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Teufelskraut. Zur Historischen Anthropologie des Tabaks

Hasso Spode

Die Gattung Tabak (Nicotiana) ist in Amerika, einem Vorläufer der Historischen Anthropolo- Westafrika, Indonesien und dem australisch- gie. Doch Schlözers ganzheitliches Programm pazi!schen Raum heimisch und umfasst wohl ist erst in Ansätzen umgesetzt. Auch diese gut siebzig Arten. Sie zählt – wie die Kartoffel, Skizze kann dies nicht leisten, sondern konzen- die Tomate oder das Bilsenkraut – zur Familie triert sich erstens kulturgeographisch auf den der alkaloidhaltigen Nachtschattengewächse. „Westen“ und zweitens thematisch auf menta- Dabei weist der Tabak einen deutlich höheren litätshistorische Aspekte. Gehalt an dem psychotropen Alkaloid Nicotin auf als andere P$anzen dieser Familie. 1 Das macht ihn für den Menschen als Droge interes- 1 Tabak und Rauchen vor 1500 sant. Doch sehr lange Zeit beschränkte sich der systematische Gebrauch wahrscheinlich auf Bis zum November 1492, als Kolumbus zwei Amerika, wo bevorzugt zwei Arten kultiviert Kundschafter ins Innere Kubas entsandte, wurden: tabacum in südlichen Breiten, rustica war der Tabak den Europäern unbekannt. In in nördlichen. Heute wird Tabak in rund 120 den Amerikas fand er hingegen seit langem Ländern angebaut und zwar ganz überwiegend Verwendung: bei sakralen Zeremonien, als die Art tabacum. 2 Deren Blätter werden in der Heilmittel und als profanes Stimulans (Corti, Regel zu Zigaretten verarbeitet. Doch Tabak 1930; Goodman, 1993; Galety, 2003). Dabei wa- und Rauchen sind selbstredend keine Synony- ren zahlreiche „kalte“ und „heiße“ Konsum- me: Einerseits wurde und wird Tabak keines- praktiken üblich, wobei für letztere technisch wegs nur in Form des Rauchens konsumiert, wiederum „kollektive“ und „individuelle“ zu anderseits wurde und wird keineswegs nur unterscheiden sind. 3 Neben äußerlichen Heil- Tabak geraucht – beim Gebrauch psychotroper anwendungen zählten zum „kalten“ Konsum P$anzen hat der Mensch eine schier grenzenlo- das Tabakschnupfen und -kauen sowie verein- se Er!ndungsgabe an den Tag gelegt. zelt das Trinken von Tabaksud, das Lecken ei- Ein Thema, prädestiniert für die Historische ner Tabakpaste und das Tabakklistier. „Heiße“ Anthropologie bzw. die Mentalitätsgeschichte. Konsumformen waren wohl verbreiteter. Aus Während die klassische Geschichtsschreibung dem kollektiven Rauchopfer hatte sich dabei die Taten „großer“ Akteure nachzeichnet, wird das individuelle Rauchen entwickelt. Dazu hier nach dem Ungeplanten, Unbewussten ge- verfertigte man zylindrische Gebilde, die samt fragt, nach den verborgenen Strukturen und ihrer Umhüllung, dem Deckblatt, abgebrannt Trends des Denkens und Fühlens (Spode, 1999). wurden, oder man benutzte Rohre, die mit Ta- Bereits der große Historiker August Ludwig bakhäckseln gefüllt wurden, darunter solche, Schlözer hatte in diesem Sinne gefordert, eine deren Grundform der heutigen Tabakspfeife Geschichte des „Tobaks“ zu schreiben, die die gleicht. 4 sozialen, kulturellen, ökonomischen, politi- Anders als der Tabak war das Rauchen auch schen und medizinischen Aspekte in den „Zu- außerhalb Amerikas gebräuchlich – und zwar sammenhang mit großen Weltveränderungen“ mindestens ebenso lange wie dort. Das kollek- stellt (1780, S. 153 f.). Inzwischen liegen dazu tive Inhalieren !ndet sich bei zahlreichen alten vorzügliche Studien vor, schon seit der Kultur- Völkern (Babylonier, Mysier, Juden, Skythen und Sittengeschichte des 19./20. Jahrhunderts,

3 In soziologischer Hinsicht ist der Konsum stets kollektiv, d.h. 1 Mit giftigen Substanzen wehren sich viele P!anzen gegen eingebunden in überindividuelle Praktiken und Bedeutungs- Krankheitserreger und Fressfeinde, wobei die Toxizität des zusammenhänge. Nicotins freilich krass überschätzt wird (s. Anm. 70). 4 Deren nordamerikanische Variante wurde in Europa als „Frie- 2 Wichtigste Sorten sind Virginia, Burley, , Orient; denspfeife“ bekannt (Chanunpa Wakan oder europ. Kalumet wichtigste Rustica-Sorte der russische Machorka. zu lat. calamellus = Röhrchen). rausch, 6. Jahrgang, 2-2017, 5-29 6 H. Spode

etc.), wobei bevorzugt Weihrauch, Myrrhe und erbrand und bestimmte Kräuter in den Händen Hanf als Räucherwerk dienten. Für den indivi- hielten, um sich ihren Gebräuchen gemäß zu duellen Konsum sind Rauchrohre und -pfeifen beräuchern“. Später wird diese – noch mit dem in Europa und Asien bereits seit der Bronzezeit christlichen Weihrauchkultus kompatible – nachgewiesen. Reiche Funde stammen von den Bemerkung ausgeschmückt. Demnach hätten Kelten aus dem Alpenraum (Feldhaus, 1931, Männer und Weiber, so Bischof de Las Casas, Abb. S. 32), kaum von den Römern, jedoch ha- tabacos mit sich geführt, Gebinde aus „wohlrie- ben wir von ihnen erstmals schriftliche Nach- chenden Kräutern“ in Form „kleiner Knallkör- richt über das individuelle Rauchen. Wie die per“: Diese zünden sie „an einem Ende an und Kelten benutzten sie dazu neuzeitlich anmu- saugen am anderen, um den Rauch mit ihrem tende Pfeifen, die sie mit Lattich, Majoran, Hanf Atem einzuziehen, wodurch eine Beruhigung etc. füllten (wohl aber nicht, wie vereinzelt in im ganzen Körper entsteht.“ 6 Las Casas fügt Asien, mit Schlafmohn), wobei der Rauch oft hinzu, dass die Spanier begonnen hätten, diese zusammen mit Wein verschluckt wurde. Aller- „barbarische Sitte“ nachzuahmen. dings ist die Rolle des Rauchens in der Antike nicht mit der in Altamerika vergleichbar. Die Römer importierten große Mengen Weihrauch 2.1 Vom Heil- zum Genussmittel und machten Opiumtinkturen zur Alltagsdro- ge, doch das individuelle Rauchen blieb eine Bereits 1493 soll der Tabak nach Spanien ge- relativ seltene Praxis. langt sein: Der Seemann Rodrigo de Xeres, der Nach dem Untergang Roms schweigen die mit Kolumbus heimgekehrt war, lief rauchend Quellen dazu. Zwar wurde im Mittelalter wei- durch die Straßen von Ayamonte – worauf er terhin reichlich kollektiv Räucherwerk (Weih- eingesperrt wurde, da der Teufel in ihn gefah- rauch, Lattich, Hanf, Bilsenkraut) inhaliert, so- ren sein müsse. Der Wahrheitsgehalt dieser An- wohl in sakralen als auch profanen Kontexten ekdote über den „ersten Raucher Europas“ sei (Kirchen, Badehäuser), doch die Rauchpfeife dahingestellt; sie verdeutlicht aber, wie bizarr scheint in Europa außer Gebrauch gekommen diese Praxis wirkte. 7 Als 1520/30 die Aufzucht zu sein. In Teilen Asiens und Nordafrikas hin- des Tabaks in Westeuropa einsetzte, wollte gegen entwickelte sich – wohl gefördert durch ihn niemand rauchen. Er galt anfangs als Zier- das islamische Weinverbot – eine Kultur des strauch und dann als Basis für „kalte“ Heil- Rauchens von Hanf, teils auch von Schlafmohn, präparate: Salben, Tinkturen, Klistiere, Pillen, mittels Pfeifen und Wasserpfeifen. Pulver (wie oben sowie Anonym, 1719; Zedler, 1740; Krünitz, 1842; Enke, 1998). 1567 wurde der botanische Name Nicotiana eingeführt, nach 2 Europäisierung und Globalisie- dem Diplomaten Jean Nicot, der den Tabak am rung des Tabaks in der Frühen französischen Hof populär gemacht hatte, wo Neuzeit er gegen Migräne geschnupft wurde. 8 Der Übergang von der Medizinal- zur All- Etwas rätselhaft bleibt, weshalb die Spanier so tagsdroge vollzog sich zuerst bei den Konquis- überrascht auf das individuelle Rauchen der tadoren und Seeleuten, die in der Neuen Welt Amerikaner reagierten, bestanden doch Kon- die Sitte des Tabakrauchens und -kauens über- takte zum Orient; zudem ist nicht ausgemacht, nommen hatten. 1575 wird in Mexiko verboten, ob es gänzlich ausgestorben war. 5 Jedenfalls in den Kirchen zu rauchen. In der Alten Welt waren sie höchst verblüfft, als sie mit der Rauch- hingegen – wo der Tabak in Silber aufgewogen kultur der „Indianer“ (Kolumbus wähnte sich wurde – gestaltete sich der Übergang zögerli- auf einem Indien bzw. China vorgelagerten Ar- cher: Nur allmählich begann man sich am fran- chipel) konfrontiert wurden (Tiedemann, 1854; zösischen, spanischen, portugiesischen, engli- Billings, 1875; Corti, 1930; Böse, 1957; Nourris- schen und päpstlichen Hof des Schnupftabaks son, 1999; Galety, 2003). Das Bordbuch vermerkt

dazu, auf Kuba seien die Kundschafter von 6 Nach anderen Quellen hießen diese „Knallkörper“ jedoch co- Eingeborenen begrüßt worden, die „einen Feu- hiba oder zigar. Gouverneur de Oviedo spricht 1526 pharma- kologisch-botanisch zutre$end von „einer Art Bilsenkraut“ 5 Feldhaus (1931, S. 253) berichtet von Pfeifendarstellungen an und betont, dass nicht diese P&anze, sondern ein gabelförmi- hochmittelalterlichen Kirchen (allerdings am spätkeltischen ges Rauchrohr als tabaco bezeichnet werde. In der Tat hatte Westrand Europas); Becher (1683, S. 214) erwähnt, dass „vor der Tabak andere Namen, wie yetl, yoli und petum (dt. zu Petu- hundert Jahren … Lattich-Bläter an statt Tabak gebraucht“ nie). worden seien; ähnlich meinte dann Anonym (1719, S. 48), dass 7 Xeres war einer der beiden Kundschafter, die von brennen- „unsere Vorfahren die Blätter vom Lattich an statt des To- den „Kräutern“ berichtet hatten; plausibler ist die Vermutung, backs gerauchet haben. Da aber der Toback bekannt worden/ der päpstliche Emissär Romanus Pade habe 1496 den Tabak und man seinen Nutzen so tre"ich gespühret/ sind solche nach Europa gebracht. Kräuter verwor$en/ und an deren statt dieses erwehlet wor- 8 Das Schnupfen von P&anzenpulvern, wie Nieswurz, war den.“ schon lange üblich.

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oder der Pfeife ohne medizinische Indikation tel der Zurückdrängung der Trunkliebe und zu bedienen. Wegbereiter geistiger Arbeit. Ein Bildungsbür- Doch dann verschiebt sich die Waage nach- gertum beginnt sich zu regen, und aus der krie- haltig vom Heil- zum Genussmittel (ohne dass gerischen Adelskaste wird die galante hö!sche ersteres obsolet wird). Und zwar als auch in Eu- Gesellschaft: In den Eliten ließen zunehmende ropa massiv die „heiße“ Konsumform einsetzt: Entkörperlichung und höhere Selbstkontroll- das Rauchen. Moscherosch beschreibt um 1640 standards die Nüchternheit zur Normallage angewidert, wie „einer toback mit dem Wein werden. Der Rausch war damit keineswegs ab- eingetrunken“ habe – was an antike Praktiken geschafft, konnte aber in „Enklaven“ (N. Elias) erinnert. Doch den Zeitgenossen war das Rau- abgeschoben werden. chen eine provozierende Neuheit. So berichtet Im Kontext der neuen Drogenkultur wurde der Diplomat Johann J. v. Rusdorf 1627 aus Lon- der Tabak europäisiert. Als ein Signet Europas don über die dortige Sitte der „Sauferei eines dringt er um 1600 innerhalb weniger Jahrzehn- Nebels“, die sogar die englische „Trinkleiden- te bis in die letzten Winkel des Globus vor (Tie- schaft übertrifft“. Buchstäblich fehlten die Wor- demann, 1854; Gros, 1996; Galety, 2003). Da vie- te für diese Praxis, hieß es doch zunächst: Tabak le Kulturen über psychotrope Substanzen mit „saufen“ oder „trinken“. Auch die pharmakolo- vergleichbarem Wirkungsspektrum verfügten, gische Wirkung des Rauchens wurde zunächst dürfte dieser Diffusionsprozess nicht zuletzt in Analogie zu den Alkoholika gesehen: Es rufe den symbolischen Qualitäten des Tabaks ge- eine „trockene Trunkenheit“ hervor. schuldet gewesen sein: Er repräsentierte den Erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- prestigeträchtigen Lebensstil der Europäer. 1719 derts setzt sich – wohl im Zuge einer neuen heißt es dann, dass „fast alle Theile der Welt mit Inhalationstechnik, wobei der Rauch nicht ver- einer ungemeinen Tobacks-Begierde angefüllet schluckt, sondern in die Mundhöhle aufgenom- sind“; Amerika hat den Tabak „unserm Europä- men wird – allmählich die Redeweise durch: ischen Appetit eingep"antzet“, und von Euro- Tabak „schmauchen“ oder „rauchen“. Zugleich pa aus sei er dann vom Nordkap, wo man die gilt die Wirkung nun als milde und wird mit „schönsten Fuchs-Bälge“ gegen Tabak tausche, dem gleichfalls exotischen Kaffee assoziiert. bis zu den Hottentotten verbreitet worden, wo Es waren nun Stoffe gefunden, die nicht berau- man alles tun würde, nur um „etwas vom To- schen, sondern für „eine klarere Vernunft und back zu erlangen …, daß auch so gar die Weiber, eine größere Beständigkeit der Seele“ sorgen – um ein klein Stücklein zu bekommen, … ihre eine Revolution in der Pharmakologie des All- pudenda zeigen“ (Anonym, 1719, S. 100 ff.). Stei- tags. Zu den vergorenen Getränken Wein und gende Nachfrage und hohe Gewinnmargen be- Bier, die in gewaltigen Mengen konsumiert wirkten eine rasche Ausweitung des Tabakan- wurden, 9 waren neue, antagonistische Stimu- baus, zunächst in Amerika und Europa, wobei lantien getreten und drängten sie allmählich in den höheren Breiten allerdings nur der starke zurück (Spode, 1993; Menninger, 2008; Schivel- Rustica – der Bauerntabak – gedieh. busch, 1983): Kaffee sowie Tee und Schokolade auf der Seite gesteigerter Nüchternheit, und der „gebrannte Wein“, das Alkoholkonzentrat, auf 2.2 Tabakverbote der Seite gesteigerter Trunkenheit. Der zugleich sedierende und vigilanzsteigernde Tabak fun- Anfangs war das Tabakrauchen jedoch vielfach gierte als ein Bindemittel dieser komplexen illegal (Anonym, 1719; Zedler, 1740; Krünitz, Drogen- und Genusskultur (Alkohol verstärkt 1842; Tiedemann, 1854; Corti, 1930; Böse, 1957; die Nicotinwirkungen, Nicotin die Koffeinauf- Sandgruber, 1986; Sullum, 1999; Hess, 1987, nahme). Hinzu kam der schwach psychotrope 2004). Am radikalsten ging man in den „orien- Rohrzucker, der den Siegeszug der bitteren, talischen Despotien“ (K. A. Wittfogel) vor. Der dem europäischen Geschmack fremden Heiß- türkische Sultan Murad IV., ein starker Raki- getränke erst ermöglichte. Eine pharmakolo- Trinker, ließ 1633 die Kaffee- und Tabakhäuser gische Umwälzung passend zur neuen Rati- als Brutstätten des Aufruhrs niederreißen; den onalisierung der Lebensführung – zumal zur Vorwand bot ihm eine Brandkatastrophe. Kaf- „protestantischen Ethik“ (M. Weber) – im ein- feetrinker und Tabakraucher galten fortan als setzenden Modernisierungsprozess. Nicht zu Staatsfeinde und wurden gepfählt oder geköpft – unrecht feiert der holländische Arzt Cornelius es heißt, Murad sei inkognito durch die Gassen Bontekoe (1685) Kaffee, Tee und Tabak als Mit- Konstantinopels geschlichen und habe den Er- tappten eigenhändig den Kopf abgeschlagen. 9 Das oft gefährliche Wasser wurde möglichst gemieden; im Bis er sich 1640 zu Tode trank, sollen hundert- 15./16. Jh. lag bei Adel und Städtern der Verbrauch an Vergo- renem in den Biergebieten um 1.000 Liter p.a., in den Weinge- tausend Unbotmäßige hingerichtet worden bieten um 400 Liter (Spode, 1993; Hengartner & Merki, 2001). sein, davon ein Viertel Raucher. Die Zahl dürfte rausch, 6. Jahrgang, 2-2017 12 H. Spode

4 Die „Sonderung „Polarisierung der Geschlechtercharaktere“ (K. der Geschlechter“ Hausen), die Mann und Frau als essenziell ver- schieden konzipierte und ihnen entsprechend Tiedemann klagte, die Zunahme des Rauchens antagonistische Rollen zuwies. habe zu einer „schroffere(n) Sonderung der Die Bürgersfrauen, Ausnahmen bestätigen Geschlechter“ geführt: Die Männer „iehen die Regel, hatten dieses Denksystem internali- den Umgang der dem Tabak abholden Frau- siert und nutzten die Vorzüge und Machtchan- en“ und würden den Abend lieber in rauchge- cen, die ihnen die Rolle eines „schwachen“ und schwängerten Kaffee- und Wirtshäusern ver- „schönen“ Geschlechts bot. Und so war das bringen: „Hier werden die Zeitungen gelesen, Rauchen in ihrer Gegenwart tabu und letztlich die Tages- und Stadtneuigkeiten besprochen, nur im Bordell statthaft, wo manches Freuden- und hier wird die Politik verhandelt“ (ebd.). mädchen selbst rauchte. Die feinen Nasen der Im gewissen Widerspruch dazu hieß es wei- wirklichen Damen aber durfte kein Hauch von ter: Der „rauchende Familienvater (mußte) das Tabak belästigen (weshalb im Herrenzimmer gemeinsame Wohnzimmer verlassen, und ein eine - Jacke getragen wurde). Somit wa- besonderes Gemach einnehmen, in das er mit ren die bürgerlichen Räume bzw. Machtsphä- seinen Tabak-Geräthschaften und Büchern ver- ren säuberlich getrennt: Verrauchte männliche wiesen wurde“: Das „Herrenzimmer“ wurde Außenwelt versus rauchfreie weibliche Innen- eine feste Institution im bürgerlichen Haus. Das welt, nebst einem Refugium für den Ehemann. Rauchen war allerdings nicht die Ursache, wie Eine Grauzone bildete allerdings zunehmend Tiedemann glaubte, sondern ein Zeichen und die Freizeitwelt; hier begann auch die Auf- Mittel der Geschlechtertrennung (Corti, 1930; weichung dieses Apartheidsystems. Um 1900 Böse, 1957; Sandgruber, 1986; Tate, 1999; Hau- setzte eine allmähliche Konvergenz im Ge- sen, 2004). nussmittelkonsum ein – sie ist ein untrüglicher Zuvor wollten einige Volkserzieher den Ta- Gradmesser der Gleichstellung der Geschlech- bakkonsum auf Männer beschränkt wissen, ter. Mehr und mehr haben sich die männlichen doch ansonsten machte niemand Aufhebens und weiblichen Raucherquoten seither angegli- davon, wenn die adlige Dame schnupfte oder chen. Diese Angleichung ging Hand in Hand die Meisterin rauchte. Als Friedrich I. um 1700 mit dem Aufstieg der Zigarette. am Berliner Hof das „Tabakskollegium“ ein- führte, nahmen selbstredend auch Frauen dar- an teil; 25 im kolonialen Amerika wurden sogar 5 Das Zeitalter der Zigarette spezielle Frauenpfeifen produziert. Die aufstre- bende Bourgeoisie aber erhob nun nicht nur Die Zigarette, die kleine Schwester der Zigar- Beruf und Politik, sondern auch Alkohol und re, dürfte fast so alt sein wie die Zigarre selbst. Tabak zu männlichen Privilegien. Zumindest Doch erst der Industriekapitalismus – und in den „besseren Kreisen“ 26 wagten es seit dem die Frauen – sollte sie zum Massenphänomen Vormärz allenfalls noch „emancipierte Weibs- machen. Bis dahin hatte sie viele Namen: Seit bilder“ zu rauchen, wie die Dichterin George dem 17. Jahrhundert wurden in Lateinamerika Sand und Lola Montez, die Mätresse des Bay- und Spanien Papelitos bzw. Sigaritos verkauft: in ernkönigs Ludwig I. Eine Frau, die rauchte, Panzenblätter oder Papier gewickelte Tabak- zelebrierte ihre Außenseiterstellung durch pro- häcksel (Casanova berichtet von einer Brasili- vokative Grenzüberschreitung – wohlmöglich anerin, die sie rauchte); als Bungkus und Rokok trug sie sogar Hosen. waren sie im heutigen Indonesien bekannt, als Ein geschlechterdifferenzieller Konsum Bidi in Indien. Um 1810 wurden sie als Cigarri- psychoaktiver Substanzen kennzeichnet fast tos bzw. Papier-Cigarre im deutschsprachigen alle Gesellschaften, wurde jedoch im bürgerli- Raum eingeführt; um 1830 in Frankreich als chen Zeitalter drastisch zugespitzt. So übertraf ; in den 1840er Jahren wurden sie von um 1900 der männliche Alkoholkonsum den der französischen und österreichischen Tabak- weiblichen um das Zehnfache, eine weit größe- Regie produziert – als Abfallprodukt der Zi- re Differenz als um 1500; beim Tabak dürfte die garrenfertigung. Der Marktanteil blieb gering. Relation ähnlich gewesen sein. Denn das Bür- Anders im Osten. gertum entwickelte eine paradoxe Haltung zur Egalität: Es postulierte einerseits die Gleichheit aller Menschen und forcierte andererseits eine 5.1 Zigarette als Luxus

25 Erst sein Sohn Friedrich-Wilhelm I. machte daraus das berüch- Zu jener Zeit begannen Soldaten im türkischen tigte männerbündische Saufgelage. 26 In unteren Schichten setzte sich das weibliche Tabaktabu nur und russischen Heer, ihren Rustica-Tabak in Pa- langsam durch. pier zu wickeln (wie oben). Von den Gemeinen

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kam diese Konsumform zu den Ofzieren und Duke. Ab 1881 begann er ein Zigarettenimperi- von dort in die elegante Welt von St. Petersburg um aufzubauen, ein sagenhafter, sehr amerika- und Konstantinopel – nun als handgerolltes nischer Aufstieg: Neun Jahre später beherrschte Fertigprodukt aus Tabacum mit einer Hülle seine American Tobacco neun Zehntel des US- aus Seidenpapier, teils mit einem Pappmund- Markts. Zur Aufteilung des Weltmarkts bildete stück versehen. Sowohl der polyglotte russi- er ein Joint Venture, die British-American To- sche Hochadel als auch der Krimkrieg 1853/56 bacco (BAT), bis sein Trust 1911 vom Staat wie- sorgten für die Popularisierung der Zigarette in der in Einzelunternehmen zerlegt wurde. Duke Mittel- und Westeuropa. 1862/65 eröffneten in machte die Zigarette zu einem billigen Massen- Deutschland und Österreich die ersten Manu- produkt von exakt gleichbleibender Qualität. fakturen. Napoleon III. und Wilhelm II. wurden Dazu führte er zum einen maschinelle Produk- passionierte Zigarettenraucher. Wie einst die tionsverfahren ein, zum anderen änderte er die Zigarre, stand nun die noch schnellere, noch Rezeptur: Anstelle der schweren Orienttabake unkompliziertere Zigarette für Modernität. Da- verwendete er primär mildere amerikanische mit konnte sie in der vornehmen Welt auch ein Sorten, und sein (bereits 1810 entwickeltes, Attribut der modernen Frau werden: Schlank, aber selten angewandtes) Trocknungs- und leicht und in unschuldigem Weiß wurde sie Fermentierungsverfahren bewirkte, dass der zum Mittel, das moralische Rauchverbot für Rauch einen leicht sauren pH-Wert annahm. Frauen (und für Männer in Gegenwart von Im Gegensatz zum basischen Pfeifen- und Zi- Frauen) auszuhebeln. Ein Benimmbuch urteil- garrenrauch ließ er sich in die Lunge inhalie- te um 1900: „Eine Dame mit der dicken Cigarre ren, wodurch das Nicotin in wenigen Sekunden im Mund ist freilich ein nicht gerade schöner das Gehirn erreicht. Dukes American-Blend- Zi- Anblick, eine feine jedoch beeinträch- garette revolutionierte die Tabakkultur, indem tigt die sonstige schöne Erscheinung durchaus sie Eigenschaften von „kaltem“ und „heißem“ nicht“ (n. Hausen, 2004, S. 173). Die Warnung Konsum verband und das Rauchen doppelt be- des Autors vor Übertreibung dieses „unschul- schleunigte: Ein schneller Genuss, der wenig digen Genusses“, wurde nicht immer befolgt: Gerätschaften und Kenntnisse erfordert und „Manche Dame steckt eine Zigarette an der an- der – gleich der Prise – für eine blitzartige Nico- deren an, wenn sie im Salon plaudert oder am tinaufnahme sorgt. Dukes Konkurrent Richard Spieltisch sitzt“, hieß es 1912 (n. Hess, 1987, S. J. Reynolds übernahm dieses Konzept, verwen- 43). dete aber für seine 1913 lancierte, klassisch ori- Die Zigarette umgab eine Aura von Luxus entalisch vermarktete Camel teure Importware und Verruchtheit, ein Hauch von der Schwüle und zielte damit auf den gehobenen Markt, die des Harems. Gute Sorten waren keineswegs Welt der Bohème und Intellektuellen. Vor allem billiger als normale Zigarren. 27 Die besten wur- aber hielt die Zigarette Einzug in den Einwan- den aus Russland und die allerbesten aus dem dererghettos. Osmanischen Reich importiert, auch die hei- mische Ware basierte auf Orienttabaken. Pyra- miden und Arabesken zierten die Schachteln, 5.3 „Rauchfreies Amerika“ I exotisch-erotische Assoziationen weckend. Vorgeblich aus Geschmacksgründen wurde Somit war sie mit jenen beiden urbanen „Rän- bisweilen auch Haschisch – Inbegriff des sün- dern“ der Gesellschaft assoziiert, die die pro- digen Orient – beigemischt (so enthielt die Nil testantisch-angelsächsischen Kernschichten als acht Prozent Cannabis). Bedrohung ihrer Hegemonie fürchteten (Lan- der, 1885; Tate, 1999; Engs, 2000; Courtwight et al., 2005). Sie entfachten eine breite Kampagne 5.2 Industrialisierung des Rauchens gegen die Zigarette, ideologisch und personell eng verbunden mit dem „symbolischen Kreuz- Dramatischer verlief die Entwicklung in den zug“ gegen den Alkohol in der sog. Progressive USA. Hier kam die Zigarette später auf, wurde Era (Guseld, 1996). Wie einst der „Tabakteufel“, jedoch rascher und konsequenter modernisiert galt die Zigarette diesen „Moralunternehmern“ (Tate, 1999; Engs, 2000; Courtwight et al., 2005; (Becker, 2014) als Vehikel der sozialen Desinte- Brandt, 2007; Norurisson, 2010). Treibende Kraft gration, als „Sargnagel“ für Individuum und war der Sohn eines Tabakp!anzers, James B. Gesellschaft. Ihren moralisch-religiösen Impe- tus untermauerten die Reformers nun allerdings 27 In Deutschland entsprach der Rohtabakverbrauch 1912 mit 1,6 kg pro Kopf (Österreich: 1,3 kg) altersbereinigt etwa dem wissenschaftlich: Die Giftwirkung der Ziga- heutigen; jedoch machten Zigaretten davon nur gut ein rette gründe im Nicotin, das zudem der neuen Zehntel aus (173 Stück; Österreich: ca. 190) (StBA 1972, S. 244; Sandgruber, 1986, S. 12; ders. in Hengartner & Merki, 1996, Klasse der Suchtstoffe (narcotics) zugeordnet Tab. 2). wurde (eine Neuerndung von Hufelands Kon- rausch, 6. Jahrgang, 2-2017 20 H. Spode

chen ein. Der Rohtabakverbrauch el bis 1990 liforniens auf ihre Hinrichtung warten, gibt es auf 2,5 kg, lag damit zwar immer noch höher keine „letzte Zigarette“. 51 als in Mitteleuropa, hatte sich aber gegenüber Der Kreuzzug fungierte aber auch als gi- 1960 halbiert. Noch stärker sank die umfra- gantisches Umverteilungsprogramm; hier gab geermittelte Raucherquote, was den enormen es ganz andere Gewinner. Das Suchtmodell sozialen Druck spiegelte. Wer rauchend auf der hatte die Hälfte der Amerikaner über Nacht Straße stand, riskierte von Kindern bespukt zu zu psychisch Kranken gestempelt. Da es zwin- werden; wer auf seiner Veranda eine Zigarette gend impliziert, es bedürfe der Therapie, um ansteckte, wurde vom Nachbarn genötigt ins mit dem Rauchen aufzuhören (sonst wäre es ja Haus zu gehen und die Fenster zu schließen. keine Sucht), entstand quasi nebenbei ein neu- Der Kreuzzug war ein Freibrief für „gruppen- er Wirtschaftszweig: die Raucherentwöhnung. bezogene Menschenfeindlichkeit“, wie die So- Dank der generellen Eigenschaft des Suchteti- ziologie dies nennt, er ermunterte sogar dazu. ketts als self-ful!lling prophecy zu wirken, inzwi- Aus lächerlichen Behauptungen über den tod- schen ein Milliardengeschäft. 52 Verlierer waren bringenden Second hand 50 wurde bitterer mancherorts die Bars und Saloons (was unter Ernst. Mit dem Segen von Staat und Medien der Hand durchaus erwünscht war), vor allem wurde es Volkssport, verstockten Tabak-Jun- aber selbstredend Big Tobacco. Die „Händler kies eine Lektion über die neuen Machtverhält- des Todes“ wurden mit astronomischen Scha- nisse zu erteilen. Für Denunzianten wurden denersatzforderungen überzogen, die an Bun- Hotlines geschaltet; „Gesundheitsinspekteure“, desstaaten, Kommunen, Lobbyorganisationen, ausgestattet mit mehr Befugnissen als die Po- Versicherungen, Therapieeinrichtungen sowie lizei, machten in Büros und Kneipen Jagd auf indirekt an Pharmarmen, Anwaltskanzlei- Aschenbecher. Wurden sie fündig, drohten en und Arztpraxen !ossen. 1998 stimmten die empndliche Geldstrafen, doch ohnedies ver- „großen Vier“ der Tabakbranche einem „Master ordneten die meisten Arbeitgeber Rauchverbo- Settlement Agreement“ mit den meisten Bun- te, nicht selten, wie einst Henry Ford, auch in desstaaten zu, das innert 25 Jahren Zahlungen der arbeitsfreien Zeit, was nun aber mit Tests bis zur horrenden Summe von 206 Milliarden kontrolliert wurde; von den Gerichten wurde Dollar vorsah; hinzukamen u.a. eine Offenle- diese offen verfassungswidrige Praxis zumeist gung der Firmenakten und ein Verbot jeglicher gutgeheißen. Die Justiz, als Teil der rauchaller- Forschung 53 ; im Gegenzug wurden weitere gischen Bildungsmilieus, wurde zum Bündnis- Ansprüche ausgeschlossen. Der Ruin schien partner der Anti-Tabak-Bewegung. abgewendet. Zivilrechtliche „Bußen“ sind je- Und so nahmen restriktive Gesetze und doch weiterhin möglich – und der Umsatz der Verordnungen lawinenartig zu. Wobei im „großen Vier“ ging schneller zurück als erwar- „Krieg gegen den Tabak“ nicht mehr, wie bei tet, sodass die Zahlungen nun in Frage stehen. 54 den Reformers der Progressive Era um 1900, kon- Versuche von Big Tobacco, dem wachsenden servativ-puritanische Milieus den Ton angaben, Druck mit skrupelloser Lobby- und PR-Arbeit sondern deren geistige Urenkel, die grün-pro- zu begegnen, waren zuvor gescheitert (Kluger, gressive Intelligenzia an Ost- und Westküste, 1996; Brandt, 2007); vielmehr hatte die Aufde- zumal in Kalifornien: Die Hollywood-Produk- ckung dieser Machenschaften den Imagescha- tionen wurden rauchfrei (allenfalls Schurken den noch vergrößert und die Deutungsmacht rauchen noch), ebenso alle öffentlich zugäng- 51 Aufseher und Mithäftlinge hatten, unterstützt von Lobbyor- lichen geschlossenen Räume und diverse Zo- ganisationen, auf Schutz vor Passivrauch geklagt. Drei wei- nen unter freiem Himmel, und längst strebt tere Staaten haben bislang einen totalen und zwanzig einen parziellen smoking ban erlassen; da Häftlinge mehrheitlich manche Gemeinde ein totales Rauchverbot an, rauchen, betri#t dies nicht wenige Menschen: mit 2,3 Mill. bis hinein in die Privaträume. Dies gilt bereits Gefängnisinsassen sind die USA Weltmeister im Einsperren. für etliche kommunale Sozialwohnungen und Auch andere Temperenzkulturen haben oder planen solche Vorschriften: Schweden, Neuseeland, Großbritannien, Aust- nicht zuletzt für die Gefängnisse – für die über ralien und Kanada; daraufhin brachen schwere riots aus – für 700 Delinquenten, die in den Todestrakten Ka- die einen ein Beweis für die Existenz der Nicotinsucht, für die anderen ein Notwehrakt gegen die Verletzung der Men- schenwürde. Walter Raleigh wurde jedenfalls mit mehr Res- pekt behandelt. 52 50 Seit keine Tabakwerbung mehr geschaltet werden durfte, Obschon medikamentöse bzw. therapeutische „Tabakent- überboten sich die Medien in „schriller Aufgeregtheit“ (We- wöhnung“ i.d.R. entbehrlich ist – die allermeisten rauchen ber 1996, S. 48). Dank immer präziserer Analysetechnik (die „ganz einfach nicht mehr“ (wie einst S. v. Radecki n. Schacht- bei fast jedem Geldschein Kokainspuren nachweist) konnte siek-Freitag, 1990, S. 82). die New York Times sogar eine weitere Bedrohung vermelden: 53 Ironie des Schicksals: 1851 hatte der Vatikan tabakkritische „A New Cigarette Hazard: ‘Third-Hand Smoke’“ (2.1.2009). In- Studien auf den Index verbotener Schriften gesetzt. Damals zwischen ein anerkanntes Forschungsgebiet, liefert es doch wie heute wich die Forschung in andere Länder aus. eine neue Begründung für Rauchverbote; besonders Kinder 54 Ein %skalisches Desaster: Für die Hälfte der erwarteten 206 und Musiker (die „kontaminierte Instrumente“ in ihre Woh- Mrd. Dollar wurden ö#entliche Anleihen (tobacco bonds) aus- nungen mitbringen) seien bedroht (en.wikipedia s.v. third- gegeben; seit ihr Kurs verfällt, wird ventiliert zum Ausgleich hand smoke). E-Zigaretten zu besteuern.

rausch, 6. Jahrgang, 2-2017 Teufelskraut. Zur Historischen Anthropologie des Tabaks 23

Alltagspharmakologie dann im „Westen“ im kenheit“, was von den Konsumenten geschätzt, Trend liegen wird. von den Sittenlehrern verdammt wurde. Im 17. Jahrhundert aber wurde die Genusskultur komplexer, und damit wurden die Kon%iktli- 7 Bilanz nien unübersichtlicher. Kaffee und Tabak ent- hemmen nicht, im Gegenteil, als die Großen Geschichtsschreibung ist die Kunst des Weglas- Ernüchterer avancierten sie zu Treibmitteln der sens. Vieles konnte hier nur angedeutet werden, „okzidentalen Rationalisierung“ (M. Weber) in manches musste vollends ausgeblendet bleiben; Gestalt der modernen, d.h. vergeistigten, selbst- hingegen habe ich einigen Scharnierphasen kontrollierten Arbeitspraxis und Arbeitsethik. verhältnismäßig viel Raum gegeben, auch und Wer den Tabak als „Teufelskraut“ verdammte, gerade der jüngeren Entwicklung – vielleicht brachte damit seinen Widerwillen gegen diesen mehr als ihr dereinst einmal im Rückblick zu- „Fortschritt“ zum Ausdruck. 62 gestanden werden wird. Weder der Wille, den Nach einer kurzen Übergangszeit, als man Tabak ein für allemal abzuschaffen, taucht hier das Rauchen mangels Vorbildern als „trockene schließlich zum ersten mal auf, noch der rasche Trunkenheit“ wahrnahm, wurden die neuen, Wandel von Konsumpräferenzen. Dennoch milden Stimulantien in das humoralpathologi- gibt die im späten 20. Jahrhundert einsetzende sche System integriert, das die Substanzen nie- Thematisierungskonjunktur des Tabaks, deren mals absolut, sondern relativ und dosisabhän- Zeitzeugen wir sind, ein hervorragendes Stu- gig beurteilte: Leitstern war das „rechte Maß“. dienobjekt ab: Wie in einem Brennglas bündelt Tabakgegner waren daher um Begründungen sie Jahrhunderte der Tabakgeschichte und ver- verlegen: Weder ließ sich sinnvoll behaupten, deutlicht dabei basale Strukturen, Muster und dass das Rauchen gleich dem Saufen zu Ent- Prozesse. Abschließend seien diese thesenartig hemmung und $nanziellem Ruin führe, noch zusammengefasst. dass es ernstlich der Gesundheit schade, sofern es nicht exzessiv geschieht. Auch das Argument des Sündhaften hatte damit ausgedient. Neben 7.1 Rückblick der Brandgefahr 63 blieb als Einwand nur die äs- thetische und sensorische Belästigung, sprich: Würden morgen Außerirdische auf der Erde Schmutz und Gestank. Hierbei ging die sinn- landen, wären sie höchst verwundert, wie se- liche Wahrnehmung Hand in Hand mit einer lektiv die Bewohner dieses Sterns Risiken sozialmoralischen. Wer das Rauchen ablehnte, wahrnehmen und mit welcher Inbrunst gerade lehnte meist auch die Wert- und Lebensstilprä- die wohlhabendsten, gebildetsten und gesün- ferenzen jener Milieus ab, in denen das Rau- desten Populationen Probleme wälzen, die sie chen üblich war, so wie für diese umgekehrt sich selbst ausgedacht haben: Sind Heizpilze der Tabakkonsum der geschmacklichen Selbst- Klimakiller? Soll man sich vegan oder steinzeit- stilisierung im Rahmen sozialer Distinktion lich ernähren? Wie radioaktiv ist das Leitungs- diente. Letzteres führte dann auch zu bestän- wasser? Dürfen Kleinkinder noch ohne Helm digen Verschiebungen der Konsumpräferen- aufs Laufrad? Was man den außerirdischen Be- zen innerhalb der tabakaf$nen Sozialgruppen. suchern wohl erst erklären müsste: Solche Fra- Über lange Zeiträume war das Belästigungsar- gen drehen sich gar nicht um schnöde Sachver- gument ausreichend, um eine prekäre, mal in halte, sie stehen exemplarisch für moralische die eine, mal die andere Richtung ausschlagen- Grundsätze: Es sind Fragen des „Geschmacks“ de Balance von verrauchten und rauchfreien (Bourdieu, 1979). Auf diese Weise regeln zumal Räumen aufrechtzuerhalten (die im bürgerli- pazi$zierte Gesellschaften Macht- und Rang- chen Zeitalter die Form eines geschlechtlichen fragen, entscheiden über In- und Exklusion, de- Apartheidsystems annahm). $nieren den Marktwert der verschiedenen Ka- Dies änderte sich mit dem Aufstieg der Zi- pitalsorten. Als Basso continuo zieht sich dabei garette. Als sie – zunächst in den USA – zur der Streit um das „richtige Leben“ durch, ein billigen Massenware wird, kommt es erstmals nie endender Kon%ikt von phasenweise sehr zu einer organisierten Tabakgegnerschaft, und unterschiedlicher Intensität, in dem „äußere“ diese zielte erstmals nach den Versuchen im 17. statuspolitisch-soziale Motive und „innere“ Jahrhundert wieder auf ein komplettes Verbot. ethisch-psychische eine kaum zu trennende Hierbei wurden Geschmacksfragen auch erst- Gemengelage bilden. Seit alters machte sich jener Streit bevorzugt 62 Moscherosch bekämpfte auch die neue Mode, statt spontan an einer Flüssigkeit fest: dem Alkohol. Als Nah- mit den Händen selbstkontrolliert mit Messer und Gabel zu essen. rungsmittel standen Wein und Bier nie zur Dis- 63 Sie war durchaus real, relativierte sich allerdings angesichts position, doch im Übermaß erzeugten sie „Trun- der Allgegenwart o"enen Feuers. rausch, 6. Jahrgang, 2-2017