Die Großfürstentümer Litauen und Moskau im Ringen um das Erbe der Kiewer Rus‘

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

eines Magisters der Philosophie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Michael KASER

am Institut für Geschichte Begutachter: Harald Heppner Ao.Univ.-Prof. Dr.h.c.mult. Dr.phil.

Graz, 2013

Inhaltsverzeichnis

Danksagung S. 4 Vorwort S. 5

1.Einleitung S. 6

2. Landschaft und Sprache 2.1. Landschaftliche Gliederung Litauens S. 8 2.2. Sprache S. 9 2.3. Vor- und frühgeschichtliche Entwicklung S. 11

3. Historisches Umfeld 3.1. Die Kiewer Rus„ 3.1.1. Zur Bezeichnung „Rus'“ und der legendären Gründung des Kiewer Reiches S. 16 3.1.2. Die Kiewer Rus„ bis zum Einfall der Mongolen S. 18 3.1.3. Der Einfall der Mongolen S. 28 3.1.4. Kriegszüge nach dem Tode Dschingis Khans S. 30

3.2. Der Deutsche Orden 3.2.1. Gründung im Heiligen Land S. 35 3.2.2. Engagement an der Ostsee S. 36 3.3.3. Die „Preußenreisen“ S. 39

3.3. Moskau 3.3.1. Der Aufstieg Moskaus S. 41 3.3.2. Tver„ und Moskau S. 42 3.3.3. Die Schlacht am Kulikovo Pole S. 47

4. Litauen 4.1. Litauen im 12. und 13. Jahrhundert S. 49

4.2. Erste Herrschaftsbildung und Königtum 4.2.1. Herkunft „ S. 53 4.2.2. Die Einigung Litauens S. 55 4.2.3. Taufe Mindaugas„ und Kirchenorganisation in Litauen S. 59 4.2.4. Das kurzlebige litauische Königreich S. 63 4.2.5. Der Kampf Ņemaitens gegen den Deutschen Orden S. 66 4.2.6. Verschwörung gegen Mindaugas S. 68 4.2.7. Die Wirren der 1260er Jahre S. 70

4.3. Die Expansion Litauens unter 4.3.1. Gediminas„ Herkunft S. 75 4.3.2. Regierungszeit S. 77 4.3.2.1. Territorium und Verwaltung S. 77 4.3.2.2. Außenpolitik S. 80 4.3.2.3. Innenpolitk S. 83 4.3.3. Die Hauptstadtfrage S. 84 4.3.4. Nachfolgeregelung und Zersplitterung S. 86

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4.4. und Kęstutis 4.4.1. Die „Doppelherrschaft“ der Brüder S. 88 4.1.1. Die Machtübernahme S. 88 4.4.1.2. Der Westteil unter Kęstutis S. 89 4.4.1.3. Der Ostteil unter Algirdas S. 92 4.5. Jogaila und 4.5.1. Die Taufe Jogailas und die Union mit Polen S. 97 4.5.2. Konflikt mit Vytautas und Ausgleich S. 100 4.5.3. Die Ostpolitik Vytautas S. 102 4.5.4. Die Schlacht an der Vorskla S. 104 4.5.5. Union von und Radom, Schlacht von Tannenberg S. 106 4.5.6. Vytautas' Tod S. 108

5. Die Rolle der Orthodoxie 5.1. Begegnungen im 12. Jahrhundert S. 110 5.2. Die Metropolie von Litauen S. 111 5.3. Die Reaktion der Metropoliten von Vladimir S. 116 5.4. Das endgültige Scheitern Litauens S. 119

6. Abschließende Betrachtungen S. 121

7. Anhang Anhang 1: Abkürzungsverzeichnis S. 123 Anhang 2: Verzeichnis häufig genannter Personen S. 124 Anhang 3: Orts- und Personennamen S. 125 Abbildungsverzeichnis S. 127 Kartenverzeichnis S. 128 Literaturverzeichnis S. 129 Eidesstattliche Erklärung S. 136

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Danksagung

Mein besonderer Dank gilt meinem Betreuer Dr. Harald Heppner, der sich wohlwollend meiner Arbeit angenommen, auf meinen Arbeitsprozess als geduldiges Korrektiv eingewirkt und mich motivierend begleitet hat. Desweiteren danke ich meinen Eltern, die mir all die Jahre ihre Unterstützung angedeihen ließen und mir ermöglicht haben, mein Studium zu einem glücklichen Ende zu bringen. Abschließend gebührt mein herzlicher und inniger Dank meiner Gefährtin, die mir steter Ansporn war und ist und mir mit unermüdlichem Korrektureifer bei der Abfassung dieser Arbeit geduldig zur Seite stand.

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Vorwort

Die Beschäftigung mit Litauen, insbesondere mit dessen mittelalterlicher Geschichte, mag aus österreichischer Perspektive etwas ungewöhnlich erscheinen, zumal eine zeitgeschichtliche Bearbeitung dieses jungen Staates im Nordosten Europas zweifellos auch eine Fülle an interessanten Themenkomplexen eröffnen würde.

Ich muss dem Zufall danken, der mich 2004/05 im Zuge meines ERASMUS-Aufenthaltes nach Vilnius geführt hat. Aufgrund eines Mobilitätsabkommens zwischen der Karl-Franzens- Universität Graz und der Vilniaus Universitetas entschloss ich mich, zwei Semester in Litauen zu verbringen – einem bis dahin weißen Fleck auf meiner mentalen Landkarte. Im Zuge meines Aufenthaltes hatte ich dankenswerterweise die Gelegenheit, diesen mit Farbe zu erfüllen. Die „terra incognita“ des Ostseeraumes wurde durch eigene Erfahrung mit Leben erfüllt, das Interesse an Land und Leuten und deren reicher Geschichte geweckt. Die Auseinandersetzung mit den „letzten Heiden Europas“ im Großfürstentum Litauen, dessen Expansion und Dominanz im osteuropäischen Raum bis hin zum Schwarzen Meer sowie mit der Frage, warum trotz gegenteiliger Vorzeichen die Entscheidung der Herrscher schließlich zugunsten des lateinischen Christentums gefällt wurde, regte mich zu intensiveren Nachforschungen an. Nicht zuletzt ermöglicht die Kenntnis der Geschichte des Großfürstentums Litauen und seiner Tradition der religiösen Toleranz ein besseres Verständnis der Situation und Politik in den „Nachfolgestaaten“, deren Territorium einstmals zumindest teilweise dem Großfürstentum angehört hatte: Litauen, Lettland, Polen, Weißrussland, Russland und der Ukraine.

Zu hoffen bleibt mir, mit der vorliegenden Arbeit den einen oder anderen Erkenntnisgewinn bzw. Denkanstoß bieten zu können.

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1. Einleitung:

Das Großfürstentum Litauen sollte zur Zeit seiner größten Ausdehnung neben Kernlitauen auch große Teile der westlichen Rus„1 umfassen und bis ans Schwarze Meer reichen. Im 14. Jhdt. standen mehr rus‟ische Gebiete unter seiner Kontrolle als unter der des großen Rivalen, des Großfürstentums Moskau. Es kontrollierte die Handelsrouten durchs Baltikum entlang der Düna und über den Dnjepr, zwischen der Rus„, Polen und dem Deutschordensstaat. Ein Teil der Bewohner des Großfürstentums waren Anhänger der orthodoxen Kirche und damit dem Patriarchen von Konstantinopel unterstellt. Die weiterhin heidnischen Landesteile ebenso wie der Großfürst wurden von katholischer Seite und vom Papst teils eifrig umworben, teils heftig bekämpft. Um diese Situation für die eigenen Zwecke geschickt ausnützen zu können, entschieden sich die Großfürsten trotz wiederholt abgegebener Taufversprechen meist für die Beibehaltung des Heidentums.2 Dieses ständige Lavieren zwischen Rom und Byzanz fand erst im Jahre 1386 mit der Annahme des katholischen Glaubens durch Großfürst Jogaila, nunmehr als Władysław II. Jagiełło König von Polen, ein Ende. Die Verbindung mit Polen bewirkte allerdings auch eine Wende in der Politik des litauischen Herrschergeschlechts. Der polnische Teil gewann immer mehr an Gewicht, die Beziehungen zum lateinischen Westen wurden intensiviert. Nach dem Tode Vytautas‟ waren die Pläne für ein eigenständiges litauisches Reich weitgehend vom Tisch, die dynastische Politik der Jagiellonen orientierte sich zusehends an zentraleuropäischen Mächten, mit denen Heiratsverbindungen geknüpft wurden. Das Streben der Jagiellonen nach der Etablierung als führende Dynastie in Europa resultierte in der zeitweiligen Bildung eines jagiellonischen Machtblocks, bestehend aus dem Zentrum Polen- Litauen sowie den Königreichen Böhmen und Ungarn (einschließlich Kroatiens).

Das Augenmerk dieser Arbeit soll aber auf der Entwicklung im 14. Jahrhundert liegen, als das Großfürstentum Litauen sich anschickte, durch das „Sammeln rus‟ischer Lande“ die Vorherrschaft in der ehemaligen Kiewer Rus„ zu erlangen. Am Beginn steht ein Überblick über Siedlungsraum und Sprache der baltischen Völker und deren vorgeschichtliche Entwicklung, daran anschließend der Gründungsmythos des Kiewer Reiches sowie die

1 Zur Erklärung des Begriffes siehe Kapitel 3.1.1. 2 Rowell, Stephen Christopher: ascending. A pagan empire within east-central Europe, 1295-1345. (= Cambridge studies in medieval life and thought. Fourth series, Vol. 25.). 3., unveränd. Aufl. Cambridge, New York, Melbourne 1997, S. XI. 6

Situation in der Rus„ bis zum Mongolensturm Mitte des 13. Jhdts. Der Aufstieg des Fürstentums Moskau zum Hauptgegner Litauens in der Rus„ wird kursorisch geschildert, eine tiefergehende Analyse der Ereignisse folgt im Kapitel über die Orthodoxie. Die Geschichte des Deutschen Ordens und seiner Aktivitäten im Baltikum wird im Hinblick auf seine Rolle als Gegner des heidnischen Litauens umrissen. Schließlich werden Litauens Entwicklung zum Königtum im 13. Jhdt. und die Zeit der Expansion vor allem im 14. Jhdt. behandelt. Die Darstellung endet – wie oben erwähnt – mit dem Tod Vytautas‟. Am Ende stellt sich die Frage der Bedeutung der Orthodoxie für die Herrschaft in der Rus„, mit dem Hauptaugenmerk auf den Auseinandersetzungen zwischen Litauen und Moskau um den Metropolitensitz.

Im Anhang finden sich Abkürzungsverzeichnis, ein Verzeichnis häufig auftretender Personen und neben Karten- und Bildnachweis auch je ein Personen- und ein Ortsnamensverzeichnis als kleine Orientierungshilfe über die Problematik der Namensverwendung in diesem Begegnungsraum unterschiedlicher Völker, Kulturen und Sprachen.

Hinsichtlich der Schreibung der Eigennamen sei darauf hingewiesen, dass russische Namen fast ausnahmslos gemäß der Transliterationsrichtlinien DIN 1460 laut Duden dargestellt werden, im Deutschen eingebürgerte Namensformen wurden aber teilweise so belassen (z.B. Kiew, Moskau). Hinsichtlich der Personen- und Ortsnamen im Großfürstentum Litauen wurden meist die aktuellen – wenn man so will „lithuanisierten“ – Namen verwendet. Dies lässt sich insofern argumentieren, als alle in den Quellen genannten Namen nicht genuin litauischen Ursprungs sind, sondern aufgrund der langen Schriftlosigkeit der Litauer mehr oder weniger geglückte lautliche Wiedergaben fremdsprachiger Chronisten verkörpern. Generell wurde versucht, Ortsnamen entsprechend der historischen politischen Zugehörigkeit darzustellen. Alternative Namensformen werden meist bei Erstnennung in Klammern nachgestellt, ansonsten sei auf die oben erwähnten Namensverzeichnisse verwiesen.

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2. Landschaft und Sprache

2.1. Landschaftliche Gliederung Litauens

Das Kerngebiet der litauischen Siedlung zwischen Ostsee und Mittellauf der Düna (lett. Daugava) deckt sich weitgehend mit dem Staatsgebiet der heutigen Republik Litauen.3 Dieser Siedlungsraum wird gegen Norden von der hügeligen kurisch-litauischen Endmoräne, gegen Süden vom Höhenrücken von Suwalki begrenzt. Nach Osten und Südosten öffnet sich die Landschaft und mündet in die Ebenen und Waldgebiete des heutigen Weißrusslands. Zwei bedeutende Flüsse durchschneiden das Siedlungsgebiet, die Memel (lit. Nemunas) und deren rechter Nebenlauf Wilija (lit. Neris).4 Eine nennenswerte Binnenschifffahrt an der Memel konnte sich aufgrund der auseinanderströmenden Wasserachsen in Litauen nie herausbilden, die historischen Handelsströme gingen im Wesentlichen entlang der besser schiffbaren Düna und somit daran vorbei oder endeten bereits in Vilnius bzw. Grodno (weißruss. Hrodna)5.

Landschaftlich lassen sich vier Großgebiete unterscheiden: 1. im Nordwesten Ņemaiten (Niederlitauen) 2. im Osten Aukńtaiten (Hochlitauen) 3. im Süden die Suvalkija (Sudauen) 4. im Südosten die Dzūkija6

1. Ņemaitija (Niederlitauen) Die lateinische Bezeichnung dieses Landstrichs lautet , im Deutschen als Schemaiten bzw. Ņemaiten benannt. Niederlitauen schließt nordwestlich an Hochlitauen an.7 Das seenreiche Gebiet fällt zur Memel hin stark ab. Wiewohl geographisch nicht passend, leitet sich der Name vom Wort žemas (lit. niedrig) ab. Hellmann vermutet, dass der Name von in der mittellitauischen Ebene siedelnden Stämmen erstmals für deren Lebensraum verwendet und nach Beginn der Siedlungstätigkeit im westlichen Hügelland auf dieses ausgedehnt

3 Vgl. Hellmann, Manfred: Litauen. In: LMA, Bd. 5, Sp. 2012-2016 sowie Kiaupa, Zigmantas: The Grand Duchy of Lithuania from the Establishment of the State to the Union of Lublin. II. Gediminan Lithuania before Christianization. In: Kiaupa, Zigmantas; Kiaupienė, Jūratė; Kuncevičius, Albinas: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000, S. 84. 4 Hellmann, Manfred: Grundzüge der Geschichte Litauens und des litauischen Volkes. 4., gegenüber der 3. unveränd. Aufl., Darmstadt 1990, S. 9. 5 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 11. 6 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 9f. 7 Boockmann, Hartmut: Schemaiten. In: LMA, Bd. 7, Sp. 1449. 8 wurde. Die mittellitauische Ebene zeichnet sich durch schwere und feuchte Böden mit Laubwäldern aus, weiter im Osten durch zahlreiche Seen und leichtere Böden sowie Nadelwälder.8

2. Aukńtaitija (Hochlitauen) Hier im Gebiet des baltischen Höhenrückens liegt der Kern des Volks- und nachmaligen Staatsgebietes Litauens mit der Hauptstadt Wilna (lit. Vilnius), dem mittelalterlichen Herrschaftssitz Troki (lit. ) am Galvėsee und dem vorgeschichtlichen Kernavė, mutmaßliches Zentrum lokaler Stammesherren.9 Der Name leitet sich von aukštas (lit. hoch) her.10 Die natürliche Grenze zwischen Ņemaitija und Aukńtaitija wird vom Fluss Nevėņis gebildet.

3. Suvalkija (Sūduva) Das Gebiet um Suvalkai (heute poln. Suwałki) wird im Osten vom großen Memelbogen, im Südwesten durch die Memelschleife bei Merkinė und den See von Vyńtytis begrenzt. Weite Ebenen und große zusammenhängende Waldgebiete geben dieser Landschaft ihre Prägung.11

4. Dzūkija Diese südöstliche Landschaft ist gekennzeichnet durch ihre Öffnung nach Südosten hin, geprägt von der Durchdringung bzw. Begegnung litauischer Siedlungstätigkeit mit jener aus dem ostslawischen Raum (Weißrussen und Polen).12

2.2. Sprache

Das Litauische gehört innerhalb der indogermanischen Sprachfamilie zur baltischen Sprachgruppe13. Diese setzt sich zusammen aus einem westbaltischen Zweig mit dem im 17.

8 Hellmann, Manfred: Das Großfürstentum Litauen bis 1569. In: Hellmann, Manfred [Hrsg.]: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 1: Bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum, II. Halbband. Stuttgart 1989, S. 735. 9 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 10. 10 Hellmann, Großfürstentum, S. 735. 11 Hellmann, Großfürstentum, S. 735. 12 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 10. 13 Davon abweichend wird auch die Theorie vertreten, dass Baltisch und Slawisch auf eine gemeinsame Protosprache zurückgehen. Bzgl. der Diskussion in der Sprachwissenschaft vgl. Senn, Alfred: On the Degree of Kinship between Slavic and Baltic. In: Slavonic Year-Book. American Series, Vol. 1 (1941), S. 251–265. 9

Jhdt. ausgestorbenen Preußischen14 bzw. Altpreußischen (lit. prūsų oder sen prūsių kalbà) und einem ostbaltischen Zweig, bestehend aus Kurisch15 (kurńių kalbà), Semgalisch (ņiemgalių kalbà), Selisch (sėlių kalbà) sowie Litauisch (lietuvių kalbà) und Lettisch (latvių kalbà). Bis auf die beiden letztgenannten Sprachen gilt auch der ostbaltische Zweig heute als ausgestorben.16

Schriftliche Zeugnisse der baltischen Sprachen treten erst spät auf, mit dem Elbinger Vokabular stammt das älteste aus dem beginnenden 14. Jhdt. Dieses Vokabular verzeichnet 802 ostmitteldeutsche Wörter und ihre entsprechenden Übersetzungen in die altpreußische Sprache. Bis im 16. Jhdt. die ältesten altlitauischen und altlettischen gedruckten Texte erscheinen (so 1547 der lutherische Katechismus des Martynas Maņvydas), sind volkssprachliche Schriften einzig in Gestalt eines kurzen altpreußischen Textes Mitte des 14. Jhdts. sowie in den „Dsukischen Gebeten“ um 1515 überliefert.17

Während sich das Litauische durch die Bewahrung altertümlicher Konstruktionen in Grammatik und Orthographie (bspw. den Dual, das Medium, etc.) sowie seinen Formenreichtum auszeichnet, stellt das Lettische eine jüngere, modernere Entwicklungsstufe dar. Das baltische Sprachgebiet dürfte weit nach Osten und Südosten bis an die obere Oka und Wolga gereicht haben, wurde durch die Westbewegung des Ostslawischen aber schließlich im kurisch-livländischen Küstenraum bzw. dem nachmaligen Ostpreußen zusammengedrängt.18 Das Estnische hingegen gehört gemeinsam mit dem Finnischen und Ungarischen zur finno-ugrischen Sprachgruppe innerhalb der Uralischen Sprachfamilie.19

14 Matthews gibt an, die Prussen seien um 1300 vom Deutschen Orden unterworfen worden, ihre Sprache dann um 1700 ausgestorben. Die wenigen Reste in protestantischen Schriften würden allerdings belegen, dass das Prussische mit dem Litauischen oder Lettischen weniger gemein hatte als diese beiden Sprachen untereinander, Matthews stützt also die Theorie der Aufspaltung des Baltischen in einen westlichen und einen östlichen Zweig. Vgl: Matthews, William Kleesmann: Medieval Baltic Tribes. In: American Slavic and East European Review, Vol. 8, No. 2 (Apr. 1949), S. 128. 15 Laut Matthews ging der Stamm der Kuren beginnend im 13. Jhdt. in den Völkern der Letten und Litauer auf. Um 1700 sei dieser Absorptionsprozess zu einem Abschluss gekommen. Weiters referiert er kurz die sprachwissenschaftliche Problematik, ob das Kurische als eigenständige Sprache angesehen werden könne oder ob es sich um einen lettischen Dialekt handelte und führt Vertreter beider Sichtweisen an. Vgl. Matthews, Tribes, S. 132. 16 Senn, Alfred: Handbuch der litauischen Sprache. Bd. I: Grammatik. Heidelberg 1966, S. 30f. 17 Senn, Handbuch, S. 53f; Meier-Brügger, Michael: Indogermanische Sprachwissenschaft. Unter der Mitarb. von Matthias Fritz und Manfred Mayrhofer. 8., überarb. u. erg. Aufl. der früheren Darstellung von Hans Krahe. Berlin, New York 2002, S. 39; Hellmann, Geschichte Litauens, S. 71. 18 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 11f. 19 http://eeo.uni-klu.ac.at/index.php?title=Finnougrische_Sprachen (05.02.2013) 10

Das Litauische wird in zwei Dialektgruppen unterteilt, Niederlitauisch (ņemaičiai) und Hochlitauisch (aukńtaičiai). Vom 16. bis ins 18. Jhdt. bilden die unterschiedlichen Dialekte Grundlage der frühen litauischen Literatur. Die moderne litauische Hochsprache wurde erst Ende des 19. Jhdts. von Jonas Jablonskis (1861-1930) auf Basis des Hochlitauischen im Zuge des allgemeinen sog. „Nationalen Erwachens“ in Europa entwickelt.20 Der oben erwähnte Formenreichtum kam und kommt speziell in der Volkspoesie und den Volksliedern (lit. dainos) zum Ausdruck. Die Wiedererlangung der Eigenstaatlichkeit und der neue Status als Amts- und Staatssprache in der ersten Hälfte des 20. Jhdts. führten notwendigerweise zu zahlreichen sprachlichen Neubildungen, um den Anforderungen eines modernen Staats- und Wirtschaftswesens genügen und die nationale Souveränität sprachlich abbilden zu können.21

2.3. Vor- und frühgeschichtliche Entwicklung

Im Tal der Memel sind Spuren von Siedlungstätigkeiten seit dem ausgehenden Paläolithikum (ca. 8000 v. Chr.) nachweisbar, die Funde im südlitauischen Puvočiai (bei Merkinė im Dzūkija Nationalpark) legen einen Zusammenhang mit der altsteinzeitlichen Swiderién- Kultur nahe.22 Die bis ins 5. vorchristliche Jahrtausend vorherrschende Lebensweise als Jäger, Fischer und Sammler änderte sich erst im Zuge der neolithischen Revolution, als Ackerbau und Viehzucht auch unter den ostbaltischen Völkern Verbreitung fanden.23

Die Streitaxtleute des Neolithikums hinterließen auch im Ostbaltikum ihre schnurbandkeramischen Zeugnisse und verdrängten, vermutlich vom Schwarzen Meer kommend, die bis dahin vorherrschende mit Kamm- und Grübchenmustern verzierte Keramik der älteren Jäger und Sammler (Belege dafür liefern die Funde von Grinkińkis bei Kėdainiai oder Kurmaičiai bei Kretinga).24

20 Senn, Handbuch, S. 44; Senn, Alfred: Standard Lithuanian in the Making. In: Slavonic and East European Review. American Series, Vol. 3, No. 2 (Aug. 1944), S. 102-116. 21 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 12. 22 Senn, Handbuch, S. 21. 23 http://www.istorija.lt/la/satavicius2005en.html (05.02.2013); Hellmann, Geschichte Litauens, S 14f. 24 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 14. 11

Aus der im Baltikum bis ca. 500 v. Chr. reichenden Bronzezeit25 sind nur spärliche Funde auf uns gekommen. Für das Ende der Bronzezeit lässt sich anhand des Hügelgrabes von Kurmaičiai die Existenz einer herausgehobenen Herrschaftsschicht nachweisen, nirgends findet sich jedoch die erwartete Abspaltung eines baltischen „Urvolkes“ von den Indogermanen belegt.26

Für die frühe Eisenzeit gibt es wichtige Funde in Hochlitauen (z.B. Velykuńkės bei Zarasai), welche die Herausbildung größerer Gruppenverbände erkennen lassen. Diese unterteilen sich ab der späten Eisenzeit um 400 n. Chr. deutlich in kleinere lokale Siedlungsverbände, was sich auch in einzelnen Fundgruppen widerspiegelt. So finden sich Hinweise auf die Kuren an der Küste des Memelgebietes sowie auf der Kurischen Nehrung. Um Schaulen (lit. Ńiauliai) sind Niederlassungen der Semgaller belegt, deren Siedlungsgebiet an jenes der weiter südlich anschließenden Niederlitauer (Ņemaiten) grenzte. Von diesen und den östlich anschließenden Hochlitauern (Aukńtaiten) zeugen Funde von Pferdegräbern.27 Nördlich der Düna (lett. Daugava) bezeugen Siedlungsfunde das nördliche Nachbarvolk der Letten bzw. Lettgaller. Zu diesem zählte auch der südlich der Düna siedelnde, aber unter litauischem Einfluss stehende Stamm der Selen oder Selonen. Im Süden überschneiden sich die Siedlungsräume der Litauer und der polnischen Masowier in Schwarzrußland bzw. -ruthenien.28 Im Osten lässt sich eine Abgrenzung zu den slawischen Völkern archäologisch kaum festmachen, jedoch weisen sprachwissenschaftliche Erkenntnisse auf eine ursprünglich weit nach Osten reichende Siedlungstätigkeit der litauischen Stämme hin.29 Ostbaltische Stämme dürften noch in der ersten Hälfte des ersten Jhdts. n. Chr. nördlich und östlich der Pripjet- bzw. Rokitnosümpfe gelebt haben.30

25So Hellmann, Geschichte Litauens, S. 14. Gimbutas lässt die Bronzezeit im Baltikum im Zeitraum zwischen 800 v. Chr. und 400 v. Chr. in die Frühe Eisenzeit übergehen. Vgl. Gimbutas, Marija: The Balts. London 1963, S. 12. 26 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 14f. 27 Was neben der hohen spirituellen Bedeutung von Pferden als Reittier im Jenseits auch die profane Tatsache belegt, dass die Litauer in der ausgehenden baltischen Eisenzeit bereits den Reiterkampf kannten. Hellmann, Geschichte Litauens, S. 15. Die Pferde wurden in stehender Position, geschirrt und mit vollem Zaum begraben, auf eine Lebendbestattung lassen Bandagen über den Augen, gefesselte Läufe sowie Futtersäcke voll Hafer schließen. Vgl. Gimbutas, Balts, S. 187. 28 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 14f. 29 Orts- und Gewässernamen deuten daraufhin, dass die baltischen Stämme ursprünglich am mittleren Dnjepr siedelten. Von dort wurden sie im 6. Jhdt. durch ostslawische Stämme Richtung Nordwesten in den Siedlungsraum am Zusammenfluss von Memel und Wilija verdrängt. Vgl. Matthews, Tribes, S. 128f. 30 So seien für das Gebiet südlich des Pripjet 22 baltische Gewässernamen belegt, für die nördlich und östlich des Flusses gelegenen Gebiete hingegen über 500. Vgl. Senn, Handbuch, S. 37. 12

Karte 1: Das Verbreitungsgebiet baltischer Gewässernamen.

Das Kernsiedlungsgebiet der litauischen Stämme lag nordöstlich der Memel (lit. Nemunas), gegliedert in die Ņemaitija (Niederlitauen) und die Aukńtaitija (Oberlitauen). Im Wesentlichen deckt sich das Staatsgebiet des modernen Litauen mit den historisch fassbaren Siedlungsräumen der litauischen Stämme im Mittelalter.

Das dicht bewaldete Gebiet, in weiten Teilen eine artenreiche Wildnis, war von Flüssen, Sümpfen und Seen durchzogen und dadurch in Kleinräume gegliedert. Die vorwiegend bäuerliche Kultur konzentrierte ihre Siedlungen um die befestigten Höfe einer lokalen Kriegerelite und die Wallburgen regionaler Kleinfürsten.31 Diese Zergliederung scheint der Herausbildung einer Oberherrschaft lange im Wege gestanden zu haben bzw. mag dafür keine Notwendigkeit oder auch Möglichkeit bestanden haben. Dies änderte sich erst durch massiv wirkende äußere Einflüsse Ende des 12. und Anfang des 13. Jhdts. Einerseits dehnten die Dänen ihre Einflussgebiete im heutigen Estland und Lettland aus, andererseits wurden die bis dahin paganen baltischen Stämme zum bevorzugten Missionsziel vor allem des Deutschen Ordens.

31Rowell, Stephen Christopher: Baltic Europe. In: Jones, Michael [Hrsg.]: The New Cambridge Medieval History Vol. VI c.1300 – c.1415, Cambridge 2000, S. 703f. 13

Erste schriftliche Erwähnung findet Litauen bzw. finden die Völker des Ostseeraumes bei den antiken Geschichtsschreibern. So nennt Tacitus in seiner ca. 98 n. Chr. entstandenen Germania in Kapitel 45 ein an der Ostsee beheimatetes Aestiorum gentes, ein Volk von Bernsteinsammlern, welches von der Forschung den indogermanischen Balten zugezählt wird32: „Ergo iam dextro Suebici maris litore Aestiorum gentes alluuntur, quibus ritus habitusque Sueborum, lingua Britannicae propior. […] sed et mare scrutantur, ac soli omnium sucinum (quod ipsi glesum vocant) inter vada atque in ipso litore legunt.”33

Claudius Ptolemäus (um 140 n. Chr.) zählt in der Geographia die Völker der Venedae, Veltae, Ossii und Karbones an der Ostseeküste auf. Bei erstgenannten Venedae handelt es sich um einen slawischen Stamm, der von der Forschung wie die baltischen Aestii des Tacitus am Frischen Haff34 verortet wird. Laut Jordanes (6. Jhdt. n. Chr.) unterwarf Hermanarich die Stämme der Venethi, welche, obwohl gleicher Abstammung, unter den drei Namen Venethi, Anten und Sclaveni bekannt sind: „post Herulorum cede item Hermanaricus in Venethos arma commovit , […]. nam hi , […], ab una stirpe exorti , tria nunc nomina ediderunt , id est Venethi , Antes , Sclaveni […]. Aestorum quoque similiter nationem , qui longis simam ripam Oceani Germanici insident , idem ipse prudentia et virtute subegit […]“35 Die zuletzt genannten Aesti werden von Senn als Westbalten interpretiert. 36

Saxo Grammaticus (ca. 1140 bis 1220) nennt in seiner Dänischen Geschichte unter den osteuropäischen Völkern, mit welchen die Wikinger Kontakt hatten, die Kuren, die preußischen Samländer und die Semgalen (lit. ņiemgaliai), Litauer erwähnt er nicht.37 „Nun schickte man Starkad zusammen mit dem Wendenhäuptling Vin aus, den Abfall der Ostleute

32 Zum Streit in der Forschung, ob es sich nicht um finnische Stämme handelte, welche von den Kuren und Prussen verdrängt wurden vgl. Senn, Handbuch, S. 22f. 33 „Also weiter! Rechts bespült das swebische Meer die Gestade der Ästierstämme. In Brauch und Lebensart stehen sie den Sweben nahe, in der Sprache eher den Britanniern. […] Aber auch das Meer durchsuchen sie und sammeln als einzige aller Germanen an seichten Stellen und unmittelbar am Strande Bernstein, den sie selbst glesam nennen.“ Vgl: Tacitus: Germania, Cap. 45. In: Fehrle, Eugen [Hrsg.]: Publius Cornelius Tacitus. Germania. 4., erw. Auflage. München und Berlin, 1944, S. 54f. 34 Zwischen Elbing (heute poln. Elbląg) und Königsberg (heute russ. Kaliningrad), quasi das südwestliche Pedant zum Kurischen Haff zwischen Königsberg und Memel (heute lit. Klaipėda). 35 Iordanis: De origine actibvsqve Getarvm, Cap. XXIII. In: Mommsen, Theodor [Hrsg.]: Iordanis. Romana et Getica. MGH Auct. ant. Bd. 5,1. Berlin 1882, S. 88f. 36 Senn, Handbuch, S. 23f. 37 Senn, Handbuch, S. 24. 14 zu verhindern. Vereint fochten sie gegen den Heerbann der Kurländer, Samländer und Semgalen, ja gegen alle Ostleute, und weit und breit erstritten sie große Siege.“38

In der Vita Anskarii von Rimbert (ca. 865 – 888 n. Chr.) finden die Kuren unter dem Namen Cori als weit von den Schweden entfernt siedelndes Volk Erwähnung: „Gens enim quaedam longe ab eis posita, vocata Cori.“39 Weiter berichtet Rimbert für das Jahr 853 n. Chr. von der Landung schwedischer Wikinger an der Küste Kurlands bei Libau (let. Liepāja) und deren Zug landeinwärts nach der kurischen Festung Apulia (lit. Apuolė nahe Skuodas im Nordwesten Litauens).40

In der altrussischen Nestorchronik (Pověst‟ vremennykh let) finden Rimberts Cori unter dem Namen Kǔrs„ Erwähnung, ein weitere baltischer Stamm neben den Litǔva, Zimigola und Let‟gola. Als entlang der Küste der Ostsee siedelnde Stämme werden weiter die Ljakohove, Prus„ und Čud genannt.41

Bei Heinrich von Lettland treten die Litauer in seiner Livländischen Chronik im Winter 1184/85 auf: „Proxima hyeme Lettones vastata Lyvonia plurimos in captivitatem abducunt.“42

38 Saxo Grammaticus, Gesta Danorum, Kap. 5 Buch 6. In: Hube, Hans-Jürgen: Saxo Grammaticus. Gesta Danorum. Mythen und Legenden des berühmten mittelalterlichen Geschichtsschreibers Saxo Grammaticus. Wiesbaden 2004, S. 342. 39 Vita Anskarii auctore, Cap. 30: In: Waitz, G(eorg) [Hrsg.]: Vita Anskarii auctore Rimberto. Accedit Vita Rimberti. MGH SS rer. Germ. Bd. 55, Hannover 1884, S. 60. 40 Senn, Handbuch, S. 24. 41 Matthews, Tribes, S. 131. 42 Im Winter 1184/85, vermutlich im Februar, verheerten die Litauer Livland. Es handlete sich wohl um einen der Ende des 12. Jhdts. häufigen Plünderungszüge. Vgl: Heinrici Chronicon Livoniae. Cap. I, 5. In: Arbusow, Leonid und Bauer, Albert [Hrsgg.]: Heinrichs Livländische Chronik. 2. Aufl. MGH SS rer. Germ. Bd. 31. Hannover 1955, S 3. 15

3. Historisches Umfeld

3.1. Die Kiewer Rus‘

3.1.1. Zur Bezeichnung „Rus'“ und der legendären Gründung des Kiewer Reiches

Der Name Rus' rührt von den skandinavischen Eroberern her, welche verschiedene ostslawische Stämme am Ober- und Mittellauf des Dnjepr im 9. Jhdt. n. Chr. unter ihre Herrschaft zu bringen vermochten und fortan die Oberschicht stellten. Laut der altrussischen Nestorchronik43 wurden die „Waräger von jenseits des Meeres“, nachdem sie „von den Tschuden, Slowenen, Meriern, Wessen und Kriwitschen“ einige Jahre lang Tribut erhoben hatten, von diesen vertrieben. Da es aber „unter ihnen kein Recht [gab]“, zogen Vertreter dieser Stämme „über das Meer“ zu den Warägern, „diese […] nannten sich Russen“. Die Stammesvertreter luden diese sogenannten „Russen“ ein, um über sie zu herrschen, zwar sei ihr Land „groß und reich, aber es gibt darin keine Ordnung. Deshalb kommt, um bei uns zu herrschen und zu regieren!“44 In den ältesten ostslawischen Chroniken und den arabischen Quellen werden sie als „Rus'“ bzw. „ar-Rūs“ bezeichnet. Die Theorie, wonach die Slawen diese Bezeichnung vom finnischen „Ruotsi“ bzw. dem estnischen „Rootsi“ für die schwedischen Waräger abgewandelt übernommen haben, gilt mittlerweile als erhärtet.45 Diese sogenannte „Ostseevariante“ leitet „Rus'“ über die ostseefinnischen „Rōtsi“ (Sammelbezeichnung für die benachbarten Schweden) vom altnordischen „rōþs-menn“ bzw. „rōþs-karlar“ (Ruderer,

43 Die um 1113 in altkirchenslawischer Sprache verfasste Chronik ist nach dem Schreiber Nestor, einem Mönch im Höhlenkloster von Kiew benannt. Als wahrscheinlicher Auftraggeber gilt der Großfürst Svjatopolk Isjaslavič, nach dessen Tod beauftragte Vladimir Monomach das Vydubickij-Kloster bei Kiew 1116 mit einer zweiten Redaktion. Diese diente vielen altrussischen Chroniken als Ausgangspunkt, unter anderen der hier verwendeten Radziwiłł-Chronik oder der Laurentius-Chronik von 1377. Die Radziwiłł-Chronik reicht bis zum Anfang des 13. Jhdts., sie dürfte um 1490 auf Smolensker Gebiet entstanden sein. Als Vorlage diente wohl die Perejaslavler Chronik, welche nicht genau datiert werden kann, da sie mit dem Jahr 1214 abbricht und der Schlussteil verloren ist. Die Chronik gelangte unter Fürst Janusz Radziwiłł (lit. Jonuńas Radvila, 1612-1655) in den Besitz der litauisch-polnischen Magnatenfamilie. Fürst Bogusław Radziwiłł übergab sie im Rahmen einer Schenkung 1668 der Schlossbibliothek zu Königsberg. Vgl. Rauchspur der Tauben. Radziwiłł-Chronik. Originialtitel: Радзивилловская летопись. Aus dem Altrussischen übertragen und herausgegeben von Helmut Graßhoff, Dietrich Freydank und Gottfried Sturm unter Mitarbeit von Jutta Harney. Leipzig und Weimar 1986S. 10f. 44 vgl. Rauchspur der Tauben, S. 31f. 45 vgl. Goehrke, Carsten: Russland. Eine Strukturgeschichte. Paderborn u.a. 2010, S. 12. Zum Streit zwischen „Normannisten“ und „Antinormannisten“ siehe u.a. Schramm, Gottfried: Die Herkunft des Namens Rus'. Die Kritik des Forschungsstandes. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, Bd. 30, Wiesbaden 1982, S. 7- 49. Schramm führt detaillierte philologische Studien ins Treffen und kritisiert die Politisierung der Debatte sowie die „antinormannistische“ Seite mit ihrer Autochthoniethese bzw. der Einschätzung von „Rus'“ als Ethnikon vom mittleren Dnjepr als (sowjet-)ideologisch motiviert. 16

Seefahrer) sowie vom altschwedischen „Rōþen“ für die Landschaft Roslagen (an der Küste von Uppland, nördlich des heutigen Stockholm gelegen) ab.46

Auf Einladung der slawischen Stämme machten sich drei Brüder mit ihrem Gefolge auf in die spätere Rus„: Rjurik, Sineus und Truvor. Laut Ferguson gehen diese Namen auf die altnordischen Hroerekr, Signiutr und Thorvadr zurück. Nach dem Tod seiner Brüder etablierte Rjurik seine Alleinherrschaft in Nowgorod am Ilmensee und wurde zum Begründer der Rjurikidendynastie.47

Liutprand von Cremona (ca. 920 – 970/72) nennt in seiner Schilderung der nördlichen Nachbarvölker von Konstantinopel neben Hunnen, Pečenegen und Khazaren auch die „Rusii“, welche er als Normannen bezeichnet: „[…] Rusios, quos alio nos nomine Nordmannos appelamus, […].“48

Gesichert ist, dass Skandinavier schon vom 6. bis zum 8. Jhdt. Raubzüge entlang der baltischen Küste unternahmen. Mehrere Siedlungen sind belegt, so etwa Seaborg bei Grobin (lett. Grobiņa) an der kurländischen Küste oder Apulia (lit. Apuolė bei Skuodas) im nordwestlichen Litauen. Über die Flüsse Düna, Narva und Neva drangen sie ins Landesinnere vor, um 750 erreichten sie den Handelsplatz Alt Ladoga (russ. Staraia Ladoga) und siedelten sich dort an. In der Region wurde viele aus dem 8. und 9. Jhdt. stammende Dirhams, i.e. islamische Silbermünzen, entdeckt. Diese Funde sind Hinweis auf einen regen Handelsverkehr mit arabischen Ländern.49

Die Route dürfte im 8. Jhdt. noch über die Seen Ladoga, Onega und Beloozero zu den Wolgabulgaren geführt haben, bevor diese im 9. Jhdt. vom „Weg von den Warägern zu den

46 Schramm, Herkunft, S. 12f; Ferguson, Robert: The Hammer and the Cross. A New History of the Vikings. London, New York u.a., 2009, S. 109f. Ferguson verweist auf die Ynglingasaga in der Snorri Edda, in welcher die sog. „Seekönige“ Erwähnung finden. Diese verfügten mitunter über eine zahlreiche Gefolgschaft von Kriegern und Schiffen, hatten aber keinen festen Herrschaftssitz, verfügten über kein Land. Also verlegten sie sich auf Raubzüge und Piraterie, die Glücklicheren bzw. Tüchtigeren unter ihnen konnten durch Landnahme, sei es in unbesiedeltem Gebiet, sei es – wie im Falle der Rus„ – als neue kriegerische Oberschicht in geschwächten existierenden Siedlungen ihrer Herrschaft einen festen Grund geben. 47 Ferguson, Hammer, S. 116; Rauschspur der Tauben, S. 32. 48 Liudprandi Antapodosis, Lib. I. 10. 11. In: Becker, Joseph [Hrsg.]: Die Werke Liudprands von Cremona, 3. Aufl, Hannover und Leipzig, 1915 (= MGH SS rer. Germ. Bd, 41), S. 9. 49 Noonan, Thomas S.: European Russia. c. 500 – c. 1050. In: Reuter, Timothy [Hrsg.]: The New Cambridge Medieval History. Vol. III. c. 900 – c. 1024. Cambridge, New York, Melbourne 1999, S. 506. 17

Griechen“, der Route Volchov-Ilmensee-Lovat„-Dnjepr ins Schwarze Meer, und dem Handel mit Byzanz an Bedeutung überflügelt wurde.50

Die Nestorchronik berichtet, dass Rjurik sich mit zwei Bojaren Richtung „Zargrad“ (i.e. Byzanz) aufmachte, als diese am Dnjepr eine Stadt sahen, welche der Legende nach die „Brüder - Ki, Schtschek und Choriw - , [...] erbaut haben.“51 Askold und Dir, die beiden Begleiter Rjuriks, sammelten Waräger um sich und herrschten fortan über Kiew. Nach dem Tod Rjuriks zog Oleg, Regent für dessen minderjährigen Sohn und Nachfolger Igor, gegen Kiew, beschuldigte die beiden Herrscher, sie seien „weder Fürsten noch von fürstlichem Geschlecht. [...] Und er erschlug Askold und Dir, [...].“52 Oleg, der als – legendärer – Begründer der Kiewer Rus„ gilt, verlegte den Fürstensitz von Nowgorod nach Kiew. Sein Anspruch war: „Dies soll die Mutter der russischen Städte sein!“53

3.1.2. Die Kiewer Rus‘ bis zum Einfall der Mongolen

Bis in die Mitte des 13. Jhdts. schritt die Zersplitterung des Reiches der Kiewer Rus„ voran, immer mehr Fürstentümer vermochten sich der schwachen Zentralgewalt Kiews zu entziehen. Kennzeichnend für die Emanzipation der lokalen Fürstentümer war die Herausbildung des veče54, einer Art Volksversammlung, im 12. Jhdt., in welchem die Stadtbewohner und Bojaren als Entscheidungsträger auftraten. Diese Entwicklung nahm bereits im 11. Jhdt. in Novgorod und Kiew ihren Ausgang. Speziell in Novgorod erstarkten die wirtschaftlich eng mit dem Westen verflochtenen Kaufleute und Bojaren politisch, sodass die von Kiew eingesetzten Fürsten schließlich in Form von Eiden und Verträgen ihre Amtsführung den Vorstellungen der Novgoroder anzupassen hatten. Neben einem dem Fürsten beigegebenen Statthalter (russ. posadnik), wurde auch der Erzbischof von Novgorod, ursprünglich vom Metropoliten von Kiew eingesetzt, ab Mitte des 12. Jhdts. vom veče gewählt.55

50 Rüß, Hartmut: Das Reich von Kiev. In: Hellmann, Manfred [Hrsg.]: Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 1. Bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum. I. HBd. Stuttgart 1981, S. 252. 51 Rauchspur der Tauben, S. 32. 52 Rauchspur der Tauben, S. 34. 53 Rauchspur der Tauben, S. 35. 54 Das veče bezeichnet eine im Bedarfsfall einberufene Volksversammlung in der mittelalterlichen Rus„. Zu den Kompetenzen des veče gehörte die Ein- bzw. Absetzung der Fürsten, die Entscheidung über Krieg und Frieden sowie über Maßnahmen in Krisenfällen. Dazu und zur besonderen Bedeutung des veče in Novgorod siehe Angermann, N.: Veče. In: LMA, Bd. 8, Sp. 1438-1440. 55 Lübke, Christian: Das östliche Europa. (= Die Deutschen und das europäische Mittelalter Bd. 2). München 2004, S. 299 -302. 18

Karte 2: Die Kiewer Rus‘ vor Einfall der Mongolen. 19

Das Fürstentum Polozk:

Zeitweilige Unabhängigkeit von Kiew konnte sich auch das Gebiet der Polozker seit Vladimir dem Heiligen bzw. seinem Sohn und Nachfolger Isjaslav bewahren. Als eigenes Vatererbe (russ. votčina56) fiel das Fürstentum Polozk nicht in die abgestufte Senioratsordnung der übrigen Rus„. Vor allem das 11. Jhdt. unter den Fürsten Brjačislav Isjaslavič (1003–1044) und Vseslav Brjačislavič (1044–1101) war von steten Auseinandersetzungen mit Kiew gekennzeichnet. Einschneidend waren die Niederlage Vseslavs 1067 und die darauffolgende Internierung in Kiew. Im Zuge des Aufstandes 1068 gegen den Großfürsten Isjaslav errang Vseslav kurzzeitig die Kiewer Fürstenwürde, musste aber im Folgejahr angesichts der Bedrohung durch ein polnisches Heer Kiew und zeitweise sogar Polozk räumen. In den folgenden zwei Jahrzehnten konnten die Großfürsten Vsevolod Jaroslavič und Vladimir Monomach zwar Erfolge verbuchen, Polozk aber nicht dauerhaft unterwerfen. Im Gegenzug konnten litauische Große in dem unter den Söhnen Vseslavs zersplitterten Fürstentum vor allem in Minsk an Einfluss gewinnen, den sie im 13. Jhdt. wesentlich ausbauen sollten.57

Kiew versuchte in der Folge seinen Einfluss über Polozk wiederzuerlangen, von 1129 bis 1139 konnte ein Fürst von Kiews Gnaden eingesetzt werden. Nach dessen Vertreibung betraute der veče nicht mehr die angestammte Fürstenfamilie, sondern Vseslav Vassilkovič von Vitebsk mit dem Fürstenamt. Die Sicherung der Handelsrouten hatte nach Abwehr der Kiewer Kontrollversuche Priorität. Doch betraten mit der 1201 gegründeten Stadt Riga und dem Schwertbruderorden Livlands neue Spieler die politische Bühne.58 Polozk bzw. Minsk sah sich neben diesen beiden expansiven Kräften auch einem erstarkenden Litauen gegenüber. Dessen Expansionsdrang konnte zwar durch Mstislav Davidovič, den Fürsten von , eingedämmt werden, allerdings um den Preis der politischen Eigenständigkeit von Polozk und Minsk. Daneben verleibte sich Smolensk auch das Fürstentum Vitebsk ein.59

56 Der Begriff leitet sich vom altrussischen otčina zu otec – „Vater“ her. Das Patrimonium bzw. Vatererbe meint in diesem Zusammenhang ein ererbtes Teilfürstentum in der Rus„ Zur weiteren Bedeutung als allodialer Grundbesitz, zur geschichtlichen Entwicklung und Formen der votčina bei Bojaren, freien Bauern und Klöstern siehe Dumschat, S.: Votčina. In: LMA, Bd. 8, Sp. 1871f. 57 So konnte 1164 das erstarkende Minsk unter Volodar Glebovič mit litauischer Unterstützung das alte Zentrum Polozk besiegen.Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 303f. 58 Der Unterlauf der Düna wurde durch Befestigungen bei Kukenois (Kokenhusen) und Gerzike (Jersika) gesichert. Deren Hauptaufgaben bestanden darin, die Handelsströme ins Fürstentum Polozk zu überwachen, die Minsker Tributherrschaft über die Lettgaler und Liven auszuüben und deren Heerfolgepflicht durchzusetzen. Allerdings gingen die beiden Stützpunkte 1208 bzw. 1214 an das entlang der Düna expandierende Riga verloren. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 304; Rowell, Lithuania ascending, S. 20. 59 Die Fürstentümer Polozk und Vitebsk erscheinen in den 1222 und 1229 mit Riga bzw. mit norddeutschen Städten geschlossenen Verträgen nicht mehr als eigenständige Vertragsparteien, sondern als Untergebene von Smolensk. In dem 1229 geschlossenen Handelsvertrag erlangten die Kaufleute aus Smolensk und den 20

Militärisch brachte die Anlehnung an Smolensk nicht den erhofften Erfolg, die Litauer bedrängten Polozk auch weiterhin und dürften eventuell schon vor dem Einfall der Mongolen die zumindest zeitweilige Kontrolle über Polozk errungen haben.60

Smolensk:

Smolensk prosperierte im 13. Jhdt. nicht zuletzt aufgrund der verkehrs- und damit handelstechnisch günstigen Lage. Die entlang der Oberläufe von Wolga, Düna und Dnjepr verlaufenden Handelsrouten wurden über Treidelstationen61 miteinander verbunden, das Baltikum und der norddeutsche Küstenraum als Handelspartner erschlossen.

Abb. 1: Die Wolgatreidler (1870-1873).

Das Fürstentum Smolensk konnte sich bereits Mitte des 12. Jhdts. politisch gegenüber Kiew emanzipieren. 1136 errichtete Fürst Rostislav einen eigenen Bischofssitz, welcher um 1150 mit umfangreichen Privilegien ausgestattet wurde. Der Reichtum von Smolensk zeigte sich beispielsweise im Bau einer Steinkirche oder in einem Verzeichnis der fürstlichen Einkünfte, welches diese für die Mitte des 12. Jhds. mit 4000 Griwnen (Hrywnja) angibt.62

angeschlossenen Fürstentümern Polozk und Vitebsk die rechtliche Gleichstellung mit jenen aus den Ostseestädten. Vgl. Lübke, Europa, S. 304f; Dimnik, Martin: The Rus„ principalities (1125-1246). In: Perrie, Maureen [Hrsg.]: The Cambridge History of Russia. Volume I. From Early Rus„ to 1689. Cambridge u.a. 2006, S. 102. 60 Dimnik, Principalities, S. 102. 61 Abb. 1 soll der Veranschaulichung des Treidelns dienen und ins Bewusstsein rücken, daß diese Form des Sromaufwärtsschleppen von Schiffen bis ins 19. Jhdt. in Europa gebräuchlich war. 62 Lübke, Östliches Europa, S. 305. 21

Rostislav von Smolensk wurde 1159 Großfürst von Kiew, in Smolensk führten seine Söhne bzw. Enkel die expansive Politik gegen Polozk und Vitebsk bis zu deren Eingliederung weiter. Am Höhepunkt ihrer Macht um 1220 beherrschten Rostislaviči Novgorod, Smolensk und Galič-Wolhynien, die Niederlage gegen die Mongolen in der Schlacht an der Kalka 122363 bedingte allerdings alsbald den Rückzug auf das Polozker Fürstentum.64

Galič-Wolhynien:

Im Südwesten der Rus' gelegen hatte Galič sein Zentrum in Peremyńl„65, Wolhynien in Vladimir-Vol„inskij. Die beiden Fürstentümer hatte innerhalb der Rus' einen Sonderstatus inne, da sie nicht mehr in der komplizierten Senioratsnachfolgeordnung des Kiewer Großfürstentums gefangen waren, somit über politische Selbständigkeit verfügten.66 Die Fürsten von Galič und Wolhynien konnten sich daher nicht an den Auseinandersetzungen um die Nachfolge auf den Kiewer Fürstensitz beteiligen, für die Fürstentümer selbst bedeutete die Stabilität der Herrscherdynastie indes eine Konstante in der Entwicklung. So konnte sich in diesem westlichsten Teil der Rus', im Gegensatz zu den Gebieten unter Kiewer Patronanz, eine starke adelige Grundherrschaft der Bojaren herausbilden.

Dieser Freiheit von politischer Einflussnahme aus dem Osten stand jedoch, der geographischen Nachbarschaft geschuldet, die Verstrickung in die Machtspiele der westlichen Nachbarn gegenüber. Vor allem die Kämpfe um den ungarischen Thron im 12. Jhdt. mit ihren wechselnden Bündnissen hatten Auswirkungen auf Galič und Wolhynien. Sowohl Ungarn als auch Polen suchten die beiden Fürstentümer in ihre Abhängigkeit zu bringen.

Nach der Vereinigung der beiden Fürstentümer 119967 unter Roman Mstislavič etablierte sich Galič-Wolhynien als eigener, bedeutender Machtfaktor. So war Romans Politik ab 1204 auf

63 Siehe S. 29f. 64 Lübke, Östliches Europa, S. 305f. 65 Heute Przemyśl in Polen. 66 Jaroslav der Weise (979/986-1054) begründete die sog. Senioratsordnung, welche die Nachfolge in der Kiewer Rus' und auf den Großfürstensitz regeln sollte. Allerdings zeigten sich noch zu Jaroslavs Lebzeiten die Nachteile dieser Regelung, da sein ältester Sohn und präsumptiver Nachfolger Vladimir noch vor ihm gestorben war. Dessen Nachkommen fielen gemäß der Senioratsordnung aus der großfürstlichen Erbfolge und wurden mit dem Fürstentum Galič und Wolhynien versorgt, welches aus dem Erbsystem der Kiewer Rus' herausgelöst wurde. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 306. 67 Anders Hrushevsky: Roman Mstislavič habe nur die Grundlage für die Wiedervereinigung der beiden Fürstentümer gelegt, die Früchte seiner Arbeit konnten erst seine Nachfolger ernten. Vgl. Frederiksen, O.J. [Hrsg]: A History of Ukraine by Michael Hrushevsky. New Haven 1941, S. 97. 22

Territorialgewinne in Polen gerichtet, mit seiner Niederlage und seinem Tod 1205 zerstoben jedoch alle Expansionsträume wieder. Seine minderjährigen Söhne Daniil und Vassilko wurden für die beiden folgenden Jahrzehnte zum Spielball der ungarischen und polnischen Nachbarn. Die beiden Fürstentümer gingen wieder getrennte Wege, in Wolhynien konnte Daniil seine Herrschaft nach seiner Großjährigkeit konsolidieren. In Galič wurde nach internen Wirren 1218 Mstislav Udaloj („der Kühne“) von Novgorod zum Fürsten erwählt. Nach dessen Tod 1228 konnte sich Daniil Romanovič auf die Erbansprüche seiner Frau, einer Tochter Mstislavs, stützen und begann, die ebenfalls erbberechtigten Ungarn aus Galič zu verdrängen. Erst 1238/39 gelang es Daniil, das Vatererbe vollständig zurückzuerringen und die beiden Fürstentümer wieder zu vereinigen. Allerdings vertrieben schon 1240 die einfallenden Mongolen die Romanoviči wieder aus ihrer Herrschaft.68

Turov-Pinsk:

Das in der westlichen Rus' gelegene Fürstentum Turov stellte für Kiew einen Vorposten für Züge nach Galič-Wolhynien dar. Im 11. und beginnenden 12. Jhdt. stellte das unabhängige, zeitweise Expansionsbestrebungen hegende Fürstentum von Polozk und Minsk eine Bedrohung für die Zentralgewalt Kiews dar, die Sicherungsaufgaben Turovs richteten sich dementsprechend gegen den nördlichen Nachbarn. Doch konnte Fürst Jurij Jaroslavič die Kiewer Schwächephase Mitte des 12. Jhdts. nutzen und in Turov-Pinsk eine eigene, von der Zentralgewalt Kiews unabhängige Herrschaft errichten. Es gelang hingegen nicht, eine dauerhaft eigenständige Dynastie zu etablieren, in der Folge zerfiel das Gebiet in kleine Einzelfürstentümer ohne jegliches politisches Gewicht. Diese wiederum gerieten immer mehr unter die Dominanz des Nachbarn Galič-Wolhynien.69

Černigov:

Das Fürstentum Černigov wurde 1024 durch die Kiewer Rus' nach der Eroberung des Landes der Severjanen (am linken Ufer des Dnjepr und an der Desna gelegen) gegründet. Das Fürstentum expandierte unter dessen erstem Fürsten Mstislav (bis 1036) rasch und erstreckte sich im Norden bis an die Grenzen von Rostov-Susdal, berührte im Süden das Fürstentum

68 Lübke, Östliches Europa, S. 306-310. 69 Lübke, Östliches Europa, S. 310. 23

Perejaslavl und öffnete sich gegen Südosten der Steppe. Zwischenzeitlich umfasste es das Fürstentum Tmutarakan70 und reichte dadurch bis ans Schwarze Meer.

1097 erfolgte eine Dreiteilung des riesigen Herrschaftsgebietes in die Fürstentümer Černigov, Novgorod-Seversk sowie Murom-Rjazan'. Černigov blieb politisch am einflussreichsten und so wurde Vsevolod Olgovič 1139 sogar als Vsevolod II. zum Kiewer Großfürsten erhoben. Der Versuch, den Kiewer Großfürstensitz zur votčina, zum „Vatererbe“ der Černigover Fürsten zu erklären, scheiterte indem er vom Kiewer veče abgesetzt wurde. Zwar erhielten nach Vsevolod noch vier Černigover Fürsten die Fürstenwürde in Kiew71, erreichten aber nicht mehr den Titel „Großfürst“. Mitte des 12. Jhdts. dürfte das Fürstentum prosperiert haben, die Berichte in der Hypatiuschronik nennen sagenhafte Reichtümer, vornehmlich an Vieh, landwirtschaftlichen Erzeugnissen einschließlich Wein und Met, sowie Waffen und Sklaven. Der bald darauf einsetzende Zerfallsprozess in kleine, miteinander im Widerstreit stehende Fürstentümer vernichtete deren materielle Grundlage, was den Verlust der politsch- militärischen Geschlossenheit nach sich zog. Als die Mongolen in das zersplitterte Fürstentum Mitte des 13. Jhdts. einfielen, stießen sie daher auf kaum nennenswerten Widerstand.72

Rostov-Suzdal', später (nach 1157) Vladimir-Suzdal':

Die im abgelegenen Nordosten der Rus' befindlichen Fürstentümer Rostov und Suzdal' sollen als Burgstädte bereits Anfang des 11. Jhdts. gegründet worden sein. Bis zum Herrschaftsantritt Vladimir Monomachs war Rostov Zentrum des Fürstentums, 1093 verlegte er den Fürstensitz nach Suzdal'. 1108 gründete er an der Kljasma eine neue Burgstadt, als deren Namensgeber er fungierte. Vladimir sollte 1157 unter Jurij Dolgoruki73 zur Hauptstadt der nordöstlichen Rus' erhoben werden und dem Fürstentum den neuen Namen Vladimir-

70 Auch Tmutorokan„, nach einer altruss. Entlehnung von der alttürk. bzw. chazarischen Rangbezeichnung tam()an tarqan, wobei die Bedeutung ungeklärt ist. Bei Eroberung des Chasarenreiches 965 durch Svjatoslav wurde die auf der Halbinsel Taman„ (zwischen Schwarzem und Azov‟schen Meer, von der Krim durch die Straße von Kerč getrennt) gelegene Herrschaft zu einem rus‟ischen Teilfürstentum, welches aber bereits 1223 von den Mongolen erobert wurde. Vgl. Göckenjan,H.: Tmutarakan„. In: LMA, Bd. 8, Sp. 820 sowie Mattejiet, U.: Taman„. In: LMA, Bd. 8, Sp. 452f. 71 So sein Vetter Isjaslav sowie sein Sohn Svjatoslav und dessen Nachkommen Vsevolod und Michail. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 507. Abweichende Darstellung in http://fmg.ac/Projects/MedLands/RUSSIA,%20Rurik.htm (29.03.2013), wo auch ein Bruder Vsevolods II. namens Igor für 1146/47 erwähnt wird und die genannten als Großfürsten von Kiew bezeichnet werden. 72 Lübke, Östliches Europa, S. 310-312. 73 Mehr als mit Vladimir-Suzdal' wird Jurij Dolgoruki allerdings mit der Gründung Moskaus in Verbindung gebracht. 1147 wird Moskau anlässlich dort eines von Jurij abgehaltenen Gastmahls zum ersten Mal urkundlich erwähnt. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 313. 24

Suzdal' geben. Um die Jahrhundertmitte hatte das wirtschaftlich potente Fürstentum begonnen, sich in die Kämpfe um den Thron von Kiew einzuschalten. Jurij Dolgoruki konnte 1154 auch siegreich in Kiew einziehen und die Großfürstenwürde für sich beanspruchen. Allerdings residierte er nicht in der alten Hauptstadt der Rus'. Kiew hatte nicht nur unter den ständigen Kriegszügen der rus'ischen Fürsten gelitten, auch die geographische Lage der Stadt war unsicherer geworden, da sich die südlich angrenzenden Polovzer nicht mehr auf die bloße Störung des Handelsverkehrs beschränkten, sondern zunehmend für die Stadt Kiew selbst zur latenten Bedrohung wurden. Darüber hinaus hatte Kiew nicht mehr die bedeutende Stellung als Handelsumschlagplatz inne, da die Handelsströme mittlerweile andere Richtungen eingeschlagen hatten. Einerseits übernahmen Venezianer und Genueser zunehmend den Seehandel im Schwarzmeerraum, andererseits wickelte die nördliche Rus' ihren Handel zunehmend über die Ostsee ab. Kiew entwickelte sich immer mehr vom tatsächlichen zum symbolischen Herrschaftszentrum der Rus'.74

Der Übergang des Sitzes des Großfürsten nach Vladimir75 wurde nach dem Tod Jurijs 1157 von dessen Sohn und Nachfolger Andrej Bogoljubskijs76 endgültig vollzogen. Dieser bemühte sich nicht einmal mehr nach Kiew, um die Großfürstenwürde dort symbolisch anzunehmen.77 Die Plünderung und Zerstörung Kiews durch Andrejs Sohn Mstislav 1169 ist wohl auch dem Bestreben Andrejs geschuldet, Vladimir als neue Hauptstadt zu etablieren und die reiche und stolze einstmalige Hauptstadt der Kiewer Rus' durch diesen Schlag dauerhaft zu schwächen und als Konkurrenten auszuschalten. Doch behielt Kiew seine Stellung als religiöses Zentrum der rus'ischen Orthodoxie und konnte sich in der Folgezeit auch materiell wieder erholen.78 Andrej scheiterte mit dem Versuch, Vladimir auch als Sitz des Metropoliten der ganzen Rus' zu etablieren am Widerstand des Patriarchen von Konstantinopel.79

74 Lübke, Östliches Europa, S. 312ff. 75 Vladimir wurde zur neuen Hauptstadt der Rus' und zum Großfürstensitz. Westliche Baumeister wurden engagiert, um der Hauptstadtwürde entsprechende Repräsentativbauten zu errichten, so z.B. das „Goldene Tor“ in Anlehnung an das Kiewer Original 1164. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 314; Dimnik, S. 111. 76 Der Sohn Jurij Dolgorukis erhielt den Beinnamen „Bogoljubskij“ nach dem Dorf Bogoljubovo nahe Vladimir, wo er seine Residenz errichtete. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 314; Dimnik, Principalities, S. 111; Alexander, Manfred und Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 244). 7., vollständig überarb. u. aktualisierte Aufl. Stuttgart 2009, S. 97. 77 Lübke, Östliches Europa, S. 314f. 78 Dimnik, Principalities, S. 110f. 79 Hierbei mögen persönliche Querelen mitgespielt haben. So hatte etwa der Großfürst die vom Patriarchen vorgeschlagenen Kandidaten für die Kiewer Metropolie nicht bestätigt, woraufhin Kaiser Manuel I. den von Andrej vertriebenen Verwandten, darunter seinem Bruder und Nachfolger Vsevolod, Zuflucht gewährte. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 315. 25

Bis 129980 residierte der Metropolit der ganzen Rus' in Kiew, danach bis 1326 in Vladimir um schließlich im neuen Machtzentrum der Rus' und dem nachmaligen „Dritten Rom“ Moskau seinen ständigen Sitz zu nehmen. Bereits 1155 wurde die „Ikone der Gottesmutter von Vladimir“ von Vyńgorod nahe Kiew nach Vladimir überführt, ein zwar religiös wichtiges Heiligtum, doch die herausragende Stellung als „Nationalheiligtum“ und die Legenden über die Wundertätigkeit der Ikone stammen erst aus späterer Zeit.81

Es wäre also verfehlt, darin eine religiös-spirituelle Gleichrangigkeit mit dem Metropolitensitz Kiew konstruieren zu wollen, wiewohl Abb. 2: Die Überführung der Vladmirskaja von Kiew nach Vladimir 1155. Andrej dieses Ziel auch noch mit anderen Mitteln verfolgte. 82 Machtpolitisch stützte sich Andrej Bogoljubskij zunächst auf Kaufleute und Bojaren aus Rostov-Suzdal' sowie auf die Kirche. Deren Erwartungen auf bevorzugte Behandlung durch den Großfürsten erfüllten sich allerdings nicht. Im Gegenteil, Andrej entzog sich deren Einfluss, indem er um sich eine neue Beamtenschaft und Gefolgschaft scharte, welche er vorzugsweise aus niederen Ständen, sogar aus Unfreien und Nichteinheimischen rekrutierte. Stetige Brüskierungen der übrigen Fürsten brachten ihm den Beinamen „Samoderžec“

80 So Fennell, John Lister Illingworth: A History of the Russian church to 1448. Harlow 1995, S. 134. Lübke, Östliches Europa, S. 315 gibt das Jahr 1300 für die Verlegung nach Wladimir an. Hinsichtlich des Transfers des Metropolitensitzes nach Moskau 1326 herrscht Einigkeit in der Literatur. 81 Zur Legendenbildung um die Ikone und deren Bedeutung für das russische Nationalbewusstsein siehe ausführlich Miller, David B.: Legends of the Icon of our Lady of Vladimir. A Study of the Development of Muscovite National Consciousness. In: Speculum, Vol. 40, No. 4 (Oct., 1968), S. 657-670. 82 So die Verbringung der Reliquien des Hl. Leontius, Bischof von Rostov, nach Vladimir oder die Behauptung, der Hl. Vladimir habe die Stadt gegründet. Vgl. Dimnik, Principalities, S. 111f. 26

(Selbstherrscher bzw. Autokrat) ein. Gegen mögliche politische Gegner versuchte er rechtzeitig vorzugehen, trotzdem gelang es 1174 bojarischen Verschwörern, ihn zu töten.83 Als Konsequenz aus den Erfahrungen mit Andrej beriefen die Bojaren in Rostov-Suzdal' zwei Neffen Andrejs, Mstislav und Jaropolk Rostislavič, auf den Thron, welche sich machtpolitisch die Waage halten sollten. In Vladimir hingegen wurde Andrejs Bruder Michail in das Fürstenamt gewählt. Es entbrannte ein Machtkampf zwischen den „alten“ Städten Rostov bzw. Suzdal' gegen das „jüngere“ Vladimir. Letzteres konnte sich unter Vsevolod Jurevič, welcher einst vor Andrej nach Konstantinopel geflüchtet war, durchsetzen. Vsevolod hatte zwischenzeitlich in blutigen Kämpfen Michail von der

Abb. 3: Die Ikone der Gottesmutter von Vladimir. Herrschaft verdrängt, nach dem Sieg über die Städte Rostov und Suzdal' ließ er seine Neffen Mstislav und Jaropolk blenden. Fortan nannte er sich Großfürst von Vladimir.84

Die lang andauernde Herrschaft Vsevolods „Großes Nest“85 bis 1212 brachte für das Fürstentum die dringend notwendige Kontinuität an der Spitze und damit die Blüte Vladimir- Suzdal„s mit sich. Er konnte im Inneren seine Herrschaft konsolidieren, unter anderem durch Einzug der Güter oppositioneller Bojaren. Vor allem in Vladimir, Perejaslavl' und Rostov gewannen die Handels- und Kaufleute an Bedeutung und durch Umverteilung des Grundbesitzes entwickelte sich eine neue Schicht des Dienstadels. Mit seiner mächtigen

83 Lübke, Östliches Europa, S. 315f; Dimnik, Principalities, S. 112. 84Lübke, Östliches Europa, S. 316; Dimnik, Principalities, S. 112 sowie insbesondere http://fmg.ac/Projects/MedLands/RUSSIA,%20Rurik.htm (29.03.2013) 85 Den Beinamen „Bolńoje Gnezdo“ erhielt Vsevolod aufgrund seiner großen Nachkommenschaft. Vgl. Dimnik, Principalities, S. 112. 27

Hausmacht Vladimir-Suzdal' im Rücken konnte Vsevolod nicht nur in der nordöstlichen Rus' dominieren, sondern auch seinen Anspruch auf Kiew86 durchsetzen. Der gebildete Großfürst förderte Gelehrte und die Errichtung von Bibliotheken, selbst beherrschte er fünf Sprachen. Unter seiner Ägide wurde der Kodex des russischen Rechts („Russkaja Pravda“) zugunsten der Landbevölkerung reformiert.87

Vsevolod gelang es, den Führungsanspruch des Großfürsten der Kiewer Rus' auch gegenüber Smolensk, Rjazan' und vor allem Novgorod durchzusetzen. 1211 versuchte er noch, die Fesseln des alten Senioratsprinzips zu durchbrechen und seinen Sohn Jurij zum Erben und Nachfolger im Großfürstenamt einzusetzen. Nach dem Tod Vsevolods 1212 bemächtigte sich allerdings dessen ältester Sohn Konstantin des Großfürstentitels, Jurij konnte erst 1218 das ihm zugedachte Amt als Großfürst von Vladimir antreten. Er bewahrte die Errungenschaften seines Vaters, Novgorod blieb unter der Oberhoheit der Fürsten von Vladimir-Suzdal' und weitere Fürsten erkannten die großfürstliche Vorherrschaft an. Jurij Vsevolodovič starb 1238 in der Schlacht an der Sit' im Kampf gegen die Mongolen.88 Die Rus' verlor damit ihren Zusammenhalt auch im Nordosten. Später gelang unter Aleksandr Nevskij eine kurze Konsolidierung, um danach wieder der territorialen Zersplitterung zu weichen.89

3.1.3. Der Einfall der Mongolen:

Die Kiewer Rus' war Anfang des 13. Jhdts. von internen Streitigkeiten und Kämpfen zerrissen. Zur selben Zeit formierte sich weit im Osten, in den Steppen Zentralasiens und vom Westen unbeachtet eine neue Macht von unglaublicher Expansionskraft. Ende des 12. Jhdts. wurden die mongolischen Stämme um den Baikalsee geeint, 1206 wurde in einer Versammlung der Stammesfürsten im Quellgebiet des Flusses Onon ein Großkhan gewählt: Temüdschin/Temučin, der den Namen Dschingis Khan/Čingis Chan erhielt.90 Bereits zu

86 Hier zeigen sich Schattenseiten der Herrschaft Vsevolods. 1203 veranlasste er seinen Schwiegersohn das sich wieder erholende Kiew zu plündern. Vgl. Hrushevsky, Ukraine, S. 94. Die Plünderung und Zerstörung durch Rjurik Rostislavič wird in den Chroniken als schlimmer als jene von 1169 dargestellt. Der Niedergang Kiews wäre also erst hier anzusetzen, da es sich von der Plünderung durch Andrej Bogoljubskijs Sohn Mstislav wieder erholen hatte können. Vgl. Dimnik, Principalities, S. 110, 117. 87 Lübke, Östliches Europa, S. 316f. 88 Rüß, Hartmut: Die altrussischen Fürstentümer unter der Herrschaft der Goldenen Horde. In: Gießauf, Johannes und Steiner, Johannes [Hrsgg.]: Gebieter über die Völker in den Filzwandzelten. Steppenimperien von Attila bis Tschinggis Khan. (= Grazer Morgenländische Studien, Bd. 7). Graz 2009, S. 86. 89 Lübke, Östliches Europa, S. 318. 90 Lübke, Östliches Europa, S. 325; Hrushevsky, Ukraine, S. 102. 28

Lebzeiten wurde er zur legendenumrankten Person, bis in die Gegenwart ist Dschingis Khan der Inbegriff des berüchtigten Reiternomaden und Eroberers.91

Die Mongolen unter Dschingis Khan machten sich zunächst an die Eroberung nahegelegener Gebiete, große Teile Sibiriens konnten binnen weniger Jahre unterworfen werden. Danach richtete sich die mongolische Kriegsmacht erfolgreich gegen Nordchina, 1215 wurde Peking erobert. Erst 1219 wandte sich Dschingis Khan gegen Westen. Das islamische Reich von Chorezm zwischen Aralsee und Kaspischem Meer sowie Teile Persiens wurden von den Mongolen rasch erobert. Bald erreichte der mongolische Vormarsch das Schwarze Meer, über den Kaukasus ziehend besiegten sie um 1222 die nördlich des Schwarzen Meeres beheimateten Polovzer.92 Diese wandten sich nun an die rus‟ischen Fürsten, um mit deren Hilfe der neuen Bedrohung zu begegnen.93

Die Schlacht an der Kalka 1223

In die Rus' gelangte nun erstmals Kunde von den „Tataren“94, aus welchen sich die Reiterverbände der mongolischen Truppen rekrutierten. Auch wurden vom Großkhan Boten in die rus'ischen Fürstentümer entsandt, welche deren Unterwerfung entgegennehmen sollten. Die Gesandten wurden getötet und ein aus Polovzern und Teilen der Rus' gebildetes Heer gegen den unbekannten Feind geschickt. An der Kalka95 kam es zur Schlacht, dieses erste Aufeinandertreffen mit den Mongolen endete für die Rus' mit einer verheerenden Niederlage,

91 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 105. 92 Lübke, Östliches Europa, S. 325. Die Angehörigen dieses halbnomadische Steppenvolkes werden auch als Kipčaken oder Kumanen bezeichnet. Vgl. Magocsi, Paul Robert: A History of Ukraine. The land and its peoples. 2., überarbeit. und erw. Aufl. Toronto, Buffalo, London 2010, S. 79 93 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 103. 94 Die Bezeichnung „Tataren“ für die mongolischen Eroberer rührt von islamischen Turkvölkern her. Diese stellten in Batus Eroberungsheer neben mongolischen Kerntruppen den Großteil der Mannschaft. Der Name wurde allgemein auf die Westmongolen übertragen. Im Westen wurde die Bezeichnung zu „Tartaren“ verballhornt, nach der in der griechischen Mythologie als „Tartaros“ bezeichneten Unterwelt. Die Mongolen wurden auch eschatologisch als Boten der Endzeit bzw. als Prüfung, welche Gott den christlichen Völkern aufgrund deren Sündenhaftigkeit auferlegt hatte, gedeutet. Vgl. Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 106; Gießauf, Johannes: Die Mongolengeschichte des Johannes von Piano Carpine. Übersetzung, Einleitung und historischer Kommentar. (= phil. Univ. Dipl.-Arb.), Graz 1994, S. 119 FN 334. 95 Heute Kalec, Nebenfluß des nördlich des heutigen Donezk entspringenden und ins Asowsche Meer mündenden Fluss Kalmius in der Ostukraine vgl. Lübke, Christian: Ostmitteleuropa und die Steppe. In: Behemoth. A Journal on Civilisation 2009,Vol. 2 No. 2, S. 11 sowie Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 104. 29 das Heer wurde aufgerieben und mehrere Fürsten fanden den Tod.96 Gründe hierfür waren zum einen die für westliche Heere ungewohnte Kampfweise der nomadischen Reiterheere97, zum anderen die Zerstrittenheit der rus'ischen Fürsten untereinander.98 Die Mongolen zogen noch weiter in das Gebiet der Wolgabulgaren, um dann so plötzlich, wie sie aufgetaucht waren, wieder in die Tiefe Mittel- und Zentralasiens zu verschwinden. In der Rus' machte sich Erleichterung breit, das Treffen mit den Mongolen wurde als Prüfung bzw. Strafe Gottes interpretiert. Dass nach deren überraschenden vermeintlichen Verschwinden keine Vorkehrungen gegen einen erneuten Angriff aus dem Osten getroffen wurden, sollte sich bald rächen, da sich das siegreiche mongolische Heer lediglich auf einer Erkundungsmission befunden hatte. Die tatsächliche Westoffensive in die Rus„ erfolgte erst 1237.99

3.1.4. Kriegszüge gegen die Rus' nach dem Tode Dschingis Khans

Nach dem Tode Dschingis Khans 1227 wurde sein drittgeborener Sohn Ögödei Großkhan.100 Unter ihm sollte auch begonnen werden, den Beschluss die damals bekannte Welt zu unterwerfen, in die Tat umzusetzen. Batu Khan, der Enkel Temudschins, erhielt die Aufgabe, Europa zu erobern. Mit den ihm auf der Reichsversammlung 1236 unterstellten Truppen101 eröffnete er seinen Eroberungszug zunächst gegen die Wolgabulgaren, Baschkiren, Mordwinen und Burtasen. Durch Flüchtlinge in die Rus' erhielten die dortigen Fürsten Kenntnis von der Rückkehr der Bedrohung durch die Mongolen. Doch die Bitten nach Hilfe gegen die vorrückenden Mongolen verhallten ungehört, die rus'ischen Fürsten verharrten in

96 Lübke, Östliches Europa, S. 325; Mstislav von Novgorod überlebte die Schlacht, während Mstislav von Kiew und Mstislav Svjatoslavič von Černigov im Kampf fielen. Vgl. Dimnik, Principalities, S. 120f. 97 Diese zeichneten sich durch eine leichte Kavallerie bzw. berittene Bogenschütze, die den Schuß aus der Bewegung beherrschten, aus. Vgl. zur Waffentechnik der Mongolen, insbes. des sog. „Reiterbogens“: Ganster, Katharina: Arma autem ista ad minus omnes debent habere. Die Mongolen und ihre Bewaffnung. In: Gießauf, Johannes und Steiner, Johannes [Hrsgg.]: Gebieter über die Völker in den Filzwandzelten. Steppenimperien von Attila bis Tschinggis Khan. (= Grazer Morgenländische Studien, Bd. 7). Graz 2009, S. 115-137. Hier insbes. S. 116-123. 98 Die rus'ischen Truppenkontingente stammten aus Kiew, Smolensk, Černigov und Galič-Wolhynien, die Anwesenheit einer Abordnung aus Turov ist nicht gesichert. Vladimir-Suzdal', Rjazan', Polozk und Novgorod waren nicht beteiligt. Mstislav Mstislavič Udaloj („der Kühne“) von Galič und sein Cousin Mstislaw Romanovič von Kiew konnten ihre Differenzen auch im Vorfeld der Schlacht nicht bereinigen. Vgl. Dimnik, Principalities, S. 120f. Vgl. weiters: Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 82. 99 Lübke, Ostmitteleuropa, S. 11; Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 104; Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 81. 100 Temudschin wollte schon zu Lebzeiten die Nachfolge geregelt wissen und ließ Ögödei als Thronerbe auf einer Reichsversammlung 1218 absegnen. 101 Mongolische Kräfte bildeten den Kern, drei Viertel der Truppen wurden von den sog. „Tataren“, islamischen Turkvölkern gebildet. Neuere Schätzungen gehen für Batus Eroberungsheer von ca. 120.000 Mann aus. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 326 sowie Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 82. 30 ihrem inneren Zwist. Mit der Eroberung von Rjazan' im Dezember 1237 begann der Fall der einstmals mächtigen Kiewer Rus'. Bis Februar 1238 hatten die Mongolen mit Moskau, Suzdal„ samt der neuen Hauptstadt Vladimir, Rostov und Jaroslavl„ weite Teile der nördlichen Rus' erobert. Im März 1238 starb Großfürst Jurij Vsevolodovič von Vladimir in der Schlacht an der Sit„, die Mongolen unterwarfen das Land zwischen Tver„ und der mittleren Wolga. Novgorod und die nordwestliche Rus' erreichten sie nicht, da durch die Belagerung der Festungsstadt Torņok der mongolische Vormarsch um zwei Wochen verzögert wurde. Mit Einsetzen der Tauperiode Ende März und der damit beginnenden Zeit der „Wegelosigkeit“ (Rasputica102) endete die mongolische Offensive vorerst. Batu kehrte um und zog in die Steppe an den unteren Don gegen die Reste der Polovzer, Osseten und Tscherkessen.103

Im Herbst 1238 richteten die Mongolen ihren Angriff gegen die südöstliche Rus', Perejaslavl' und Černigov wurden unterworfen. Für 1239 wird von keinen Kriegshandlungen berichtet, allerdings auch von keinen Anstrengungen der Rus', gegen die Mongolen gemeinschaftlich vorzugehen. Ende 1240 begannen diese einen neuen Ansturm mit Zielrichtung Kiew.104 Wie die übrigen Fürsten der Rus' lehnte auch Fürst Michail die Übergabe der Stadt ab, die mongolischen Gesandten wurden hingerichtet. Der nachfolgenden Belagerung entzog sich der Fürst durch Flucht nach Ungarn und überließ die Verteidigung Kiews seinem Tausendschaftsführer (tysjazkij) Dmitrij. Nach fast zehnwöchiger Belagerung gelang die Einnahme, Kiew wurde geplündert und ein großer Teil der Einwohner von den Eroberern getötet.105 Der Fall Kiews hatte ob der historischen Bedeutung des einstigen Zentrums der Kiewer Rus' hohen Symbolcharakter, in der Historie des Mongolensturms war er jedoch nur eine Episode von vielen. Der Großteil der rus'ischen Städte106 teilte das Schicksal Kiews. Das Heer Batus nahm Anfang 1241, eine Spur der Verwüstung ziehend, das Fürstentum Galič- Wolhynien ein107, um danach in drei Heeressäulen geteilt zu werden. Die erste Heeresgruppe zog über Moldau und die Bukowina nach Transsilvanien, die zweite unter dem Kommando

102 Die Rasputica, Zeit der Wegelosigkeit, ist ein wiederkehrendes Phänomen in weiten Teilen Russlands, Weißrusslands und der Ukraine. Die Regenfälle im Herbst und die Tauperiode im Frühling führen zu großflächigen Verschlammungen und machen unbefestigte Verkehrswege unpassierbar. 103Lübke, Östliches Europa, S. 326f; Dimnik, Principalities, S. 123; Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 106f. 104 An diesem Feldzug war auch Möngke, nachmaliger Khan ab 1251, beteiligt. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 327. 105 Archäologische Ausgrabungen brachten Massengräber aus der Zeit zum Vorschein, der päpstliche Gesandte Johannes von Piano Carpine berichtet 1246 von den noch immer sichtbaren Zerstörungen. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 328; Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 88. 106 Nach Ergebnissen archäologischer Grabungen wurden 49 der 74 bekannten Städte in der Rus' von den Mongolen zerstört. Vgl. Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 90. 107 Dimnik, Principalities, S. 123. 31

Batus gegen das ungarische Ofen, die dritte wandte sich nach Polen.108 Batu konnte das Aufgebot des ungarischen Königs Béla IV. am 11. April 1241 bei Muhi schlagen, die dritte Heeresgruppe eroberte Krakau und Breslau (poln. Wrocław). Am 9. April 1241 wurde die Schlacht bei Liegnitz geschlagen, die Mongolen vernichteten das deutsch-polnische Heer unter Herzog Heinrich II. von Schlesien.109 Der befürchtete Eroberungszug durch das Heilige Römische Reich fand indes nicht statt.110

Karte 3: Der Mongolensturm in der Rus‘.

Die Mächte im Westen waren trotz der mongolischen Bedrohung derart zerstritten, dass eine gemeinsame Verteidigungsanstrengung nicht zustande kam. Batu entschloss sich, die bisherigen Gewinne zu sichern und sich auf die Gebiete der Rus' zu konzentrieren. Auch wurde er nach Karakorum, in die neue Hauptstadt der Mongolen, zurückgerufen, da der Großkhan Ögödei im Dezember 1241 gestorben war.111 Nachdem Batus Bruder Güyük zum neuen Großkhan gewählt worden war, kehrte Batu in das Gebiet der Rus' zurück. Er gründete

108 Lübke, Östliches Europa, S. 328. 109 Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 88. 110 Die geographischen Gegebenheiten in Westeuropa waren für die steppennomadische Kriegsführung und Lebensweise nicht günstig. Zudem war das Gebiet dicht besiedelt, die Befestigungen im Gegensatz zur Rus' zumeist mit Steinmauern umgeben. Diese Gründe mögen unter anderen Batu dazu bewogen haben, sich nach Osten zurückzuziehen. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 329. 111 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 107. 32

1242 Sarai als Hauptstadt und Verwaltungszentrum der Goldenen Horde.112 Die Unterwerfung der Rus' wurde nun auch verwaltungstechnisch vollzogen. Die Fürstentümer blieben unter der Verwaltung der lokalen Geschlechter, da die Mongolen sich im Allgemeinen nicht in die Interna einmischten. Beginnend im Jahre 1243 mit Großfürst Jaroslav, dem Sohn von Vsevolod „Großes Nest“, hatten die rus'ischen Fürsten den Hof in Sarai aufzusuchen.113 Vom Khan der Goldenen Horde wurden sie förmlich in ihren Ämtern bestätigt, legitimiert durch den sog. Jarlyk114 (Erlass des Khans, eine offizielle Bestätigungsurkunde).115 Die Umstände um einen Jarlyk zu erlangen waren nicht selten demütigend und grausam, auch mussten immer wieder Geiseln am Hof des Khans zurückgelassen werden. So wurden bspw. Michail Vsevolodovič, Fürst von Černigov und Kiew, sowie dessen Begleiter Fëdor von Khan Batu hingerichtet, als sich Ersterer weigerte, sich vor Ahnenbildern der Tataren in Sarai zu verneigen und Zweiterer dem Gepeinigten Trost zusprach.116

Johannes von Piano Carpine, der Zeuge dieses Vorfalls wurde, berichtet dazu folgendes: „Neulich trug es sich zu, daß sie Michael, einen Großfürsten Rußlands, der gekommen war, um sich Bati zu unterwerfen, zuerst zwischen zwei Feuern hindurchgehen ließen und ihn danach aufforderten, sich gegen Süden vor Chingiscan zu verneigen. Er antwortete, daß er sich [...] nicht vor dem Abbild eines Verstorbenen [verneigen würde], da Christen dies nicht erlaubt sei. [...] Da schickte Bati einen seiner Untertanen zu ihm, der ihm mit der Ferse so lange gegen Brust und gegen den Bauch trat, bis er die Besinnung verlor. [...] Darauf wurde ihm mit einem kleinen Schwert der Kopf abgehauen; auch der erwähnte Ritter wurde mit dem Schwert geköpft.“117

112 Lübke, Östliches Europa, S. 330. Die Bezeichnung „Goldene Horde“ rührt vermutlich von den goldenen Deckplatten der Herrscherjurte her. Vgl. Lübke, Ostmitteleuropa, S. 12. 113 So übereinstimmend Lübke und Dimnik, vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 330; Dimnik, Principalities, S. 123. Rüß nennt, wohlgemerkt als ersten rus'ischen Fürsten (Großfürst von Kiew war er erst ab 1249) Aleksandr Nevskij, der 1242 vor Batu in Sarai erschien. Vgl. Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 95. 114 Von türk. „Jarlyġ“, im altrussischen „Gnadenbriefe“ der Khane der Goldenen Horde. Vgl. Poppe, A.: Jarlyk. In: LMA, Bd. 5, Sp. 303f. 115 Zwischen 1243 und 1430 erschienen insgesamt 130 rus'ische Fürsten vor dem Khan der Goldenen Horde. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 330; Dimnik, Principalities, S. 123; Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 95. 116 Dimnik, Principalities, S. 123; Hrushevsky, Ukraine, S. 107; Lübke, Östliches Europa, S. 330. 117 Kapitel III, 4. In: Gießauf, Piano Carpine, S. 137f. 33

Aleksandr Nevskij:

Der zweite Sohn Jaroslavs II. Vsevolodovič, Aleksandr hatte den Beinamen „Nevskij“ bereits 1240 als Fürst von Novgorod, als er die Schweden an der Neva118 vernichtend schlagen konnte. Seinen Ruhm vermehrte er noch, indem er zwei Jahre später den Livländischen Orden in der Schlacht am Peipussee besiegte. Dessen Ostexpansion konnte gestoppt werde, Pleskau (russ. Pskov) der Herrschaft der Ordensritter entrissen werden.119

Nevskij herrschte zunächst als Fürst von Novgorod, bis er in der Gunst Batus stieg und zum Fürsten von Kiew, Černigov und Perejaslavl„ ernannt wurde. Die Erringung der Gunst Batus war der Kooperation mit den Tataren geschuldet, welche Aleksandr eingehen musste, um die nötigen Mittel zur Abwehr der Gefahr aus dem Westen in der Gestalt von Schweden und dem Livländischen Orden erlangen zu können. 1251 schließlich löste er seinen Bruder Andrej im Amt des Großfürsten von Vladimir ab und konnte sich gegen dessen sowie Jaroslavs von Tver' Angriffe mit tatarischer Hilfe behaupten. Novgorod und Pskov allerdings erhoben Jaroslav zu ihrem Fürsten, da sie ihre Freiheiten verteidigt wissen wollten. Nach der Rückeroberung sah sich Aleksandr Nevskij 1257 gezwungen, die Tributforderungen der Tataren gegen Novgorod durchsetzen zu müssen. Seinem Ruf als Nationalheld bzw. Symbolfigur, welche Russland erfolgreich gegen Angriffe aus dem Westen verteidigt hatte, tat dies allerdings keinen Abbruch.120

118 Der vom Ladogasee kommende Fluss mündet beim heutigen St. Petersburg in die Ostsee. 119 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 109f. 120 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 109-112. 34

3.2. Der Deutsche Orden

3.2.1. Gründung im Heiligen Land

1198 wurde der Ordo militium hospitalis S. Mariae Teutonicorum Hierosolymitami121 gegründet, im Februar 1199 erfolgte die Bestätigung als Ritterorden durch Papst Innozenz III. Seinen Ursprung hat er in einem Feldlazarett, welches von deutschen Rittern während der Belagerung von Akkon 1187 oder 1190 gegründet worden war. Nach der Eroberung Akkons musste das deutsche Spital hinter dem älteren Orden der Johanniter zurückstehen und konnte seinen Einfluss und seine Besitzungen nur langsam in und um Akkon ausweiten. Die ab 1195 konkretisierten Kreuzzugspläne Heinrichs VI. brachten dem deutschen Spital die Aufmerksamkeit und Zuwendung des deutschen Kaisers ein, so z.B. die Schenkung des Dreifaltigkeitsklosters in Palermo oder des Thomasspitals in Barletta. 1196 konnte die Spitalsbruderschaft bereits die teilweise Exemtion erreichen, 1221 folgte unter Papst Honorius III. die vollständige Exemtion und Gleichstellung mit den beiden anderen bedeutenden Ritterorden, Templern und Johannitern.122

Doch starb Heinrich VI. 1197 noch ehe er ins Heilige Land aufbrechen konnte. Die Gründung und rasche päpstliche Erhebung in den Stand eines Ritterordens dürfte noch auf Pläne des Kaisers zurückgehen, sich Unterstützung zu sichern. Der Orden konnte sich in der Folge etablieren und vor allem im Abendland Güter für sich erwerben.123

121 So bei Lübke, Osteuropa, S. 338. Boockmann nennt den Orden in der Theologischen Realenzyklopädie „Ordo fratrum hospitalis Mariae Theutonicorum Ierosolymitanorum“ vgl. Boockmann, Hartmut: Ritterorden, Geistliche. In: TRE Bd. 29, S. 239. An anderer Stelle gibt er als Beispiel die Titulatur „Fratres hospitalis sanctae Mariae Theutonicorum Ierosolimitanorum“ an und spricht sich für die Verwendung der Begriffe „Deutscher Orden“ bzw. „Ordo Theutonicorum“ aus. Dazu und zur Problematik des Begriffes „Deutscher Ritterorden“ sowie der uneinheitlichen Titulatur des Ordens vgl. Boockmann, Hartmut: Der Deutsche Orden. Zwölf Kapitel aus seiner Geschichte. 3., durchges. Aufl., München 1989, S. 33f. 122 Vgl. Boockmann, Deutscher Orden, S. 28, 34f sowie für den kirchenrechtlichen Begriff der Exemtion (direkte Unterstellung unter den Papst) vgl. Scheuermann, Audomar: Exemtion. In: TRE Bd. 10, S. 696ff. 123 Militzer, Klaus: Die Geschichte des Deutschen Ordens. Stuttgart 2005, 12ff. Zur Entwicklung der Besitzungen im Heiligen Land und in Europa siehe insbes. S. 32-82. 35

3.2.2. Engagement an der Ostsee

Unter dem ersten Hochmeister Hermann von Salza formierte sich der aus Ungarn124 vertriebene Orden im baltischen Raum neu. Ab 1230 kämpfte er im Kulmerland gegen die Prussen. Zuvor hatten 1218 und 1221-1223 der masowische und der schlesische Herzog zwei Kreuzzüge gegen dieses baltische Volk geführt. Diese Kreuzzüge waren trotz illustrer Beteiligung wie der von Angehörigen des Templerordens oder des Ordens von Calatrava auf Seiten Herzog Heinrichs des Bärtigen von Schlesien ohne Erfolg geblieben.125 Herzog Konrad von Masowien lud daraufhin 1225 oder 1226 den Deutschen Orden ein, gegen die widerständigen Prussen aktiv zu werden. Kaiser Friedrich II. übertrug 1226 mit der „Goldbulle von Rimini“ das Kulmerland sowie das noch zu erobernde Land der Prussen ins Eigentum des Deutschen Ordens.126 Der Beginn der tatsächlichen Kampfhandlungen durch den Orden verzögerte sich jedoch durch dessen Beteiligung am Kreuzzug des Kaisers bis 1230. Im gleichen Jahr noch übertrug Herzog Konrad von Masowien dem Orden im Vertrag von Kruschwitz offiziell das Eigentum am Kulmerland und an den zu erobernden Gebieten jenseits der Grenzen Masowiens.127 Im Jahre 1237 hatte der Orden bereits den Großteil des nachmaligen Westpreußens erobert sowie die Reste des Ordens der milites Christi de Prussiae, der „Brüder von Dobrin“128 eingegliedert. Gleichzeitig konnten auch die Reste des livländischen Schwertbrüderordens129 samt seiner Besitzungen übernommen werden. Dieser

124 Der Orden war 1211 einem Hilfeersuchen des ungarischen Königs Andreas II. nachgekommen. Die Ordensritter sollten im südöstlichen Siebenbürgen, im Burzenland, gegen die Kumanen kämpfen. Allerdings stellt sein Wirken dort in der Ordensgeschichte nur ein Intermezzo dar. Nachdem der Orden jedoch seine Befugnisse dergestalt überschritten hatte, indem er ein geschlossenes Territorium unter eigener Herrschaft etablieren wollte, wurde er von Andreas II. 1224 mit Heeresmacht besiegt und 1225 aus den Ländern der ungarischen Krone vertrieben. Vgl. Militzer, Deutscher Orden, S. 62. 125 Unter anderem wohl wegen des Konkurrenzverhältnisses zwischen den Herzögen von Masowien und Schlesien. Vgl. Boockmann, Deutscher Orden, S. 78. 126 Militzer geht davon aus, daß die Bulle 1235 in Rimini abgefasst und auf 1226 vordatiert wurde, um damit den päpstlichen Ansprüchen von 1234 (Bulle von Rieti) zu begegnen. Zur weiteren Diskussion über die Echtheit der Bulle bzw. der Frage der Übertragung des Kulmer- und Prussenlandes an den Orden: Militzer, Deutscher Orden, S. 63f. 127 PrUB I,1. 78, o.T. Juni 1230, Kruswica. 128 Benannt nach der Burg Dobrin (poln. Dobrzyn) an der Weichsel, einer Schenkung Herzog Konrads von Masowien. Der anfangs aus nur 15 Rittern bestehende Orden wurde vermutlich 1222 oder 1228 von Bischof Christian von Preußen gegründet und kam wohl nie über eine Mannstärke von 165 hinaus. Der Hochmeister des Deutschen Ordens Hermann von Salza erreichte von Papst Gregor IX. die Bestätigung der Inkorporation des Ordens, trotz Opposition der Dobriner Ritter. Vgl. Benninghoven, Friedrich: Der Orden der Schwertbrüder. Fratres milicie Christi de Livonia. (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, Bd. 9), Köln und Graz, 1965, S. 265-269, 307f. 129 Zum Orden der Schwertbrüder, insbes. zur Übernahme durch den Deutschen Orden: Benninghoven, Schwertbrüder, S. 354ff. 36

Orden hatte 1236 gegen die Litauer bei Schaulen (lit. Ńiauliai)130 eine verheerende Niederlage erleiden und seine Eigenständigkeit aufgeben müssen. Die Reste des Schwertbrüderordens wurden als livländischer Zweig unter einem eigenen Landmeister reorganisiert und in den Deutschen Orden eingegliedert. Das stete Bestreben, die Landbrücke zwischen dem preußischen und dem livländischen Ordenszweig durch Eroberung des litauischen Ņemaiten zu schließen, sollte die Auseinandersetzungen mit dem Großfürstentum Litauen in der Folgezeit beherrschen. Die Eroberung gelang dem Orden jedoch nur zeitweilig, die völlige Unterwerfung nie.131

Doch konzentrierte er sich nach dem Fall von Akkon 1291 ganz auf seine baltischen Besitzungen, 1309 wurde der Sitz des Hochmeisters unter Siegfried von Feuchtwangen von Venedig in die Marienburg an der Nogat verlegt. Das Bestreben, sich die Herrschaft im „eigenen Ordensland“ zu sichern erfuhr angesichts der Ereignisse im Frankreich Philipps IV.132 noch eine Verstärkung.133

1283 konnte der Orden die Sudauer endgültig unterwerfen und sich der Bekehrung und Bekämpfung der Litauer und Semgalen widmen, wie auch Peter von Dusburg in seiner Chronik notiert: „Explicit bellum Prussiae. Incipit bellum Lethowinorum. Anno domini MCCLXXXIII eo tempore, quo ab incepto bello contra gentem Pruthenorum fluxerant jam LIII anni, et omnes naciones in dicta terra expugnate essent, et exterminate, ita quod unus non superesset, qui sacrosancte Romane ecclesie non subiceret humiliter collum suum, fratres domus Theutonice predicti contra gentem illam potentem et durissime cervicis exercitatamque in bello, que fuit vicinior terre Prussie, ultra flumen Memele in terra Lethowie habitans, inceperunt bellum in hunc modum.”134

130 Zur Diskussion, wo der Ort der Schlacht, das in der Livländischen Reimchronik in Vers 1906 genannte „Soule“, nun wirklich gelegen haben mag sowie weiterführende Literatur siehe: Benninghoven, Schwertbrüder, S. 331f, 340; Meyer, Livländische Reimchronik, S. 44 V. 1906. 131 Boockmann, Deutscher Orden, S. 94. 132 So initiierte der französische König 1307 eine konzentrierte Verhaftungsaktion gegen die Templer in Frankreich, die Ordensmitglieder wurden der Ketzerei und Sodomie (Homosexualität) bezichtigt. In den nachfolgenden Schauprozessen wurden die Ritter aufgrund unter Folter abgepresster Geständnisse abgeurteilt und die Ordensgüter fielen der französischen Krone anheim. Der Orden selbst wurde von Papst Clemens V. auf dem Konzil von Vienne 1312 aufgehoben, 1314 fand der letzte Großmeister Jaques de Molay sein Ende auf dem Scheiterhaufen. Vgl: Demurger, Alain: Die Templer. Aufstieg und Untergang 1120-1314, München 1997, S. 242-246, 262, 274ff. 133 Rowell, Lithuania ascending, S. 9f; Militzer, Deutscher Orden, S. 30. 134 Petri de Dusburg: Cronica Terre Prussie. Pars III Cap. 221. In: SRP, Bd. 1, S. 146. Peter von Dusburg schreibt, dass seit Beginn des Kampfes gegen das Volk der Prussen schon 53 Jahre verflossen sind, und alle Völker in besagtem Land sind unterworfen und vernichtet worden, so dass nicht eines übrig blieb, welches sich 37

Die versuchte gewaltsame Missionierung der heidnischen Litauer sollte dem Orden allerdings die Grenzen seiner militärischen Macht aufzeigen. Wiewohl er den Burgenbau vor allem in der Grenzregion zu Litauen entlang der Memel forcierte und das ganze 14. Jhdt. über die sogenannten „Preußenreisen“ oder „Litauerfahrten“135 organisierte, gelangen nur kurz- bis mittelfristige Erfolge. Auch dürfte der Orden zu keiner Zeit mehr als 200 Ritter gezählt haben, die nötigen Truppenkontingente für die Züge gen Litauen wurden von Laienbrüdern, Söldnern, Bewohnern des Ordenslandes und dem das Abenteuer und die ritterliche Bewährung gegen die „letzten Heiden“ suchenden europäischen Adel gestellt. Als größtes und dauerhaftes Verdienst des Ordens kann wohl die Erschließung und Urbarmachung des Prussenlandes gelten, wurden doch bestehende Städte in ihrer Entwicklung gefördert sowie ständig neue nach Deutschem Recht gegründet.136

In Livland hemmten den Orden anfangs dessen ständige Auseinandersetzung mit dem Erzbistum Riga und den Dänen vor allem um das Bistum Reval137 bzw. um das Gebiet des heutigen Estland. Um 1300 hatte der Orden deutlich an Einfluss in den Bistümern der Diözese Riga gewonnen und konnte Gebietsgewinne durch Ankauf von Ländereien weltlicher und geistlicher Provenienz verzeichnen. So wurde bspw. 1305 von den Zisterziensern das Kloster Dünamünde, ca. 12 Kilometer von Riga an der Mündung der Düna gelegen, erworben und zur Festung ausgebaut.138 Nachdem neben den Prussen auch die Kuren und Semgallen bis 1291 von den Ordensrittern bezwungen und endgültig unterworfen worden waren, attackierte dieser nunmehr von zwei Seiten Litauen, den Hort139 der letzten freien heidnischen Stämme der Balten.

nicht demütig der hochheiligen Römischen Kirche unterwarf. Die vorher erwähnten Brüder des Deutschen Hauses begannen gegen dieses starke Volk, von härtester Kühnheit und tüchtig im Krieg geübt, welches dem Lande Prussen benachbart, jenseits des Flusses Memel im Lande Litauen wohnt, den Krieg in dieser Weise. 135 Dazu weiter unten sowie generell Paravicini, Werner: Die Preußenreisen des europäischen Adels. Teil 1 und Teil 2. (= Beihefte der Francia Bd. 17/1 und Bd. 17/2). Sigmaringen 1989 und 1995. 136 Rowell, Lithuania ascending, S. 11; Miltizer, Deutscher Orden, S. 74. So erhielten die bereits bestehenden Städte Thorn und Kulm 1233 ein Stadtrecht nach deutschem Vorbild (in weiten Teilen diente das Magdeburger Recht als Vorbild), welches in der “Kulmer Handfeste” festgeschrieben wurde und als Kulmer Recht im gesamten Ordensstaat zur Anwendung kam. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 339. 137 Heute Tallinn. Der Name geht auf das estnische „taani linn“ (Dänenburg) zurück. Der dänische König Waldemar II. hatte 1219 den Burgberg besetzt und Stadt sowie Bistum Reval gegründet. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 334. 138 Rowell, Lithuania ascending, S. 13f. Die Gründung des Klosters Dünamünde 1205 geht auf eine Initiative des damaligen Bischofs von Riga, Albert von Bekeshovede, zurück. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 334. 139 Aus allen unterworfenen Gebieten flohen Stammesangehörige nach Litauen, den Großteil davon machten die Jatwinger aus. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 70 38

3.2.3. Die „Preußenreisen“ des Deutschen Ordens

Beginnend mit dem Winter 1304/05 wurden die sogenannten „Preußenreisen“ oder „Litauerfahrten“ vom Deutschen Orden beinah jährlich organisiert. Teile des – durchaus auch prominenten – Adels Westeuropas suchte gegen die „letzen Heiden“ im Kampf Ruhm und vor

Karte 4: Die Front des Deutschen Ordens gegen Litauen 1280-1435. allem Seelenheil zu erlangen. Die Teilnahme daran wurde von der Kirche mit ähnlichen Anreizen versehen wie jene an den Kreuzzügen ins Heilige Land. Die Reisen (iSv Heerfahrt)140 fanden wetterbedingt im Sommer als „Bauunternehmen“ (Sommerreise) und im Winter als eigentliche Kriegszüge (Winterreise) statt141, anfangs sogar noch mit päpstlichem Segen als Kreuzzüge142.

140 „Reise“ hier in der ursprünglichen Wortbedeutung als „Heerfahrt“ bzw. „Kriegszug“. Der Ausdruck „Reise“ bedeutete ursprünglich auch allgemein „aufbrechen“ bzw. von einem Ort – auch unfreiwillig – weggehen. Vgl. Ohler, N.: Reisen, Reisebeschreibung. A. Westen. I. Allgemein, Formen, Verkehrsmittel. In: LMA, Bd. 7, Sp. 672-675. 141 Vgl. Ausführungen zur Zeit der Wegelosigkeit, der Rasputica S. 31 FN 102 sowie Paravicini, Preußenreisen Bd. 2, S. 53. 142 So erwirkte der Orden jedenfalls in der Anfangszeit 1230, 1232 und 1236 Kreuzzugsbullen von Gregor IX. Vgl. Militzer, Deutscher Orden, S. 65; Lübke, Östliches Europa, S. 342. Siehe: PrUB I,1. 87, Rieti, 23. Jänner 1232; 81, Anagni, 17. September 1230; 123, Viterbo, 22. Februar 1236. 39

Mit Markgraf Ludwig von Brandenburg nahm ein Sohn Kaiser Ludwigs des Bayern an der Winterreise 1335/36 teil. Hellmann schreibt, ihm zu Ehren habe die Bayerburg bei Veliuona ihren Namen erhalten. Paravicini hingegen spricht die Patenschaft Herzog Heinrich II. von Niederbayern, einem Vettern des Kaisers und Preußenfahrer im folgenden Winter 1336/37, zu.143. Diese Namensgebung stand in der Tradition der berühmtesten Gründung: Königsberg (heute: Kaliningrad). 1255 eroberte König Ottokar II. Přemysl von Böhmen im Rahmen eines Kreuzzugs gegen die Samländer die Burg Tuwangste am Pregel. Die vom Deutschen Orden an dieser Stelle errichtete Burg erhielt zu dessen Ehren ihren Namen.144 Zu den „Preußenreisen“ ist im Detail umfassend, wenn noch nicht vollständig erschienen, Paravicinis „Die Preußenreisen des europäischen Adels“ zu Rate zu ziehen.145

143 Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1089; Paravicini, Preußenreisen Bd. 2, S. 63. Paravicini ist zu folgen, die Teilnehmerlisten der Litauerfahrten belegen Ludwigs Anwesenheit 1336 und jene Heinrichs 1337, in diesem Jahr fand auch der Bau der Burg statt. Quellenverweise bei Paravicini, Preußenreisen Bd. 1, Tab. 12 Z. 14 und Z. 18 auf S. 147 sowie Ders., Preußenreisen Bd. 2, Tab. 49 Z. 67 und Z. 69 auf S. 24. 144 Vgl. Milizter, Deutscher Orden, S. 69 sowie Bookmann, H.: Königsberg. In: LMA, Bd. 6, Sp. 1326. Zur Bedeutung des nachmaligen (ab 1457) Hochmeistersitz und (ab 1525) Hauptstadt des Herzogtums Preußen als Ausgangspunkt für die Preußenreisen vgl. Paravicini, Preußenreisen, Bd. 1, S. 272ff. 145 Paravicini, Werner: Die Preußenreisen des europäischen Adels. Fünf Bände. Bisher erschienen Bd. 1 und Bd, 2. (= Beihefte der Francia, Bd. 17/1 und Bd. 17/2). Sigmaringen 1989 und 1995. 40

3.3. Moskau

3.3.1. Der Aufstieg Moskaus

Die Gründung der Stadt Moskau geht auf Jurij Dolgoruki zurück, 1147 wird Moskau erstmals erwähnt, der Kreml„146 im Jahre 1156.147 Dass die kleine Festung Moskau sich dereinst gegen mächtige innere und äußere Gegner würde durchsetzen können, war Mitte des 13. Jhdts., unmittelbar nach dem Mongolensturm, nicht abzusehen. Moskau war eines der vielen Fürstentümer, das aus der Zergliederung des Großfürstentums Vladimir hervorgegangen war. Mit dem Herrschaftsantritt von Aleksandr Nevskijs Sohn Daniil 1263 sollte der Aufstieg Moskaus zur Führungsmacht in der Rus„ seinen Anfang nehmen. Daniil selbst konnte zwar nie die Großfürstenwürde erringen, aber er wurde zum Begründer jenes moskowitischen Zweigs der Rjurikiden, welcher die Rus„ unter einer Herrschaft vereinen und bis 1598 als Großfürsten bzw. Zaren regieren sollte.148

Die Gründe für den Aufstieg Moskaus sind vielschichtig, eine monokausale Erklärung läßt sich nicht liefern. Stökl nennt eine Kombination von äußeren und in der Person der jeweiligen Fürsten liegenden Faktoren.149 Er spricht der orthodoxen Kirche eine wichtige Rolle beim Aufstieg Moskaus zu und deutet die Verlegung des Metropolitensitzes als dessen Folge. Allerdings scheint unter Metropolit Maximus noch der Glaube an das Großfürstentum Vladimir und dessen Zukunft vorgeherrscht zu haben. Maximus verlegte 1300 den Metropolitensitz nach Vladimir und hielt auch dem legitimen Nachfolger in der Rus„ die Treue. Nach dem Tod des Großfürsten Andrej 1304 errang Michail von Tver' gemäß des

146 Der Begriff Kreml„ bedeutet „Festung, Burg“ und bezeichnet den befestigten Teil einer Stadt. Bis ca. 1500 wurde der Begriff allerdings fast ausschließlich auf die Burgen von Tver„ und Moskau angewandt, im Rest der Rus„ detinec (so der Name der Burg in Novgorod) oder gorod (befestigte Stadt, Befestigung). Vgl. Knackstedt, Wolfgang: Kreml„. In: LMA, Bd. 5, Sp. 1485. 147 Alexander, Manfred und Stökl, Günther: Russische Geschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. (= Kröners Taschenausgabe, Bd. 244). 7., vollständig überarb. u. aktualisierte Auflage. Stuttgart 2009, S. 96. Knackstedt gibt in seinem Beitrag des LMA davon abweichend für die erste Erwähnung des Moskauer Kreml„ das Jahr 1331 an. Vgl. Ders., aaO. 148 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 130-132. 149 So zum einen die geographischen Voraussetzungen Moskaus als Schnittpunkt mehrerer Land- und Wasserwege, die geschützte Lage sowie der Bevölkerungszuwachs aufgrund der Flüchtlinge aus den akut von den Tataren bedrohten Fürstentümern im Süden und Südwesten. An in der persönlichen Sphäre liegenden Faktoren nennt er einen speziellen „Besitzwillen“ der Moskauer Fürsten, die Fähigkeit, zäh und unauffällig ihren Besitz zu mehren sowie ein gewisses Maß an Skrupellosigkeit. Zuletzt führt er auch die geringe Nachkommenschaft an, wodurch keine Erbteilungen vorzunehmen waren und die votčina vor der Fragmentierung bewahrt werden konnte. Vgl. Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 132. 41

Senioratsprinzips die Großfürstenwürde und erhielt den Jarlyk des Khans der Goldenen Horde.150

3.3.2. Tver‘ und Moskau

In der nordöstlichen Rus„ stand das 14. Jahrhundert im Zeichen der Konkurrenz zweier Fürstentümer, zweier jüngerer Städte, welche erst im 13. Jahrhundert an Bedeutung gewonnen hatten: Tver' und Moskau. Der Wettstreit der beiden Fürstentümer um die Vormachtstellung in der Rus„, um die Gunst des Khans der Goldenen Horde und die damit verbundene Großfürstenwürde wurde mit allen Mitteln geführt: militärische Feldzüge, politische Intrigen und heimtückische Morde. Alles um des Großfürstentitels willen, welcher Anfang des 14. Jahrhunderts wieder an Attraktivität gewonnen hatte. Obgleich in der Abhängigkeit des Khans der Goldenen Horde stehend, sollte der Großfürst fortan für den Khan Tribute (vychod)151 eintreiben. Bis dahin hatten dies reisende Beamte des Khans übernommen. Der Großfürst gewann somit an politischer Eigenständigkeit und Macht, vor allem gegenüber den übrigen Fürsten der Rus„.152

Tver„ wird im Jahre 1209 erstmalig als Grenzfestung Novgorods gegen Vladimir-Suzdal' erwähnt. Jene Grenzfestung fiel alsbald in die Hände der Suzdaler, welche dortselbst seit 1247 ihren Fürstensitz nahmen. Doch enden mit der Gründung als Festungsstadt die Gemeinsamkeiten zwischen Tver' und Moskau keineswegs. Beide Stadtfürstentümer hatten vom Mongolensturm in den 1240ern insofern profitieren können, als sie, bedingt durch ihre geographische Lage, nicht die Wucht der mongolischen Angriffe zu spüren bekamen. Darüber hinaus wuchsen beide Fürstentümer stark durch den Zuzug von Flüchtlingen aus der südöstlichen Rus„.153

Tver' schien zu Beginn des 14. Jahrhunderts die bessere Ausgangsposition zu haben. Bereits 1264 konnte in der Person Jaroslav Jaroslavič' der erste Fürst von Tver' den Großfürstentitel erlangen. Nun war 1304 nach dem Tod des Großfürsten Andrej Alexandrovič' von Vladimir gemäß des Senioratsprinzips Michail Jaroslavič von Tver' der logische Nachfolger, welcher

150 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 132f. 151 Rüß, Altrussische Fürstentümer, S. 95. 152 Lübke, Östliches Europa, S. 397. 153 Lübke, Östliches Europa, S. 397. 42 von Khan Tohtu auch bestätigt wurde. Der unterlegene Jurij Daniilovič von Moskau konnte und wollte dies nicht akzeptieren und verharrte in Opposition zu seinem nunmehrigen Großfürsten. Dies beklagte Großfürst Michail gegenüber dem neuen Khan Özbeg 1312. Jurij wurde daraufhin vom Khan der Goldenen Horde vorgeladen und vermochte während seines zweijährigen Aufenthaltes, das Vertrauen Özbegs zu gewinnen. Er heiratete Končaka, die Schwester des Khans, erhielt den Jarlyk über die Großfürstenwürde von Wladimir und konnte sich die militärische Unterstützung des Khans gegen Tver' sichern.154

Dennoch unterlag Jurij 1317 im Kampf gegen das konkurrierende Fürstentum, seine Gattin fiel in die Hände der Feinde. Der militärische Sieg Tver's wurde zum politischen Desaster, als Končaka, Jurijs Ehefrau und Schwester des Khans der Goldenen Horde, in Gefangenschaft verstarb. Moskau lancierte sofort Gerüchte über einen Giftmord.155 Die Konsequenzen ließen nicht lange auf sich warten, Michail von Tver' wurde von Khan Özbeg vorgeladen, 1318 erfolgte die Hinrichtung.156

Jurij von Moskau erlangte die Bestätigung als Großfürst, ging jedoch seines Amtes bald wieder verlustig. Dmitrij, Sohn des hingerichteten Michail und dessen Nachfolger in Tver', zieh Jurij der Unterschlagung. Er hätte die von Tver' entrichtete Sondersteuer nicht an die Horde abgeführt. Khan Özbeg übertrug daraufhin die Großfürstenwürde an Dmitrij, welcher sich mit Unterstützung des litauischen Großfürsten Gediminas gegen Moskau wandte. Jurij floh daraufhin zur Goldenen Horde, wo er 1325 von Dmitrij erschlagen wurde. Da Khan Özbeg keine derartige Bluttat an seinem Hof duldete, ließ er wiederum Dmitrij hinrichten, die Großfürstenwürde übertrug er an dessen Bruder Aleksandr Michailovič.157

Allerdings konnte sich Aleksandr nicht lange an der Großfürstenwürde erfreuen, 1328 musste er aus Tver' flüchten, nachdem ihm sein Titel vom Khan entzogen worden war. Er zog sich für das folgende Jahrzehnt auf den Fürstensitz Pskov zurück.158

154 Lübke, Östliches Europa, S. 397f. 155 Lübke hält es für unwahrscheinlich, dass Michail von Tver' nach dem Sieg über Moskau durch eine solche politische Gedankenlosigkeit seinen Erfolg wieder verspielen würde. Nach Lage der bekannten Fakten wurde Končaka ergriffen und verstarb in Tver'scher Gefangenschaft, unter welchen Umständen bleibt ungeklärt. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 398. 156 In der Heiligenvita des 1549 heiliggesprochenen Michails von Tver' wird dessen Tod am Hofe des Khans der Intrige Jurijs von Moskau zugeschrieben. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 398. 157 Lübke, Östliches Europa, S. 398. 158 Lübke, Östliches Europa, S. 398. 43

Nachdem sich Ivan Daniilovič von Moskau und Aleksandr Vassil'evič von Suzdal' die Großfürstenwürde für einige Jahre hatten teilen müssen, entschied Khan Özbeg 1331, die Alleinherrschaft dem Moskauer Fürsten zu übertragen. Als nunmehr alleiniger Großfürst oblag es Ivan Daniilovič, den Tribut aus der Rus‟ einzutreiben und an die Horde abzuführen. Diesem eröffneten sich dadurch neue Einnahmequellen, die er sich auch reichlich erschloss, was ihm den Beinamen „Kalita“ („der Geldbeutel“ bzw. „Geldsack“) einbrachte.159

Die Großfürstenwürde blieb nach wie vor an das alte rus‟ische Fürstentum Vladimir geknüpft. Von 1331 an konnten sich die Moskauer Fürsten den Großfürstentitel auf Dauer sichern, abgesehen von einem kurzen Intermezzo 1360–1363. Ivan Kalita unterhielt gute Beziehungen zu Khan Özbeg und weilte in den 1330ern wiederholt an dessen Hof in Sarai. Diese guten Beziehungen halfen auch, einen Restaurationsversuch seines Vorgängers Aleksandr von Tver' und dessen Sohn Fëdor abzuschmettern. Diese strebten 1337 mit Unterstützung des Großfürsten Gediminas von Litauen danach, die Großfürstenwürde in der Rus‟ zurückzuerlangen.160 Die beiden Tver'er Fürsten wurden jedoch 1339 auf Befehl Khan Özbegs hingerichtet, womit Ivan Kalitas Großfürstenwürde gesichert war.161

Politisch wusste Kalita um die Bedeutung des bisher in Vladimir residierenden Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus‟. Das orthodoxe Kirchenoberhaupt der Rus‟ bildete, unabhängig von deren politischer Zugehörigkeit, eine geistliche Klammer zwischen den Teilfürstentümern. Mit dem Recht des Metropoliten, Bischöfe in der Rus„ einzusetzen, eröffnete sich für Moskau auch ein realpolitisches Machtmittel gegen die Litauer.162 Hierin liegt auch das – auf Dauer erfolglose – Bestreben Litauens begründet, für die unter seiner Herrschaft stehenden rus‟ischen Fürstentümer eine eigene Metropolie zu etablieren, vorzugsweise im noch immer von großer symbolischer Bedeutung erfüllten Kiew. Daß auch ein im Westen gelegener Metropolitensitz für orthodoxe Fürsten und deren Untertanen von großer Bedeutung sein und mithin eine Alternative zur Moskauorientierung bieten konnte, beweist das Beispiel der Metropolie von Galič. Bereits 1303 wurde eine –

159 Lübke, Östliches Europa, S. 398f. 160 Lübke, Östliches Europa, S. 399. Diese Intervention Litauens zugunsten Tver's zeugt von der beginnenden Kooperation beider Mächte gegen das aufstrebende Moskau. Das einstmals wichtige und bedeutende Tver„ wird immer mehr zur Manövriermasse Litauens gegen Moskau. Nach der Einverleibung des historischen Großfürstensitzes Kiew kann die gediminidische Heiratspolitik (die Vermählungen von Gediminas' Tochter Maria mit Dmitrij von Tver' und Gediminas' Sohn Algirdas mit Ul‟jana von Tver') als Versuch interpretiert werden, künftig bei der Vergabe des Großfürstentitels selbst einen legitimierten Kandidaten stellen zu können. 161 Lübke vermutet eine Intrige, an welcher Ivan Kalita zumindest beteiligt war. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 399. 162 Lübke, Östliches Europa, S. 399. 44 allerdings kurzlebige – Metropolie für die südwestliche Rus„ errichtet. Weitere Versuche in den folgenden Jahrzehnten (1325-1327, 1331 und 1341-1347) führten allerdings zu keiner längerfristigen Etablierung, da der Metropolit von Moskau seine Vorherrschaft am Ende durchzusetzen wusste.163

Die Nachfolge wurde von Ivan Kalita bereits im Vorfeld geregelt, sein diesbezügliches Testament vom Khan bestätigt. Dies ist das älteste überlieferte Testament eines rus'ischen Fürsten. Unter seinen Nachkommen war Semën Ivanovič durch Zuweisung der Städte Moskau, Moņajsk und Kolomna herausgestellt und für die Nachfolge als Großfürst vorgesehen. Realpolitisch gewann der Sitz des Metropoliten mehr und mehr an Bedeutung, da dem wahren Großfürsten immer mehr konkurrierende „Großfürsten“ erwuchsen, begründet in der Zersplitterung der Zentralmacht der Horde. Jeder selbsternannte Khan vergab einen Jarlyk an einen anderen rus'ischen Teilfürsten, wenn er sich davon Nutzen versprach.164

Zwischenzeitlich wäre der Großfürstentitel fast an die Suzdal'er gefallen, nachdem Semëns Nachfolger Ivan II. nach kurzer Regierung gestorben war und der minderjährige Dmitrij nicht akzeptiert wurde. Hier zeigte sich das Gewicht des Metropolitenamtes, wenn es von einer starken und politisch tatkräftigen Person ausgeübt wurde. Metropolit Alexius lenkte während Dmitrijs Minderjährigkeit die politischen Geschicke Moskaus und die Verhandlungen um die Nachfolge im Großfürstenamt mit der Goldenen Horde. Nachdem auch der Angriff der Suzdal'er abgeschlagen werden konnten, verzichteten 1363 nacheinander deren Fürst Dmitrij Konstantinovič und dessen Sohn Vasilij zugunsten Moskaus auf die Großfürstenwürde. Der Friede wurde durch eine Heirat besiegelt.165

163 Nach dem Tode des Metropoliten Nifont von Galič 1305 schickte dessen Fürst Jurij einen Nachfolger zur Bestätigung durch den Patriarchen nach Konstantinopel. Etwa zur gleichen Zeit war Metropolit Maximus von Moskau verstorben und Kiril als dessen Nachfolger vorgesehen. In Konstantinopel wurde allerdings Peter, der Kandidat aus Galič, zum Metropoliten von Moskau bestellt, die Metropolie Galič erlosch damit. Am Ende Peters Amtszeit kam es 1325 nochmals zu einer Galičer Gründung. Sein Nachfolger Feognost (Theognostos) konnte 1327 die Galičer Bistümer persönlich wieder zurückgewinnen. Einen neuerlichen Versuch 1331 konnte er bereits nach wenigen Monaten ersticken, was ihm bei der Gründung von 1341 erst nach sechs Jahren gelang. Diese hartnäckigen und lang andauernden Versuche, eine eigene Metropolie für Galič zu etablieren ebenso wie die harsche Durchsetzung des Supremats Moskaus zeigen eine über die reine geistliche Bedeutung hinausragende machtpolitische Komponente. Vgl. Martin, Janet: North-eastern Russia and the (1246-1359). In: Perrie, Maureen [Hrsg.]: The Cambridge History of Russia. Volume I. From Early Rus„ to 1689. Cambridge u.a. 2006, S. 149f; Fennell, John Lister Illingworth: The Emergence of 1304-1359. London 1968, S. 68f, 125-129, Fennell, Russian Church, S. 137f. 164 Lübke, Östliches Europa, S. 399f. 165 Lübke, Östliches Europa, S. 400. 45

Eine letzte Gefährdung der Stellung Moskaus bahnte sich an, als der alte, gelöst geglaubte Konflikt mit Tver' wieder ausbrach. Fürst Michail Aleksandrovič wurde von Litauen in seinen Ansprüchen unterstützt. Der mit ihm seit 1350 verschwägerte Großfürst Algirdas fiel dreimal in die nordöstliche Rus' ein und stand 1368, 1370 und 1372 vor den Toren Moskaus. Er sah sich jedoch außerstande, eine Belagerung aufrecht zu erhalten und war gezwungen, mit den Moskauern einen Separatfrieden zu schließen. Nach dem Abzug Algirdens bemühte sich Michail von Tver' um die Unterstützung der Horde. Trotz des Jarlyks des Khans stieß er in weiten Teilen der Rus' auf Ablehnung und Widerstand. Moskau war in seiner Politik erfolgreich gewesen, sich als einzig legitimer Großfürstensitz zu etablieren. 1375 kam es zum finalen Schlagabtausch zwischen Tver' und Moskau, Michail Aleksandrovič stand allein gegen eine Koalition mehrerer Fürsten aufseiten Dmitrij Ivanovič'. Wenig überraschend endete die Belagerung Tver's mit einer vollständigen Kapitulation, Michail musste sich vor allem außenpolitisch den Direktiven Moskaus beugen, dh. er durfte keine eigenständigen Beziehungen zu Litauen und der Goldenen Horde mehr unterhalten. Innenpolitisch musste er Dmitrij als sogenannten „älteren Bruder“ anerkennen, sich ihm also öffentlich unterordnen.166 Der den Gutteil des 14. Jahrhunderts bestimmende Streit um die Vorherrschaft zwischen Tver' und Moskau war nunmehr endgültig entschieden.

Die 1375 für Moskau siegreichen abgeschlossenen Kämpfe um die Großfürstenwürde schufen für die nordöstliche Rus' stabile Verhältnisse, der Führungsanspruch Moskaus blieb in Folge unbestritten. Schon in den Friedensbedingungen mit Litauen aus dem Jahre 1371 versuchte Moskau die Ausweitung des sogenannten „Vatererbes“, der votčina, auch auf das Fürstentum Vladimir und dem damit immer noch formell verbundenen Großfürstentitel durchzusetzen. Großfürst Algirdas weigerte sich damals noch, diesen Passus zu ratifizieren. Weil Litauen sich durch sein Eingreifen auf Seiten Tver's offen in innerrus'ische Belange eingemischt hatte, konnte sich Moskau als Wahrer der rus'ischen Interessen darstellen.167 Fortan war Moskaus politischer Führungsanspruch in der nordöstlichen Rus' unbestritten, durch die Sicherung des Metropolitensitzes bildete es darüber hinaus auch das religiöse Zentrum für die gesamte Rus'.

166 Lübke, Östliches Europa, S. 400ff. 167 Lübke, Östliches Europa, S. 402. 46

3.3.3. Die Schlacht am Kulikovo Pole 1380

Die endgültige Durchsetzung der Moskauer Vormachtstellung in der nordöstlichen Rus„ auch nach außen brachte der Erfolg in der Schlacht auf dem Schnepfenfeld (russ. Kulikovo Pole). Mamai, damals der mächtigste Teilfürst der Horde und Aspirant auf den Khanstitel, wollte Moskau und die Rus„ wiederum unter die Tributherrschaft der Horde bringen.

Bereits 1378 hatte er eine Armee gegen Moskau gesandt, um dem Machtzuwachs des Fürsten Dmitrij Einhalt zu gebieten und die Tributhoheit wiederherzustellen. Diese war jedoch in der Schlacht an der Voņa, einem Okazufluss, unterlegen, der Großteil der Tataren hatte den Tod gefunden. Für die Rus„ war dieser Sieg Dmitrijs jedoch nur ein Vorspiel.168

1380 nun schritt Mamai selbst zur Tat und wollte Moskau in die Schranken weisen. Doch benötigte er, da die Horde geschwächt war, einen Verbündeten, welche er in Gestalt Großfürst Jogailas von Litauen fand. Die Truppen der beiden sollten vereint gegen Dmitrij vorgehen. Während Mamais Truppen am oberen Don lagernd die litauische Verstärkung erwarteten, rückte Dmitrijs Heer heran, auf dem Schnepfenfeld (russ. Kulikovo Pole) kam es zur Schlacht. Die Tataren standen nach stundenlangem Kampf trotz des für die Entfaltung ihrere Reiterei nachteiligen Terrains169 kurz vor dem Sieg, als die taktisch zurückgehaltenen ausgeruhten Resevetruppen Dmitrijs die Schlacht entschieden.170 Die litauischen Hilfstruppen waren nicht erschienen, Mamai musste fliehen. Dmitrij erhielt aufgrund der siegreichen Schlacht am Don den Beinamen „Donskoj“.171

Moskau war noch nicht stark genug, diesen Sieg zum dauerhaften Erfolg gegen die Horde zu nutzen. Doch hatte er eine große Wirkung auf die Kampfmoral, hatte Moskau mit seinen Verbündeten bewiesen, dass es möglich war, die Tataren auch in einer offenen Feldschlacht zu schlagen, der Mythos der Unbesiegbarkeit der Tataren war gebrochen.172 Vor allem in der Rückschau wurde die Schlacht auf dem Schnepfenfeld als das auslösende Moment zur hundert Jahre später erfolgten Abschüttelung des „Tatarenjochs“ interpretiert, da die

168 Nitsche Peter: Die Mongolenzeit und der Aufstieg Moskaus (1240 – 1538). In: Hellmann, Manfred [Hrsg.]: Handbuch der Geschichte Rußlands. Bd. 1. Stuttgart 1981, S. 605f; Martin, Medieval Russia, S. 235. 169 Das Schnepfenfeld war durch Schluchten und Wasserläufe kleinräumig gegliedert. Vgl. Nitsche, Mongolenzeit, S. 606. 170 Martin, Medieval Russia, S. 236f. 171 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 147. 172 Nitsche, Mongolenzeit, S. 606; Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 147. 47

Tatarenherrschaft nicht mehr länger als Schicksal, sondern als gegenwärtiges Faktum, das in Zukunft auch geändert werden konnte, gesehen wurde.173

Tatsächlich wurde das „Tatarenjoch“ für Moskau jedoch rasch erneuert. Der geschwächte Mamai unterlag 1381 seinem Rivalen Khan Tohtamiş, welcher im Folgejahr mit der gesamten tatarischen Heeresmacht der Horde gegen Moskau vorrückte. Dmitrij Donskoj floh, ein zufällig anwesender litauischer Heerführer namens Ostej organisierte die zunächst erfolgreiche Verteidigung der Stadt – erstmals wurden dabei in der Rus„ Feuerwaffen gebraucht. Sein Ziel, die tatarische Hoheit über die Rus„ wiederherzustellen und Rache zu nehmen, erreichte Tohtamiş durch eine List, indem er den Moskauern Unversehrtheit versprach, wenn sie sich ihm ergeben würden. Die tatarischen Truppen wüteten daraufhin unter den Moskauern, verheerten und brandschatzten die Stadt. Auch andere Stätde in der nordöstlichen Rus„ wurden von Tohtamiş auf dem Rückweg nach Sarai verwüstet.174

Die erneute Unterwerfung durch die Horde konnte aber die moralfördernde Wirkung des Sieges von 1380 nicht ungeschehen machen. Gleichwohl erteilte der Khan den Jarlyk zur Großfürstenwürde wieder Dmitrij Donskoj, dessen Sohn musste als Geisel am Hof in Sarai bleiben, die Rus„ eine hohe Sondersteuer als Wiedergutmachung entrichten.175

173 Nitsche, Mongolenzeit, S. 608. 174 Nitsche, Mongolenzeit, S. 606-608. 175 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 147-148. 48

4. Litauen

4.1. Litauen im 12. und 13. Jahrhundert

In den Quellen fassbar und konkret als Volk benannt, betreten die Litauer die Bühne der Weltgeschichte um 1000 n. Chr. Die erste Benennung Litauens als „Litua“ stammt aus den Quedlinburger Annalen im Eintrag zum Jahre 1009. Bischof Brun von Querfurt bereiste zum Zwecke der Mission in jenem Jahr das Land der Prussen, wo er mit seinen 18 Begleitern von Heiden gefangengenommen wurde und ihn der Märtyrertod ereilte:176 „Sanctus Bruno, qui cognominatur Bonifacius, archiepiscopus et monachus , XI . suae Abb. 4: Wappen des Großfürstentums Litauen (16.Jhdt.). conversionis anno in confinio Rusciae et Lituae a paganis capite plexus cum suis XVIII , VII. Id. Martii petiit coelos.“177

Die vor 1116 verfaßte Nestorchronik nennt die beiden litauischen Hauptstämme der Aukńtaiten (Hochlitauer) und Ņemaiten (Niederlitauer) als dem Großfürsten von Kiew tributpflichtige Völker178: „Fremde Völker, die der Rus Tribut zahlen sind folgende: [...], die Litauer, die Semgallen, die Kuren, [...]“.179 Laut Hellmann bezieht sich diese Stelle auf die Situation in der ersten Hälfte des 11. Jhdts., da die Litauer Ende des 12. Jhdts. bereits von einem tributpflichtigen zu einem expandierenden Volk geworden waren. So konnten sie zwischenzeitlich ihren Herrschaftsbereich über das altrussische Fürstentum Polozk bis an die mittlere Düna ausdehnen. Um die

176 Hellmann, Litauen, S. 15f, für die Quedlinburger Annalen nennt er allerdings die falsche Jahreszahl 1008. 177 Annales Quedlinburgenses, MIX, In: Giese, Martina [Hrsg.]: Die Annales Quedlinburgenses. MGH SS rer. Germ. Bd. 72, Hannover 2004, S. 527. 178 Hellmann, Litauen, S. 16. 179 Vgl: Rauchspur der Tauben, S. 25. 49

Jahrhundertwende vom 12. zum 13. Jhdt. war das litauische Herrschaftsgebilde bereits zu einem politischen Machtfaktor angewachsen, welchen die Nachbarn sowohl im Westen als auch im Osten nicht mehr vernachlässigen konnten. In dieser Zeit begannen litauische Große und altrussische Fürstenhäuser Heiratsverbindungen zu knüpfen.180

Im 12. Jhdt. bestand die Gesellschaft Litauens vor allem aus einer breiten bäuerlichen Schicht, welche unter dem Schutz einer Kriegerelite lebte und arbeitete. Die bajorai (von russ. bojari, Adelige unter dem Rang eines Fürsten. bzw. Großgrundbesitzers) hatten ihren Sitz meist auf einer befestigten Hofstelle oder Holzburg und sind wohl am ehesten mit dem Begriff „Ritter“ zu umschreiben.181 In der Hierarchie darüber, als regionale Machthaber, standen die kunigai bzw. kunigaikščiai (Priester bzw. Fürsten), an der Spitze der didysis kunigaikštis (Großfürst), letzterer später vom Deutschen Orden als Rex de Owsteiten bezeichnet. Für das beginnende 13. Jhdt. nennt Rowell eine Handvoll Fürstentümer („terrae“), welche die Politik bestimmten und aus deren Herrscherelite der Großfürst stammte. Für Aukńtaiten nennt er die Regionen Nalńia, Deltuva und Upitė, für Ņemaiten sind dies Ceklis, Karńuva und Kretuva, bei Kiaupa neben Karńuva u.a. die Landschaften Knituva, Medininkai, Raseiniai und Ńiauliai.182 Was die Siedlungsdichte angeht, so ist von weiten Sumpfgebieten auszugehen, welche Siedlungsräume natürlich voneinander trennten. Darüber hinaus gab es auch die Abgrenzung durch die sogenannte „Wildnis“, vor allem in den Grenzgebieten zum Deutschen Orden teils gewollt, aufgrund der Bevölkerungsarmut und der mangelnden Siedler auch teils ungewollt. Für das von den litauischen Stämmen besiedelte Gebiet, welches großteils mit dem heutigen Litauen übereinstimmt, ist von einer Bevölkerungszahl von etwas über 300.000 Personen auszugehen. Das daraus resultierende - zwangsläufig begrenzte - wirtschaftliche und militärische Potential läßt, Kiaupa e.a. folgend, die starke Entwicklung in der ersten Hälfte des 13. Jhdts. umso erstaunlicher erscheinen.183 Die Länder der litauischen Stämme befanden sich an der Peripherie des europäischen Geschehens, außerhalb des Einfluss- und Machtbereiches des römischen Papsttums und des Heiligen Römischen Reiches. Hinsichtlich der Kiewer Rus„ konnte die zwischenzeitlich bestehende Tributleistungspflicht abgeschüttelt werden, als deren Zerfallsprozess in kleinteilige Fürstentümer einsetzte und die Zentralgewalt Kiews immer mehr erodierte. So dürfte beispielsweise Minsk bereits Ende des 12. Jhdts. unter litauischem

180 Hellmann, Litauen, S. 16; Kiaupa, Zigmantas: The Grand Duchy of Lithuania from the Establishment of the State to the Union of Lublin. I. Establishment of the State. In: Kiaupa, Zigmantas; Kiaupienė, Jūratė; Kuncevičius, Albinas: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000, S. 45f. 181 Vgl. Hellmann, Manfred: Adel. Abschnitt G Litauen, 1 Bis zur Union mit Polen (1385/86). In: LMA, Bd. 1, Sp. 138f. 182 Rowell, Lithuania ascending, S. 49f; Kiaupa, Establishment, S. 49. 183 Kiaupa, Establishment, S. 50; Lübke, Östliches Europa, S. 341. 50

Einfluss gestanden haben. Für Polozk ist Ende des 12. Jhdts. ein litauischer Fürst namens Mingajlo bezeugt, nach 1216 der orthodox getaufte Litauer Boris Gynvilovič.184 Im Zuge der Mongoleneinfälle sollte sich für Litauen eine einmalige Gelegenheit zur Ostexpansion bieten, welche von den Großfürsten beginnend unter Mindaugas auch genutzt wurde.185

Entlang der Düna begannen sich Ende des 12. Jhdts. Händler und Mönche aus dem norddeutschen Raum anzusiedeln. 1186 wurde die Diözese von Üxküll gegründet, der Augustinerchorherr Meinhard zum Bischof geweiht und 1188 von Papst Clemens III. bestätigt. Die anfangs friedliche Mission wurde aufgrund mangelnden Erfolges bald aufgegeben, zumal die Liven keinen rechten Bekehrungswillen zeigen wollten. Der Bau der Burgen Üxküll (lett. Ikńķile) und Holme186 an der Düna, der ersten Steinbauten im Baltikum187, gedacht als Schutz gegen die heidnischen Litauer wurde Meinhard nicht gedankt. Von den als Bedingung für den Burgenbau gegebenen Taufversprechen nahmen sie wieder Abstand oder fielen nach erfolgter Taufe vom Glauben wieder ab, die Burgen jedoch besetzten sie. Heinrich von Lettland berichtet dazu für Üxküll: „Ante castri Ykescolensis inchoacionem pars populi baptizatur et facto castro universitas se baptizandam, licet mendaciter, pollicetur. [...] Perfecto demum castro baptizati recidivant, nondum renati fidem suscipere detrectant.“188

Vor Holme fand denn auch der Nachfolger Meinhards, Bischof Berthold, 1198 im Kampf mit den Liven den Märtyrertod. Sein Nachfolger Bischof Albert von Bekeshovede189 läutete eine neue Ära in der Geschichte des Bistums ein. Er bediente sich seines aus Ministerialen bestehenden Gefolges, um gegen die Liven vorzugehen. Friedliche Mission spielte kaum mehr eine Rolle, gewaltsame Konversion bot für das Bistum auch ein Vehikel zur

184 Hellmann, Großfürstentum, S. 739; Kiaupa, Establishment, S. 45f. 185 Martin erwähnt bereits für 1239 einen litauischen Zug gegen Smolensk, 1245 einen Angriff auf Novgorod, welche beide von Aleksandr Nevskij abgewehrt werden konnten. Vgl. Martin, Medieval Russia, S. 181. 186 Holme ist auf einer Dünainsel zwischen Üxküll und Riga gelegen. Vgl. Heinrici Chronicon Livoniae. In: Arbusow, Leonid und Bauer, Albert [Hrsgg.]: Heinrichs Livländische Chronik. 2. Aufl. MGH SS rer. Germ. Bd. 31. Hannover 1955, S 3. FN 6. 187 Benninghoven, Schwertbrüder, S. 19; Hellmann, Manfred: Meinhard. In: NDB, Bd. 16, Maly – Melanchton. Berlin 1990, S. 665. 188 Heinrici Chronicon Livoniae, Cap. I, 6. Vor dem Bau der Burg Üxküll wurde ein Teil des Volkes getauft, die Gesamtheit gab das trügerische Versprechen ab, sich danach taufen zu lassen. Nach Errichtung der Burg erlitten die Getauften einen Rückfall, die noch nicht Wiedergeborenen verweigerten den Glauben anzunehmen. 189 Diese Schreibweise bei Benninghoven, Schwertbrüder, S. 37 sowie Lübke, Östliches Europa, S. 334. Albert von Buxhövden stammte aus einem Bremer Ministerialengeschlecht (Bexhövede bei Geestemünde) und wurde 1199 zum Bischof von Livland geweiht. Nach der Gründung Rigas verlegte er den Bischofsitz von Üxküll dorthin und war bis zu seinem Tod 1229 Bischof von Riga. 1207 wurde er als Reichsfürst von König Philipp mit Livland belehnt. Bischof Albert schien eine Art Kirchenstaat an der Ostsee errichten zu wollen. Vgl. Laakmann, Heinrich: Albert I. In: NDB, Bd. 1, Aachen – Behaim. Berlin 1953, S. 130. 51

Legitimierung von Gebietseinverleibungen. Im Jahr 1201 gründete Albert Stadt und Bistum Riga. Mit Billigung des Papstes Innozenz III. förderte er 1202 die Gründung des Schwertbrüderordens (fratres milicie Christi de Livonia), der eigentliche Stifter war allerdings Theoderich von Treiden190. Die Schwertbrüder begannen ab 1207 mit ihren als Kreuzzüge bezeichneten Eroberungszügen. Dem neuen Orden war päpstlich zugesichert worden, dass ein Drittel des eroberten Gebietes an ihn fallen solle.191

190 Den Beinamen „von Treiden“ führte er nach der Landschaft Thoreida (lett. Turaida) am Unterlauf der livländischen Aa (let. Gauja). Im Schloß von Treyden (lett. Turaida) ist der Name erhalten.Um 1187 trat er als umtriebiger Mitarbeiter Bischof Meinhards von Üxküll in Erscheinung. Auch seinen Nachfolgern, namentlich Bischof Albert von Riga, war er eine wichtige Stütze in der (bewaffneten) Mission. Der Abt des Klosters Dünamünde wurde 1211 zum Bischof von Estland geweiht, stellte sich auf die Seite König Waldemars II. von Dänemark und fand 1219 in der Schlacht bei Reval gegen die Esten den Tod. Vgl: Johansen, Paul: Dietrich (Theodericus) von Treiden. In: NDB, Bd. 3, Bürklein – Ditmar. Berlin 1957, S. 692f; sowie Heinrici Chronicon Livoniae, MGH SS. rer. Germ. Bd. 31, S. 4 FN 4. 191 Kiaupa, Establishment, S. 47; Benninghoven, Schwertbrüder, S. 37, 39f; Lübke, Östliches Europa, S. 334f. 52

4.2. Erste Herrschaftsbildung und Königtum unter Mindaugas

4.2.1. Herkunft

Die politische Einigung der einzelnen kleineren litauischen Herrschaftsräume zu einem Großfürstentum gelang zum ersten Mal unter Mindowe (lit. Mindaugas). Sein Aufstieg war mit der Ausschaltung innerfamiliärer Konkurrenz verbunden und wohl von äußeren Einflüssen mitbestimmt. So stellte vor allem die Ankunft des Deutschen Ordens im Kulmerland und der Beginn der Schwertmission gegen die Prussen 1230/31, ebenso wie die Fusion mit dem Orden der Schwertbrüder im Jahre 1237 eine Gefahr für Litauen dar. Der Beginn des Mongolensturms im Osten hingegen entlastete Litauen vom Druck rus‟ischer Fürstentümer und ermöglichte im Gegenzug den Beginn der litauischen Ostexpansion.192 Das erste Mal tritt Mindaugas als Mitunterzeichner eines Abkommens in Erscheinung, welches 1219 von litauischen Fürsten193 mit dem Fürstentum Wolhynien geschlossen worden war. Über die familiäre Herkunft ist wenig bekannt, die Abstammung aus einem aukńtaitischen Fürstenhaus scheint wahrscheinlich194, vermutlich aus der Familie des ersten bekannten Großfürsten Ringaudas. Dieser wird in dem Vertrag von 1219 nur mittelbar genannt, als Vater zweier Teilnehmer, Mindaugas und dessen älterem Bruder Dausprungas. Auf Großfürst Ringaudas folgte nach 1219 der am Vertragswerk ebenfalls beteiligte Ņivinbudas, dessen familiäre Beziehung zu Ringaudas ist jedoch zweifelhaft bzw. ob eine solche überhaupt bestand, ist ungeklärt. Als Großfürst ist Dausprungas bis 1238 bezeugt, jenem Jahr in dem Mindaugas seine Nachfolge antrat. Mithilfe von Waffengewalt, politischen Morden, der Vertreibung von Rivalen und arrangierten Heiraten gelang es diesem, die großfürstliche Macht, welche er von seinem Vater Ringaudas und seinem Bruder Dausprungas geerbt hatte, zu sichern und zu festigen.195

192 Lübke, Östliches Europa, S. 342; Kiaupa, Establishment, S. 52f. 193 20 Fürsten und eine Fürstin treten als Unterzeichner auf, fünf der Fürsten gelten als „Große“, als Repräsentanten der einflußreichen aukńtaitischen Fürstentümer, welche die Politik des Großfürstentums bestimmten. Vgl. Rowell, Lithuania ascending, S. 50. 194 Hellmann, Großfürstentum, S. 739. In der Darstellung der Familienverhältnisse wird, wenn nicht anders angegeben, Kiaupa gefolgt. 195 Kiaupa, Establishment, S. 67; Rowell, Lithuania ascending, S. 50f, Für den Namen „Ringaudas“ für Mindaugas Vater abweichend von Kiaupa (er nennt die Möglichkeiten „Rimgaudas“ und „Ryngolt“): Rowell, Lithuania ascending S. xxxiii (Genealogical table 2: The ); sowie Giedroyć Michał: The Rulers of Thirteenth-Century Lithuania. A Search for the Origins of and his Kin. In: OSP n.s. Vol. XVII, Oxford 1984, S. 5 sowie http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (am 01.04.2013) 53

Abb. 5: Die familiären Verhältnisse Mindaugas’.

Mindaugas gelang es, eine beherrschende Zentralgewalt zu etablieren. Mit Beginn des 13. Jhdts. hatten sich die gesellschaftlichen Strukturen in Litauen dergestalt verändert, dass auch eine neue, direktere Herrschaftsstruktur erforderlich war. So verbreitete sich die Eigentumsform des „Allods“196, wo der Eigentümer über seinen Grundbesitz frei verfügen und diesen abgabenfrei vererben konnte. Dies behinderte zwar naturgemäß die Ausbreitung und Durchsetzung eines großfürstlichen Feudalwesens, dennoch konnte sich langsam eine grundbesitzende Adelsschicht herausbilden. Die zunehmende Differenzierung und Arbeitsteilung bedurfte einer ordnenden Hand. Zu guter Letzt hing auch die Expansionskraft Litauens von einer zentralen Führung ab, da sich mit aufgrund kurzfristiger Abkommen zusammengestellten Verbänden lediglich Beute-, aber

196 Bei Kiaupa und Nikņentaitis (siehe folgende FN) in der Bedeutung des sog. „Vollgut“ nach der Definition des „Allods“ für das deutsche Mittelalter. Vgl. Burmeister, Karl Heinz: Allod. In: LMA, Bd. 1, Sp. 440f. 54 keine Eroberungszüge unternehmen ließen. Dies betraf sowohl die Rus' als auch die Grenzgebiete zu den baltischen Nachbarn (Kuren und Semgalen).197

Das obige Beispiel der Vertragsunterzeichnung von 1219 zeigt, dass offensichtlich mehrere Entscheidungsträger auf höchster Ebene gemeinschaftlich handelten. Eine zentrale und letztgültige Entscheidungsgewalt scheint dem Großfürstenamt noch nicht innegewohnt zu haben.

4.2.2. Die Einigung Litauens durch Mindaugas

Der für Litauen siegreiche Ausgang der Schlacht bei Ńiauliai 1236198 war eigentlich ein Sieg der autonom handelnden Ņemaiten unter Fürst . Aukńtaitische Große hatten sich daran nicht beteiligt.199 Der Sieg von Ńiauliai kam also für den Gründungsmythos eines vereinigten Litauen unter aukńtaitischer Führung nicht in Frage.

Mindaugas musste seinen Führungsanspruch mit Gewalt durchsetzen und schreckte auch vor der Ermordung bzw. Vertreibung potentiell gefährlicher politischer Gegner nicht zurück. Dass auch Verwandte unter den Mordopfern waren, lässt sich zumindest nicht ausschließen. Als Gegner der Oberhoheit Mindaugas' traten neben Vykintas von Ņemaiten auch früh Mindaugas' Neffen und Edivydas auf. Schwächere Fürsten brachte er dazu, sich ihm anzuschließen. Als Vasallen sind Parbus aus dem Land der Neris, Gerdenis von Nalńia, Bikńys und Ligeikis von Deltuva und Sirvydas Ruńkaitis bekannt. Gleichzeitig gelang es ihm, Familienbande für seine Zwecke zu nutzen. Unterstützung und Anerkennung seiner Herrschaft erfuhr Mindaugas von den Ehemännern seiner beiden Schwestern. Die aus diesen Eheverbindungen hervorgegangenen Neffen und von Nalńia waren ihm eine verlässliche Stütze bei der Etablierung seiner Herrschaft.200

197 Kiaupa, Establishment, S. 52; Nikņentaitis, Alvydas: Litauen unter den Großfürsten Gedimin (1316-1341) und Olgerd (1345-1377). In: Löwener, Marc [Hrsg.]: Die „Blüte“ der Staaten des östlichen Europa im 14. Jahrhundert. (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, Bd. 14), Wiesbaden 2004, S. 70. 198 Mit dieser Schlacht endete der von Papst Gregor IX. 1236 ausgerufene Kreuzzug gegen die Schemaiten im Fiasko. Der völlig aufgeriebene Orden der Schwertbrüder wurde in der Folge vom Deutschen Orden übernommen, ging in diesem auf und formte von nun an dessen livländischen Zweig. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 52f; Lübke, Östliches Europa, S. 342 sowie oben S. 36f. 199 Kiaupa, Establishment, S. 52, 54. 200 Kiaupa, Establishment, S.53f. 55

Wann genau Mindaugas seine Macht zu konsolidieren begann, ist unklar. Vieles spricht dafür, dass er bereits vor Antritt der Nachfolge Dausprungas im Jahre 1238 aktiv an der Ausweitung seiner Machtbasis gearbeitet hatte. Über den Übergang der Herrschaft auf Mindaugas sowie über die Todesumstände Dausprungas gibt es keine Berichte. Somit könnte Mindaugas die Nachfolge friedlich nach Dausprungas natürlichem Tode angetreten haben. Die lange und intensive Feindschaft mit den Söhnen seines verstorbenen Bruders sowie die Skrupellosigkeit Mindaugas' in anderen Belangen lassen allerdings auch anders geartete, weniger positive Spekulationen zu.

Seit den 1230ern waren die Fürsten von Nalńia Verbündete Mindaugas'. Die Gebiete von Deltuva und Upytė sowie das Land an der Neris standen um 1244/45 bereits unter der tatsächlichen Herrschaft von Mindaugas, nicht bloß unter der nominellen Leitungsmacht des Großfürsten. Der nordwestliche Teil Ņemaitens unter Vykintas dürfte zumindest während der Kämpfe des Großfürsten in Kurland auf seiner Seite gestanden haben. Um 1245 war Mindaugas als Großfürst unbestritten, hatte die Herrschaft über beinah ganz Litauen erlangt und war bereits expansiv in Richtung Süden nach Schwarzrußland mit Grodno (weißruss. Hrodna, lit. Gardinas) und (weißruss. Nawahradak, lit. Naugardukas)201 und im Osten Richtung Minsk vorgestoßen. Seine Macht wurde auch in Schalauen (lit. Skalva), Nadrauen (lit. Nadruva) und von den Jatwingern (lit. Jotvingiai) im nördlichen Sudauen (lit. Sūduva), wenn auch vermutlich bloß nominell, anerkannt. Nur das notorisch aufsässige Ņemaiten bildete noch einen Unruheherd. Vykintas war als selbstbewusster Fürst ein erbitterter Widersacher der Zentralmachtsidee gewesen, die volle Kontrolle über Ņemaiten konnte Mindaugas daher nur durch dessen machtpolitische Kaltstellung erringen. Auch wenn bei Tautvilas und Edivydas die Möglichkeit bestand, dass sich die beiden dem Supremat ihres Onkels unterworfen hätten, stellten sie allein durch ihre Präsenz für Mindaugas' Alleinherrschaft eine stete Gefahr dar. Er konnte es also nicht dulden, dass die Erben Dausprungas im Lande blieben, hätten doch auch sie einen legitimen Machtanspruch erheben können. Spätestens 1248 ist die Vertreibung des Vykintas von Ņemaiten nebst seiner Neffen202 Tautvilas und Edivydas in die Rus' anzusetzen.

201 Hellmann nennt um 1250 Vaińvilkas als Statthalter in Novogrudok, Roman Danilovič für das restliche Schwarzrussland. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 740. 202 Vykintas von Schemaiten war der Schwager Dausprungas', somit deren Onkel mütterlicherseits, wohingegen Mindaugas deren Onkel väterlicherseits war. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 53 sowie Abb. 5. 56

Mindaugas zog deren ņemaitische Ländereien ein und vereinte so das gesamte litauische Kernland erstmals in einer Hand.203

Karte 5: Die baltischen Stämme um 1200.

203 Kiaupa, Establishment, S. 54-56. 57

Die Kämpfe mit Tautvilas

Die Vertriebenen fanden vorübergehend Zuflucht bei Fürst Daniel von Galič, dem Schwager von Tautvilas und Edivydas. Mit Unterstützung des Fürsten konnte Vykintas Jatwinger und einen Teil der Ņemaiten für den Kampf gegen Mindaugas gewinnen. Mit dem livländischen Ordenszweig des Deutschen Ordens gelangte er zu einer Verständigung. Mit Galičer Truppen unternahm wiederum Tautvilas regelmäßig Plünderungszüge in schwarzruthenische Gebiete und hinterließ eine Spur der Verwüstung.204

Im Jahre 1248 oder 1250 empfing Tautvilas als erster litauischer Fürst durch Bischof Nikolaus von Riga die lateinische Taufe und versprach, sein Fürstentum Polozk, das er inzwischen erlangt hatte, der lateinischen Mission zu öffnen.205

Der livländische Ordenszweig führte in dieser Zeit zwei Kampagnen gegen Litauen durch, im Zuge derer sowohl das Gebiet von Nalńia als auch der zu Mindaugas stehende Teil Schemaitens verwüstet wurden.206

Da der livländische Orden und der Bischof von Riga in steter Konkurrenz zueinander standen, nützte Mindaugas geschickt die Uneinigkeit seiner Gegner für seine Zwecke aus. Die Unterstützung Tautvilas durch Bischof Nikolaus trieb den Orden zu einer Verhandlungslösung mit seinem litauischen Rivalen. Ordensmeister Andreas von Stirlant kam hierbei mit dem Großfürsten überein, ihm die Königswürde und -krone zu verschaffen, sollte dieser mit seinem Volk zum lateinischen Christentum übertreten. Die 1251 erfolgte Taufe Mindaugas' veränderte das Machtgefüge erheblich. Der Deutsche Orden war über seinen livländischen Zweig zum Verbündeten des Großfürsten von Litauen geworden, der Bischof von Riga war politisch kaltgestellt. Tautvilas begab sich zu seinem Onkel Vykintas nach Schemaiten. Noch im selben Jahr führten die Schemaiten einen Zug gegen Mindaugas und belagerten dessen Burg Voruta, deren Eroberung scheiterte indes. Nun zog Mindaugas seinerseits gegen Vykintas, die Belagerung dessen Burg Tverai blieb jedoch – quasi spiegelbildlich – ebenfalls ohne Erfolg. Doch hatte der Großfürst die militärische Initiative

204 Kiaupa, Establishment, S. 56; Lübke, Östliches Europa, S. 342. 205 Hellmann, Litauen, S. 16f; Ders., Großfürstentum, S. 740; Kiaupa, Establishment, S. 56. 206 Kiaupa, Establishment, S. 56. 58 wieder an sich reißen können, woraufhin die Jatwinger und Schemaiten in sein Lager wechselten.207 Tautvilas begab sich 1252 wiederum zu seinem Schwager Daniel von Galič. Die Kämpfe in Schwarzruthenien zogen sich daraufhin in die Länge, Mindaugas Sohn Vaińvilkas trat als Unterhändler auf und vermittelte 1254 den Friedensschluss. Mindaugas' Tochter wurde mit Ńvarn, dem Sohn des Galičer Fürsten Daniel, verheiratet, Schwarzruthenien mitsamt Novogrudok ging an Roman, einen weiteren Sohn Daniels.208

Mit Tautvilas war es anscheinend zu einer Versöhnung gekommen, wird er doch Fürst von Polozk, einem Gebiet unter dem Einfluss Litauens209. Der zu diesem Zeitpunkt schon orthodoxe Christ Vaińvilkas zog sich nach dem Erfolg seiner Vermittlungsmission als Mönch ins Kloster zurück.210

4.2.3. Die Taufe Mindaugas' und die Kirchenorganisation in Litauen

Mindaugas, der vermutlich aus dem nördlichen Aukńtaiten stammte und seinen Sitz in Kernavė hatte, trat 1251 mit dem livländischen Landmeister des Deutschen Ordens Andreas von Stirlant in Kontakt, um seine Absicht zu verkünden, zum lateinischen Glauben zu konvertieren. Im Zuge der Konversion sollte auch die Krönung zum König von Litauen vorgenommen werden, Bischof Heidenreich von Kulm wurde hierzu von Papst Innozenz IV. beauftragt.211 Doch erst im Sommer 1253 konnte die Krönung212 vorgenommen werden, da eine Gruppe innerhalb des Deutschen Ordens eine Einigung mit den Litauern zu hintertreiben versuchte.213 Laut Bericht der Livländischen Reimchronik wurden für Mindaugas und dessen Gemahlin Martha in Riga zwei Kronen im Auftrag des livländischen Landmeisters angefertigt, anschließend begaben sich Andreas von Stirlant und Bischof Heidenreich nach Litauen, um die Taufe und die Krönung des Herrscherpaares vorzunehmen: „der meister liez

207 Kiaupa, Establishment, S. 56f. 208 Kiaupa, Establishment, S. 57 209 Wann genau nun Tautvilas Fürst von Polozk wurde, lässt sich nicht feststellen. Der Einfluss Litauens in dem Fürstentum war in der zweiten Hälfte des 13. Jhdts. bedeutend, integraler Bestandteil Litauens wurde Polozk erst 1307. Vgl. Martin, Medieval Russia, S. 181, 226. 210 Kiaupa, Establishment, S. 57. 211 Hellmann, Litauen, S. 17. 212 Hellmann nennt im Gegensatz zu Kiaupa Novogrudok (lit. Naugardukas) als wahrscheinlichen Ort der Krönung. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 740 sowie Kiaupa, Establishment, S. 58 213 Hellmann, Litauen, S. 17. 59 dô machen/ mit vil rîchen sachen/ dem kunige Myndowen/ und Marthen sîner vrowen/ zwû crônen, gar von kunsten rîch.[…]dô sie quâmen in daz lant/ man toufte und wîhete zû hant/ den rîchen kunic Myndowen/ und Marthen sîne vrowen.“214 Im Gegenzug trat Mindaugas das strategisch für den Deutschen Orden wichtige Ņemaiten215 ab: „der kunic was der crône vrô./ dem meister gab er mit brîven dô/ rîchlîch in sîne hant/ rîche unde gûte lant/ in sîme kunicrîche sân.“216 Allerdings entpuppte sich dies als Danaergeschenk für den Orden, da schon Mindaugas das Gebiet nie wirklich zu beherrschen vermocht hatte. Neben der Tatsache, diesen Unruheherd losgeworden zu sein, mag auch die Überlegung mitgespielt haben dem langjährigen Widersacher Vykintas die Operationsbasis dauerhaft zu entziehen. Der Orden musste – letztlich erfolglos – versuchen, sich seine Schenkung selbst zu erobern, die Kämpfe mit den Ņemaiten brandeten bis zur endgültigen Lösung 1422 im Vertrag von Melnosee217 immer wieder auf.218

Die Konversion Mindaugas„ geht mit größter Wahrscheinlichkeit auf ihn zwingenden Umständen zurück und ist als politischer Schritt zu sehen. Nachdem sein Neffe Tautvilas bereits vom Rigaer Bischof getauft worden und zu Vykintas zurückgekehrt war, sah sich Mindaugas unter Zugzwang. Eine gegen Litauen gerichtete Koalition zwischen dem Bistum Riga, dem Fürstentum Galič-Wolhynien, dem Deutschen Orden und polnischen Bischöfen zeichnete sich ab. Ihr Ziel war es, das durch seine Einigung eine lokale Macht von Bedeutung bildende Großfürstentum Litauen zu zerschlagen. Sollten sich die einzelnen Parteien auch nicht zum gemeinschaftlichen Handeln verständigen können, so war doch mit einem Mehrfrontenkrieg zu rechnen. Im Zuge der Krise war auch mit einem erneuten Abfall der Ņemaiten und einem Seitenwechsel der Jatwinger zu rechnen. Durch seine Taufe, welche auch seine Familie und große Anzahl von Angehörigen seines Hofes umfasste, nahm Mindaugas den – zumindest vordergründig – von Bekehrung sprechenden Gegnern den Wind aus den Segeln. Mit der Verleihung der Königswürde durch den Papst war die Aufnahme in das Konzert der europäischen Herrscher verbunden. Durch geschickte Verhandlungen seines

214 Meyer, Leo [Hrsg.]: Livländische Reimchronik mit Anmerkungen, Namensverzeichnis und Glossar. Paderborn 1876, S. 82, Z. 3543–3547 und Z. 3559-3562. 215 Der Deutsche Orden versuchte selbst nach der Niederlage in der Schlacht bei Tannenberg 1410 weiterhin Schemaiten unter seine Kontrolle zu bringen, um damit die ersehnte Landverbindung zwischen den Ordensländern Preußen und Livland herzustellen. Eine stabile und dauerhafte Oberhoheit konnte jedoch nie errichtet werden. Vgl. Hellmann, Litauen, S. 18. 216 Meyer, Livländische Reimchronik, S. 82, Z. 3563-3567. 217 Lückerath, C.A.: Melnosee. In: LMA, Bd. 6, Sp. 502. 218 Hellmann, Litauen, S. 17f. 60

Sohnes Vaińvilkas mit Daniel von Galič und dem Arrangement einer politischen Heirat zwischen Daniels Erben Ńvarn und Mindaugas' Tochter konnte der langjährige Konflikt mit dem Fürstentum im Süden gelöst werden. Die Aussöhnung mit Tautvilas und dessen Präsenz in Polozk waren ebenfalls im Interesse Mindaugas, da dieser letzte Puzzlestein die Stabilität des von ihm geschaffenen Einheitswerkes zu sichern versprach.

Die Umsetzung der Christianisierung im Inneren des nunmehrigen Königreichs Litauen war naturgemäß mit großen Schwierigkeiten verbunden. Bis zur Wende Mindaugas' zum Katholizismus war Litauen ein vom Heidentum geprägtes Land. Das lateinische Christentum war bisher die Religion des Feindes gewesen und wurde im umkämpften Ņemaiten und anderen von Verheerungen heimgesuchten Regionen stets mit Feuer und Schwert gepredigt.219 Kirchliche Aktivitäten im benachbarten Polen hatten bislang keine Auswirkungen auf Litauen gezeitigt.

Dennoch ließen sich die ersten Schritte zur Christianisierung des Landes vielversprechend an. Mindaugas hatte in den zwei Jahren seit seiner Taufe an der Erbauung einer repräsentativen Kathedrale in Vilnius220 gearbeitet. An der Stelle eines heidnischen Heiligtumes221 errichtet sollte sie den Rahmen für seine feierliche Krönungszeremonie darstellen und darüber hinaus fürderhin als Sitz des Bischofs von Litauen dienen. Weiters bestätigte der Papst die Übereinkunft zwischen Mindaugas und dem livländischen Landmeister und errichtete Litauen als exemtes, direkt dem Papst unterstehendes Bistum.222 Somit war die Diözese von Litauen von der benachbarten Rigaer Diözese unabhängig. Durch die Intrigen des Bischofs von Riga wurde allerdings die Weihe eines Bischofs für Litauen verzögerte.223

So wurde 1253 das Bistum Litauen gegründet und der aus dem Deutschen Orden kommende Priester Christian zum Bischof bestellt, die Weihe erfolgte 1254. Die Bischöfe von Riga, Ösel und Kulm wurden angewiesen, das neugegründete Bistum bei der Mission zu unterstützen.

219 Die Bischöfe von Riga brachen die friedliche Mission wegen mangelnden Erfolges bald ab und entschieden sich, gestützt durch die Gründung eines eigenen Ritterordens (der Schwertbrüder), für die Schwertmission. 220 Zur Fundgeschichte und Ausgrabungen in der Kathedrale von Vilnius, welche auf einen heidnischen Kultplatz sowie auf einen im 13. Jhdt. errichteten Kirchenbau verweisen vgl: Kajackas, Algimantas: The History and recent archaeological Investigations of the Vilnius Cathedral. In: Dundzila, Antanas [Hrsg.]: Lituanus. Lithuanian Quarterly Journal of Arts and Sciences. Vol. 36, No. 1, Spring 1990. http://www.lituanus.org/1990_1/90_1_04.htm (01.04.2013). 221 Kiaupa, Before Christianization, S. 95. 222 Hellmann, Litauen, S. 18. 223 Es ist wohl davon auszugehen, daß sich der Bischof von Riga berechtigte Hoffnungen auf die kirchliche Leitung der neuen Diözese gemacht hatte. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 58f. 61

Erzbischof Fulko von Gnesen setzte für Sudauen und Südwestlitauen einen eigenen Gegenbischof namens Vitus ein, wohl um den Einfluss seiner Diözese im Grenzgebiet zu Litauen zu sichern.224 Dem Vorhaben war allerdings kein Erfolg beschieden, schon 1255 nahm der Papst die Abdankung Bischof Vitus' entgegen.

Karte 6: Litauen zur Zeit Mindaugas‘.

224 Hellmann, Litauen, S. 18. 62

Mindaugas stattete das litauische Bistum mit der Hälfte der Landschaften Nassegene, Betegallen und Lokowe aus.225 Nachdem Bischof Christian aber nicht über die Mittel verfügte, den Zehent in diesen in Schemaiten gelegenen Ländereien selbst einzutreiben, gab er dieses Recht, in den betroffenen Ländereien den Zehent zu erheben, sowie an allen bereits ergangenen oder in Zukunft noch zu ergehenden Schenkungen an den Livländischen Orden weiter und behielt sich nur die geistlichen Rechte vor.226 Es scheint, dass die Durchsetzung des Christentums in Litauen dem Bischof allein oblag. Außer der Kathedrale in Vilnius sind kaum Aktivitäten zur Christianisierung seitens des Großfürsten erkennbar. Mindaugas verfügte zwar über einen Beichtvater und bediente sich einiger Geistlicher, um seinen Hof nach westlichem Vorbild aufzubauen. Aber über die Ausbildung einheimischer Priester, den Bau weiterer Kirchen oder flächendeckende Missionierung ist nichts bekannt. Auch schien die Bevölkerung abseits des Umfeldes von Mindaugas einem Religionswechsel ablehnend gegenübergestanden zu haben, nicht zuletzt deshalb, da die Vermittler und Repräsentanten der neuen Religion aus den Reihen des bisher feindseligen Deutschen Orden stammten.227 Bischof Christian selbst ist für das Jahr 1259 in Litauen schon nicht mehr nachzuweisen und tritt ab 1268 als Weihbischof von Naumburg in Erscheinung.228

4.2.4. Das kurzlebige litauische Königreich

Der Wandel des heidnischen Großfürstentums Litauen zu einem katholischen Königreich brachte für Mindaugas eine Reihe von Vorteilen. Zunächst erreichte er damit die unumstrittene Anerkennung als gleichberechtigter Herrscher unter den westeuropäischen Großen, und in der Folge auch die Stellung als Vasall des Papstes, die Exemtion des Bistums Litauen sowie die päpstliche Bestätigung der Erblichkeit der Königswürde für seine Nachkommen.229 Diesen Prestigegewinn musste sich Mindaugas jedoch durch Zuwendungen an den Deutschen Orden erkaufen. Bereits 1253 war es zur Abtretung eines großen Teiles von Ņemaiten gekommen, 1254 zu der bereits erwähnten Schenkung an Bischof Christian und in

225 PrUB I,1. 284, o.O., 12. März 1254. Laut Kiaupa handelt es sich dabei um die heutigen Gebiete bzw. Ortschaften Raseiniai, Ariogala, Betygala, Laukuva. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 59. 226 PrUB I,1. 286, Riga, 6. April 1254. 227 Kiaupa, Establishment, S. 59. 228 Maņeika spezifiziert diesen Umstand nicht näher, sondern spricht von einem Posten in Deutschland, den Christian ab 1259 innehatte und von Christians Tod 1270. Vgl. Maņeika, Rasa: When Crusader and Pagan agree. Conversion as a Point of Honour in the Baptism of King Mindaugas of Lithuania (ca. 1240-63). In: Murray, Allan V. [Hrsg.]: Crusade and Conversion on the Baltic Frontier. 1150 – 1500. Adlershot u.a. 2001, S. 212. 229 Explizit ist von einem Sohn Mindaugas' die Rede. Vaińvilkas kann mit Sicherheit ausgeschlossen werden, da er zu diesem Zeitpunkt bereits wieder in einem orthodoxen Kloster weilte. Vgl. PrUB I,1 310, Neapel vom 6. März 1255. 63 den Jahren 1255 sowie 1259 zu weiteren großflächigen Abtretungen an den Orden. Da Mindaugas in den genannten Regionen meist nur über eine nominelle Gebietshoheit verfügte, hatte der Orden für die Durchsetzung seiner Ansprüche selbst Sorge zu tragen.

Dadurch, dass er sich des Wohlwollens des Deutschen Ordens, insbesondere des livländischen Zweiges, versichert hatte, konnte der litauische König eine Periode relativen Friedens an der Westgrenze seines Reiches einläuten. Der Orden eröffnete Kontakt zur Kurie und zur europäischen Diplomatie, Litauen profitierte durch neue Handelsbeziehungen und dem Zugang zu neuen Technologien wie bspw. dem Ziegelbau.230 Durch seine Monopolstellung fungierte der Orden aber auch als alleiniger Mittler zwischen Litauen und dem Rest des lateinischen Europa, und nutzte dies zu seinen eigenen Gunsten.

Gegenüber Polen und speziell Masowien blieb Litauen bei der bewährten Taktik, zusammen mit den Jatwingern Plünderungszüge zu unternehmen. Von polnischer Seite wurden im Gegenzug Kreuzzugsbullen gegen die Jatwinger und die mittlerweile offiziell katholisierten Litauer angestrengt. Militärische Stärke und der neue Status als Königreich machten Litauen zu einer mittleren Regionalmacht. Nun galt es, die Gunst der Stunde zu nutzen und das eigene Gewicht durch Gebietsvergrößerungen zu verstärken. Als Betätigungsfeld für Eroberungszüge boten sich die durch den Mongolensturm geschwächten rus'ischen Fürstentümer an.231

1255 erlangte Mindaugas die päpstliche Bestätigung des Besitzes der im Kampf gegen die Rus' im Osten bisher eroberten Gebiete, mit dem Zusatz, auf das „wenn er sie innehalte, die benachbarten Heiden umso leichter unterworfen und bekehrt werden könnten“.232

Gestärkt durch diese päpstliche Billigung seines Vorgehens in der Rus' und der durch den relativen Frieden im Westen erreichten Rückenfreiheit konnte sich Mindaugas weiteren Expansionsbestrebungen widmen. Mit Stoßrichtung Süden und Südosten rückten litauische Heereszüge immer weiter bis an den Dnjepr in jene Teile der Rus' vor, welche unter der Oberhoheit der Goldenen Horde standen. Ziel war es, Polozk zu erobern und vor allem Richtung Brjansk und Černigov an der Desna vorzustoßen. Durch dieses Eindringen der

230 So wurden bspw. der Kirchenbau unter Mindaugas in Vilnius sowie die Burgen von , Medininkai, Krėva und Lyda vermutlich in der zweiten Hälfte des 13. Jhdts. in Ziegelbauweise errichtet. Vgl. Kajackas, Vilnius Cathedral, http://www.lituanus.org/1990_1/90_1_04.htm (01.04.2013). 231 Lübke, Östliches Europa, S. 342. 232 PrUB I,1 311, Neapel vom 6. März 1255. 64

Litauer in ihren Herrschaftsbereich provoziert, führten die Tataren 1259 eine Strafexpedition gegen litauische Gebiete und verheerten diese. Auch im restlichen Europa befürchtete man einen neuerlichen Mongolensturm. Kreuzzüge gegen die Tataren wurden ausgerufen233, blieben jedoch ohne konkrete Taten und Folgen. Litauen erhielt von den katholischen Mächten keine Hilfe und musste den Angriffen der Horde allein widerstehen. Daher sind bis auf Polozk keine großen dauerhaften Gebietsgewinne unter Mindaugas zu verzeichnen.234

Die innere Struktur des Königreichs Litauen bleibt vage. Festzustellen ist, dass Mindaugas gewissermaßen über eine „Hausmacht“, gebildet aus seinem Vatererbe und der großfürstlichen Domäne, verfügte. Verwalter der königlichen Ländereien und Burgen wurden vom König ernannt. Deren Aufgaben - wie z.B. die Verwaltung des königlichen Besitzes, Empfang, Unterbringung und Verpflegung des Königs und dessen Gefolge, etc. - sprechen für das Bestehen eines Reisekönigtums. Der Standort von Mindaugas' sagenhafter Burg Voruta wurde bisher nicht gefunden.235 Als sein Hauptsitz werden Novogrudok, Kernavė oder Vilnius gehandelt.236 Allerdings wäre es auch möglich, das alle diese Burgen gleich Kaiserpfalzen im Heiligen Römischen Reich nur für einen begrenzten Zeitraum als Hauptsitz fungierten, bevor der König seinen Sitz wieder verlegte. Für diese These würde auch die Ansicht einiger Sprachwissenschaftler sprechen, „voruta“ sei keine Ortsbezeichnung, sondern würde bloß allgemein „Burg“ bzw. „Festung“ bedeuten.237

Inwieweit die Einhebung des Zehent in Litauen, sei es für weltliche, sei es für religiöse Herren verbreitet war, lässt sich nicht belegen.238 Selbiges gilt für die Pflicht zur Heerfolge, wiewohl das Bestehen einer solchen sehr wahrscheinlich ist. Die Hauptlast an Abgaben hatten die einzelnen Lokalfürsten zu tragen, ihnen oblag es auch, das königliche Aufgebot zu stellen.

233 So bspw. 1260 von Papst Alexander IV. der Aufruf an König Ottokar II. von Böhmen und den Markgrafen von Brandenburg. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 741. 234 Hellmann, Großfürstentum, S. 740f; Kiaupa, Establishment, S. 60f. 235 Von Sprachwissenschaftlern wird auch die These vertreten, „Voruta“ bedeute ganz allgemein „Burg“ bzw. „Festung“. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 63. Tomas Baranauskas hingegen vertritt die These, der wahrscheinlichste Standort Vorutas sei im heutigen Ńeimynińkėliai zu finden. Vgl: http://viduramziu.istorija.net/pilys/baranauskas01-en.htm (22.05.2013). 236 Für jeden einzelnen dieser Standorte sprechen zwar gute Gründe, es fehlen aber hinlängliche Beweise. Novogrudok z.B. wird als Hauptsitz von Vaińvilkas und Roman Daniilovič genannt. Vilnius hingegen hatte als Bischofssitz eine herausgehobene Stellung. Kernavė wiederum scheint ein bedeutendes Zentrum gewesen zu sein, in welchem Mindaugas ursprünglich seinen Sitz gehabt hatte. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 63. 237 Kiaupa, Establishment, S. 61, 63. 238 Siehe S. 62f, Bischof Christian von Vilnius war es nicht möglich, den ihm zustehenden Kirchenzehent auch einzutreiben. 65

Ņemaiten verfügte insofern über eine Sonderstellung, als die Zentralmacht hier nicht durchzusetzen war. Die Übereignung der Ländereien an den Deutschen Orden war somit rechtlich nicht bindend, da der Großfürst nie die volle Verfügungsgewalt innehatte.

Das Gebiet der Jatwinger stellte ebenfalls einen Sonderfall dar, als Litauen, Deutscher Orden, Galič-Wolhynien und Masowien dort um Einfluss und Macht buhlten. Für Litauen war es nicht möglich, das gesamte Sudauen in seinen Herrschaftsbereich einzugliedern, die nördlichen Gebiete der Jatwinger standen aber immer mehr in litauischer Abhängigkeit. In Schwarzruthenien konnte Litauen seinen Machtbereich am deutlichsten erweitern, zunächst unter Vaińvilkas, ab 1254 unter Roman, dem Sohn des Fürsten Daniel von Galič. Die Gebiete von Schalauen (lit. Skalva) und Nadrauen (lit. Nadruva) anerkannten wohl auch zur Zeit des Königreichs Litauen nur die nominelle Herrschaft Mindaugas'. Die tatsächliche Machtausübung dürfte dort kaum möglich gewesen sein, konnte sich Litauen doch auch in Ņemaiten und Sudauen (lit. Sūduva) nicht bzw. nur teilweise durchsetzen. Für Kiaupa scheint es wahrscheinlich, dass Mindaugas auch die benachbarten baltischen Völker unter seiner Krone einen wollte, das Königreich Litauen sich dafür aber als zu schwach erwies.239

4.2.5. Der Kampf Žemaitens gegen den Deutschen Orden

Die Region Ņemaiten war 1253 zu großen Teilen an den Livländischen Orden abgetreten worden. Mindaugas wurde damit einen oppositionellen Unruheherd los, dem Orden blieb es selbst überlassen, seine Herrschaft durchzusetzen. Das Volk der Ņemaiten unterwarf sich nicht aus freien Stücken, sondern verteidigten Glaube und Freiheit vehement. Über eine geheime Unterstützung durch Mindaugas in den späten 1250ern kann nur spekuliert werden. Vor allem die Ordensburg bei Memel (lit. Klaipėda) war in den 1250ern heiß umkämpft, bildete sie doch die Ausgangsbasis für die geplante Eroberung Ņemaitens.240 Angriffe der Semben241 und Ņemaiten blieben jedoch erfolglos. 242

239 Kiaupa, Establishment, S. 61f. 240 Hellmann, Großfürstentum, S. 740. 241 Bei den Semben handelt es sich um einen auf der Halbinsel Samland lebenden Stamm der Balten. Vgl. Gimbutas, Balts, S. 23, 25. 242 1253 griffen Semben und Schemaiten gemeinsam die Memelburg an, im Jahr darauf die Semben, 1257 die Schemaiten jeweils allein. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 63. 66

Die Ņemaiten organisierten ihren Widerstand unter ihrem neuen Fürsten Algminas und änderten ihre Strategie dahingehend, als sie in den Jahren zwischen 1256 und 1258 erfolgreich den Krieg von Ņemaiten in das dem Orden zugehörige Kurland trugen. Nach der Schlacht von bei Johannesberg/Scoden (lit. Skuodas) 1258 formierte sich unter den Kuren schließlich ein Aufstand gegen den Orden, und mit Unterstützung der Ņemaiten konnten auch die Semgaler die Ordensherrschaft abschütteln. Mit Errichtung der Georgenburg in Karńuva243 1259 suchte der Orden wieder die Initiative zu gewinnen. Die Kämpfe 1260 kulminierten jedoch in der verheerenden Niederlage des Livländischen Ordens bei Durben (lett. Durbe) in Südkurland. Dieser Sieg gegen den Orden und das positive Beispiel der Semgaler und Kuren, welchen es beiden gelungen war, die Ordensherrschaft zu brechen, bewegte auch die Prussen zum Aufstand. Die lang andauernde Große Prussische Rebellion (1260–1274) band alle Kräfte des Ordens, folglich waren in den nächsten Jahren großangelegte Operationen gegen Ņemaiten, Kuren und Semgalen nicht durchführbar.244 Der Orden verfügte aber über genügend Mittel, um die Reste seiner Herrschaft im livländisch-litauischen Grenzraum zu konsolidieren. Die Kräfte der Ņemaiten reichten nicht hin, den Orden endgültige zu überwinden, sie mussten sich trotz weiterer Siege aus Kurland zurückziehen.245

Über ihren Verbündeten Treniota, den Neffen des litauischen Königs, traten die ņemaitischen Fürsten mit Mindaugas in Kontakt. Sie boten an, sich der Herrschaft Mindaugas' zu unterwerfen, sollte sich dieser mit ihnen gegen den Deutschen Orden stellen. Die starke heidnische Opposition Litauens zeigte sich diesen Plänen gegenüber naturgemäß aufgeschlossen. Für den König galt es nun, abzuwägen: zum Einen schien die mindaug'sche Idee der Vereinigung der baltischen Stämme unter einem Herrscher dadurch Chancen auf Realisierung zu haben, zum anderen war ein Bruch mit dem Orden gleichbedeutend mit einem Bruch mit dem lateinischen Christentum und der erneuten Feindschaft des Ordens. Nicht zuletzt wären Kräfte, welche für die litauische Expansion in der Rus' gebraucht wurden, im Westen gebunden.

Fraglich ist, inwieweit der litauische König überhaupt eine Wahl hatte. Die heidnisch- oppositionellen Kräfte in Litauen waren stark und Mindaugas' Herrschaft stützte sich nicht auf das Christentum, sondern auf die Autorität, die er unter den Stämmen genoss. Diese Autorität

243 Heute: Majowka im Oblast Kaliningrad, Russland. 244 Hellmann, Großfürstentum, S. 741. 245 Kiaupa, Establishment, S. 63f. 67 wäre durch ein Festhalten an der Verbindung zum Deutschen Orden und damit zu den christlichen Feinden empfindlich geschwächt worden.246

Mindaugas' Eintritt auf Seiten der Ņemaiten hatte in Litauen eine heidnische Reaktion zur Folge. Der König verwies alle Deutschen und alle Geistlichen seines Hofes, im Inneren bekämpfte er die prodeutsche Friedensfraktion. Eine antideutsche Allianz nahm Formen an, neben Ņemaiten und Litauen standen nun auch Novgorod und die Fürstentümer an der Düna – Polozk und Vitebsk - im Krieg mit dem Deutschen Orden, der prussische Aufstand dauerte weiter an. Zu einem gemeinsamen Angriff gegen den livländischen Ordenszweig kam es zwar nicht, doch führten die Litauer 1261 und 1263 Kampagnen gegen den Orden, Novgorod griff 1263 das Ordensgebiet gemeinsam mit Tautvilas von Polozk an.247

Während Mindaugas die Operationen gegen die Rus' weiterverfolgte, bewährte sich sein Neffe Treniota im Kampf an der Westfront gegen den Deutschen Orden. So führte er 1262 eine erfolgreiche Kampagne gegen Masowien und den Deutschen Orden, in deren Folge sich Masowien aus dem Bündnis gegen Litauen zurückzog und Frieden suchte. Weiters konnte er 1263 bei Dünamünde (lit. Daugavgryva) einen erneuten Sieg über den Orden erringen. Durch siegreiche Feldschlachten allein konnte der Orden jedoch nicht bezwungen werden. Jedoch vermochte die antideutsche Koalition nicht, das Netz von Ordensburgen zu durchbrechen. Gegen Semgalen und Kuren ergriff der Orden gar wieder die Offensive.

Zu einem Zerwürfnis zwischen Mindaugas und Treniota dürfte es schließlich gekommen sein, da einerseits die Situation in Livland festgefahren war bzw. der Orden sich wieder stabilisieren konnte, andererseits Mindaugas Streitkräfte im Kampf gegen die Rus' band, so z.B. 1262 bei Kämpfen in Wolhynien oder 1263 bei einem Zug gegen Brjansk.248

4.2.6. Verschwörung gegen Mindaugas und dessen Tod

Mindaugas lieferte seinen Gegnern im Jahre 1262 einen letzten Grund für ein Komplott. Nach dem Tod seiner Frau Martha nahm er deren Schwester zur Frau, die bereits mit Fürst

246 Kiaupa, Establishment, S. 64f. 247 Kiaupa, Establishment, S. 65 248 Kiaupa, Establishment, S. 66; Fennell, Emergence, S. 70 FN 2. 68

Daumantas von Nalńia verheiratet war.249 Daumantas ließ daraufhin im Herbst 1263 Mindaugas mit zwei seiner Söhne ermorden. Mindaugas Neffe Treniota übernahm die Macht im Großfürstentum. Da der Auftraggeber des Mordes unbehelligt blieb, wird angenommen, daß es ein Übereinkommen zwischen den beiden gab.250 Das erste und einzige litauische Königtum fand damit ein vorzeitiges Ende.251

Die Familienverhältnisse des ersten litauischen Königs waren wie nach seinem Tod ebenso verworren wie zu seinen Lebzeiten. Mindaugas hatte vermutlich drei Frauen. Über die erste ist praktisch nichts bekannt, doch mußte es vor Martha, der Königin, eine andere legitime Eheverbindung Mindaugas„ gegeben haben. Da Vaińvilkas 1254 bereits als Vermittler zwischen Mindaugas und Daniel von Galič tätig war und von ihm als orthodoxem Mönch die Rede ist, musste er bereits großjährig gewesen sein. Auch wurde zu dieser die Zeit namentlich nicht genannte Tochter Mindaugens an Ńvarn von Galič verheiratet, musste also in heiratsfähigem Alter gewesen sein. Martha ist vermutlich mit der Frau von Vismantas Bulionis identisch, der 1252 im Kampf von Mindaugas getötet worden war. Nicht klar ist, ab wann sie an Mindaugas„ Seite war.252 Gesichert ist, dass aus der Verbindung mit Martha mehrere Kinder hervorgingen, deren genaue Anzahl, Namen und Lebensdaten im Dunkeln bleiben.253 Wie bereits erwähnt, heiratete Mindaugas nach dem Tode Marthas deren Schwester, Daumantas„ von Nalńias Frau. Aus dieser Verbindung sind keine Nachkommen bekannt.

Unter den 1263 getöteten Söhnen musste auch der präsumtive Thronerbe254 gewesen sein, da in den nachfolgenden Thronkämpfen niemand mit entsprechender Legitimation den Herrschaftsanspruch stellte. Der Grund hierfür könnte aber auch darin gelegen haben, dass die päpstliche Bestätigung der Erbfolge im zum Heidentum auch offiziell zurückgekehrten Litauen kaum geeignet war, eine positive Wirkung zu erzielen.

249 Hellmann, Großfürstentum, S. 741 FN 15; Kiaupa, Establishment, S. 66, Pickhan, Gertrud: Gospodin Pskov. Entstehung und Entwicklung eines städtischen Herrschaftszentrums in Altrußland. (= Forschungen zur osteuropäischen Geschichte Bd. 47). Wiesbaden 1992, S. 133. 250 Kiaupa, Establishment, S. 66. 251 Traidenis, Pukuwer, und Gedimin werden zwar in den Quellen des Deutschen Ordens als „rex“ bezeichnet, jedoch wohl nur in machtpolitischem Sinne, dh. aufgrund ihrer Machtfülle, nicht im Sinne eines christlich-katholischen Königs mit päpstlichem Segen. Vgl. S. 75f. FN 275, FN 276, FN 278. 252 Hatte er wie 1262 bei Daumantas„ Frau Vismantas die Gemahlin noch zu dessen Lebzeiten geraubt? Oder war sie bereits Witwe, als Mindaugas sie ehelichte? 253 So werden bei Mindaugas Ermordung 1262 auch zwei seiner Söhne getötet. 1260 werden vier Söhne von Mindaugas erwähnt, 1261 fallen zwei Namen,, „Replys“ und „Gerstutis“, wenig später „Ruklys“ und „Rupeikis“. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 66. 254 Für welchen sich Mindaugas vom Papst die Krone sichern hatte lassen. Siehe oben, S. 63 FN 229. 69

4.2.7. Die Wirren der 1260er Jahre

In den dem Mordanschlag folgenden Unruhen konnte zeitweilig Traniât (lit. Treniota) die Führung im Großfürstentum einschließlich Ņemaitens übernehmen und so die Nachfolge seines Onkels antreten. Obwohl sich Treniota breiter Unterstützung erfreuen konnte, stellte Tautvilas eine Gefahr für seinen Herrschaftsanspruch dar. So ließ er Tautvilas ermorden, starb aber seinerseits bald darauf von der Hand eines ehemaligen Höflings Mindaugens. Der orthodoxe Mönch Vaińvilkas verließ sein Kloster für die Dauer von drei Jahren, um die Verhältnisse im Großfürstentum wieder zu ordnen und seinen Vater Mindaugas zu rächen.255 Er besetzte zunächst die schwarzruthenischen Gebiete, danach Litauen. Mithilfe seines Schwagers Ńvarn von Galič gelang es ihm, seine Herrschaft zu sichern. 1265 startete er einen Rachefeldzug nach Deltuva und Nalńia, um die Unterstützer der Verschwörung gegen Mindaugas zu bestrafen und zu verbannen. Daumantas von Nalńia gelang die Flucht nach Pskov, wo er sich orthodox taufen ließ und als Fürst Dovmont den Fürstenthron besteigen konnte.256 In den folgenden beiden Jahren unternahm er neben Einfällen in Livland auch Kriegszüge ins Land des Fürsten von Polozk, dem Litauer Gerdenis von Nalńia.257 Polozk konnte er 1267 unter seine Herrschaft bringen.258 Vaińvilkas verfolgte eine Politik des Ausgleichs, er bot dem livländischen Zweig des Ordens Frieden an und ließ die von Mindaugas und Treniota eingekerkerten Christen wieder frei. Nachdem er die Herrschaft an Ńvarn übergeben hatte, zog er sich 1267 wieder ins Kloster zurück, wurde aber im selben Jahr noch von Lev von Galič ermordet: „Dux Leo filius Danielis regis Rusie occidit Woyslaum filium Mendogi ducis Lithwanorum.“259

Ńvarn konnte sich in Gesamtlitauen nicht lange an der Macht halten, kehrte nach Galič - Wolhynien zurück und beschränkte sich auf die litauischen Nachbargebiete zu

255 Goldfrank, David M.: The Lithuanian Prince-Monk Vojńelk. A Study of Competing Legends. In: HUS Vol XI, No. 1/2 (Juni 1987), S. 54. 256 Hellmann, Großfürstentum, S. 741. 257 Daumantas/Dovmont hatte sich in Pskov gegen Svatoslav, den Sohn des Großfürsten Jaroslav von Vladimir, durchsetzen können. In den Folgejahren bildeten Novgorod und Pskov eine Allianz gegen den großfürstlichen Einfluss, aber auch gegen den Deutschen Orden und Litauen. Dovmont unternahm seine Kriegszüge gegen Litauen mit Unterstützung Novgorods. Pickhan, Gospodin Pskov, S. 133f. 258 Hellmann, Großfürstentum, S. 742. 259 Annales Polonorum I, 1267 Mart. 26. In: Pertz, Georg Heinrich [Hrsg.]: Monumenta Germaniae Historica inde ab anno Christi Qvingentesimo vsqve ad annvm Millesivm et Qvingentesimvm. MGH SS Bd. 19. Hannover 1866, S. 636. 70

Schwarzruthenien und Galič -Wolhynien. Bis zu seinem Tod 1269 tritt er in der Frage der Nachfolge Mindaugas‟ nicht mehr in Erscheinung.260

Das Einigungswerk Litauens durch Mindaugas war trotz aller Widrigkeiten soweit vorangeschritten, dass es nicht so ohne weiteres umkehrbar gewesen wäre. Die Umwälzungen brachten zwar eine Rückkehr zum Heidentum, innere Wirren und Kriege an vielen Fronten, aber der litauische Stammes- und Fürstenverband zerfiel nicht einfach oder wurde zur Beute seiner Nachbarn. Im Gegenteil, er konnte sich bis zum Ende des Jahrhunderts wieder stabilisieren und seine expansive Kraft aufs Neue entfalten.

Nach Ńvarn hatte von ca. 1270 bis 1282 Thoreide (lit. Traidenis, poln. Trojden) von Kernavė die Herrschaft über die litauischen Stämme inne.261

Konsolidierung unter Traidenis

Zunächst bedurfte es der Stabilisierung der Herrschaft und des Machtanspruches in einer Hand. Unter welchen Umständen Traidenis262 von Ńvarn die Führung in Litauen übernehmen hatte können, ist ungewiss. Für einen gewaltsamen Umsturz gibt es keine Belege, allerdings könnte die Verdrängung des orthodoxen Ńvarn auch im Sinne der litauischen Großen gewesen sein und keine inneren Unruhen ausgelöst haben. Für den neuen Großfürsten galt es zunächst, seine Herrschaft im Inneren zu sichern und gegen äußere Bedrohungen zu verteidigen. Da Traidenis den Herrscher von Galič-Wolhynien aus Litauen verdrängt hatte, waren die Beziehungen zu diesem Fürstentum naturgemäß schlecht. So führten von 1274 bis 1276 Litauen und Galič-Wolhynien Krieg, auf Galičer Seite mit tatarischer Beteiligung. 1279 kam es, wieder unter Beteiligung von Tataren, nochmals zu Kämpfen. Traidenis konnte sich behaupten und die südlichen Grenzen des Großfürstentums sichern.263

Im Norden marschierte Litauen 1270 wieder in Livland ein und konnte über den Livländischen Orden in der Schlacht von Kerrus (estn. Karuse) bei Ösel (estn. Saaremaa) einen Sieg erringen. Dennoch verstand es der Livländische Orden, nachdem er die Burgen im

260 Kiaupa, Establishment, S. 68f; Hellmann, Litauen, S. 18f. 261 Hellmann, Litauen, S. 18f. 262 Traidenis ist wahrscheinlich ein Sohn Ņivinbudas, der nach Ringaudas Großfürst von Litauen war. Vgl. http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (am 01.04.2013) 263 Kiaupa, Establishment, S. 69. 71

Land erobert hatte, das rebellische Semgallen 1272 zu befrieden. 1273 wurde vom Orden der Bau der Dünaburg264 (let. Daugavpils) nahe der Grenze zu Litauen in begonnen. Bei einem neuerlichen Angriff auf das Großfürstentum 1279 drang der Orden bis zu Traidenis„ Heimatburg Kernavė vor, erst nahe der Komturei265 Ascherade (lett. Aizkraukle) in Livland konnten die Litauer dem sich auf dem Rückmarsch befindlichen Orden eine empfindliche Niederlage zufügen. Daraufhin erhoben sich die Semgallen wieder gegen den Orden und suchten unter Fürst Nameisis die Anlehnung an das Großfürstentum. Nach Traidenis„ Tod 1282 gelang es dem Orden, die Rebellen wieder zu unterwerfen, nur der Südteil Semgallens verblieb bei Litauen.266

An der Front gegen den Deutschen Orden hatte das Großfürstentum indes Territorialverluste zu beklagen. Nach der Niederwerfung der Prussischen Revolte 1274 und einem erneuten Aufflackern 1276 wandte sich der Orden gegen Schalauen (lit. Skalva) und Nadrauen (lit. Nadruva). Da die litauischen Kräfte gegen Galič-Wolhynien gebunden waren, konnten die Gebiete bis 1277 erobert werden. Auch den Jatwingern blieb seitens Litauens effektive Waffenhilfe verwehrt, Sudauen (lit. Sūduva) war zu einem Objekt der Expansionsbestrebungen seiner Nachbarn, neben des Deutschen Ordens auch Galič„ und Kleinpolens, geworden. Erst um 1280 gelang es den Jatwingern gemeinsam mit den Litauern Feldzüge gegen die Aggressoren, vor allem gegen den Deutschen Orden, durchzuführen. 1283 konnte der Orden schließlich den letzten Widerstand brechen und Sudauen befrieden, lediglich der Nordteil verblieb bei Litauen. Durch das Vordringen der Ordensritter bis zur Memel verloren die aufständischen Prussen die Unterstützung der Jatwinger und Litauer. Masowien erweiterte schließlich den 1262 mit Litauen geschlossenen Frieden auch auf Sudauen.267

Unter Traidenis„ Herrschaft lässt sich eine Entspannungspolitik zum Herzogtum Masowien beobachten. Bolesław II. von Masowien aus dem Haus der Piasten wollte die Unabhängigkeit seines Herzogtums wahren. Ein Ausgleich mit dem östlichen Nachbarn, der immer wieder

264 Trotz Belagerung konnte die Burg von den Litauern nicht genommen werden. Erst 1281 konnte Dünaburg gegen das von den Litauern eroberte Jersika/Gersike eingetauscht werden, eine litauische Garnison blieb dort bis 1313 stationiert. Vgl. Kiaupa, Establishment, S. 69f. 265 So wurde in Preußen und Livland die unterste selbstständige Verwaltungseinheit des Deutschen Ordens genannt. Gemeinhin findet bei Ritterorden dafür der Begriff „Kommende“ Anwendung. Dieser stammt aus dem Kirchenrecht und bezeichnet von Dienstverpflichtung befreite Pfründe. Vgl: Michels, Georg: Kommende. In: LMA, Bd. 5, Sp. 1278f. 266 Kiaupa, Establishment, S. 69f. 267 Kiaupa, Establishment, S. 70. 72

Plünderungszüge in sein Herrschaftsgebiet unternahm, schien daher wünschenswert. 1279 heiratete er die Tochter des litauischen Großfürsten, Gaudemantė (Taufname Sofia), die Plünderungszüge blieben damit aus und die Handelsbeziehungen zwischen Masowien und Litauen erfuhren einen Aufschwung.268

Traidenis„, der die Ordnung in Litauen wiederhergestellt hatte, starb 1282, die Nachfolge schien reiblungslos abzulaufen, über seinen Nachfolger Daumantas gibt es allerdings kaum Berichte. Giedroyć hält den 1285 verstorbenen Kurzzeitherrscher für den Bruder oder doch engen Gefolgsmann Traidenis„.269 In seinem Todesjahr hat er einen Invasionszug gegen Suzdal„ angeführt, Ziel schien allerdings Tver„ gewesen zu sein. Doch scheiterte der Feldzug an den von Suzdal„ aufgestellten Truppen, Daumantas fand in der Schlacht von Oleńnja den Tod.270

Wer dann auf ihn folgte, ist nicht gesichtert. 1289 soll das Brüderpaar Budivid (lit. Budivydas) und Budikid (lit. Butigeidas) die Herrschaft übernommen haben, prototypisch für Algirdas und Kęstutis ca. ein halbes Jahrhundert später. Butigeidas soll mit Pukuver (lit. Pukuveras), dem mutmaßlichen Vater Vytenis„, ident sein.271

Bei Traidenis kann man laut Giedroyć von einem natürlichen Tod 1282 ausgehen, da nichts über die näheren Umstände bekannt ist.272 Die direkte Nachfolge ist nicht restlos geklärt. Ab 1295 ist mit Witen (lit. Vytenis) wieder ein unumschränktes Oberhaupt Litauens bezeugt. Er ist der erste historisch fassbare Großfürst aus jenem Geschlecht, welches für die folgenden drei Jahrhunderte zu einem der bedeutendsten Herrscherhäusern Osteuropas zählen sollte: der Gedimiden.273

Das geeinte Litauen kann als Vermächtnis der Regierungszeit Mindaugas‟ und seiner Nachfolger gesehen werden. Dieses Einigungswerk legte den Grundstein für die Entwicklung

268 Allerdings blieb es nicht bei diesen friedlichen Beziehungen, nach dem Tod Bolesławs 1313 gingen seine Söhne ein Bündnis mit dem Deutschen Orden und den westlichen Rus„ ein, um etwaigen litauischen Expansionsbestrebungen begegnen zu können. Vgl. Rowell, Lithuania ascending, S. 7f. 269 Giedroyć Michał: The Arrival of Christianity in Lithuania. Between and Byzantium (1281-1341). In: OSP n.s. Vol. XX, Oxford 1987, S 1. 270 Kontingente aus Tver„, Moskau, Zubcov, Volok, Rņev und Torņok konnten den Litauern eine Niederlage beibringen. Vgl. Giedroyć, Between Rome and Byzantium, S. 4f. 271 Kiaupa, Before Christianization, S. 111. 272 Giedroyć Michał: The Arrival of Christianity in Lithuania. Between Rome and Byzantium (1281-1341). In: OSP n.s. Vol. XX, Oxford 1987, S. 1. 273 Hellmann, Litauen, S. 18f. Lübke führt bis 1295 Pukuver als Vater und Vorgänger Witens an. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 388. 73

Litauens zur Großmacht im 14. und 15. Jhdt.274 Eine vermutlich angestrebte Union aller baltischen Stämme ließ sich aber nicht verwirklichen, zu sehr standen in kritischen Momenten persönliche Eitelkeiten oder vermeintliche Vorteile im Vordergrund. Die Erringung der Königswürde und die Konversion Mindaugas‟ müssen als gelungener Coup gelten. Außenpolitisch brachte dies dem Königtum Litauen eine Dekade des Friedens mit den Westmächten, die Mindaugas zu ersten Expansionsvorhaben in der Rus‟ nützte. Für das Verhältnis zu anderen baltischen Stämme brachte die Konversion allerdings keine Vorteile, im Gegenteil, Mindaugas mußte sich – zumindest offiziell – aus den Konflikten der Semgalen, Kuren und Prussen mit dem Deutschen Orden heraushalten. Inoffiziell scheint er jedoch vor allem die Kuren und Semgalen unterstützt zu haben. Innenpolitisch scheint der König hinsichtlich der Durchsetzung des Christentums nur das Nötigste unternommen zu haben, wohl um den Deutschen Orden bei Laune zu halten. Litauen profitierte aber vom Transfer kultureller, wirtschaftlicher und technischer Neuerungen aus dem Westen. Der Aufbau eines Hofes nach westlichem Vorbild brachte für das aus Stammesverbänden hervorgegangene Königreich eine Verbesserung der Verwaltung und eine Festigung seiner Strukturen. Ein Großteil davon blieb auch nach der Rückkehr zum Heidentum erhalten. Doch verstummte die Opposition im Inneren nicht, auch nach Vertreibung des Fürsten Vykintas blieb Ņemaiten ein unsicherer Kantonist im litauischen Herrschaftsverband.

274 Hellmann, Großfürstentum, S. 742. 74

4.3. Die Expansion des Großfürstentums Litauen unter Gediminas

4.3.1. Gediminas‘ Herkunft

Mit dem Herrschaftsantritt Gedimins (lit. Gediminas, 1316–1341) beginnt für das Großfürstentum Litauen die Zeit der Expansion, die in der Beherrschung des weiten Raumes von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer kulminieren sollte. An dem Anspruch, das Erbe der Kiewer Rus„ antreten zu wollen, sollte es nach beachtlichen Erfolgen schlussendlich scheitern und dem erstarkenden Großfürstentum Moskau nach schweren und langen Kämpfen das Feld überlassen müssen. Abb. 6: Gediminvs Magnvs Dvx Litvaniae. Gediminas ist, wenn nicht der erste Vertreter, so doch der Namensgeber der Gediminiden, der bis 1572 in Polen und Litauen herrschenden Dynastie, welche ab 1386 nach Verleihung der polnischen Königswürde an Władysław II. Jagiełło (lit. Jogaila) als Jagiellonen bezeichnet wird und als solche zeitweise auch Ungarn und Böhmen beherrschen sollte.

Die Zeit nach dem Tode Traidenis„ 1282 ist in den Quellen dürftig dokumentiert. Von den wenigen Fürsten, die namentlich genannt werden, ist es ungewiss, ob sie nun nur Teile Litauens oder das gesamte Herrschaftsgebilde regiert hatten. Pukuveras scheint als erster Fürst nach Mindaugas das gesamte Litauen wieder beherrscht zu haben, jedenfalls ist er der erste Großfürst, der in den Quellen (bei Peter von Dusburg in seiner Preussenchronik für das Jahr 1293) nach Traidenis wieder auftaucht: „Pucuwerus rex Lethowie eciam hoc anno filium suum Vithenum cum magno exercitu misit versus Poloniam ad terram Birstensem [...].“275

275 „Auch schickte in diesem Jahr König Pukuwer von Litauen seinen Sohn Witen mit einem großen Heer gegen Polen ins Land Birsten [...]“ Vgl. Petri de Dusburg: Cronica Terre Prussie. Pars III Cap. 248. In: SRP, Bd. 1, S. 155. 75

1294 ist zwar von Pukuwer nicht die Rede, aber Witen (lit. Vytenis) wird als Sohn des Königs genannt: „Eodem anno Vithenus filius regis Lethowie cum octingentis viris intravit terram Polonie, [...].“276

Ab 1295 folgt Vytenis seinem Vater als Großfürst nach277, bei Peter von Dusburg erstmals 1297 als König bezeichnet: „Eodem anno et tempore, quo reges solent procedere ad bella, rex Vithenus [...]intravit terram Lyvonie.“278

Vytenis betreibt weiterhin die bewährte litauische Politik der Plünderungszüge in die Nachbarländer, vor allem in die Länder des Deutschen bzw. Livländischen Ordens. Der Orden begann Ende des 13. Jhdts., die Unzufriedenheit in Ņemaiten – und damit den Seperatismus – zu schüren. Auf der anderen Seite verbündeten sich die Litauer mit dem Erzbischof von Riga gegen den Orden, in den Jahren 1305-1310 stellten litauische, heidnische Truppen gar die Garnison in Riga.279 In Vytenis„ Regierungszeit fällt auch die 1307 erfolgte Eroberung und endgültige Eingliederung des Fürstentums Polozk280, nicht zuletzt trug das Bündnis mit Riga zur Ausdehnung des litauischen Einflusses entlang der Düna bei.281

1316 übernimmt Vytenis„ Bruder Gediminas die Herrschaft und wird zum Begründer der Dynastie der Gediminiden.282 Über die Herkunft der Familie ist wenig bekannt, einerseits wurden Gerüchte über die niedrige Abkunft283 gestreut, andererseits wird die Abstammung von Mindaugas bzw. Traidenis konstruiert. Ein Verwandtschaftsverhältnis mit der Familie des Königs ist, wenn auch nicht belegt, nicht unmöglich. Die Herkunft in geographischer Hinsicht ist ebenfalls nicht gesichert, die Theorien widersprechen sich, einerseits soll Gediminas Familie aus Ņemaiten stammen, andererseits aus dem westlichen Aukńtaiten.284

276 „In ebendiesem Jahr drang Witen, der Sohn des Königs von Litauen, mit 800 Mann ins Land Polen ein,[...]“ Vgl. Petri de Dusburg: Cronica Terre Prussie. Pars III Cap. 250. In: SRP, Bd. 1, S. 156. 277 Kiaupa, Establishment, S. 72. 278 „ In jenem Jahr und zur Zeit, in der sich Könige gewöhnlich in den Kampf begeben, dringt König Witen […] ins Land Livonia ein“. Vgl. Petri de Dusburg: Cronica Terre Prussie. Pars III Cap. 267. In: SRP, Bd. 1, S. 163. 279 Kiaupa, Before Christianization, S. 112f. 280 Hellmann, Manfred: Das Großfürstentum Litauen bis 1234. In: Seibt, Ferdinand [Hrsg.]: Europa im Hoch- und Spätmittelalter. (= Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 2). Stuttgart 1987, S. 1086. 281 Kiaupa, Before Christianization, S. 113. 282 Kiaupa, Before Christianization, S. 80. 283 So soll Gediminas Vytenis„ Stallmeister gewesen sein und diesen 1315 ermordet haben. Vgl. Töppen, Max: Petri de Dusburg: Cronica Terre Prussie. Pars III Cap. 267 FN 2. In: SRP, Bd. 1, S.163. 284 Erstere Theorie bei Kiaupa, Before Christianization, S. 80. Zweitere bei Hellmann, Großfürstentum, S. 744. 76

4.3.2. Die Regierungszeit Gediminas‘

Für Gediminas„ Regierungszeit fließen die Quellen im Vergleich zu Mindaugas reicher, sie ist im Ganzen fassbarer und weniger auf Spekulationen angewiesen. Gediminas war zu seiner Zeit der mächtigste Herrscher in Osteuropa285, bei seinem Tod hinterließ er Litauen als „die stärkste Macht im Osten Europas.“286

4.3.2.1. Territorium und Verwaltung zur Zeit Gedimins

Bereits um die Wende vom 13. zum 14. Jhdt. bildete sich der litauische Herrschaftsbereich heraus, wie er im Wesentlichen auch dem Staatsgebiet des späteren litauischen Staates im 20. Jhdt. entsprechen sollte. Das nachmalige Memelgebiet mit Memel (Klaipėda) samt Umland sowie Schalauen (lit. Skalva) und Nadrauen (lit. Nadruva) waren an den Deutschen Orden verloren.287 Der nördliche Teil Sudauens (lit. Sudūva) konnte behauptet werden. Im Norden reichte Litauen bis nach Kurland und Semgalen, nach dem Verlust Dünaburgs (lit. Daugpilis, lett. Daugavpils)288 1313 blieb die Grenze zum Herrschaftsgebiet des Livländischen Ordens relativ stabil.289

Der Gebietsbegriff „Aukńtaiten“ (lit. Aukńtaitija) erfährt eine Ausdehnung. Ursprünglich meinte er wohl nur das Gebiet um Kaunas, zum Regierungsantritt Gediminas war davon aber auch der östliche Teil Litauens umfasst.

Die innere Gliederung in die alten Regionalfürstentümer wich immer mehr einer zentralistischen Leitung, allerdings unter Berücksichtigung der alten Stammesverbindungen. So verschwand im 14. Jhdt. bspw. das Teilfürstentum Nalńia. Die Gliederung wurde kleinteiliger in Burgbezirken (lit. valsčiai) organisiert, die Verwaltung zentraler, da die Burgherren nicht dem lokalen Adel entstammten, sondern vom Großfürsten ernannte

285 „Gediminas, [...] the strongest contemporary ruler of eastern Europe.“ in Encyclopaedia Britannica. Vgl. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/227703/Gediminas (30.06.2013). 286 Hellmann, Manfred: Gediminas. In: LMA, Bd. 4, Sp. 1167f. 287 Das Memelgebiet wurde 1923 in den Nachwehen des ersten Weltkrieges von Litauen annektiert, bildete 1939–1945 wieder einen Teil des Deutschen Reiches, war danach Teil der Litauischen SSR und ist seit 1990 Teil der Republik Litauen. Kritisch zum Mythos der Befreiung des Memellandes durch die Kleinlitauer Varaikis, Vygantas: Ein zählebiger Mythos oder wer hat das Memelgebiet befreit? In: Annaberger Annalen, Nr. 12 (2008), S.195-204. http://www.annaberger-annalen.de/jahrbuch/2008/AA-16-2008.pdf (24.05.2013). 288 Dünaburg stand von 1281 an unter litauischer Hoheit. Vgl. Kiaupa, Before Christianization, S. 84. 289 Kiaupa, Before Christianization, S. 84. 77

Vertrauensleute waren. Eine übergeordnete Verwaltungseinheit bildeten regionale Herzogtümer, erstmals wird solcherart 1337 das Herzogtum von Trakai genannt.290 Die lange Zeit existierende duale Gliederung in einen Westteil mit dem Zentrum Trakai und einen Ostteil mit dem Zentrum Vilnius ist jedenfalls ein dauerhaftes Produkt der Herrschaft Gedimins. Die nach seinem Tod getroffene Aufteilung unter seinen sieben Söhnen und seinem Bruder291 (neben den Herrschaftszentren Trakai und Vilnius auch die Städte Kernavė und Krėva) erwies sich als nicht praktikabel und wurde zugunsten der Zweiteilung 1345 von Olgerd (lit. Algirdas) und Kynstut (lit. Kęstutis) wieder abgeschafft.292

Ņemaiten stellte nach wie vor ein eigenes Problem dar. In der Zeit des litauischen Königreiches unter Mindaugas war das Gebiet an den Livländischen Orden gefallen. Die Entwicklung Ņemaitens nahm damit im Vergleich mit den übrigen litauischen Gebieten einen Sonderweg. Der Orden konnte zwar seine Herrschaft und damit seine Verwaltungsstrukturen nicht durchsetzten, allerdings gilt selbiges auch für Litauen unter Mindaugas. Dem in Ņemaiten selbst entwickelten Verwaltungssystem musste auch von Seiten der litauischen Zentralgewalt Rechnung getragen werden, wollte sie dieses Gebiet in ihrem Herrschaftsbereich halten. So wurde zwar die Verwaltung der Burgbezirke zentral wie im restlichen Litauen geregelt, die Vorrechte der mächtigen Fürstenfamilien sollten aber gewahrt bleiben. Um 1300 versuchten die Ņemaiten eine von Litauen unabhängige Politik gegenüber dem Deutschen und Livländischen Orden zu betreiben. Der Großfürst verstand es, mit den ihm direkt unterstehenden Regionen in Süden Ņemaitens und um Schaulen (lit. Ńiauliai) das gesamte Land in einer Art kontrollierten Autonomie zu halten, in welcher Ņemaiten nach außen Teil Litauens war, nach innen allerdings alle Angelegenheiten in Selbstverwaltung regelte.293

Die Außengrenzen des Großfürstentums im Westen und Norden blieben während der gesamten Regierungszeit Gedimins, trotz wiederholter Kämpfe mit dem Deutschen Orden, im Wesentlichen stabil.294

290 Kiaupa, Before Christianization, S. 85. 291 Wohl jener Fëdor, der bis 1362 in Kiew herrschte. Vgl. S. 68 FN 277. Die anderen bekannten Brüder Gediminas waren schon vor ihm gestorben (Vytenis 1315, Voin um 1335), vgl. http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). Anders Hellmann, der Voin in Polozk ansiedelt, und zwar nach Gediminas„ Tod. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 746. 292 Kiaupa, Before Christianization, S. 84f. 293 Kiaupa, Before Christianiazation, S. 85. 294 Kiaupa, Before Christianization, S. 85. 78

Die Verwaltungsorganisation änderte sich im Großfürstentum im 14. Jhdt. nicht aufgrund der Sondersituation in Ņemaiten. Die kontinuierlichen Gebietserweiterungen im Osten, in der Rus', stellten den Herrschaftsapparat vor immer neue Herausforderungen. Auf lokaler Ebene wurde das rus'ische System der „diečky“ beibehalten. Bei diesen handelte es sich um Aufseher über kleine Landbezirke, die u.a. die an den Fürsten zu entrichtenden Abgaben eintrieben. Hinsichtlich des Fiskalsystems scheint es plausibel, dass Litauen unter Mindaugas Elemente aus der livländischen Verwaltung übernahm.295 Auf lokaler Ebene, im kleinen Landkreis, gab es auch in Litauen die als Steuereintreiber, Dorfrichter und Verwalter der großfürstlichen Hofstellen agierenden Aufseher. Der auf der Ebene darüber agierende Vorsteher eines Burgbezirkes hatte mehrere Landkreise zu kontrollieren und neben administrativen Aufgaben die Verteidigungsstellungen instand zu halten sowie im Kriegsfall militärische Aufgaben zu übernehmen. Den einzelnen Regionen standen Fürsten aus der Familie Gediminas' vor.296

Schriftliche Rechtsquellen kannte das Großfürstentum noch nicht297, traditionelle Stammesrechte und Gewohnheitsrecht kamen zur Anwendung, als oberster Richter fungierte der Großfürst selbst. Die Rechtsentwicklung wurde einerseits durch Kontakt mit dem Westen in Bezug auf die Handels- und Stadtrechte298 beeinflusst, andererseits durch die Expansion in die Rus', wo die „Russkaja Pravda“299, der Kodex des rus‟ischen Rechtes, von Jaroslav dem Weisen noch immer die Grundlage des Rechtssystems bildete. Ein eigenes, verschriftlichtes litauisches Recht das „Litauische Statut“300 entstand erst im 16. Jhdt. Es wurde 1529 in der ruthenischen Kanzleisprache des Großfürstentums abgefasst und zwei weiteren Redaktionen unterworfen.301 Für das Kanzleiwesen in der Zeit nach Mindaugas gibt es keine gesicherten Informationen. Mindaugas selbst hatte sich nach seiner Taufe katholischer Geistlicher für die Kanzleiarbeit bedient, für die Zeit nach seiner Rückkehr zum Heidentum und seine unmittelbaren Nachfolger ist diese Möglichkeit auszuschließen. Für Gediminas sind in der ersten Hälfte des

295 Kiaupa, Before Christrianization, S. 86. 296 Kiaupa, Before Christianization, S. 86. 297 Die litauische Kultur wurde – wie viele andere – erst durch den Kontakt mit dem Christentum zu einer Schriftkkultur. Vgl. Kiaupa, Before Christianization, S. 93. 298 Vgl. hierzu ausführlich: Karapavičienë, Jolanta: Zur Frage des Magdeburger Rechts in Litauen. In: Rautenberg, Hans-Werner [Hrsg.]: Wanderungen und Kulturaustausch im östlichen Mitteleuropa. Forschungen zum ausgehenden Mittelalter und zur jüngeren Neuzeit. (= Willoweit, Dietmar und Roth, Klaus [Hrsgg.]: Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa, Bd. 1). München 2006, S. 241-257. 299 Siehe ausführlich Hellie, Richard: The law. In: Perrie, Maureen [Hrsg.]: The Cambridge History of Russia. Vol. I. From Early Rus' to 1689. Cambridge u.a. 2006, S. 360-365 sowie Rüß, Das Reich von Kiev, S. 215-217. 300 Hellmann, Großfürstentum, S. 833-836. 301 Kiaupa, Before Christianization, S. 86. 79

14. Jhdts. neben orthodoxen Beamten („Djaken“) auch Franziskanermönche302 aus Riga in der Kanzlei tätig. Auch seine Nachfolger verfügten über eine Kanzlei, die Korrespondenz mit dem Westen wurde in lateinischer und deutscher Sprache getätigt, mit Konstantinopel in Griechisch. Der Schriftverkehr im Landesinneren sowie mit dem rus‟ischen Osten wurde in einer im Großfürstentum sich herausbildenden sog. „altweißrussischen“ Kanzleisprache abgewickelt. Auf kirchenslawischer Grundlage basierend, ergänzt um litauische Elemente, blieb diese in Litauen bis zur Übernahme des Polnischen als Amtssprache in Gebrauch.303 Mit dem Aufkommen des Kanzleiwesens war auch die Entwicklung eines eigenen Siegelwesens verbunden, allerdings blieben keine Siegel aus der Zeit von Mindaugas oder Gediminas erhalten.304 Diplomatische Kontakte intensivierten sich im 13. und 14. Jhdt. Die litauischen Großfürsten setzten oft Familienmitglieder als Gesandte ein, so schickte Großfürst Algirdas bspw. 1358 einen Bruder in diplomatischer Mission nach Riga, 1379 Jogaila seinen Bruder zum Deutschen Orden. Auch im Verkehr mit dem Westen behielten die Litauer heidnische Bekräftigungsriten wie Handschlag oder Eid für geschlossene Abkommen bei. So wurde bspw. der Vertrag zwischen Litauen und Ungarn 1351 von Kęstutis mit einem heidnischen Eid beschworen.305 Auch soll er zur Bekräftigung seines Versprechens zum katholischen Glauben überzutreten einen Ochsen geopfert haben.306 Die Eidleistung und mündlich geschlossene Verträge wurden aber zusehends von schriftlichen Abkommen, versehen mit Siegeln, abgelöst.307

4.3.2.2. Außenpolitik:

Unter Großfürst Gediminas trat das aufstrebende Litauen in Konnkurrenz mit seinen mächtigen Nachbarn, dem Deutschen Ordensstaat, der Goldenen Horde, dem Fürstentum Moskau und dem Königreich Polen. Mit dem Sieg über Kiew 1320308 und der Unterwerfung

302 Siehe unten S. 85. 303 Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1088. 304 Kiaupa geht allerdings davon aus, daß jedenfalls beginnend mit Gediminas der Großfürst über ein eigenes Siegel verfügte. Für Algirdas, Kęstutis und ist der Gebrauch von Siegeln belegt. Vgl. Kiaupa, Before Christianization, S. 87. 305 Giedroyć, Michał: The Arrival of Christianity in Lithuania. Baptism and Survival (1341 – 1387). In: OSP n.s. Vol. XXII, Oxford 1989, S. 42; Kiaupa, Before Christianization, S. 87. 306 Rowell, Stephen Christopher: Unexpected Contacts. Lithuanians at western courts, c.1316-c.1400. In: EHR, Vol 111, No. 442 (June 1996), S. 559f. 307 Kiaupa, Before Christianization, S. 86f. 308 Rowell setzt die Eroberung Kiews und die Einsetzunge eines litauischen Fürsten im Jahr 1323 an. Vgl. Rowell, Lithuania ascending, S. 87. Gediminas„ Bruder Fëdor soll in Kiew von 1323-1362 geherrscht haben. Vgl. http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013) sowie, Fëdor zumindest für den Zeitraum von 1331-1362 als gesichert darstellend: Rowell, aaO, S. 100. 80 des Fürstentums Smolensk um 1340 war die Stoßrichtung der litauischen Expansion Richtung Osten und Süden vorgegeben.309 Nach Westen und Norden versperrte der Deutsche Orden jede Expansionsmöglichkeit, und suchte beständig, seine Besitzungen unter dem Mantel der Heidenmission auf litauisches Gebiet auszudehnen. 1313 hatte der Orden mit Christmemel (heute lit. Skirsnemunė) erstmals eine Burg am rechten Memelufer errichtet.310 1314 startete eine Kampagne von jährlichen Kriegszügen gegen das Großfürstentum mit dem Ziel Novogrudok. Erst 1320 konnten die Litauer durch ihren Sieg bei Medininkai diese stoppen.311

Im Deutschen Orden hatten das Herzogtum Masowien, das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen einen gemeinsamen Feind. 1325 wurde ein erster Schutz- und Bündnisvertrag mit Polen geschlossen und Heiratsverbindungen wurden geknüpft. Eine Tochter des litauischen Großfürsten namens Aldona mit Taufnamen Anna312 wurde mit dem polnischen Thronprätendenten Kasimir vermählt. Kurz darauf kamen die Vertragsparteien ihren Bündnispflichten wechselseitig nach: 1326 Litauen gegen die Markgrafschaft Brandenburg, 1329 Polen gegen den Deutschen Orden in Preußen. Doch bereits im Jahre 1330 war das Vertragswerk Makulatur, Litauen bezichtigte Polen der Nichteinhaltung des Vertrages, Polen wiederum stand wegen seines Bündnisses mit den heidnischen Litauern in der Kritik des verbündeten Ungarn. Im folgenden Jahrzehnt eskalierte der Konflikt. 1333 starb der polnische König Władysław I. Łokietek (dt. Ellenlang), die oben genannte Anna erlangte als Ehefrau Kasimirs III. mit diesem die Königswürde, verstarb aber verfrüht im Jahr 1339. König Kasimir schloss 1343 den Vertrag von Kalisch (poln. Kalisz), der eine Einigung mit dem Deutschen Orden beinhaltete. Daraufhin hatte der Orden für die Litauerzüge freie Hand. Er gewann den Adel Europas für seine „Kreuzzügen“ gegen die letzten Heiden, konnte jedoch gegen Litauen keine dauerenden Erfolge erringen.313

1340 fiel Fürst Bolesław Jurij II. von Galič-Wolhynien, der 1331 Gaudemunda (Taufname: Eufemija314, eine Tochter Gediminas„) geehelicht hatte315, einem Giftmord zum Opfer. Kasimir III. stellte als Schwager des verstorbenen Fürsten den Erbanspruch, ebenso wie der mit einer wolhynischen Prinzessin verheiratete Lubart (lit. Liubartas, mit orthodoxem

309 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 20. 310 Paravicini, Preußenreisen Bd. 2, S. 61; Kiaupa, Before Christianization, S. 113. 311 Lübke, Östliches Europa, S. 389; Kiaupa, Before Christianization, S. 114. 312 Aldona/Anna ist das erste Mitglied des Gediminidenhauses, von welchem die lateinische Taufe bezeugt ist. Vgl. Hellmann, Geschichte Litauens, S. 21. 313 Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1088. 314 Lübke, Östliches Europa, S. 393 sowie http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). 315 Giedroyć, Between Rome and Byzantium , S. 30. 81

Taufnamen Dmitrij), ein Sohn Gediminas„.316 Die konkurrierenden Mächte besetzten daraufhin das Fürstentum, Polen gliederte Galič ein, Litauen den Nordteil Podlachiens und Liubartas etablierte sich als Fürst von Luzk im wolhynischen Teil.317

Weitere Zeichen der von Gediminas betriebenen Heiratspolitik waren die Hochzeit seines Sohnes Olgerd (lit. Algirdas) mit Maria, Tochter von Jaroslav Vasil„evič318, dem letzten Fürsten von Vitebsk319, die 1319 oder 1320320 erfolgte Vermählung seiner Tochter Maria mit Dmitrij Michajlovič, dem Fürsten von Tver'321 oder die 1333 erfolgte Vermählung der Tochter Aigusta (Taufname: Anastasia) mit Semën Ivanovič, dem designierten Nachfolger von Ivan Daniilovič „Kalita“, Großfürst von Vladimir-Moskau.322

Was den Deutschen Orden betraf, war es natürlich unmöglich, Heiratsverbindungen zu schaffen. Gediminas nutzte seinen außenpolitischen Vorteil nach dem Sieg von Medininkai zu 1322 erfolgten Friedensschlüssen mit den livländischen Bischöfen und dem livländischen Ordenszweig. Mit der Stadt Riga unterhielt er seit 1320 Beziehungen, welche ebenfalls 1322 zu einem Bündnis gegen den Deutschen Orden vertieft wurden.323 Durch seine Festung Dünamünde konnte der Orden den Handelsverkehr auf der Düna sperren. Da diese Gefährdung des Handelsverkehrs auch Litauen betraf, hatten das Großfürstentum und Riga gemeinsame, gegen den Orden gerichtete Interessen.324 Die Gediminas-Briefe von 1323325 zeitigten im Verhältnis zum livländischen Ordenszweig unerfreuliche Konsequenzen. Gediminas hatte in den Briefen unter anderem seine Bereitschaft zur Konversion bzw. die Hinwendung des Großfürstentums zur römischen Kirche angedeutet. Die 1324 am Hofe

316 Hiermit begann der Streit um das Fürstentum Galič-Wolhynien, welcher Polen und Litauen auch während ihrer gemeinsamen Geschichte bis zur Union von Lublin 1569 begleiten sollte. Vgl. Hellmann, Geschichte Litauens, S. 21, 76. 317 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 21. 318 http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). 319 Hier stellte sich der Erfolg der gediminidischen Heiratspolitik besonders rasch ein. 1318 wurde die Verbindung eingegangen, bereist im Jahr 1320 war Vitebsk Teil des Großfürstentums. Vgl. Ńmigelskytė- Stukienė, Ramunė: The Territory and the Borders from the 13th to the 18th Century. In: Daukńytė, Loreta [Hrsg.]: The Borders of Lithuania. The History of a Millenium. Vilnius 2010, S. 11. 320 Giedroyć, Between Rome and Byzantium, S. 30. 321 Lübke, Östliches Europa, S. 389f; Kiaupa, Before Christianization, S. 114. 322 Nitsche, Mongolenzeit, S. 596 sowie http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013) 323 1305 hatte der Orden das Zisterzienserkloster Dünamünde erworben und zur Festung ausgebaut. Die Stadt Riga hatte 1312 eine päpstliche Verurteilung des Ordens erwirkt, da dieser mit der Burg den Handel auf der Düna kontrollieren konnte. 1319 allerdings bestätigte Papst Johannes XXII. dem Orden endgültig den Besitz Dünamündes. Vgl. Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1088. 324 Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1088; Lübke, Östliches Europa, S. 390. 325 Zu der Kontroverse um die Echtheit der Briefe bzw. die Rolle der Zisterzienser in Riga in dieser Angelegenheit vgl. Rowell, Stephen Christopher: The Letters of Gediminas. „Gemachte Lüge“? Notes on a Controversy. JGO 41 (1993), S. 321 – 360. 82

Gediminas„ erschienenen päpstlichen Legaten konnten allerdings keine Taufe vornehmen und mussten unverrichteter Dinge wieder abziehen. Daraufhin kündigte der Livländische Orden den zwei Jahre zuvor geschlossenen Frieden auf, der Kriegszustand sollte bis 1338 andauern. 1329 nahm auch der Deutsche Orden die Kampfhandlungen wieder auf, die Preußenreisenden unter Führung König Johanns von Böhmen drangen in jenem Jahr tief nach Ņemaiten ein. 1330 musste sich Riga dem Deutschen Orden geschlagen geben und das Bündnis mit Litauen aufkündigen. Ab 1336 verstärkte der Orden seine Angriffe auf das Großfürstentum und richtete sich hierbei wiederum vor allem gegen Ņemaiten. 1337 wurden ihm dieser umkämpfte Landstrich nebst Litauen selbst von Kaiser Ludwig IV. von Bayern326 förmlich übertragen, doch konnte der Orden seine Herrschaft nicht durchsetzen. Schließlich schloss der livländische Zweig 1338 den sog. „Kaufmannsfrieden“, einen auf zehn Jahre befristeten Vertrag, in welchem der Handelsverkehr auf der Düna von und nach Litauen geregelt wurde.

Wiewohl das Verhältnis zum westlichen Nachbarn kriegerisch war, konnte Gediminas die Herrschaft in den neu eroberten Gebieten der Kiewer Rus„ festigen. Ab 1323 lässt er sich als „rex Letvinorum Ruthenorumque“ (König der Litauer und der Rus) titulierten.327 Allerdings erwächst mit dem Fürstentum Moskau im Osten ein mächtiger Gegenspieler Litauens im Ringen um die rus‟ischen Lande. Bereits unter Gediminas kam es zur Kooperation mit Tver' gegen Moskau.328 Schon ab 1327 begann Litauen das Fürstentum Tver„ zu überflügeln und zum Hauptkonkurrenten Moskaus zu werden.329

4.3.2.3. Innenpolitik:

Im Inneren ließ Gediminas Toleranz walten, sowohl in religiöser als auch in politischer Hinsicht. Da ein geordnetes Verwaltungswesen noch nicht existierte, wurde für die Rus' ein System der Oberherrschaft des litauischen Großfürsten mittels Statthaltern geschaffen. Diese waren entweder enge Verwandte Gediminas„, die den orthodoxen Glauben annahmen330 oder sie entstammten den lokalen Rjurikidendynastien und wurden durch Heirat an die Gediminiden gebunden. Litauen und seine Großfürsten blieben nach Fennell: „Ever since

326 Lübke, Östliches Europa, S. 391 nennt fälschlich „Kaiser Heinrich IV. von Bayern“ (sic!), korrekt bei Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1088.f 327 Lübke, Östliches Europa, S. 391f. 328 Siehe oben S. 32ff. 329 Ńmigelskytė-Stukienė, Territory and Borders, S. 11. 330 Fennell, Emergence, S. 124. Bspw. In Kiew nach 1331 einer seiner Brüder mit Taufnamen Fёdor. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 390. 83

Mendovg's renunciation of Catholicism in 1260 [...] stubbornly pagan.“331, die eroberten Ostgebiete hingegen orthodox geprägt. Die schwache Zentralgewalt in Vilnius verfügte weder über die Mittel noch über den Willen, die Orthodoxie zu bekämpfen. Im Gegenteil, um vor Ort an den rus„ischen Fürstensitzen Kontinuität und Legitimität der Herrschaft zu wahren, überschnitt sich die religiöse mit der politischen Toleranz. So konnte sich keine breite Opposition gegen die neuen Herrscher bilden, da sich für die Untertanen zumindest nichts zum Schlechteren gewendet hatte.332

Gediminas setze sich beim Patriarchen von Konstantinopel sogar für eine eigene Metropolie für Litauen ein, um dadurch den Einfluss des seit 1326333 in Moskau residierenden Metropoliten von Kiew einzuschränken. 1316/17 nahm die litauische Metropolie vorübergehend in Novogrudok ihren Sitz.334

4.3.3. Die Hauptstadtfrage

Die Gründung Wilnas (lit. Vilnius) fällt der Legende nach in Gediminas Regierungszeit. 335 Schon zu Mindaugas Zeiten hatte Vilnius eine herausragende politische und religiöse Stellung inne. So ließ Mindaugas in Vilnius einen Kirchenbau errichten, der als Bischofssitz und für seine Krönung zum christlichen König vorgesehen war. Diese Kirche wurde an der Stelle eines alten heidnischen Kultplatzes erbaut, archäologische Untersuchungen in der heutigen Kathedrale weisen auf einen Sakralbau aus dem 13. Jhdt., der höchstwahrscheinlich von Mindaugas errichtet worden war, hin. Nach Mindaugas Abfall vom Christentum verkam die

331 Vgl. Fennell, Emergence, S. 124. 332 Lübke, Östliches Europa, S. 392. 333 Hellmann, Litauen, S. 22 nennt das Jahr 1328 und bezieht sich damit auf Feognost. Lübke korrekt 1326 mit Bezug auf Peter.. Siehe Lübke, Östliches Europa, S. 392f. 334 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 21f. 335 „Die Legende vom Eisernen Wolf“ sagt, dass Gediminas selbst die Stadt am Zusammenfluss von Neris und Vilnia (auch Vilnelė) nach einem Traumgesicht gegründet hätte. Gediminas war erlegte auf einem Hügel am Ufer der Vilnia einen Auerochsen. „Er blieb hier zur Nacht, und wie er schlief, träumte er von einem Hügel, [...]. Auf diesem stand ein riesiger eiserner Wolf. Der Wolf heulte, als seien hundert Wölfe in ihm. Gediminas erwachte aus seinem Schlaf und befragte den Weisen Lizdeika, [...] das Haupt aller heidnischen Priester. [...] Der Seher antwortete: ‚Herr, die Bedeutung des eisernen Wolfes ist diese: An diesem Platz sollst du Deine Hauptstadt bauen; und das ohrenbetäubende Geheul des Wolfes heißt, dass ihr Ruhm in alle Lande dringen wird.„ Am nächsten Tag befahl Gediminas, [...], eine Burg im Šventaragis-Tal – die Untere Burg – und eine andere Burg auf dem Kreivasis-Hügel zu errichten, er nannte das Land seiner Burgen Vilnius.“ Vgl. Tauber, Joachim und Tuchtenhagen, Ralph: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt. Köln, Weimar, Wien 2008, S. 15f. 84

Kirche, und spätestens unter Traidenis wurde der alte Kultplatz wieder belebt.336 Als Hauptsitz wird für Traidenis allerdings Kernavė angeführt, er scheint also die Entwicklung von Vilnius zur Hauptresidenz bzw. Hauptstadt noch nicht angeregt zu haben. Gediminas wiederum hatte seinen Hauptsitz in Trakai, ehe er um 1316 seinen Hof nach Vilnius verlegte. Mehrere befestigte Plätze sowie eine Unter- und Oberburg - teilweise in Backsteinausführung - existierten wohl schon vor 1316. Ein wichtiges paganes Heiligtum darf in Vilnius am Fuße des Burgbergs vermutet werden, wiewohl für 1323 in der Stadt neben einer orthodoxen Kirche auch eine katholische belegt ist, bald gefolgt von Klosterbauten. Mindaugas wird als ausschlaggebend für die wachsende politische Bedeutung Vilnius' gesehen, während Gediminas als der Begründer von Vilnius als Hauptstadt gilt. 337

Auch hinsichtlich des lateinischen Christentums übte Gediminas Toleranz, obwohl ihn zeit seiner Regierung Kämpfe mit dem Deutschen Orden im Westen begleiteten. So war den Deutschen in Vilnius338 die freie Religionsausübung gestattet, an Gedimins Hof wirkten neben orthodoxen Beamten („Djaken“) auch Franziskanermönche aus Riga. Diese sollten zwischen dem heidnischen Großfürstentum und dem christlichen Westen vermitteln. Gediminas richtete 1323 Briefe an Papst Johannes XXII., König Ludwig IV. den Bayern, die Dominikaner und Franziskaner der sächsischen Ordensprovinz, sowie an Hanse- bzw. Ostseestädte (wie z.B. Lübeck, Stralsund, Stettin, Magdeburg, Bremen, Riga, etc.). Ziel dieser Propagandaoffensive war es, Geistliche, Kaufleute, Handwerker und Bauern als Siedler in Litauen anzuwerben. Er stellte Einwanderungswilligen Privilegien wie Steuer- und Zollbefreiungen sowie religiöse Toleranz in Aussicht und warb explizit mit im Großfürstentum bereits bestehenden christlichen Kirchen.339 Gediminas schien verstanden zu haben, dass Litauens politische Isolation nur durch Konversion zum lateinischen Christentum durchbrochen werden konnte.340 Wie ernst es ihm mit seiner mehrfach angedeuteten Konversion zum lateinischen Glauben bzw. dessen Einführung in Litauen war, lässt sich

336 Kajackas, Algimantas: The History and recent archaeological Investigations of the Vilnius Cathedral. In: Dundzila, Antanas [Hrsg.]: Lituanus. Lithuanian Quarterly Journal of Arts and Sciences. Vol. 36, No. 1, Spring 1990. http://www.lituanus.org/1990_1/90_1_04.htm (01.04.2013). 337 Kiaupa, Before Christianization, S. 87f. 338 Gediminas verlegte den Sitz des Großfürsten im Jahre 1323 von der Burg Trakai nach Wilna. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 395. 339 Hellmann, Litauen, S. 22; Tauber/Tuchtenhagen, Vilnius, S. 21. Lübke erwähnt für 1341 Unruhen, bei den zwei Mönche zu Tode kamen. Bei Tauber/Tuchtenhagen werden bzgl. der möglichen Entstehungsgeschichte des „Hügels der drei Kreuze“ in Vilnius einerseits die Ermordung von sieben Franziskanermönchen 1333, andererseits im Jahr 1340 die Ermordung zweier Franziskaner genannt. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 388 sowie Tauber/Tuchtenhagen, Vilnius, S. 23. 340 Kiaupa, Before Christianization, S. 114f. 85 kaum seriös beurteilen.341 Fennell will darin nur ein Mittel zum Zweck erkennen, Gediminas wollte sich solcherart die diplomatischen Unterstützung Roms gegenüber dem Deutschen Orden und dessen livländischem Zweig sichern.342

4.3.4. Nachfolgeregelung und Zersplitterung

Gediminas, der „rex Letvinorum Ruthenorumque“ 343, starb im Winter 1341/42. Zuvor hatte er die Aufteilung des Großfürstentums unter seinen Söhnen wie folgt geregelt: Manivydas sollte über Kernavė und Aukńtaiten herrschen, (Taufname: Gleb) über Pinsk und Turov, Karijotas über Novogrudok und Schwarzrussland, Algirdas über Krewo (lit. Krėva) und Vitebsk, Kęstutis über Trakai mit Ņemaiten sowie Grodno, Liubartas über das nördliche Wolhynien. Gedimins Bruder Voinas behielt indes die Fürstenwürde in Polozk. war mit der Herrschaft über Vilnius und der Großfürstenwürde zwar bevorzugt, konnte diese Zersplitterung und die damit verbundene außenpolitische Schwächung sowie innere Konflikte aber nicht wirkungsvoll bekämpfen.344

Jaunutis erwies sich als schwacher Herrscher, der die Großfürstenwürde zwar auf Wunsch seines Vaters innehatte, jedoch die Großfürstenmacht nicht durchsetzen konnte.345 Jaunutis' Regierungszeit blieb relativ ruhig, seine Brüder ergriffen die Initiative, allen voran Algirdas und Kęstutis. Algirdas ging vor allem gegen Moskau vor, so bereits 1341. Im darauffolgenden Jahr focht er an der Seite des Fürstentums Pskov gegen den livländischen Orden und plünderte gemeinsam mit Kęstutis dessen Ländereien. Liubartas kämpfte in Galič-Wolhynien, 1344 gelang es mit Kęstutis‟ Unterstützung, ein Bündnis mit Polen gegen den Deutschen Orden und gegen Böhmen zu schließen. Dieser Friedensschluss mit dem hartnäckigen Rivalen

341 Hellmann, Litauen, S. 22. Tauber/Tuchtenhagen bringen ein mögliches Mißverständnis ins Spiel, Gediminas hätte mit der Wendung „fidem percipere“ nicht seine persönliche Bereitschaft zur Taufe, sondern lediglich die Anerkennung und freie Ausübung des katholischen Glaubens im Großfürstentum zum Ausdruck bringen wollen. Vgl. Tauber/Tuchtenhagen, Vilnius, S. 21f. 342 Fennell, Emergence, S. 124. 343 König der Litauer und Rus„, vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 392f. 344 Lübke, Östliches Europa, S. 393; Kiaupa, Before Christianization, S. 118. Hellmann spricht Jaunutis indes die Großfürstenwürde ab. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 746. Voin war zu diesem Zeitpunkt wohl schon tot, ob Gediminas„ Bruder Fëdor von Kiew auch in Polozk im Fürstenamt nachfolgte, ist nicht gesichert. Vgl. http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). 345 Warum Gediminas den sich als schwacher Herrscher erweisenden Jaunutis zum Nachfolger bestimmte, bleibt im Dunkeln. Vielleicht, weil dieser der älteste Sohn seiner letzten Frau war. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Gediminas eine Vermittlerfigur zwischen seinen das Heidentum vertretenden Söhnen (Algirdas und Kęstutis) und jenen, welche dem orthodoxen Glauben anhingen (Narimantas, Karijotas, Liubartas), gesucht hatte. Vgl. Kiaupa, Before Christianization, S. 118; Rowell, Lithuania ascending, S. 281. 86

Polen war für Litauen im Winter 1344/45 von großer Wichtigkeit, plante doch der Deutsche Orden eine umfangreiche „Reise“ gen Litauen, an welcher auch König Johann von Böhmen und der ungarische König Ludwig I. teilnehmen sollten.346 Um dieser Herausforderung effektiv begegnen zu können, besetzte Kęstutis im Einvernehmen mit Algirdas Vilnius und nahm Jaunutis gefangen. Algirdas übernahm das Großfürstenamt und musste sich gleich nach seiner Amtsübernahme der Abwehr des Ordens und seiner „Kreuzfahrer“ widmen.347 Jaunutis aber konnte aus der Gefangenschaft entfliehen und sich nach Moskau absetzen. 1347 kehrte er orthodox auf den Namen Ivan getauft wieder nach Litauen zurück und erhielt Zaslavl als Fürstensitz zugewiesen.348

346 König Johann von Böhmen war sogar mehrmals auf “Preußenreise”, neben 1344/45 auch 1328/29 und 1336/37. Vgl. Paravicini, Preußenreisen Bd. 1, S. 147. 347 Kiaupa, Before Christianization, S. 118 348 Lübke, Östliches Europa, S. 394; 513; Kiaupa, Before Christianization, S. 118. 87

4.4. Algirdas und Kęstutis

4.4.1. Die „Doppelherrschaft“ der Brüder

4.4.1.1. Die Machtübernahme

Die beiden Brüder Algirdas und Kęstutis, die zuvor gegen Jaunutis konspiriert hatten, teilten sich nun das Großfürstentum dergestalt, dass Kęstutis den Westteil und Algirdas den Ostteil beherrschen sollte.349 Der Großfürstentitel blieb zwar dem älteren Algirdas vorbehalten, doch war Kęstutis im Innenverhältnis seinem Bruder beinah gleichgestellt, es handelte sich gleichsam um eine Doppelherrschaft. Diese einzigartige Position des jüngeren Bruders war auch der existentiellen Bedeutung seines Machtbereiches für das Weiterbestehen des Großfürstentums geschuldet. Kęstutis hatte das Bollwerk im Westen zu bilden, um Algirdas im Osten den Rücken für weite Eroberungszüge freizuhalten. In den Jahren 1345-1347 kämpften die beiden Brüder noch erfolgreich gegen den Livländischen Orden. Allerdings war die Position Litauens im Westen eindeutig eine defensive und somit an eine Expansion kaum ernsthaft zu denken.350 Vor allem nach der verheerenden Niederlage 1348 in der Schlacht an der Strebe (lit. Strėva) litt das Großfürstentum unter Angriffen der westlichen Mächte. So hatte der in Wolhynien herrschende Liubartas die Kriegszüge der Polen abzuwehren, Kęstutis gelang dies für das unter seiner Herrschaft stehende Podlachien im Jahre 1349.351

Das Ziel der westeuropäischen Mächte war es, das erstarkende Großfürstentum zur Übernahme des lateinischen Christentums zu bewegen. König Kasimir III. von Polen erbat von Papst Innozenz VI. Unterstützung bei der Gewinnung Litauens für die römische Kirche. Der Papst richtete 1357 entsprechende Schreiben an Kaiser Karl IV. und König Ludwig von Ungarn. Der Kaiser wandte sich daher im April 1358 in einem Schreiben an die litauischen Fürsten. Er sagte ihnen im Fall einer Taufe Schutz gegen ihre Feinde, vor allem die Ungläubigen, also gegen die orthodoxen Moskowiter sowie gegen die Goldene Horde, zu. Die Litauer hingegen empfanden den Deutschen Orden als Hauptfeind und verlangten neben der Rückgabe der vom Orden besetzten Gebiete (Kurland, Semgallen und die Hälfte des Prussenlandes) die Verlegung des Ordens in die südöstliche Steppenregion, wo er fortan die

349 Lübke, Östliches Europa, S. 394; Tauber/Tuchtenhagen, Vilnius, S. 23. 350 Kiaupa, Before Chrsitianization, S. 82, 119. 351 Kiaupa, Before Christianization, S. 120. 88

Christenheit gegen ungläubige Reitervölker verteidigen sollte: „Item postulabant, quod ordo locaretur ad solitudines inter Tartaros et Rutenos ad defendendum eos ab impugnacione Tartarorum […]“352

Wechselseitige Gesandtschaften gingen von Nürnberg nach Vilnius und vice versa. Der Kaiser begab sich schließlich für ein Treffen mit den litauischen Fürsten nach Breslau.353 Diese sandten jedoch lediglich ein Schreiben, in welchem sie ihre Taufe erneut von der Rückgabe der Eroberungen des Deutschen Ordens abhängig machten.354 Nach dem Scheitern der Verhandlungen nahm der Deutsche Orden seine Züge gegen Litauen wieder auf, allein in den Jahren 1362-1382 waren es über 70 an der Zahl.355

Liubartas beschränkte seinen Aktionsradius notgedrungenerweise auf Wolhynien. Er musste seine 1340 errungene Herrschaft in Luzk sichern, da Polen immer wieder von Galič aus in Richtung der litauischen Besitzungen vorzudringen versuchte. 1343 traf der Friedenschluss zwischen Polen und dem Deutschen Orden das Großfürstentum schwer, da der Deutsche Orden ohne polnische Gefahr im Rücken die „Litauenfahrten“ wieder in vollem Umfang aufnehmen konnte.356

4.4.1.2. Der Westteil unter Kęstutis:

Durch den Seitenwechsel Polens kochte der alte Konflikt um Galič-Wolhynien wieder hoch. Nach dem Sieg des Deutschen Ordens in der Schlacht an der Strebe (lit. Strėva) 1348 nutzte König Kasimir I. von Polen die momentane Schwäche Litauens und rückte ohne nennenswerte Gegenwehr in Galič und Wolhynien ein.357 Kęstutis gelang es 1352 in Verhandlungen mit Polen einen Krieg um Podlachien zu vermeiden und zu einer

352 Hermanni de Wartberge: Chronicon Livoniae. In: Hirsch, Theodor; Töppen, Max; Strehlke, Ernst [Hrsgg.]: SRP, Die Geschichtsquellen der Preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bd. 2, Leipzig 1863, S. 80. 353 Giedroyć Michał: The Arrival of Christianity in Lithuania. Baptism and Survival (1341-1387). In: OSP n.s. Vol. XXII, Oxford 1989, S. 43. 354 Hellmann, Großfürstentum, S. 748; Kiaupa, Establishment, S. 122. 355 Lübke nennt über 50 Vorstöße nach Litauen aus dem Ordensland Preußen, sowie 22 vom livländischen Zweig durchgeführte Züge. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 395. 356 Lübke, Östliches Europa, S. 393f. 357 Der polnische König bezeichnete sich daraufhin als „dominus terrae Russiae“ (Herr des Landes der Rus„), in offener Konkurrenz zu den litauischen Ansprüchen und Selbstzuschreibungen. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 394. Fennell nennt das Jahr 1349 für die Schlacht an der Strebe und die Besetzung von Galič und Wolhynien. Vgl. Fennell, Russian Church, S. 139f. 89 vertraglichen Lösung zu gelangen. Darin wurde eine Teilung des Fürstentums vereinbart, welche im Wesentlichen dem status quo ante entsprach.358

Wie oben erwähnt mußte Kęstutis zeitlebens die Angriffe des Deutschen Ordens auf das Großfürstentum zurückschlagen und die sog. „Preußenreisen“ abwehren. In der Position des Verteidigers sollte er sich darauf beschränkt sehen, das Erreichte zu bewahren. Die Vergeltung der Litauer gegen den Orden konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Zerstörung der von diesem im Grenzland bzw. auf litauischem Gebiet errichteten Burgen und Befestigungen sowie auf Plünderungszüge ins Ordensland. Wenn es die Situation im Westen erlaubte, nahm Kęstutis selbst aber auch an Feldzügen in die Rus' teil.359

Nach erfolglosem Abbruch der Verhandlungen mit Kaiser Karl IV. um die Christianisierung Litauens startete der Deutsche Orden neue Offensiven. 1362 etwa konnte der Orden die aus Ziegeln erbaute Festung von Kaunas einnehmen und zerstören, 1363 fiel Veliuona. Entlang der Memel wurden Burgen wie die Bayerburg360, Gotteswerder361 (1363-1369) oder Marienburg362 (1367-68) als Teil einer bewährten Methode teils neu-, teils wiedererrichtet, Landstriche stückweise zu besetzen. Die Litauer konnten diesen Prozess der Landnahme durch ständige Attacken nur verzögern, jedoch nicht verhindern.363 Der Livländische Orden fiel aus dem Norden mehrere Male zwischen 1363 und 1367 in Nordlitauen ein. 1365 nutzte der Deutsche Orden Butautas364, einen Sohn Kęstutis, und dessen Streben nach dem Fürstenthron für seine Zwecke. marschierte mit Unterstützung des Ordens365 gegen

358 Angeblich wurde in den Verhandlungen über die Taufe und ein mögliches Königtum für Kęstutis gesprochen. Ergebnis jedenfalls war, dass einerseits der bereits erwähnte Liubartas, Sohn Gediminas„ und Bruder Kęstutis„, in seiner Herrschaft über Wolhynien bestätigt wurde, während Peremyńl„ (heute Przemyśl in Polen) und Lemberg (heute L‟viv in der Ukraine) an Polen fielen. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 394; Kiaupa, Before Christianization, S. 120. 359 Lübke, Östliches Europa, S. 396; Kiaupa, Before Christianization, S. 119. 360 Diese Burg wurde 1337 unter Beteiligung Herzog Heinrichs II. von Niederbayern errichtet, des Vettern von Kaiser Ludwig dem Bayern. Vgl. Paravicini, Preußenreisen Bd. 2, S. 63. 361 Paravicini, aaO, S. 64. 362 Die Marienburg an der Memel wurde in jenen Jahren verlegt bzw. wiedererrichtet, die Vorgängerburg aus dem Jahre 1337 war wie viele andere im Zuge eines 1365 erfoglten Vernichtungsfeldzuges der Litauer eingeäschert worden. Vgl. Paravicini, aaO, S. 61-63. 363 Kiaupa, Before Christianization, S. 123. 364 Butautas hatte sich im selben Jahr in Königsberg auf den Namen Heinrich taufen lassen. Vgl. Hellmann, Geschichte Litauens, S. 29 sowie http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). Zu Butautas/Heinrich und anderen litauischen Konvertiten im Westen siehe ferner: Rowell, Unexpected Contacts, S. 557-577. 365 Rowell meint, Butautas/Heinrich habe an einer regulären „Preußenreise“ des Ordens teilgenommen, um sich als Konvertit zu bewähren. Vier seiner Diener sollen geflohen sein und die Litauer gewarnt haben. Vgl. Rowell, Unexpected Contacts, S. 567f. 90

Vilnius, unterwegs wurden die Burgen von Kernavė und Maińiagala geschliffen.366 Nachdem sein Usurpationsversuch gescheitert war, verblieb er am Hofe Kaiser Karls IV.367

Schließlich erreichte ein Feldzug von 1367 auch Burg und Fürstensitz Trakai. Die Gegenwehr des Großfürstentums schien zwischenzeitlich zu erlahmen, nur 1364 und 1365 gelang es den Litauern, erfolgreiche Gegenangriffe durchzuführen.368

1370 führten Kęstutis und Algirdas gemeinsam einen Großangriff gegen den Orden durch, mussten aber in Schlacht von Rudau (lit. Rudava) eine vernichtende Niederlage einstecken. In den Jahren 1373-1373 wurden immerhin noch sieben, wenn auch begrenzte, Operationen gegen den Orden unternommen.369

Der Kampf mit Polen um Wolhynien ging weiter und beginnend mit dem Jahr 1366 wurde eine neue Welle von Angriffen gestartet. Polen hatte mit dem Deutschen Orden und den Tataren ein Bündnis gegen Litauen geschmiedet. Die 1366/67 getroffene vertragliche Teilung Wolhyniens brachte kein Ende der Gewalt, immer wieder flackerten die Kämpfe auf. Nach dem Tod Kasimirs I. von Polen 1370 konnten Kęstutis und Liubartas den Westteil Wolhyniens und darüber hinaus auch Galič erobern. Die polnische Krone ging an Ludwig I. von Ungarn, dieser griff 1377 ein nach dem Tode des Großfürsten Algirdas vorübergehend geschwächtes Litauen an und konnte Galič sowie den Westteil Wolhyniens zurückgewinnen. Er versuchte, die Fürstentümer für die ungarische Krone zu sichern. Nach dem Tod Ludwigs 1382 gelang Liubartas die dauerhafte Rückgewinnung Westwolhyniens, Galič ging erst 1387 wieder an Polen.370

366 Kiaupa, Before Christianization, S. 122. 367 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 30. 368 Kiaupa, Before Christianization, S. 122. 369 Kiaupa, Before Christianizaiton, S. 123. 370 Fr.-Chirovsky, Nicholas L.: An Introduction to Ukrainian History. Volume I. Ancient and Kievan-Galician Ukraine-Rus‟. New York 1981, S. 181f; Kiaupa, Before Christianization, S. 122. 91

4.4.1.3. Der Ostteil unter Algirdas

Während sein Bruder Kęstutis im Westen die Last der stetigen Kämpfe mit dem Deutschen Orden und teilweise auch mit Polen zu schultern hatte und daher zu einer defensive Politik gezwungen war, konnte Algirdas im Osten offensiv vorgehen und weit in die Erbmasse der Kiewer Rus„ vorstoßen. So zwang er bereits 1356-1359 Smolensk Stück für Stück zur Anerkennung der litauischen Oberhoheit.371 Die dortigen lokalen Fürsten waren dem Khan der Goldenen Horde tributpflichtig, der seinen Tribut auch von den

Abb. 7: Olgerdvs princeps Litvaniae. nunmehrigen litauischen Machthabern einholen wollte. Nachdem Algirdas seine Herrschaft über die Stadt Kiew und das Gebiet Podolien ausgedehnt hatte, kam es 1362/63 zur für die Litauer siegreichen Schlacht bei den „Blauen Wassern“ (russ. Sinie Vody).372 Von der geschlagenen Goldenen Horde ging in den folgenden Jahren keine Gefahr mehr aus.373

Die bereits erwähnte gediminidische Heiratspolitik führte Algirdas erfolgreich weiter, nach dem Tod seiner ersten Frau Maria von Vitebsk im Jahr 1346 verband er sich mit Ul„jana von Tver' (ca. 1325–1392). Litauen und das Fürstentum Tver' standen von da an in gemeinsamer Opposition zum aufstrebenden Moskau.374 Algirdas bestärkte Fürst Michail von Tver' in seiner gegen Moskau gerichteten Politik. Der litauische Großfürst selbst unternahm mit Truppen aus Tver„ und Smolensk sowie der Unterstützung seines Bruders Kęstutis 1368 und 1370 zwei Züge gegen das Fürstentum, einen letzten Versuch startete er 1372.375 Allerdings gelang die Einnahme Moskaus nicht, Algirdas musste von einer Belagerung absehen und

371 Ńmigelskytė-Stukienė, Territory and Borders, S. 11. 372 Zur Problematik der Lokalisierung des Schlachtfeldes und der mangelnden Würdigung dieses Sieges gegen die Tataren vgl. Pelenski, Jaroslaw: The contest for the Legacy of Kievan Rus„. (= East European Monographs, Bd. 377). New York 1998, S. 137. 373 Lübke, Östliches Europa, S. 396; Kiaupa, Before Christianization, S. 121. 374 Lübke, Östliches Europa, S. 394. 375 Ńmigelskytė-Stukienė, Territory and Borders, S. 12. 92 vorläufig Frieden schließen.376 Damit war jedoch das Ringen der beiden expansiven Großfürstentümer um das Erbe der Kiewer Rus„377 eröffnet.

Ein weiterer Feldzug zugunsten des verbündeten Tver' blieb 1372 erfolglos, Algirdas zog sich in der Folge aus dem Konflikt zwischen Moskau und Tver„ zurück. Mit einer Reihe von Eroberungszügen gelang es dem litauischen Großfürsten, seine Herrschaft über eine Reihe weiterer rus'ischer Fürstentümer auszudehnen. So konnten Černigov, Novgorod-Severskij und Brjansk besetzt werden, Vitebsk fiel durch Erbschaft an Litauen. Drei Fünftel des alten Kiewer Reiches waren nun in der Hand Litauens. Algirdas wird der Ausspruch, das ganz Russland einfach zu Litauen gehören müsse, zugeschrieben: „[…], sed omnis Russia ad Letwinos deberet simpliciter pertinere.“378

Dadurch wird der Anspruch, den der litauische Großfürst auf das Erbe der Kiewer Rus„ erhoben hatte, deutlich zum Ausdruck gebracht.379

Krise nach Algirdas‘ Tod

Im Mai 1377 wurde Litauen durch das Ableben von Algirdas in eine Krise gestürtzt. Die Erbfolge drohte von seinem Bruder und treuen Verbündeten Kęstutis indes nicht in Frage gestellt zu werden. Als Erben und Nachfolger im Großfürstenamt hatte Algirdas seinen Sohn Jagiełło (lit. Jogaila) erkoren. Dieser war der älteste Sohn aus der zweiten Ehe mit Ul„jana von Tver'. Während Kęstutis bemüht war, die gemeinsame Politik im Sinne Algirdas„ fortzuführen, erwuchsen dem jungen Großfürsten Auseinandersetzungen mit seinen älteren, sich in der Nachfolgeordnung übergangen fühlenden, Stiefbrüdern. So zog sich der älteste Sohn Algirdas„, Andrej, nach Pskov zurück und bemühte sich um moskauer Unterstützung zur Gewinung des Großfürstenthrones. 1379 fand denn auch ein moskovitischer Zug gegen Dmitrij von Seversk, einen anderen Sohn Algirdas„, statt. Jogaila, der unter dem Einfluss seiner Mutter und der rus'ischen Partei am Hof stand, gelang es mit Kęstutis Hilfe rasch, sich durchzusetzen. Durch den erwähnten rus‟ischen Einfluss auf den neuen Regenten entfremdeten sich Onkel und Neffe immer mehr. Dem Deutschen Orden, aufmerksamer Feind

376 Lübke, Östliches Europa, S. 396, 401. 377 Nach Lübke beherrschte Litauen um 1370 etwa drei Fünftel der ehemaligen Kiewer Rus„, doch sieht er bereits mit der gescheiterten Einnahme Moskaus 1368/70 den Wendepunkt zugunsten der einstmals unbedeutenden Grenzfeste Moskau gekommen. Vgl. Lübke, Östliches Europa, S. 396. 378 Hermanni de Wartberge: Chronicon Livoniae. In: SRP, Bd. 2, S. 80. 379 Hellmann, Großfürstentum, S. 747; Ders., Litauen bis 1234, S. 1090. 93

Litauens, blieb dies nicht verborgen. Er versuchte vielmehr, das Misstrauen unter den litauischen Fürsten zu schüren und eigenen Zwecken dienstbar zu machen. Den Anlass, die Verhältnisse eskalieren zu lassen, bildete ein im September 1379 zwischen dem Deutschen Orden und dem Großfürstentum Litauen zu Traken (lit. Trakai) abgeschlossener Friedensvertrag.380

Zunächst wurde dieser Vertrag von Seiten des Ordens mit Kęstutis und Jogaila abgeschlossen. Danach kam es allerdings zu Geheimverhandlungen mit Jogaila in Vilnius. Nachdem Skirgaila (poln. Skirgiełło) erneut als Gesandter zum Hochmeister des Deutschen Ordens nach Marienburg kam, wurde im Februar 1380 ein Friedensvertrag zwischen Deutschem Orden und Großfürst Jogaila geschlossen, welcher sich ausdrücklich nicht auf Kęstutis und Ņemaiten erstreckte. Dieser wurde im Mai durch den Vertrag von Daudisken (lit. Dovydińkės) ergänzt, Jogaila würde seinem Onkel im Verteidigungsfall gegen den Orden nicht beistehen. Dies bedeutete für den Orden freie Hand, Ņemaiten zu erobern und sich die begehrte Landbrücke zwischen Preußen und Livland einzuverleiben.381

Als Kęstutis von diesem Vertrauensbruch erfuhr, besetzte er Vilnius, setzte Jogaila sowie einige von dessen Brüdern ebenso wie Ul‟jana von Tver„ fest, und übernahm die Großfürstenwürde. Jogaila wurde nach Leistung eines Treueeides Fürst von Krėva und Vitebsk, sein Bruder Skirgaila konnte sich nach Livland absetzen. Während Kęstutis nun seine Truppen gegen den Deutschen Orden führte, organisierte Jogaila mit seinen Brüdern Skirgaila und Korybut (lit. ) einen Aufstand gegen den Onkel. Die Aufständischen schlossen einen Waffenstillstand mit dem Deutschen Orden und nahmen Vilnius sowie Trakai ein. Kęstutis wurde samt Frau und Sohn Witowt (lit. Vytautas) festgenommen, der vormalige Großfürst kam in Gefangenschaft auf Burg Krėva unter ungeklärten Umständen ums Leben. Ob er auf Befehl Jogailas ermordet wurde, ist nach Quellenlage nicht klar, scheint aber plausibel.382

Wigand von Marburg schreibt für das Jahr 1282 dazu: „Kynstut in captivitate strangulatur, Wytaut vinculatur; matrem autem submergunt.“383

380 Hellmann, Großfürstentum, S. 749; Kiaupa, Before Christianization, S. 124. 381 Kiaupa, Before Christianization, S. 125; Hellmann, Großfürstentum, S. 749. 382 Hellmann, Großfürstentum, S. 749; Ders., Litauen bis 1234, S. 1094; Kiaupa, Before Christianization, S. 125f. 383 Hirsch, Theodor [Hrsg.)]: Die Chronik Wigands von Marburg. Originalfragmente, Lateinische Uebersetzung und sonstige Ueberreste. In: Hirsch, Theodor; Töppen, Max; Strehlke, Ernst [Hrsgg.]: SRP, Die 94

Die Übersetzung Stenzel Bornbachs dazu: „Do war er [Anm. Kęstutis] in einem torm vmgebrocht, vnd seinen son Witolt legten sie gefangen, vnd seine [Anm. Vytautas„] mutter war erseufft etc.“384

Die ältere Hochmeisterchronik weiß über Kęstutis„ Tod anderes zu berichten, beschreibt aber darüber hinaus Vytautas„ gewitzte Flucht in Frauenkleidern: „In dem gefengnisse totte sich selbir Kynstutte, abir Wytolt quam awsz mit hulfe seynes weibes in eren cledern durch alle phorten als eyn vorflüchtiger man durch dy Maszaw ken Prewsen czu meister Czolner.“385 Die Flucht über Masowien nach Preußen zum Orden und dessen Hochmeister Konrad Zöllner im Jahre 1382 sollte nicht die letzte dieser Art im bewegten Leben Vytautas„ bleiben.

Geschichtsquellen der Preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bd. 2, Leipzig 1863, S. 614. 384 Wigand, SRP II, S. 614. 385 Die ältere Hochmeisterchronik. In: Hirsch, Theodor; Töppen, Max; Strehlke, Ernst [Hrsgg.]: SRP, Die Geschichtsquellen der Preussischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft. Bd. 3, Leipzig 1866, unveränderter Nachdruck Frankfurt a. M. 1965, S. 603. 95

Karte 7: Das Großfürstentum Litauen, ca. 1300 bis ca. 1430.

96

4.5. Jogaila und Vytautas

4.5.1. Die Taufe Jogailas und Union mit Polen

Jogaila hatte 1382 mit Ausschaltung von Kęstutis und Vytautas die Großfürstenwürde wieder errungen und war – unter der neuerlichen Vermittlung seines Bruder Skirgaila386 – einen Vertrag mit dem Deutschen Orden eingegangen. Der Vertrag beinhaltete Jogailas Übertritt zum Christentum sowie die erneute Abtretung Ņemaitens, bis zum Fluss Dubissa (lit. Dubysa). Als Gegenleistung sollte mithilfe des Ordens seine Herrschaft gegenüber Vytautas und anderen Herausforderern gesichert werden. Ein auf vier Jahre befristeter Frieden wurde geschlossen, für Abb. 8: Iagielo Princeps Litvanorvm dessen Geltungsdauer die außenpolitische Eigenständigkeit Litauens beschnitten wurde. Jogaila sollte während dieser Zeit keinen Krieg ohne Einwilligung des Ordens führen dürfen. Dies hätte – wie Pfitzner ausführt – verbunden mit der durch den Orden durchzuführenden Christianisierung, die auch Vertragsbestandteil war, zu einer völligen Abhängigkeit Litauens und mitunter zu einem Aufgehen im Ordensland führen können.387

Ein Treffen Jogailas mit Hochmeister Konrad Zöllner von Rothenstein kam 1383 nicht zustande – Jogaila hatte sich inzwischen entschlossen, den Vertrag mit dem Orden nicht zu erfüllen. 388 Mit seinem ihm in inniger Feindschaft verbundenen Vetter Vytautas versuchte er

386 Pfitzner sieht des Verhältnis zwichen Jogaila und Skirgaila wie jenes zwischen Algirdas und Kęstutis. Eine Art „Doppelherrschaft“ nach innen, wobei der Großfürst sein Zentrum in Vilnius hatte, der Zweitgereihte in Trakai. Vgl. Pfitzner, Josef: Großfürst Witold von Litauen als Staatsmann. (= Schriften der Philosophischen Fakultät der Deutschen Universität in Prag, Bd. 6). Brünn u.a. 1930, S. 62, 103. 387 Pfitzner, Witold, S. 60f; Hellmann, Großfürstentum, S. 750. 388 Kiaupienė, Jūratė: The Grand Duchy of Lithuania from the Establishment of the State to the Union of Lublin. III. The Grand Duchy of Lithuania in the times of Vytautas and Jogaila. In: Kiaupa, Zigmantas; Kiaupienė, 97 einen Ausgleich zu erlangen. Dieser war inzwischen auf den Namen Wigand katholisch getauft worden und versuchte seinerseits, mithilfe des Deutschen Ordens sein väterliches Erbe zurückzugewinnen. Er ging in seinen Bestrebungen sogar soweit, das Vatererbe Trakai als Lehen vom Orden empfangen zu wollen, mithin dessen Vasall werden zu wollen.389 So zog er 1383 mit seinen ņemaitischen Verbündeten sowie Truppen des Ordens gegen Trakai, um dieses im Anschluss vom Orden als Lehen zu empfangen. Dem Orden wurde nun Ņemaiten bis zum Fluss Nevėņis, dh. bis zur Grenze Aukńtaitens ebenso wie die Festung von Kaunas übereignet.390

Jogaila gelang es schließlich 1384 mit seinem gefährlichen Vetter eine Einigung zu erzielen, eine Notwendigkeit, wenn er den Orden neutralisieren wollte, ehe dieser sich in Ņemaiten und in Trakai festsetzen konnte. Vytautas wechselte ins Lager Jogailas, nicht ohne zuvor drei Ordensburgen am rechten Ufer des Nemunas niedergebrannt zu haben (Marienburg, Jürgenburg und Neu Bayerburg).391 Jogaila sollte die Großfürstenwürde innehaben, Vytautas über Grodno, Schwarzrussland und Podlachien mit Brest herrschen, Skirgaila in Trakai wieder eingesetzt werden. Vytautas musste also – vorerst – auf sein Vatererbe verzichten, begab sich nach Grodno und ließ sich orthodox auf den Namen Alexander taufen.392

Nachdem im Großfürstentum die Ordnung wiederhergestellt war, konnte sich Jogaila wieder seinem eigentlichen Projekt widmen: der Verbindung mit Hedwig (poln. Jadwiga), der polnischen Thronerbin. Nach dem Tod König Ludwigs von Ungarn und Polen 1382 wurde dessen ältere Tochter Maria zur Königin von Ungarn gekrönt. Der polnische Adel war für eine Aufrechterhaltung der seit 1370 bestehenden Union mit Ungarn, Jadwiga wurde zum rex Poloniae, zum König von Polen gekrönt. Die bereits von ihrem Vater vorgenommene Verlobung mit Herzog Wilhelm von Österreich lehnte der Adel ebenfalls ab, bereits 1383 begann man daher, mit Jogaila Gespräche zu führen. Anfang 1385 war Skirgaila als Brautwerber im Auftrag Jogailas am polnischen Hof in Krakau. Die Situation erfuhr im Sommer 1385 eine kurzfristige Verschärfung, als der Verlobte Jadwigas, Herzog Wilhelm von Habsburg, in Krakau eintraf.393 Nachdem die Verhandlungen zu einem Ende gekommen waren und man sich mit dem Habsburger über eine Entschädigungszahlung in Höhe von

Jūratė; Kuncevičius, Albinas: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000, S. 127; Hellmann, Geschichte Litauens, S. 35. 389 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 35; Ders., Großfürstentum, S. 750; Pfitzner, Witold, S. 65. 390 Kiaupienė, Vytautas and Jogaila, S. 128; Pfitzner, Witold, S. 66. 391 Kiaupienė, Vytautas and Jogaila, S. 128. 392 Pfitzner, Witold, S. 68; Hellmann, Großfürstentum, S. 751. 393 Kiaupienė, Vytautas and Jogaila, S. 129. 98

200.000 fl. geeinigt hatte, wurde am 14. August 1385 die Union von Krewo394 geschlossen. Der Unionsakt enthielt die Bedingungen, unter welchen die Ehe zwischen Jogaila und Jadwiga geschlossen werden sollte.395 Die Wendung, dass die litauischen und rus‟ischen Länder der polnischen Krone beständig angeschlossen werden „[...] terras suas Litvaniae et Russiae coronae regni Polonie perpetuo applicare“396 sollte bis in die Gegenwart für Kontroversen sorgen.397 Besiegelt wurde der Vertrag neben Jogaila und dessen Brüdern Skirgaila und Kaributas auch von Vytautas, was dessen Bedeutung innerhalb der litauischen Führungsschicht herausstreicht.398 Bei der Taufe 1386 in Krakau war Vytautas zugegen, er wurde gemäß den Vertragsbedingungen ebenfalls nach lateinischem Ritus getauft, behielt aber den Namen Alexander bei.399 Jogaila wurde vom Erzbischof von Gnesen auf den Namen Władysław getauft.400

Nach Jogailas Rückkehr nach Vilnius im Februar 1387 begann der Prozess der Christianisierung Litauens: großangelegte Taufen wurden durchgeführt, Privilegien an den Bischof des am 17. Februar des Jahres neuerrichteten Bistums von Vilnius sowie an katholische Adelige und die Bürgerschaft von Vilnius wurden erteilt. Ungleich der Herangehensweise Mindaugas„ im 13. Jhdt., der Bischof Christian nur unzureichend mit Gütern ausgestattet hatte, wurden dem nunmehrigen Bischof Andreas weite Ländereien verliehen, welche von jeglchen Abgaben befreit waren. So wurde die Kirche rasch zum Großgrundbesitzer und mit einer tragfähigen materiellen Basis ausgestattet. Vilnius erhielt im März 1387 zudem als erste Stadt Litauens das Magdeburger Stadtrecht.401

Neben der katholisch-polnischen Option hatten Jogailas Mutter, Ul‟jana von Tver„ und deren orthoxe Entourage auch die Möglichkeit einer orthodox-moskowitischen Heiratsverbindung ins Spiel gebracht. In den Jahren 1383 und 1384 wurde ernsthaft über eine Vemählung

394 Lit. Krėva, südlich von Vilnius im heutigen Weißrussland gelegen. Bedeutender Ort schon unter Gediminas, Kęstutis und Vytautas waren in der dortigen Burg 1382 interniert gewesen. 395 Bedingungen waren die lateinische Taufe Jogailas sowie die seiner Brüder und des bislang heidnischen litauischen Volkes, Entschädigungszahlung an Wilhelm von Habsburg, die Rückgewinnung ehemals polnischer Gebiete und die Angliederung der litauischen und rus‟ischen Länder an die polnische Krone. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 751. 396 Vgl. http://la.wikisource.org/wiki/Unio_in_Krew (03.07.2013) 397 So wurde auch die Authentizität der Urkunde in Zweifel gezogen und behauptet, es handle sich um eine spätere polnische Fälschung aus politischen Gründen. Vgl. Kiaupienė, Vytautas and Jogaila, S 129. sowie umfassend http://www.istorija.lt/html/krevos2002_summary.html (02.07.2013). 398 Hellmann, Großfürstentum, S. 751. 399 Pfitzner, Witold, S. 70. 400 Nach Rowell, Baltic Europe, S. 710 eine Reminiszenz an Władysław Łokietek, doch ist wohl Lübke, Östliches Europa, S. 430 zu folgen, wonach er den Namen von seinem Taufpaten Władysław von Oppeln annahm. 401 Kiaupienė, Vytautas and Jogaila, S. 130f; Hellmann, Großfürstentum, S. 755. 99

Jogailas mit Sofia, der Tochter des Moskauer Fürsten Dmitrij Donskojs, verhandelt. Für die Moskauer Seite wird vermutet, dass es in der geschwächten Situation nach dem 1382 erfolgten Gegenschlag Khan Tohtamiş„402 jede Konfrontation mit Litauen vermeiden wollte und einen Ausgleich erstrebte.

Dennoch ließ man von dieser Option ab, da Kreise ausserhalb Ul‟janas Zirkel einen zu großen Machtzuwachs der Orthodoxie befürchteten, der das Großfürstentum schlußendlich unter die Dominanz Moskaus bringen würde. Außerdem brachte die Annahme des orthoxen Christentums im Verhältnis zum Deutschen Orden keinen Vorteil, nachdem dieser die Orthodoxen als Schismatiker und damit nicht als Christen im eigentlichen – katholischen – Sinn betrachtete. Demnach war aus litauischer Sicht die polnische Option attraktiver.403

4.5.2. Erneuter Konflikt mit Vytautas und Ausgleich

Jogaila bestellte als Statthalter für das Großfürstentum Litauen seinen Bruder Skirgaila, was aber bald zu Verstimmungen führte. Andrej von Polock, der älteste Bruder Jogailas404, startete eine Revolte gegen die Union mit Polen und versicherte sich der Unterstützung des Fürsten von Smolensk sowie des Livländischen Ordens. Nach der Niederschlagung des Aufstandes erhielt Skirgaila von Jogaila das Fürstentum Polock zugesprochen und wurde so in seiner Stellung gegen Vytautas, der immer noch sein Vatererbe Trakai begehrte, gestärkt. Vytautas ließ sich darauf neuerlich orthodox taufen und plante wohl, dem verstorbenen Liubartas in der Herrschaft über Wolhynien nachzufolgen. Das Treffen mit Vasilij, dem zukünftigen Erben Dmitrij Donskojs von Moskau führte Jogaila und Skirgaila das Machstreben ihres Vetters erneut vor Augen. Vytautas„ Stellung erfuhr durch die Verlobung seiner Tochter Sofia mit Vasilij, sehr zum Missfallen seiner Widersacher, eine Stärkung. Tautvilas, der Bruder Vytautas„, wurde aus seiner Stellung als Fürst von Novogrodek vertrieben, in Wolhynien

402 Tohtamiş oder Toḫtamyń war 1376-1399 Khan der Goldenen Horde. Er hatte sich endültig mithilfe Tamerlans gegen den nach der verlorenen Schlacht auf dem Schnepfenfeld (Kulikovo Pole) geschwächten Emir Mamai durchsetzen können. 1382 verheerte er Moskau und erneuerte die Herrschaft der Horde über weite Teile der Rus„. 1387 wandte er sich gegen Tamerlan, unterlag und versuchte idF erfolglos mithilfe des litauischen Großfürsten Vytautas die Khanswürde zurückzuerlangen. Vgl. Göckenjan, H.: Toḫtamyń. In: LMA, Bd. 8, Sp. 841. 403 Kiaupienė, Vytautas and Jogaila, S. 128; Nitsche, Mongolenzeit, S. 608. 404 http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). 100 wurden Aufstände gegen Vytautas organisiert, Grodno und Luzk erhielt er nicht als dauernde Herrschaften verliehen.405

Solcherart in seiner Stellung bedroht, setzte er sich 1389 erneut zum Deutschen Orden ab. Diesen brachte er mit etlichen Versprechungen (u.a. lockte wieder einmal der Besitz Ņemaitens) dazu, auf seiner Seite in die Geschehnisse einzugreifen. Mit Truppen des Ordens gelang Vytautas die Eroberung Grodnos, der Orden organisierte eine „Preußenreise“ und belagerte Vilnius, im Osten griffen moskowitische Truppen – quasi als Geschenk an den Brautvater durch Vasilij I. von Moskau – das Großfürstentum an.406

Einem Zangenangriff ausgesetzt sah sich Jogaila gezwungen, um den Preis der Absetzung Skirgailas als Statthalter, einen Ausgleich mit Vytautas zu suchen. Ein Unterfangen, das 1392 mit einer Einigung Ostrów in Masowien zum Erfolg führte.407 Vytautas erhielt nicht nur sein Vatererbe (Trakai nebst Ņemaiten und Podlachien) zurück, er wurde dazu als Fürst von Luzk und Wolhynien bestätigt und bekleidete von nun an das Amt des Statthalters in Vilnius.

Skirgaila hingegen erhielt als Kompensation das Fürstentum Kiev, wo er – bis auf gelegentliche Streitigkeiten mit Vytautas – weitgehend isoliert und damit neutralisiert war.408 Der neue Machthaber in Litauen war allerdings als „dux Lithuaniae“ dem polnischen König und „supremus dux“ Litauens nachgeordnet und der polnischen Krone zur Treue und Gefolgschaft verpflichtet. Doch war Vytautas„ Stellung innerhalb Litauens nunmehr gefestigt, sodass er nun an seinem eigentlichen Projekt, einer eigenen Ostpolitik, arbeiten konnte.409 Selbst nannte er sich fortan „magnus dux“ und siegelte als Großfürst.

405 Hellmann, Großfürstentum, S. 753f. 406 Hellmann, Großfürstentum, S. 754f. 407 Hellmann, Großfürstentum, S. 755. 408 Hellmann, Großfürstentum, S. 755. 409 Hellmann, Großfürstentum, S. 755f. 101

4.5.3. Die Ostpolitik Vytautas‘

Dem als Geisel am Hofe Khan Tohtamiş„ weilenden Vasilij Dmitrievič, einem Sohn des Großfürsten Dmitri Donskoj, gelang 1386 die Flucht. Er konnte sich in litauisches Gebiet absetzen und gelangte zu Vytautas, dieser sah sich hier eine Chance für seine Ostpolitik auftun. Vasilij, der legitime Thronfolger in Moskau, wurde mit Vytautas„ Tochter Sofia verlobt. 1391 wurde die Hochzeit vollzogen, nachdem Sofia auf abenteuerliche Weise nach Moskau geschleust werden konnte.410 Der nunmehrige Großfürst von Vladimir und Moskau war nun gleichzeitig der Schwiegersohn des nachmaligen litauischen Abb. 9: Vitoldus Magnus Dux Litvaniae. Großfürsten.411

Vasilij kooperierte völlig mit seinem Schwiegervater. Der Moskauer Großfürst intervenierte denn auch nicht, als Vytautas 1395 Smolensk seinem Machtbereich angliederte.412 Auch im ein Jahrzehnt dauernden Krieg Rjazan‟s mit Litauen griff er nicht ein, im Gegenteil, Fürst Oleg blieb wegen seines Verhaltens im Vorfeld der Schlacht auf dem Schnepfenfeld als späte Rache explizit jegliche Unterstützung aus Moskau vewehrt.413 Einzig über Novgorod hätte es zu einem Konflikt kommen können, als Vytautas 1398 plante, gemeinsam mit dem Deutschen

410 Vytautas befand sich gerade im Kampf mit seinem Vetter Jogaila, an eine sichere Passage durch Litauen war für Vasilijs Braut also nicht zu denken. Wohl aufgrund seines Bündnisses mit dem Deutschen Orden vermochte es Vytautas, Sofia von den Boten des moskauer Fürsten via Danzig und Riga nach Moskau bringen zu lassen. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 755. 411 Martin, Medieval Russia, S. 240; Nitsche, Mongolenzeit, S. 609; Hellmann, Großfürstentum, S. 755. 412 Martin, Janet: The Emergence of Moscow (1359-1462). In: Perrie, Maureen [Hrsg.]: The Cambridge History of Russia. Volume I. From Early Rus„ to 1689. Cambridge u.a. 2006, S. 168. 413 Oleg hatte sich für den Fall eines Sieges der Tataren, welche sein Fürstentum als Transitland auf dem Weg nach Moskau zu durchqueren planten, absichern wollen und ihnen Furten ausserhalb seines Gebietes gezeigt. Seine Politik war nicht erfolgreich, Tohtamiş„ Truppen verheerten auf dem Rückweg sein Land, kurz darauf kamen die Moskowiter und rächten sich an Rjazan„ für dessen Zusammenarbeit mit den Tataren. Vgl. Nitsche, Mongolenzeit, S. 607. 102

Orden einen Großangriff gegen Novgorod und Pskov durchzuführen. Diese Kampagne kam jedoch aufgrund der Niederlage an der Vorskla 1399 über die Planungsphase nicht hinaus.414

Das weite Ausgreifen der vytaut‟schen Expansionspolitik mit Stoßrichtung Osten und Südosten lässt ein Anknüpfen an dem von Algirdas vertretenen Konzept des „Sammelns der rus‟ischen Lande“ erkennen. Diesmal allerdings erfolgte die Ausdehnung nicht durch eine großangelegte Heiratspolitik, weitläufig verknüpft mit Religionspolitik, sondern im Wesentlichen durch militärische Macht und Durchsetzung einer zentralen, dem litauischen Fürsten unterstellten, Verwaltung, Allerdings diesmal nicht im Zuge einer großangelegten Heiratspolitik, auch nur am Rande verknüpft mit Religionspolitik, sondern im Wesentlichen beruhend auf militärischer Macht und Durchsetzung einer zentralen, dem litauischen Fürsten unterstellten, Verwaltung.415

Im Inneren straffte er die Herrschaftsorganisation, indem er die selbständigen Teilfürsten absetzte und durch seine Statthalter ersetzte. So besetzte er 1393 Vitebsk und entmachtete den dort herrschenden Ńvitrigaila, einen Bruder Jogailas.416 Ebenso verfuhr er mit dem in Novgorod-Seversk sitzenden Stiefbruder des Königs, Kaributas. Podolien wurde zwischen Litauen und Polen aufgeteilt. 1395 besetzte er Smolensk und ersetzte die dortigen, mit ihm verschwägerten Fürsten417, durch eigene Statthalter. Um 1400 hatte er auch einige der Kleinfürstentümer an der Oka in seinen Machtbereich eingegliedert.418

Der Vertrag von Sallinwerder, den Vytautas mit dem Deutschen Orden 1398 geschlossen hatte, ist in diesem Licht als Teil seiner Ostpolitik zu sehen. Wie schon 1383 trat er in diesem Vertrag Ņemaiten bis zum Fluss Nevėņis, der diese litauische Teillandschaft von Aukńtaiten scheidet, ab. Desweiteren verpflichtete er sich zur Waffenhilfe bei der durch den Orden beabsichtigten Eroberung Pleskaus (russ. Pskov). Vytautas wurde als Interessenssphäre dagegen Novgorod zugesprochen. Boockmann sieht mit dem Vertrag von Sallinwerder die

414 Martin, Medieval Russia, S. 240. 415 Hellmann, Großfürstentum, S. 756. 416 Ńvitrigaila wurde zur Bestrafung an den Hof Jogailas gesandt, da er sich Vitbesk widerrechtlich angeeignet hatte. Vytautas konnte in diesem Fall also sogar für sich beanspruchen, die königliche Autorität durchgesetzt zu haben. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 756. 417 Vytautas war mit Anna, der Tochter Fürst Sviatoslavs Ivanovič von Smolensk, in zweiter Ehe verheiratet. Vgl. http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). 418 Hellmann, Großfürstentum, S. 756. 103

Union von Krewo als de facto gesprengt an, da Vytautas darin als Großfürst von Litauen und der Rus„ tituliert wird.419

Mit der Goldenen Horde unterhielt Vytautas diplomatische Beziehungen, Khan Tohtamiş erhoffte sich litauische Unterstützung gegen Rivalen innerhalb der Horde. Um 1396 fand er Asyl beim litauischen Fürsten, der mit seiner Hilfe eine große Operation gegen die Horde plante. Letztlich liefen Vytautas„ Forderungen darauf hinaus, dass Tohtamiş die Ansprüche der Horde auf die Gebiete der Kiewer Rus„ – einschließlich Moskau – ihm übertragen sollte.420 Ob sich der Khan wirklich darauf einließ, oder insgeheim hoffte, nach Beseitigung seiner Rivalen auch mit Vytautas wieder auf Augenhöhe verhandeln zu können, bleibt im Dunkeln.

4.5.4. Die Schlacht an der Vorskla

Selbst im Lichte des Sieges Moskaus in der Schlacht am Schnepfenfeld (russ. Kulikovo Pole) meint Pelenski, der „litauisch-ruthenische Staat“ sei die „einzige Großmacht“ gewesen, welche einen „ernsthaften Versuch gemacht habe, die Goldene Horde militärisch zu besiegen und politisch zu unterwerfen.“421

Dieser Versuch wurde – Pelenski folgend – von Großfürst Vytautas unternommen, der in den Jahren 1397 und 1398 umfassende Aufklärungsoperationen entlang des Mündungsgebietes des Dnjepr und in der nördlichen Krim durchführte. Von diesen Zügen brachte er tatarische Gefangene mit, die teilweise in Polen, zu einem größeren Teil aber in Litauen in der Nähe der Zentren Vilnius, Grodno und Novogrodok angesiedelt wurden.422 Politisch war der Großfürst

419 Dieser politische Erfolg des Ordens blieb allerdings nur Episode, nach Vytautas„ Niederlage an der Vorskla wurde die Union mit dem Akt von Vilnius und Radom erneuert. Vgl. Bookmann, H.: Sallinwerder, Vertrag v. In: LMA, Bd. 7, Sp. 1306. 420 Hellmann, Großfürstentum, S. 756. 421 „The Lithuanian-Ruthenian state was the only major power to have made a serious attempt at militarily subduing and politically subordinating the Golden Horde.“ Vgl: Pelenski, Contest, S. 137. 422 Die nach Polen verbrachten Tataren mussten zum Katholizismus konvertieren, im religiös toleranten Litauen durften sie ihren islamischen Glauben hingegen weiterhin praktizieren. Die tatarischen Truppen leisteten dem Großfürsten treue Dienste und wurden dafür mit Grundherrschaften belohnt. Zur Entwicklung und Situation der tatarischen Bevölkerung in Litauen, die gegenwärtig ca. 5000 Personen umfasst vgl. Ńiaučiūnaitė-Verbickienė, Jurgita: The Tatars. In: Potańenko, Grigorijus [Hrsg.]: The Peoples of the Grand Duchy of Lithuania. Vilnius 2002, S. 73-82. Spuren der Tatarenansiedlung stellen nach eigener Wahrnehmung des Verfassers gegenwärtig z.B. die Namen „Totorių gatvė“ (Tatarenstrasse) in Vilnius und anderen litauischen Städten oder das Dorf Keturiasdeńimt Totorių (Vierzig Tataren) südlich von Vilnius dar. 104 vorbereitet, aus dem Streit um die Nachfolge innerhalb der Horde Profit zu schlagen. Er unterstützte den Anspruch Tohtamiş„ auf die Khanswürde. Dieser war von Tamerlans423 Verbündeten Timur Kutlu (oder Temür Qutlug) und Edigü von seinem Thron vertrieben worden und nach Litauen geflohen.424 Vytautas erhielt im Gegenzug für seine Unterstützung von Tohtamiş den Jarlyk des Großfürsten der Rus„. Das Verhältnis der beiden Herrscher war allerdings nicht ganz klar. Als Großfürst von Litauen und Khan der Goldenen Horde waren sie gleichrangig, als Großfürst der Rus„ stand Vytautas„ jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis zum Khan. Man darf davon ausgehen, das Vytautas eine Unterordnung nicht akzeptiert hätte. Tatsächlich stellten sich diese Probleme als von rein theoretischer Natur heraus, der Jarlyk Tohtamiş„ war bald Makulatur. Von Kiew aus zog Vytautas mit einer großen litauischen Streitmacht und zahlreichen Verbündeten425 gegen die Tataren. Sein Ziel war, die Horde mit einem großen Schlag zu besiegen und Tohtamiş gleichsam als „Marionetten-Khan“426 von Vytautas„ Gnaden zu installieren, welcher ihm, Vytautas, seine Herrschaft verdanken sollte. Der Ausgang der Schlacht zerstörte allerdings alle ergeizigen/hochfliegenden Träume Vytautas„. Er musste an den Ufern der Vorskla427 eine vernichtende Niederlage erleiden und fliehen. Viele seiner Familienmitglieder und rus‟ische Unterstützer Vytautas„ fanden in der Schlacht den Tod. In der Rus„ nutzten beginnend mit Smolensk428 einige Fürsten die nunmehrige Schwäche des litauischen Großfürsten und schüttelten in der Folge die litauische Oberhoheit ab. Als 1406 litauische Truppen versuchten, Pskov und Novgorod wieder unter ihren Einfluss zu bringen, schaltete sich Moskau nach langem Zögern doch noch in den Konflikt ein und Vasilij I. von Moskau zog gegen seinen Schwiegervater zu Felde. Darüber hinaus gewährte er dessen verfeindetem Vetter Ńvitrigaila Asyl bzw. waren mit diesem die Fürsten von Brjansk, Seversk und Černigov auf die Seite Moskau gewechselt. Als Vytautas

423 Auch Timur Lenk bzw. Timūr. Von türk. Temür “Eisen”, pers. Timur i Leng “Timur der Lahme”. Der zentralasiatische Eroberer aus Transoxanien stammt aus einem türkischen Clan, der seine Abkunft von Dschingis Khan herleitete. Er setzte sich unter den Činggisiden durch und nahm 1388 den Titel „Sultan“ an. 1395 besiegte er Tohtamiş, den Khan der Goldene Horde, welcher sich vom einstigen Verbündeten zum Gegner gewandelt hatte. 1402 schlug er die Osmanen bei Ankara, Sultan Bayezid I. verstarb in Tamerlans Gefangenschaft. Vgl. Göckenjan, H.: Timūr. In: LMA, Bd. 8, Sp. 794. 424 Crummey, Robert O.: The Formation of Muscovy 1304-1613. (= Longman History of Russia, Bd. 3). 2. Aufl., London und New York 1989, S. 66; Pelenski, Contest, S. 138. 425 Diese setzten sich zusammen aus Truppen der Rus„, einem Kontingent des Deutschen Ordens sowie polnischen Einheiten. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 757. 426 Pelenski schreibt, Tohtamiş sei für Vytautas bloß ein Werkzeug gewesen, „a tool in Vytautas„ hands.“ Vgl. Pelenski, Contest, S. 138. 427 Zufluss zum Dnjepr. Im Großen Nordischen Krieg fand 1709 in der Nähe die Schlacht von Poltava statt. Vgl. Pelenski, Contest, S. 138. 428 Smolensk machte den Auftakt, erst 1404 gelang es Vytautas, die Stadt wieder unter seine Botmäßigkeit bringen. Doch 1406 begann ein brach ein allgemeiner Aufstand gegen die litauische Herrschaft los. Vgl. Pfitzner, Witold, S 153. 105 mit neuen Truppen gen Moskau zog, erreichte er 1408 kampflos429 den Abschluss des sog. „Ewigen Frieden“ an der Ugra430 mit Vasilij.431 Dieser brachte zwar ein Ende der direkten Kampfhandlungen, im Hintergrund versuchten beide Parteien nach wie vor, Novgorod und Pskov für ihren Einflussbereich zu gewinnen. 1409 setzte sich vorerst Litauen durch, nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass Moskau sich einem erneuten Angriff der Tataren erwehren musste.432 Der Kampf beider Antagonisten um die Vorherrschaft in der Rus„war jedoch noch nicht entschieden.433

Die Niederlage von 1399 bedeutete nach Meinung Pelenskis das Ende für Vytautas„ Plan, den Anspruch Algirdas„ auf die ganze Rus„ endlich in die Tat umzusetzen.434 Zwar konnte Vytautas auch später noch erfolgreich in die inneren Verhältnisse der Goldenen Horde eingreifen435, doch ohne dadurch seine Großmachtpolitik entscheidend vorantreiben zu können.

4.5.5. Union von Vilnius und Radom, Schlacht von Tannenberg

Die machtpolitische Schwäche Vytautas„ konnte sein Vetter und polnischer König Jogaila allerdings nicht dazu nutzen, den Querkopf endlich zur Anerkennung seines königlichen Supremats zu zwingen. Im Gegenteil, das Jahr 1399 war auch für Jogaila ein schicksalsschweres, da seine Gattin Jadwiga verstorben war. Neben persönlicher Trauer galt es nun, seine Königsherrschaft in Polen zu sichern, da er mit Jadwiga seiner Legitimationsbasis auf den Thron verlustig gegangen war. Sohin musste Jogaila Vytautas weitere Zugeständnisse machen, um sich dessen Unterstützung für den Weiterbestand seines Königtums zu sichern. Das Ergebnis war die 1401 geschlossene Union von Vilnius und

429 So Pfitzner, Witold, S. 154. Crummey schreibt hingegen von einem „fitful border war“. Vgl. Crummey, Muscovy, S. 66. 430 Nebenfluss der Oka in Zentralrussland. Der Fluß ist bekannt durch das „Große Stehen an der Ugra“ 1480. Truppen der Goldenen Horde unter Khan Ahmed und jene Moskaus unter Ivan III. standen einander wochenlang an der Ugra zur Entscheidungsschlacht gegenüber, bis die Tataren, die vergeblich auf ihre litauischen Verbündeten gewartet hatten, wieder abzogen. Dies markierte das endgültige Ende der Oberherrschaft der Horde über die rus‟ischen Fürstentümer und bestätigte die Vormachtstellung Moskaus in der Rus„. Vgl. Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 170. 431 Pfitzner, Witold, S. 153f ; Crummey, Muscovy, S. 66 sowie Hellmann, Großfürstentum, S. 759. 432 Pelenski, Contest, S. 144. 433 Hellmann, Geschichte Litauens, S. 42f. 434 Pelenski, Contest, S. 138f. 435 So erreichte er 1412 und 1412-1414 sowie 1417 die Einsetzung der Söhne Tohtameş als Khane der Goldenen Horde. Vgl. Pelenski, Contest, S. 139. 106

Radom.436 Jogaila ernannte darin Vytautas auf Lebenszeit zu seinem Stellvertreter im Großfürstenum, wodurch dieser vom Statthalter zum die Oberhoheit innehabenden Großfürsten auf. Der polnische Hochadel wiederum garantierte, nach einem etwaigen Tod Jogailas keinen neuen König ohne das Einverständnis Vytautas„ wählen zu wollen.

Vytautas seinerseits sicherte zu, nicht ohne die Zustimmung des Königs Verträge mit dem Deutschen Orden abzuschließen bzw. keine sich potentiell gegen Jogaila gerichteten Bündnisse einzugehen. Rechtlich erlangte Vytautas die Oberherrschaft über die wenigen verbliebenen Teilfürsten im Osten, Jogaila schaltete sich fortan in die inneren Belange des Großfürstentumes nicht mehr ein.437 Der Deutsche Orden versuchte, auftretende Spannungen für seine Interessen zu nutzen und unterstützte nach Möglichkeit Ńvitrigaila, den jüngsten Bruder König Jogailas, gegen Vytautas. 1401 bis 1403 führten das Großfürstentum und der Orden einen Krieg, der sich an Aufständen gegen die Ordensherrschaft in Ņemaiten entzunden hatte. Papst Bonifaz IX. erreichte einen Friedenschluss der Streitparteien, Vytautas wurde darin zur Hilfeleistung an den Orden verpflichtet, sollten die Ņemaiten dessen Herrschaft nicht anerkennen. Im Geheimen von Vytautas unterstütz, brach 1409 ein erneuter Aufstand gegen den Orden los. Als dieser daraufhin die Memel für den Getreidetransport sperrte, eskalierte die Situation, nicht zuletzt durch die angebliche Aussage des Großfürsten, man müsse alle Deutschen ins Meer jagen.438 Nachdem der polnische König auf Drängen des Hochmeisters Ulrich von Jungingen eine etwaige Unterstützung Vytautas„ nicht ausdrücklich und dezidiert ausschloß, erklärte der Orden 1409 Polen den Krieg. Anfang 1410 sollte von König Wenzel von Böhmen ein Schiedsspruch gefällt werden, der zugunsten des Deutschen Ordens entschied. Polen anerkannte den Spruch nicht, Krieg war die Folge.439

Die vereinigten Heere Polen und Litauens trafen am 15. Juli 1410 bei Tannenberg (Grunwald, Ņalgiris) auf das Heer des Ordens. In jener geschichtsträchtigen Schlacht wurde der Deutsche Orden vernichtend geschlagen, Hochmeister Ulrich von Jungingen nebst einer großen Zahl von Gebietigern440 fand den Tod. Einzig die Marienburg wurde unter Heinrich von Plauen

436 Zunächst wurde das Abkommen von Vytautas in Vilnius unterzeichnet, danach von den polnischen Großen in Radom (Masowien). 437 Hellmann, Großfürstentum, S. 757f. 438 Hellmann, Großfürstentum, S. 759. 439 Hellmann, Großfürstentum, S. 759. 440 Der an der Spitze des Ordens stehende Hochmeister mit den Inhabern der fünf zentralen Hausämter: Großkomtur, Oberster Marschall, Tressler, Trappier und Spittler. Die tatsächlichen Funktionen der Gebietiger erfuhren nach der Verlegung des Sitzes nach Preußen eine Veränderung. Zur Ämterstruktur des Deutschen 107 gegen eine polnische Belagerung erfolgreich verteidigt.441 Im Ersten Thorner Frieden vom 1. Februar 1411 musste der Orden auf Ņemaiten verzichten, Vytautas erreichte dessen Vereinigung mit dem Großfürstentum Litauen.

Union von Horodło

1413 wurde der nächste Schritt zur Vertiefung des Verhältnisses zwischen Litauen und Polen unternommen, die Union von Horodło442 wurde geschlossen. Der polnische Adel nahm 47 mitlerweile katholisch gewordene litauische Adelsgeschlechter gleichberechtigt in die Wappengemeinschaft auf, sie sollten künftig gemeinschaftlich mit dem polnischen Adel beraten und das Parlament beschicken. Nach dem Tode Vytautas sollte dieses Gremium auch über dessen Nachfolger im Großfürstenamt entscheiden. Die Union von Horodło brachte für Litauen die schrittweise Einführung einer Gesellschaftsordnung und Ämterhierarchie nach polnischem Vorbild.443

4.5.6. Vytautas‘ Tod

Die letzen Jahre im Leben des Vytautas waren von hohen Erwartungen und großen Plänen erfüllt, doch sollten diese am Ende keinen Bestand haben. Eine Metropolie für Litauen war nicht durchzusetzen. Seine Krönung zum König von Litauen wurde vom Deutschen Orden und anderen Gegnern so lange hintertrieben und erfolgreich hinausgezögert, dass Vytautas über das Warten auf die Krone verstarb.444 Mit ihm starb auch die letzte Möglichkeit, das litauische Königtum zu erneuern. In seinem langen Leben war es ihm nicht vergönnt, einen Erben zu zeugen, so dass der Fortbestand seines Werkes gefährdet war.

Einmal noch kam es für Vytautas zum Waffengang gegen den Deutschen Orden, der von seinen Ansprüchen auf Ņemaiten nicht ablassen wollte. 1422 wurde er von der militärischen

Ordens vgl. Bookmann, H.: Deutscher Orden. II. Ämterverfassung und frühe Besitzverhältnisse. 1. Ämterverfassung. In: LMA, Bd. 3, Sp. 768f. 441 Hellmann, Großfürstentum, S. 760. 442 Am Bug gelgenen Ort an der Grenze zwischen dem Königreich und dem Großfürstentum. Vgl. Hellmann, Großfürstentum, S. 760. 443 Hellmann, Großfürstentum, S. 760. 444 Hellmann, Großfürstentum, S. 762f. 108

Übermacht Polens und Litauens erneut bezwungen, der Friedensschluss vom Melnosee brachte die endgültige Festlegung der Grenze zwischen Litauen und dem Ordensland, welche bis 1920 Bestand haben sollte.445

Nach dem Ableben von Großfürst Vasilij I. von Moskau 1425, wurde Vytautas zu einem der Vormunde seines Enkels Vasilij Vasil‟evič bestellt. Die Autorität des alten litauischen Großfürsten war in der Rus„ so groß, dass zu seinen Lebzeiten niemand Vasilijs II. Nachfolge als Großfürst von Moskau infrage stellte. Kaum war Vytautas 1430 gestorben, stürzte der Streit um das Erbe Dmitrij Donskojs Moskau in einen Bürgerkrieg.446

Bis zu seinem Tod 1430 hatte Vytautas nicht nur Smolensk an das Großfürstentum Litauen angegliedert, sondern auch die Fürstentümer Vladimir, Tver„ (1428) und Rjazan„ (1430) durch Verträge zur Annerkennung seiner Vorherrschaft gebracht, Novgorod und Pskov mittels Angriffen447 zu hohen Geldleistungen gezwungen. Litauen dominierte das Gros der rus‟ischen Lande,448 Vytautas „[war] bis zu seinem Tod (1430) praktisch Herr über das nordöstliche Russland [...]“449

445 Hellmann, Großfürstentum, S. 760. 446 Martin, Medieval Russia, S. 240f; Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 151. 447 Angeblich hatte Vytautas eine Kanone vor Novgorod in Stellung gebracht, für deren Transport 42 Pferde benötigt wurden. Die Kanone feuerte nur einen einzigen Schuss ab, bei dem sie explodierte, nicht ohne auch den Turm der Festung Novgorod zum Einsturz gebracht zu haben. Vgl. Martin, Medieval Russia, S. 241. 448 Martin, Medieval Russia, S. 241; Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 153. 449 Alexander/Stökl, Russische Geschichte, S. 153. 109

5. Die Rolle der Orthodoxie

5.1. Begegnungen im 12. Jhdt.

Das orthodoxe Christentum spielte für das Großfürstentum Litauen schon früh eine bedeutende Rolle. Die Nachbarn im Süden und Osten waren längst christianisiert, als die litauische Expansion in die Rus' begann. Das sich entwickelnde heidnische Fürstentum sah sich hier allerdings mit einer weniger aggressiven Form des Christentums als im Westen konfrontiert. Dort war es kontinuierlichen missionarischen Bestrebungen ausgesetzt, sei es der Wortmission oder der Schwertmission des Deutschen Ordens. In der litauischen Sprache hat der enge und frühe Kontakt mit der Orthodoxie im Vokabular deutliche Spuren hinterlassen, Worte wie Kirche (lit. baņnyčia – russ. bozh'nitsa), Weihnachten (lit. kalėdos – russ. koliada), Fastenzeit (lit. gavėnia – russ. goven'e) oder Taufe (lit. krikńtas – russ- kr''st') gehen auf das Kirchenslawische zurück.450

Am Beginn des intensiven Kontaktes standen die im 12. Jhdt. einsetzenden Überfälle der Litauer auf die Nachbargebiete, auch die Rus' hatte unter diesen Beute- und Sklavenzügen zu leiden. Schließlich vermochten litauische Große, Landgewinne in der westlichen Rus', zunächst vor allem im Gebiet um Polozk, dauerhaft für sich zu sichern.451 Dieser Prozess des „Sammelns der rus'ischen Lande“ hatte bereits Anfang des 13. Jhdts., mehr auf Eigeninitiative einiger Kleinfürsten denn auf großfürstliche Leitung gründend, seinen Ausgang genommen. Vom gefestigten Großfürstentum wurde diese Politik der Süd- und Ostexpansion in die Rus' gleichsam zur „Staatsraison“ erklärt – ein Umstand, der vor allem die Entwicklungen im 14. Jhdt. prägen sollte. Die neuen litauischen Herren übernahmen für gewöhnlich die orthodoxe Religion ihrer neuen Untertanen. Selbst wenn sie dies nicht taten, so bekämpften sie die orthodoxe Kirche nicht. Natürlich spielten auch Persönlichkeit und Empfänglichkeit für Spiritualität eine große Rolle für das individuelle Verhältnis zum orthodoxen Christentum. Unter vielen, die den orthodoxen Glauben aus Opportunismus bzw. aus Gründen der

450 Vgl. Rowell, Lithuania ascending, S. 149 FN 1 sowie Nikņentaitis, Alvydas: Die litauische Gesellschaft der vorchristlichen Zeit (13. - 14. Jahrhundert) zwischen Rom und Byzanz. In: Müller-Wille, Michael [Hrsg.]: Rom und Byzanz im Norden. Mission und Glaubenswechsel im Ostseeraum während des 8. - 14. Jahrhunderts. Bd. II. (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, 1997 Nr. 3, 2), Mainz 1998, S. 123. Des weiteren Kiaupa, Before Christianization, S. 95. 451 So hatte der Fürst von Polozk, Vladimir Mstislavič (ca. 1211-1213 und ca. 1216-1217), den Beinamen „Litovskii“ (der Litauer). Tautvilas, der Neffe Mindaugas, war vermutlich ab ca. 1250, jedenfalls aber ab 1262 Polozker Fürst gewesen. Vgl. Rowell, Dovmont, S. 4. 110

Herrschaftssicherung – mitunter auch durch Heirat – angenommen hatten, ragen einige augenscheinlich wirklich Gläubige heraus. So z.B. Vaińvilkas, ältester Sohn Mindaugas„, welcher, nachdem er das Fürstentum Novogrudok errungen hatte, zum orthodoxen Glauben wechselte, schlussendlich Mönch wurde und das Kloster Lavrańiv452 nahe Novogrudok stiftete.453 Ein zweiter prominenter orthodoxer Litauer stammt ebenfalls aus Mindaugas„ Zeiten: Daumantas von Nalńia, der den Mord an Mindaugas in Auftrag gegeben hatte und sich nach dessen Tod genötigt sah, nach Pskov zu fliehen. Dort errang der Konvertit als Dovmont bzw. Timofej die Fürstenwürde und focht fortan durchaus erfolgreich sowohl mit dem livländischen Zweig des Deutschen Ordens, als auch mit dem Großfürstentum Litauen. Nach seinem Tod wurde Dovmont heiliggesprochen.454

Auch die Söhne Gediminas„ nahmen teilweise den orthodoxen Glauben an. So sind als orthodox getauft belegt: Narimantas (Taufname Gleb), Jaunutis (Ivan) und Liubartas (Dmitrij). Von den Kindern aus Algirdas„ erster Ehe mit Maria von Vitebsk sind nur die orthodoxen Taufnamen bekannt.455

5.2. Die Metropolie von Litauen

Die Schlacht an den „Blauen Wassern“ (russ. Sinie Vody) 1362, in der Algirdas den Tataren an einem Nebenfluss des Bug eine vernichtende Niederlage bereiten konnte, stellte einen Meilenstein für die litauische Expansion in die Rus‟ dar. Die Tataren waren geschlagen und Podolien beiderseits des südlichen Bug besetzt worden. Darüber hinaus fiel nun endgültig die Hauptstadt des altrus‟ischen Reiches, Kiew, an Litauen.

Algirdas setzte in Kiew seinen zum orthodoxen Glauben konvertierten Sohn Vladimir als Fürsten ein. Dieser stand damit in gediminidischer Tradition, da schon der orthodox getaufte Fёdor, ein Bruder Gediminas„, hier als Fürst geherrscht hatte.456

452 Goldfrank, Vojńelk, S. 60. 453 Seine Glaubensbrüder verließ er noch einmal für die Dauer von drei Jahren, um den Tod seines Vaters zu rächen und die Einigkeit des Großfürstentums Litauen, mithin das Erbe seines Vaters, zu wahren. Vgl. Rowell, Lithuania ascending, S. 149f. 454 Vgl: Pickhan, Gospodin Pskov, S. 129 - 154 sowie Rowell, Stephen Christopher: Between Lithuania and Rus'. Dovmont-Timofey of Pskov, his Life and Cult. In: OSP n.s. Vol. XXV, Oxford 1992, S. 1-33. 455 Vgl. Kiaupa, Before Christianization, S. 95; sowie http://fmg.ac/Projects/MedLands/LITHUANIA.htm (01.04.2013). 456 Hellmann, Litauen bis 1234, S. 1090; Kiaupa, Before Christianization, S. 121. 111

Doch schon früher, zu König Mindaugas„ Zeiten, begann fassbar eine enge Verbindung des Großfürstentums mit der Orthodoxie. Litauern nobler Abkunft, meist Sprösslingen der herrschenden Familien, gelang es, im Westteil der Rus„ in ganzen Landstrichen die Herrschaft zu erringen und auch zu behaupten. Das orthodoxe Christentum verkörperte ein wichtiges Instrument zur Etablierung und Legitimation der neuen Machthaber. Die bis dahin heidnischen Fürsten übernahmen die Religion ihrer neuen Untertanen bzw. der verdrängten rus„ischen Eliten. Dies geschah durch Konversion, oft im Zuge einer Heiratsverbindung der bisher herrschenden und der nunmehr tonangebenden Familien.457 Dadurch konnte die für einen friedlichen Machtübergang notwendige Kontinuität gewahrt bleiben.458

Litauen versuchte wiederholt die Einsetzung eines Metropoliten für die rus‟ischen Lande unter litauischer Herrschaft zu erreichen, um den Anspruch auf das Erbe der Kiewer Rus‟ religionspolitisch untermauern zu können. Die angestrebte Emanzipation der orthodoxen Untertanen aus der kirchenpolitischen Leitung des Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus„ war aber auch machtpolitisch von Bedeutung. Über einen Zeitraum von mehr als 100 Jahren versuchten litauische Großfürsten, einen eigenen Metropolitensitz zu erlangen. Ein Erfolg war ihnen zwar immer wieder, aber nicht dauerhaft, gegönnt.459

Die erste Gründung einer eigenständigen litauischen Metropolie erfolgte zwischen 1300 und 1320, während der Regierungszeit von Kaiser Andronikos II. Palaiologos460. Ob unter Patriarch Johannes XII. Kosmas461 oder Johannes XIII. Glykis462 ist allerdings strittig.463 Geht man von einer Gründung um 1300 aus, ist für beinahe zwei Jahrzehnte nichts über die näheren Umstände, den Namen und das Wirken des ersten litauischen Metropoliten bekannt. In den Akten des Patriarchen von Konstantinopel ist die Existenz einer litauischen Metropolie

457 Maņeika, Rasa: Was Grand Prince Algirdas a greek orthodox christian? In: Lituanus, Vol. 33, No. 4 – Winter 1987. http://www.lituanus.org/1987/87_4_05.htm (30.03.2013) 458 Rowell, Lithuania ascending, S. 149. 459 Erst Ende des 15. Jhdts. nahm ein Metropolit in Kiew dauerhaft seinen Sitz, der für die nunmehrige „unierte“ Kirche zuständig war, die einst vom Patriarchaten von Konstantinopel so gerne bewahrte Einheit der rus‟ischen Kirche war zerbrochen. 460 Dieser regierte von Dezember 1282 bis Mai 1328. Vgl. Weiß, G.: Andronikos II. . In: LMA Bd. 1, Sp. 613f. 461 Patriarch von Konstantinopel in den Jahren 1294 bis 1304. Vgl. Thon, Nikolaus: Quellenbuch zur Geschichte der orthodoxen Kirche. (= Sophia. Quellen östlicher Theologie, Bd. 23). Trier 1983, S. 574. 462 Patriarch von Konstantinopel in den Jahren 1316 bis 1320. Vgl. Thon, Quellenbuch, S. 574. 463 Erfolgte die Gründung unter Johannes XII., so ist diese um 1300 möglich. Erfolgte sie jedoch erst unter Johannes XIII., so kann dies nur zwischen 1315 und 1320 geschehen sein. Vgl. Senyk, Sophia: A History of the Church in Ukraine. Volume II. 1300 to the Union of Brest. (= Orientalia Christiana Analecta, Bd. 289). Rom 2011, S. 25. 112 erst für die Jahre 1317, 1327 und 1329 belegt.464 Der Name des Metropoliten, Feofil (Theophilus) wird nur 1329 genannt.465 Seinen Sitz nahm Feofil in Novogrudok als Metropolit von „Schwarzrussland.“466 Laut Rowell war Novogrudok bereits ab 1316 das Zentrum der litauischen Metropolie.467 Die Zugehörigkeit des Fürstentums Polozk zu dieser Metropolie ist laut Fennell sehr wahrscheinlich, bei Teilen Turovs aber und eventuell auch bei Černigov samt Brjansk, Kiew und Smolensk fraglich.468 Der Metropolit Peter von Vladimir (1306-1326) scheint nicht viel Notiz von diesem abtrünnigen Metropolitensitz genommen zu haben bzw. diesen nicht als ernsthafte Konkurrenz angesehen zu haben. Sein schon in Moskau residierender Nachfolger Feognost (Theognostos, 1328-1353) ließ den Sitz nach dem Tode Feofils 1330 aufheben469, unter Umständen machte er sich argumentativ auch die Gediminas- Briefe von 1322 zunutze.470 Erst kurz vor Feognosts Tod konnte sich wieder ein „Metropolit von Litauen“ – wenn auch ohne Einwilligung des Patriarchen von Konstantinopel – in Kiew etablieren. Noch 1352 hatte er den von Algirdas zur Bestätigung nach Konstantinopel entsandten Feodorit (Theodoret) als Metropoliten für Litauen verhindern können. Allerdings wurde Feodorit noch im selben Jahr vom bulgarischen Patriarchen in Veliko T“rnovo471 zum Metropoliten für die ganze Rus' geweiht. Da dieser aus der Sicht des Patriarchen von Konstantinopel für die Rus„ nicht zuständig war, war folglich auch die Weihe unwirksam, Feodorit wurde für abgesetzt erklärt und exkommuniziert. Feodorit konnte sich dennoch zumindest zwei Jahre in Kiew halten, wahrscheinlich durch Unterstützung seitens des Großfürsten Algirdas.472

464 So Fennell, Russian Church, S. 138 sowie Fennell, Emergence, S. 129. Martin hingegen grenzt die Existenz einer eigenständigen litauischen Metropolie auf die Jahre 1315-1319 ein. Vgl. Martin, Janet: North-eastern Russia and the Golden Horde (1246 – 1359). In: Perrie, Maureen [Hrsg.]: The Cambridge History of Russia. Volume I. From Early Rus„ to 1689. Cambridge u.a. 2006, S. 150. 465 So übereinstimmend Fennel, Russian Church, S. 138 und Senyk, Church in Ukraine, S. 26. 466 Fennell, Emergence, S. 129. Die Diözese umfasste den Westteil des heutigen Weißrusslands entlang des Oberlaufes der Memel. Vgl. Fennell, Russian Church, S. 138. 467 Rowell, Lithuania ascending, S. 83. 468 Fennell, Russian Church, S. 138 sowie Fennell, Emergence, S. 129. 469 Nach Meyendorff ist davon auszugehen, dass Feognost eine Nachbesetzung verhinderte, dh. der Sitz zwar vakant war, aber nominell weiterbestand. Erst 1355 gelang die offizielle Neubesetzung. Vgl. Meyendorff, John: Byzantium and the Rise of Russia. A Study in Byzantino-Russian relations in the fourteenth century. Cambridge u.a. 1981, S. 95, 164f. 470 So meint Giedroyć, Theognostos hätte die in den Briefen geäußerte Bereitschaft Gediminas„ zur Annahme des lateinischen Christentums als Argument für die Unzuverlässigkeit des Großfürsten in Glaubensdingen interpretiert. Er sieht in den Gediminas-Briefen aber auch einen ersten Beleg für die Politik des „deliberate balancing between Constantinople and Rome (more precisly, Avignon).“ Vgl. Giedroyć, Between Rome and Byzantium, S. 19. 471 Zu dieser Zeit war wohl Simeon amtierender Patriarch in Bulgrien. Thon gibt für ihn als Amtszeit „um 1346“ an, für den Nachfolger Feodosij II. „um 1360“. Vgl. Thon, Quellenbuch, s. 603. 472 Fennell, Russian Church, S. 138f; Martin, North-eastern Russia and the Golden Horde (1246-1359), S. 150f. 113

Gegenüber dem moskowitischen Anspruch hinsichtlich der Metropolie von Kiew und der ganzen Rus„ konnte Algirdas einen zwischenzeitlichen Erfolg mit der offiziellen Einsetzung des Metropoliten Roman473 erzielen. Nach dem Tod des Moskauer Metropoliten Feognost 1353474 gelang es ihm, begünstigt durch den Machtwechsel im Byzantinischen Reich, seinen Kandidaten als Metropoliten für Litauen beim Patriarchen von Konstantinopel Kallistos I.475 durchzubringen.476 Doch setzte dessen Nachfolger Philotheos Kokkinos477 bereits 1354 seinerseits den Moskauer Kandidaten Aleksej als Metropoliten von Vladimir und der ganzen Rus„ ein, welcher nach Romans Tod 1361 dessen Agenden für die litauisch beherrschten Gebiete übernahm. Somit unterstanden Algirdas„ orthodoxe Untertanen wiederum der kirchlichen Leitung Moskaus.478 Nikephoros Gregoras schreibt in seiner Rhomäischen Geschichte zu den Ereignissen Bemerkenswertes: „§34. Aber sie [die Litauer] sind von fremdartiger Denkweise und erweisen der Sonne göttliche Verehrung. Allerdings versprechen sie gegenwärtig, unseren Glauben anzunehmen, wenn wir bereit wären, dem zu ihnen gesandten Rhomanos […] als Nachfolger des soeben verstorbenen Theognostos die Bischofs- und Metropolitengewalt über ganz Rußland zu übertragen. Denn gewann ihn lieb und war ihm sehr zugetan, zum einen, weil er über seine Gattin mit ihm verschwägert war und aus einem benachbarten Gebiet stammte. […] §35 […] So war er nahe daran, die Weihe der göttlichen Taufe zu empfangen.“479

Algirdas führte ab 1371 einen heftigen Rechtsstreit mit dem Patriarchen von Konstantiopel um die Wiedererrichtung einer litauischen Metropolie. Es war dies auch der Höhepunkt der gemeinsamen Kämpfe von Tver„ und Litauen gegen Moskau (1368-1372). Algirdas beschwerte sich in einem Schreiben an den Patriarchen Philotheos über den Metropoliten

473 Der aus Tver„ stammende Mönch Roman war ein Verwandter von Algirdas„ Frau Ul‟jana. Vgl. Senyk, Church in Ukraine, S. 49; Meyendorff, Byzantium, S. 169. 474 Der Grieche Theognostos war von 1328 bis 1353 Metropolit in Moskau. Vgl. Fennell, John Lister Illingworth: A History of the Russian Church to 1448. London und New York 1995, S. 136. 475 Dieser wurde im August 1353 abgesetzt, da er im byzantinischen Bürgerkrieg loyal zu Johannes V. Palaiologos geblieben war. Erneut eingesetzt im Jänner 1355. Van Dieten, Jan Louis: Kallistos I. In: LMA Bd. 5, Sp. 874. 476 Fennell, Russian Church, S. 140. 477 Philotheos Kokkinos war Patriarch von August 1353 bis Ende 1354. Er stand im Bürgerkrieg aufseiten Johannes„ VI. Kantakuzenos. Vgl: Todt, K-P.: Philotheos Kokkinos. In: LMA Bd. 6, Sp. 2104. 478 Lübke, Östliches Europa, S. 394. 479 Nikephoros Gregoras, Historia Rhomaïke, Kap. XXXVI, §34 und §35 In: Nikephoros Gregoras. Rhomäische Geschichte. Historia Rhomaïke. In Fortsetzung der Arbeit von Jan Louis van Dieten (†) übersetzt und erläutert von Franz Tinnefeld. Sechster Teil (Kapitel XXX – XXXVII). (= Bibliothek der Griechischen Literatur, Bd. 66). Stuttgart 2007, S. 194f. 114

Alexis: „Algerdus, rex Lituanorum, litteris ad patriarcham datis refellit accusationes metropolitae Kioviae.“480 Dieser würde falsche Anschuldigungen über ihn, den litauischen Großfürsten, verbreiten und – entgegen aller Tradition seiner Vorgänger – Krieg und Blutvergießen seinen Segen erteilen. Darüber hinaus beschuldigte er Alexis, seine Pflichten als Metropolit nicht ernst zu nehmen, da er trotz wiederholter Einladung nicht nach Kiew gereist war. Der Brief endet mit der Forderung nach einem eigenen Metropoliten für Kiew, Smolensk, Tver„, Kleinrussland, Novosil„ und Nizhni-Novgorod.481 Zuvor hatte der Patriarch selbst den Unmut des litauischen Großfürsten erregt, da er 1370 jenen rus‟ischen Fürsten die Exkommunikation angedroht hatte, welche sich nicht am Kampf gegen die Litauer beteiligten: „Patriarcha excommunicat principes russicos, qui contra Lituanorum principem bellum facere recusarunt.“482 Algirdas wird in dem Schreiben namentlich genannt und als ungläubig bezeichnet. Jene rus‟ischen Fürsten, die das Bündnis mit den die böse und blasphemische Anbetung des Feuers betreiben Litauer verlassen und die Waffen gegen diese richten würden, könnten mit der Milde des Patriarchen bzw. des Metropoliten und der Aufhebung der Exkommunikation rechnen.483 Nikephoros Gregoras weiß über die Litauer zu berichten: „§26. Zu den drei Fürstentümern, die dort von Anfang an den Glauben annahmen, gehörte die erwähnte Metropolie, also Kiev, welche nahe bei dem Fürstentum dessen liegt, dem das ganze Volk der Litauer untersteht. Es zählt sehr viele Menschen und ist höchst kriegerisch, und wie sein Herrscher verehrt es das Feuer. […] §32. […] Wir sagten soeben, daß drei der Fürsten von ganz Rußland zusammen mit ihren Untertanen den orthodoxen Glauben mit uns teilen, der vierte aber ganz und gar nicht.“484

Erst 1375 erlangte das Großfürstentum mit der Ernennung von Kyprian wieder einen eigenen Metropoliten.485 Allerdings ging Kyprian 1381 nach der Schlacht von Kulikovo Pole auf die Seite Dmitrij Donskojs über und verlegte seinen Sitz nach Moskau. Dem kurzfristigen kirchenpolitischen Erfolg Litauens folgte damit ein herber Rückschlag, die Position des

480 MM, Bd. 1, CCCXX. Sine anno., S. 580f. Engl. Übersetzung in Meyendorff, Byzatnium, S. 288f. 481 Meyendorff, Byzantium, s. 288f. 482 MM, Bd. 1, CCLXVIII. (6878 – 1370) iunio. ind. VIII., S. 523f. Engl. Übersetzung in Meyendorff, Byzantium, S. 285f. 483 Meyendorff, Byzantium, S. 285. 484 Nikephoros Gregoras, Kap. XXXVI, §26 und §32, S. 191, 194. 485 Kiaupa, Before Christianization, S. 123f; Lübke, Östliches Europa, S. 396. 115

Großfürstentums in der Rus„ wurde empfindlich geschwächt 486 Fennell streicht Kyprians auf Ausgleich zwischen Litauen und Moskau gerichtete Politk hervor. Kyprian solle auf Großfürst Algirdas eingewirkt haben, seiner Bündnisverpflichtung mit Mamai nicht nachzukommen und an der Schlacht von Kulikovo Pole nicht teilzunehmen.487 Dies würde bedeuten, Kyprian hätte schon vor dem Ausgang der Schlacht und seinem Seitenwechsel zu Dmitrij Donskoj moskaufreundliche Politik betrieben.488 Darüber hinaus äußert Fennell die Hypothese, Kyprian hätte 1391 die Heirat von Dmitrij Donskojs Sohn Vassilj mit Vytautas„ Tochter Sofia eingefädelt. Zuletzt sei von ihm in Übereinstimmung mit Ul‟jana von Tver„ auch das letztlich erfolglose Heiratsprojekt Jogailas mit Sofia, der Tochter Dmitrij Donskojs, betrieben worden.489

5.3. Die Reaktion der Metropoliten von Vladimir

1299 verlegte Metropolit Maximus (1283-1305) den Sitz des Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus„ endgültig von der alten Hauptstadt der Kiewer Rus' in das mächtige Fürstentum Vladimir, wo mittlerweile der Großfürst beheimatet war.490 Nach einigen Wirren um die Nachfolge von Maximus sowie die Metropolie von Galič-Wolhynien wurde 1308 der Kandidat des Galičer Fürsten, Peter, zum Metropoliten von Kiew und der ganzen Rus„ bestellt und zog im Folgejahr in Vladimir ein.491 Um 1326, kurz vor seinem Tod, verlegte Metropolit Peter den Sitz de facto nach Moskau, formell trug er aber weiterhin den Titel „Metropolit von Vladimir“. Die Entscheidung Peters für Moskau wurde zweifellos durch die Politik des Fürsten Michail von Tver„ befördert, der nach der Abehnung seines Kandidaten für das Metropolitenamt im Zusammenspiel mit Bischof Andreas (einem Sohn des litauischen Fürsten Gerdenis von Polozk) dem neuen Metropoliten Simonie sowie die Vornahme von

486 Kiaupa, Before Christianization, S. 125. 487 Dieser Meinung ist auch Meyendorff. Vgl. Ders., Byzantium, S. 224f. 488 Und das, obwohl das Verhältnis zwischen dem Moskauer Fürsten und dem Metropoliten zu Beginn sehr schlecht war. Aus Ärger über die 1375 erfolgte Ablehung seiner Kandidaten für den Metropolitensitze, Mitiai und Pimen, weigerte sich Dmitrij Donskoj Kyprian anzuerkennen. Er vertrieb den neuen Metropoliten bei dessen Besuch aus Moskau und setzte Pimen noch 1380 eigenmächtig als Metropoliten von Moskau ein . Vgl. Martin, Medieval Russia, S. 254. 489 Fennell, Russian Church, S. 234; Meyendorff, Byzantium, S. 242. 490 Maximus begründete die Verlegung damit, dass er die Gewalt der Tataren nicht ertragen könne. Vgl. Fennell, Russian Church, S. 134. 491Meyendorff, Byzantium, S. 94. Die Entscheidung des Patriarchen Athanasios sollte noch für einige Unbill sorgen. Kurioserweise wurde Peter, ursprünglich der Kandidat Jurijs für die Metropolie von Galič-Wolhynien gewesen, zu einem Unterstützer Moskaus. Er war rasch in den Konflikt zwischen Tver' und Moskau geraten, der Tver'er Fürst Michail hatte die Niederlage seines Kandidaten für die Metropolie von Vladimir nicht verwinden können. Er versuchte mit Unterstützung seines litauischstämmigen Bischofs Andreas die Absetzung Peters zu erreichen, u.a. wurde ihm Simonie vorgeworfen. Vgl. Meyendorff, Byzantium, S. 148f. 116 nach kanonischem Recht unzulässigen Vermählungen vorgeworfen hatte. In der Mariä- Entschlafens-Kathedrale, welche erst unter seinem Nachfolger Feognost fertiggestellt wurde, fand Peter seine letzte Ruhestätte, dem neuen Großfürsten Ivan Kalita war es gelungen, Moskau als Metropolitensitz dauerhaft zu etablieren.492 Das moskowitische Fürstentum hatte schnell an Bedeutung gewinnen können und schickte sich an, die Leitfunktion in der Rus' zu übernehmen. Aber erst unter Metropolit Alexis (1354- 1378) überführte der Patriarch Philotheos den Sitz auch offiziell nach Moskau.493 Senyk ist jedoch anderer Ansicht und widerspricht Fennell sowie explizit Meyendorff, sie meint, Kiew blieb der erste, primäre Sitz des Metropoliten, Vladimir wurde lediglich als zweiter, sekundärer Sitz offiziell bestätigt.494

Metropolit Feognost von Moskau

Obwohl geistliches Oberhaupt der Rus', i.e. der Gesamtheit der ostslawischen orthodoxen Christenheit, agierte Metropolit Feognost (Theognostos, 1328-1353) immer im Interesse Moskaus. So zeigte er sich in seinen Entscheidungen und in seinem Handeln als engagierter Gegner von Litauen und Tver„, die einen antimoskowitischen Block mit wechselnder Beteiligung anderer Fürstentümer bildeten, und betrieb offensiv eine moskaufreundliche Politik. Schon Anfang der 1330er stand Feognost Ivan Kalita bei, als dieser gegen Fürst Alexander von Tver„ eine vom Khan der Goldenen Horde gebilligte Strafexpedition gegen das aufmüpfige Fürstentum im Nordwesten der Rus„ unternahm. Der Metropolit bediente sich kirchlicher Mittel zur Erreichung politischer Zwecke, er exkommunizierte den über Pskov nach Litauen geflüchteten Fürsten.495 1340/41 stand er im Konflikt um die Novgoroder Grenzstadt Torņok aufseiten des neuen Großfürsten Semën Ivanovič. In Novgorod selbst zog er nach dem Friedensvertrag Anfang

492 Senyk, Church in Ukraine, S. 30-32. Auch die Heiligenverehrung Peters begann unter Ivan Kalita, seit 1339 wird das Fest offiziell mit dem Segen des Patriarchen am Todestag des Heiligen, dem 21. Dezember, begangen. Vgl. Senyk, Church in Ukraine, S. 33. 493 Fennell, Russian Church, S. 136. Anderer Ansicht Senyk, Church in Ukraine, S. 48 sowie S. 48 FN 13. Sie schreibt, Kiew wäre weiterhin der erste, primäre Sitz des Metropoliten der Rus„ gewesen, Vladimir (offiziell in den Akten des Patriarchen, de facto Moskau) ledigilich der zweite, sekundäre Sitz. 494 So Senyk, Church in Ukraine, S. 48 sowie S. 48 FN 13. Meyendoffs an dieser Stelle kritisierten Interpretation, der Patriarch hätte die Verlegung des Sitzes nach Vladimir offiziell bestätigt, wird jedoch durch die lateinischen Zusammenfassung des griechischen Originaltextes gestützt: „Synodus statuit, ut Vladimiriae sit sedes metropolitae Kioviae et totius Russiae.“ In: MM, Bd. 1, CLVIII. Sine anno., S 351-353. 495 Senyk, Church in Ukraine, S. 35. 117

1341 mit großem Gefolge ein, und blieb dort beinahe zwei Jahre lang. Politisch wurde die Oberhoheit des Großfürsten über Novgorod wiederhergestellt, hinsichtlich der kirchlichen Leitung musste sich der Erzbischof von Novgorod nach einer kurzen Phase der Autonomie wiederum dem in Moskau residierenden Metropoliten von Vladimir unterordnen.496

Laut Fennell lag in Feognosts Erfolg, die Bildung weiterer Metropolien in der Rus„ zu unterdrücken bzw. solche schnellstmöglich wieder aufzulösen, sein Hauptbeitrag im Ringen zwischen Moskau und Litauen.497

Darin erkennen zu wollen, dass Feognost bereits Anfang des 14. Jhdts. davon überzeugt war, Moskau würde sich gegen Litauen durchsetzen können, scheint aber verfehlt. Unter den Beweggründen für seine Parteinahme für Moskau mag die Tatsache, dass das Großfürstentum Litauen nach wie vor heidnisch war, nicht der unbedeutendste gewesen sein. Wiewohl die Litauer gegenüber ihren orthodoxen Untertanen religiöse Toleranz übten und auch Mitglieder der Herrscherdynastie sich – zumindest offiziell – dem orthodoxen Glauben zuwandten, so blieben das litauische Pendeln zwischen West und Ost, zwischen lateinischem und griechischem Christentum, mithin der opportunistische Einsatz des Taufversprechens als politische Machtmittel Unsicherheitsfaktoren, welchen er sich als Oberhaupt der orthodoxen Christenheit in der Rus„ nicht aussetzen wollte. Moskau hingegen war durch und durch orthodox orientiert, einem seit Andrej Bogoljubskij religiös geprägten Fürstentum entwachsen.498

Dass Feognost seine Aufgabe als oberster Hirte der Rus„ durchaus ernst nahm und nicht ein bloßer Erfüllungsgehilfe des Fürsten von Moskau war, zeigen die Ereignisse von 1347. Semën von Moskau heiratete Maria, die Schwester Vsevolods von Tver', obwohl er zu diesem Zeitpunkt noch mit Eupraksia499, der Tochter Fёdors von Smolensk verheiratet war. Die Ehe war ohne Wissen des Metropoliten vollzogen worden, der sich nun weigerte, der Verbindung seinen Segen zu geben und aus Protest die Kirchen Moskaus schließen ließ.500 Feognost

496 Fennell, Russian Church, S. 226f. Zu den Hintergründen für den Konflikt siehe Fennell, Emergence, S. 243- 247. 497 Fennell, Russian Church, S. 137. 498 Dieser war jedoch am Versuch, eine eigene Metropolie unabhängig von Kiew zu begründen, noch gescheitert. Vgl. Senyk, Church in Ukraine, S. 25. 499 Semën hatte Eupraksia 1345 nach dem Tod seiner ersten Frau Anastasia (lit. Aigusta) geheiratet. Vgl. Nitsche, Mongolenzeit, S. 714. 500 Fennell, Russian Chruch, S. 225f sowie Ders., Emergence, S. 230. 118 widersetze sich also aus kirchenrechtlichen Gründen501 einer für Moskau vorteilhaften Verbindung.502 Er fand allerdings mit Semën nach einer spirituellen Unterredung einen Kompromiss, ein gemeinsames Schreiben mit der Bitte um den Segen des Patriarchen von Konstantinopel für die Verbindung nebst einer üppigen Spende zur Reparatur der Sophienkirche wurde abgesetzt.503

5.4. Das endgültige Scheitern Litauens

Der 1381 von Litauen nach Moskau gewechselte Metropolit Kyprian verstarb 1406, auf diesen folgte in Moskau Fotij (Photius).504 Vytautas sah die Chance, auf einem in Novogrodek einberufenen Konzil 1415 wieder einen eigenen Metropoliten für Litauen zu installieren.505 Doch blieb Grigorij Camblak die Anerkennung durch den Patriarchen verwehrt, er wurde von Iosef II.506 auf Betreiben Fotijs sogar exkommuniziert. Gleichwohl blieb Grigorij bis zu seinem Tod 1419 Metropolit von Litauen mit Sitz in Kiew.507 Meyendorff zieht als Fazit, dass sich der von Vytautas angestrebte Seperatismus von Moskau mittels eigenem Metropolitensitz als kurzlebig erwies und Litauen sich im Verband mit Polen im Laufe des 15. Jhdts. hin zu einer monolithischen römisch-katholischen Monarchie entwickelte.508

Nach dem Tod Fotijs versuchte der Großfürst von Moskau seinerseits auf einem eigens einberufenen Konzil 1431 den eigenen Kandidaten Iona von Rjazan„ als Metropoliten einzusetzen. Der Patriarch wollte wiederum den Metropoliten der ganzen Rus„ dem zu starken Einfluss des Moskauer Fürsten entziehen, indem er die Metropolitenwürde auf Bischof

501 Meyendorff, Byzantium, S. 160 FN 52 sowie Martin, Medieval Russia, S. 213. 502 Diese Verbindung war nicht nur aus politischen Gründen, sondern auch in dynastischer Hinsicht vorteilhaft. Die Söhne aus Semëns erster Ehe waren bereits verstorben, die zweite Ehe mit Eupraksia war bislang kinderlos geblieben. Die neue Verbindung brachte neben politischen Vorteilen auch die Hoffnung auf legitime Nachfolger. Diese Hoffnung sollte sich zwar erfüllen, doch raffte die Pestepedmie von 1353 neben Semën auch dessen Söhne dahin. Vgl. Nitsche, Mongolenzeit, S. 599. 503 Fennell, Russian Church, S. 138, 226; Ders., Emergence, 230f. Aufgrund der politischen Wirren im byzantinischen Bürgerkrieg soll der nunmehr zwischenzeitlich siegreiche Johannes VI. Kantakuzenos diese Gelder allerdings zur Auszahlung seiner türkischen Verbündeten verwendet haben. Vgl. Meyendorff, Byzantium, S. 160. 504 Amtszeit von 1408-1441. Vgl.Thon, Quellenbuch, S. 589. 505 Meyendorff, Byzantium, S. 251; Senyk, Chruch in Ukraine, S. 86-88. 506 Amtszeit von 1416-1439. Vgl. Thon, Quellenbuch, S. 574. 507 Senyk, Church in Ukraine, S. 93. 508 Meyendorff, Byzantium, S. 245. Dieses Fazit fällt etwas einseitig aus. Für den polnischen Teil mag das Bild eines katholischen Monolithen noch vertretbar sein, für den litauischen, erst langsam vom unter der Oberfläche weiter praktizierten Heidentum ablassend eher nicht. Zwar kam es nach der Union mit Polen zur Bevorzugung des lateinischen Chrsitentums, doch wurde die litauische Toleranz in Religionsfragen dadurch nicht gänzlich erschüttert. 119

Gerasim von Smolensk übertrug. Dieser war zwar dem litauischen Lager zuzurechnen, aber aufgrund interner Streitigkeiten war vom litauischen Großfürsten keine große Einflussnahme zu befürchten. Allerdings wurde der neue Metropolit in diesen internen Zwist verwickelt509, die Rechnung von Byzanz ging nicht auf.

Nachdem Metropolit Gerasim in Vitebsk aufgrund seiner Verstrickung in eine Rebellion gegen Großfürst Ńvitrigaila von Litauen 1345 verbrannt worden war, startete Moskau einen erneuten Versuch, Iona als Metropoliten für die ganze Rus„ vom Patriarchen einsetzten zu lassen. Dieser entschied aber wieder gegen Iona und setzte den Griechen Isidor in der Rus„ ein. Isidor nahm 1438-1439 am Ökumensichen Konzil von Florenz, das eine Wiedervereinigung der oströmischen mit der weströmischen Kirche diskutieren sollte, teil. Als er 1441 als Anhänger einer Kirchenunion nach Moskau zurückkehrte, musste er die Stadt auf Druck der unionsfeindlichen Kräfte um Großfürst Vassilij II. noch im selben Jahr verlassen.510 Gegen den Willen Konstantinopels wurde nunmehr 1448 endlich Iona von Riazan„ Metropolit in Moskau. Mit dem Fall Konstantinopels 1453 und dem Sieg der Osmanen erlosch die Konzeption einer einheitlichen Metropolie für die ganze Rus„. Fortan sah sich Moskau als Hort der wahren, nicht von Unionsgedanken getrübten Orthodoxie und agierte unabhängig vom Patriarchen von Konstantinopel.511

509 Im Bürgerkrieg zwischen Ńvitrigaila auf der einen und Jogaila mit Ņigimantas auf der anderen Seite stellte er sich auf die Seite der Gegner Ńvitrigailas. Vgl. Rowell, Lithuania ascending, S. 169. 510 Rowell, Lithuania ascending, S. 169. Rowell schreibt auch, Isidor sei der erste in einer Reihe von unierten Metropoliten in Kiew gewesen. Dazu findet sich in der übrigen Literatur aber kein Beleg. Thon nennt zunächst von 1316-1319 Grigorij Camblak, danach von 1458-1472 Grigorij „den Bulgaren“ als ersten Metropoliten einer bis Ende des 17. Jhdts. ununterbrochenen Reihe. Letzterer war ein Schüler Isidors gewesen. Vgl. Thon, Quellenbuch, S. 591; Meyendorff, Byzantium, S. 269; Fennell, Russian Church, S. 181. 511 Rowell, Lithuania ascending, S. 169. 120

6. Abschließende Betrachtungen

Eine interessante Episode bot die von Ul‟jana von Tver„ (wohl in Übereinstimmung mit dem Metropoliten Kyprian) eingefädelte Option, Jogaila mit Sofia, der Tochter des Moskauer Fürsten Dmitrij Donskoj, zu vermählen. Das Großfürstentum mit Moskau zu verbinden, hätte zweifellos dessen Gewicht in der Rus„ maßgeblich erhöht. Doch ob es ausgereicht hätte, den alten Moskauer Rivalen zu schlagen, ist zweifelhaft. Jogaila mag auch das Beispiel seines Vaters vor Augen gehabt haben, der – wiewohl im Verbund mit Tver„ – dreimal vor Moskau gescheitert war. Auch scheint Jogaila längere Zeit abgewogen zu haben, welche Verbindung für Litauen die größeren Vorteile bieten mochte und kam zu dem Schluss, dass die Erringung der polnischen Königswürde, wenn auch um den Preis der Annahme des Katholizismus durch ihn persönlich, ebenso wie durch die Katholisierung des ganzen bis dato heidnisch gebliebenen Litauen, und die Union mit Polen die vielversprechendere Option darstellte.

Aus der ex-post-Betrachtung auch manch nationalistisch eingestellter litauischer Historiker mag diese Entscheidung als falsch und nachteilig für das Großfürstentum kritisiert werden, doch erscheint die Verurteilung Jogailas als „Verräter am litauischen Volk“ als überzogen. Zwar hatte die Union mit Polen, vor allem nach deren Vertiefung im Unionsvertrag von Lublin 1569, eine Polonisierung nicht nur des Adels im Großfürstentum, sondern auch weiter Teile der Gesellschaft und der Verwaltung zur Folge.

In der nationalistischen Geschichtsschreibung mag die Union von Krewo mit all ihren Folgeerscheinungen als historischer Fehler erscheinen, bei der Suche nach Alternativen zum Handeln Jogailas muss man aber zum Schluss kommen, dass die einzige Alternative – die Verbindung mit Moskau – nicht notwendigerweise zu einem Triumph Litauens hätte führen müssen. Moskau hatte durch den Sieg über die Goldene Horde 1380 in der Rus„ an Prestige gewonnen und sich vom tatarischen Vergeltungsschlag 1382 schnell erholen können. In kirchenpolitischer Hinsicht war der Supremat des Metropoliten von Moskau trotz wiederholter litauischer Bemühungen, eine eigentsändige Metropolie zu etablieren, ungebrochen. Bei Abwägung beider Optionen war klar, dass der Deutsche Orden als Feind im Westen weiterbestehen würde, allerdings hatte Litauen im Kampf gegen den Orden sowohl in politischer als auch in militärischer Hinsicht durch eine Verbindung mit Polen bessere Chancen. Argumentativ war der Orden nach der Taufe des Großfürsten und der einsetzenden lateinischen Christianisierung des heidnisch gebliebenen Teils Litauens ins Hintertreffen 121 geraten. Der Krieg gegen Glaubensbrüder konnte nicht Aufgabe eines Ritterordens sein. Hätte sich die litauische Führung für die Annahme des orthodoxen Christentums entschieden, hätte von Ordensseite der Argumentationsstrang verfangen, es handle sich bei diesen um Schismatiker und damit auch wieder um Ungläubige, gegen welche zu Felde zu ziehen dem Orden geboten war.

Die offizielle Hinwendung zum Katholizismus und die Union mit Polen hatten aber eine Abkehr von der auf die Vorherrschaft in der Rus„ abzielenden Kirchenpolitik zur Folge. Die Einführung des lateinischen Christentums stellte einen Bruch mit dem orthodoxen Teil Litauens dar, der sich sehr rasch in der Ungleichbehandlung katholischer und orthodoxer Adeliger zeigte.

Moskau blieb nach der Konversion der litauischen Herrscher zum Katholizismus der einzig mögliche Träger des byzantinischen Erbes im Sinne der Religion und damit war es auch der einzig verbliebene Träger des Erbes der Kiewer Rus„, wiewohl die „Mutter der rus‟ischen Städte“ erst Mitte des 17. Jhdts. Teil des Russischen Reiches werden sollte.

Das Jahr 1448 markiert sohin das Ende des Ringens um das Oberhaupt einer einzelnen orthodoxen Kirchenprovinz für die Rus„. Was mit der Union von Krewo 1386 begonnen hatte und unter der Herrschaft Vytautas„ in Litauen noch einmal eine Verzögerung erfahren hatte, kam 1448 zu einem Abschluss. Obwohl Litauen noch im Besitz der einstigen „Mutter der rus‟ischen Städte“ blieb, hatte es das Ringen um das Erbe der Kiewer Rus„ verloren. Zwar gab es in der Folge noch etliche militärische Auseinandersetzungen zwischen dem sich unter Moskaus Führung formierenden Russland und dem sich zunehmend nach dem lateinischen Westen orientierenden Polen-Litauen, diese waren aber nicht mehr auf Basis eines ideellen Anspruches der Vorherrschaft in der Rus„, sondern machtpolitische Konflikte zwischen einem katholisch dominierten Königreich (ab 1569 der polnischen Adelsrepublik, der Rzeczpospolita) und einem orthoxen Großfürstentum (ab 1547 dem russischen Zarentum) geworden.

Moskau hatte den Kampf um das Erbe der Kiewer Rus„ nicht gewonnen, Litauen hatte ihn vielmehr durch die Union mit Polen aufgegeben, um sich im Verbund mit Polen dem Westen zuzuwenden.

122

Anhang 1: Abkürzungsverzeichnis

ADB - Allgemeine Deutsche Biographie EHR - The English Historical Review fl. - florenus, Gulden Fol. - Folio HUS - Harvard Ukrainian Studies JGO - Jahrbücher für Geschichte Osteuropas LMA - Lexikon des Mittelalters MGH - Monumenta Germaniae Historica MGH Auct. ant. - Auctores antiquissimi MGH SS - Scriptores MGH SS rer. Germ. - SS rerum Germanicarum in usum scholarum seperati editi MM - Miklosich, Franz und Müller, Joseph: Acta et Diplomata Graeca Medii Aevi. Sacra et Profana, Collecta et Edita. NDB - Neue Deutsche Biographie OSP - Oxford Slavonic Papers PrUB - Preußisches Urkundenbuch r. - recto SRP - Scriptores Rerum Prussicarum v. - verso

123

Anhang 2: Verzeichnis häufig genannter Personen

Algirdas - Sohn Gediminas‟, Großfürst 1345-1377 Gediminas - Großfürst 1316-1341 Jaunutis - Sohn Gediminas‟, Großfürst 1341-1345 Jogaila - Sohn Algirdas‟, Großfürst 1377-81, 1382-1392 Kęstutis - Sohn Gediminas‟, Großfürst 1381-1382 Mindaugas - Litauischer Großfürst 1238-1252, König 1253-1263 Skirgaila - Bruder Jogailas, als dessen Statthalter de-facto Großfürst 1386-1392 Ńvarn - Schwiegersohn Mindaugas‟, Großfürst 1264-1267 Traidenis - Großfürst 1270-1282 Treniota - Neffe Mindaugaus‟, Großfürst 1263-1264 Ul„jana - 2. Frau Algirdas‟, Tochter Fürst Alexanders von Tver„ Vaińvilkas - auch Vaińelga, Sohn Mindaugas‟, orthodoxer Mönch, Großfürst 1264 Vytautas - Sohn Kęstutis, Großfürst 1392-1430 Vytenis - Großfürst 1293-1316, Vorgänger Gediminas‟ Władisław II. Jagiełło - Jogaila als polnischer König 1386-1434

124

Anhang 3: Orts- und Personennamen

Orts-, Landschafts- und Gewässernamen deutsch litauisch polnisch russisch weißrussisch

Aukschtaiten Aukńtaitija Breslau Wrocław (westliche) Düna Dauguva (lett. Zapadnaja Dvina Zachodniaja Daugava) Dżvina Dnjepr Dnepr Garten Gardinas Grodno Grodno Hrodna Halytsch Galič Kauen Kaunas Kowno Kowno Kouna Kiew Kiev Königsberg Kaliningrad Krewo Krėva Kreva Lawraschew Lavrańiv Laŭryńava Marienburg Malbork Memel (Fluß) Nemunas Niemen Neman Njoman Memel (Stadt) Klaipėda Naugardukas Nowogródek Novogrudok Navahradak Pleskau Pskov Polangen Palanga Polozk Połock Polock Połacak Pripjet Pripjet„ Pripyat„ Rostow Rostov Schaulen Ńiauliai - Schlacht von Saulės mūńis Schemaiten Ņemaitija Schwarzrussland/ Černaja Ruś -ruthenien Susdal Suzdal„ Tannenberg Stębark - Schlacht von Ņalgirio mūńis Grunwald Turow Turov Turaŭ Troki Trakai Weliko Tarnowo bulgar: Veliko T“rnovo Witebsk Witebsk Vitebsk Viciebsk Wilna Vilnius Wilno Vilnia Worskla Vorskla

125

Personennamen deutsch litauisch polnisch russisch weißrussisch

Daumant Daumantas Dovmont Fjodor Fëdor Gedimin Gediminas Gedymin Hedwig Jadvyga Jadwiga Jagal Jogaila Jagiełło Jagajlo Jahaiła Juliana Ul„jana Kynstut(e) Kęstutis Kiejstut Mindowe Mindaugas Mendog Mindovg Mindoŭh Olgerd Algirdas Olgierd Alhierd Tautwil Tautvilas Towtiwił Traniât Treniota Trojnat Troiden Traidenis Simeon Sëmen Skirgal Skirgaila Skirgiełło Witen Vytenis Witold Vytautas Witold Vitovt Vitaŭt Woischelg Vaińvilkas/ Voińelg Vojńałk Vaińelga Wykint Vykintas

126

Abbildungsverzeichnis:

Abb. 1 (S. 21): Ilja Jefimowitsch Repin: Die Wolgatreidler, 1870-1873. (http://de.academic.ru/pictures/dewiki/73/Ilia_Efimovich_Repin_%281844-1930%29_- _Volga_Boatmen_%281870-1873%29.jpg; 03.03.2013).

Abb. 2 (S. 26): Ivan Bilibin, Die Überführung der Vladimirskaja von Kiew nach Vladimir durch Andrej Bogoljubskij im Jahre 1155. (http://uploads5.wikipaintings.org/images/ivan-bilibin/prince-andrew-bogolyubskii-1926.jpg, 05.03.2013).

Abb. 3 (S. 27): Ikone der Gottesmutter von Vladimir (http://de.academic.ru/pictures/dewiki/118/vladimirskaya.jpg, 05.03.2013).

Abb. 4 (S. 49): Guagnini, Alexander: Sarmatiae Europae Descriptio, quae Regnum Poloniae, Massoviam, Prussiam, Pomeraniam, Livoniam, et Moschoviae, Tartariaeque partem complectitur. Speyer 1581, Fol. 44r.

Abb. 5 (S. 54): The House of Mindaugas. Aus: Kiaupa, Zigmantas: The Grand Duchy of Lithuania from the Establishment of the State to the Union of Lublin. I. Establishment of the State. In: Kiaupa, Zigmantas; Kiaupienė, Jūratė; Kuncevičius, Albinas: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000, S. 67.

Abb. 6 (S. 75): Guagnini, Alexander: Sarmatiae Europae Descriptio, quae Regnum Poloniae, Massoviam, Prussiam, Pomeraniam, Livoniam, et Moschoviae, Tartariaeque partem complectitur. Speyer 1581, Fol. 49v.

Abb. 7 (S. 92): Guagnini, Alexander: Sarmatiae Europae Descriptio, quae Regnum Poloniae, Massoviam, Prussiam, Pomeraniam, Livoniam, et Moschoviae, Tartariaeque partem complectitur. Speyer 1581, Fol. 51r.

Abb. 8 (S. 98): Guagnini, Alexander: Sarmatiae Europae Descriptio, quae Regnum Poloniae, Massoviam, Prussiam, Pomeraniam, Livoniam, et Moschoviae, Tartariaeque partem complectitur. Speyer 1581, Fol. 51v.

Abb. 9 (S. 103): Guagnini, Alexander: Sarmatiae Europae Descriptio, quae Regnum Poloniae, Massoviam, Prussiam, Pomeraniam, Livoniam, et Moschoviae, Tartariaeque partem complectitur. Speyer 1581, Fol. 54r.

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Kartenverzeichnis:

Karte 1 (S. 13): Fig. 2 - The area of Baltic river names. Aus: Gimbutas, Marija: The Balts. London 1963, S 30f.

Karte 2 (S. 19): Map 8 – Kievan Rus„, ca. 1240. Aus: Magocsi, Paul Robert: A History of Ukraine. The land and its peoples. 2., überarbeit. und erw. Aufl. Toronto, Buffalo, London 2010, S. 86.

Karte 3 (S. 32): Map 9 – The Mongol Invasions. Aus: Magocsi, Paul Robert: A History of Ukraine. The land and its peoples. 2., überarbeit. und erw. Aufl. Toronto, Buffalo, London 2010, S. 112.

Karte 4 (S. 39): Map 5 - The Lithuanian Front, 1280-1435. Aus: Christiansen, Eric: The Northern Crusades. The Baltic and the Catholic Frontier 1100-1525. (= New Studies in Medieval History, Bd. 3). London u.a. 1980, S. xxi.

Karte 5 (S. 57): Die baltischen Stämme um 1200. Aus: Gimbutas, Marija: The Balts. London 1963, S. 23.

Karte 6 (S. 62): The formation of the Lithuanian state in the half of the 13th century. In: Kiaupa, Zigmantas: The Grand Duchy of Lithuania from the Establishment of the State to the Union of Lublin. I. Establishment of the State. In: Kiaupa, Zigmantas; Kiaupienė, Jūratė; Kuncevičius, Albinas: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000, S. 55.

Karte 7 (S. 96): The Grand Duchy of Lithuania within the Gediminan State (14th-beginnning of the 15 th centuries). In: Kiaupa, Zigmantas: The Grand Duchy of Lithuania from the Establishment of the State to the Union of Lublin. II. Gediminan Lithuania before Christianization. In: Kiaupa, Zigmantas; Kiaupienė, Jūratė; Kuncevičius, Albinas: The History of Lithuania before 1795. Vilnius 2000, S. 83.

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Literaturverzeichnis

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Eidesstattliche Erklärung

Ich erkläre hiermit an Eides Statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbständig ohne Hilfe Dritter angefertigt, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht verwendet und die aus den benutzten Quellen direkt oder indirekt entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe. Die vorliegende Arbeit wurde bisher weder in gleicher noch in ähnlicher Form einer anderen Prüfungsbehörde vorgelegt und auch nicht veröffentlicht.

Graz,______Michael Kaser

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