentieren übereinstimmend, dass Idealdefi‐ zu einer Neubewertung der politischen Kultur nitionen von Demokratie und Modernisierung, und der spezifischen Modernität des Kaiserreichs die lange Zeit als westliche Idealfolie und norma‐ zu gelangen (S. 8). tiver Vergleichsmaßstab für das Kaiserreich gal‐ Angesichts der Vielschichtigkeit des Begriffs ten, durch einen auf die diskursive und soziale „Modernität“ stellt sich dem Leser die Frage, wel‐ Praxis abhebenden, weiten Begriff von – politi‐ ches Konzept von „Modernität“ der Analyse ei‐ scher – Modernisierung ersetzt werden müssen. gentlich zugrunde gelegt wird. In diesem Band Vgl. Dahl, R. A., On Democracy, New Haven 1998; wird durchgängig ein sehr weites Konzept vertre‐ Anderson, M. L., Practicing Democracy. Elections ten, das aus dem Erwartungshorizont der Zeitge‐ and Political Cultures in Imperial Germany, Prin‐ nossen heraus zu beschreiben sucht, welche For‐ ceton 2000. Auf dieser Grundlage breiten sie ein men und Teilaspekte „Modernität“ als reformge‐ vielschichtiges Panorama von Reformansätzen richtetes Potenzial unabhängig von interdepen‐ und Politisierungsformen aus. Geoff Eley (S. denten und teleologisch verengten Verknüpfun‐ 16-33) plädiert für eine Ausweitung des rechtlich gen der Sphären Politik, Wirtschaft und Gesell‐ definierten Staatsbürgerbegriffs, um die politi‐ schaft im untersuchten Zeitraum annehmen schen Spielräume einer Bürgergesellschaft „von konnte (S. 6, 8f.). Dies deutet der Sammelband unten“ einzufangen. Auf der Grundlage von App‐ durch die Pluralformen „Modernities“ und „Mea‐ legates und Confinos Studien zur sozialen Praxis nings of Reform“ schon im Titel an. Die Viel‐ der Nationsbildung auf der lokalen Ebene Apple‐ schichtigkeit der Analysekategorie stellt sich einer gate, C., A Nation of Provincials, Berkeley 1990; normativen Bewertung des wilhelminischen „Mo‐ Confino, A., The Nation as a Local Metaphor, Cha‐ dernisierungspotenzials“ entgegen, so dass die pel Hill 1997. betont er, dass die deutsche Gesell‐ Beiträge ihre jeweils untersuchten Formen von schaft ein höchst politisiertes Gefüge gewesen sei, „Modernität“ und „Demokratisierung“ in der poli‐ das sich durch den Wandel und die Vielfalt politi‐ scher Aktivitäten seiner Bürger auszeichnete. 2 H-Net Reviews Ebenfalls auf die soziale Praxis der Demokratisie‐ chen 1995, S. 1078, 1129-1145. , in Frage gestellt rung der Gesellschaft zielt Brett Fairbairn (S. werden müsse. Vielmehr sei sein außen- und wirt‐ 34-50) ab. Mit der Untersuchung des Genossen‐ schaftspolitisches Konzept mit dem klaren Be‐ schaftswesens und der Verbindung von Demokra‐ wusstsein formuliert, durch eine propagierte tie und Eigentum hebt er hervor, dass die relative Machtpolitik England direkt herauszufordern. Autonomie gegenüber dem Staat die Genossen‐ Paul Probert (S. 123-137) stellt die außenpoliti‐ schaften zu praktischen Räumen der Einübung schen Sichtweisen der SPD gegenüber England von Partizipation und Verantwortung auf der lo‐ während der Jahrhundertwende dar, während kalen Ebene gemacht habe (S. 48). Mark Hewitson Willem-Alexander van’t Padje (S. 138-153) den An‐ (S. 73-90) fragt nach den westeuropäischen und lass des Krüger-Telegramms an den diplomati‐ amerikanischen Vorbildern für eine mögliche Ver‐ schen Spannungen zwischen England und Deut‐ fassungsänderung des Kaiserreichs und arbeitet schland festmacht, die aufgrund einer offenen die Ablehnung dieser Vorbilder nach 1900 heraus. Aussprache zwischen dem englischen Gesandten Dabei betont er zu Recht, dass die Reformkrise in Berlin, Malet, und Hohenlohe sowie Marschall des späten Kaiserreichs zwar Kritik an den politi‐ Ende 1895 ausbrachen. Arne Perras (S. 154-170) schen Institutionen des Reiches und Preußens zeigt in einer Analyse von Carl Peters, dass Bisma‐ schürte, diese Krise aber mangels als machbar rcks Kolonialpolitik, entgegen Wehlers These vom und konsensfähig angesehener Alternativkonzep‐ ökonomischen „ideologischen Konsenses“ eines te für eine Reform nicht eskalierte. Das Bewusst‐ manipulativen Sozialimperialismus, verstärkt aus sein eines Staates sui generis, so könnte man der nationalistischen Dynamik der deutschen Ko‐ überspitzt formulieren, hemmte die Reformbe‐ lonialbewegung als einer Verbindung aus ökono‐ strebungen vor dem ersten Weltkrieg trotz aller mischem Imperialismus und Migrationskolonia‐ Kritik entscheidend. Matthew Jeffries (S. 91-106) lismus zu erklären sei. Bismarcks Kolonialpolitik arbeitet die gesellschaftlichen Gegenentwürfe der sei weniger als ökonomische Ablenkungspolitik, sehr disparaten Lebensreformbewegung heraus. sondern stärker als Reaktion auf einen kolonialen Oliver Grant (S. 51-72) bestreitet die Einschätzung Nationalismus anzusehen. Nils Oermann arbeitet der ostelbischen Landwirtschaft als rein „vorin‐ (S. 171-184) das Verhältnis von Rechtssetzung und dustriell“, und argumentiert, dass seit Mitte des Rechtspraxis in den Kolonien heraus und zeigt an 19. Jahrhunderts diese Charakterisierung durch zwei Beispielen (Körperliche Bestrafung und die Adaption technischen Fortschritts und durch ‚Misch’-Ehen in Deutsch-Südwest-Afrika), dass das die Reaktion auf die sich verändernden sozialen deutsche Recht hier, gerade