SWR2 Musikstunde

Himmlische Blicke Teil 4: Hymnen und Apokalypse

Von Sabine Weber

Sendung: 03. September 2020 9.05 Uhr Redaktion: Dr. Bettina Winkler Produktion: SWR 2020

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Ich bin Sabine Weber. Guten Morgen!

Wenn sich der Himmel öffnet! - Um göttliche Visionen geht es diese Woche. Und heute öffnet sich der Himmel sogar für Endzeitvisionen. Die Offenbarung des Johannes ist eine besondere himmlische Vision.

Zuvor heben wir den Blick mit gefalteten Händen und erbeten göttliche Gunst. Sagen wir - wie in den mittelalterlichen Städten Europas. „Zieht durch die Welt und lobet Gott“ hat der heilige Franz von Assisi aufgefordert. Und das haben dann auch Spielleute ernst genommen. Göttliche Spielleute wie die Joculatori Dei in Italien. Sie setzten in freien Frömmigkeitsdichtungen um, was Franz gefordert hat. Und ihre Verse mitsamt Melodie werden so populär, dass sie auch durch Kneipen ziehen. Solche Laudesi-Vertonungen sind in Cortona und Florenz aus dem späten 13. und 14. Jahrhundert überliefert. Und auch in Venedig. Dort hat dann auch mal ein Staatsmann und Dichter für einen Lauda-Texte gesorgt, zumindest in dieser anonym überlieferten. Sempre te sia in dilecto – Freue Dich meine Seele, dass die Welt dich verachtet. Aber er verkneift sich die jetzt folgerichtige moralische Aufforderung, die kommen müsste. Dem himmelwärts gerichteten Blick Märtyrergleich nachzusteigen.

Musik 4.1 Anonymus Sempre te sia in dilecto Vox Resonat Leitung: Eric Menzel MARC AUREL MA20012 3‘44

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Die Joculatori Dei – die Spielleute Gottes – alias Vox resonat unter Eric Menzel mit Sempre te sia in dilecto, eine Lauda-Vertonung aus dem Veneto, wie sie möglicherweise in franziskanischen Klöstern zu Hunderten entstanden sind.

Der Christ sollte sich danach sehnen, dem himmelnden Blick nachzusteigen. Auf einer geistigen Leiter sozusagen, damit sich ihm Gottes Wahrheit und Weisheit offenbart. Dazu sind Lesungen aus der heiligen Schrift, Meditation, Kontemplation und vor allem das Beten probate Mittel. Dem Gebet als selbständige Hinwendung zum Göttlichen, als ausgesprochene Bitte an Gott, um Gnade und Erfüllungen des Wunsches nach Heiligung oder Heilung hat besondere Bedeutung. Bei dem folgenden sardische Rosenkranzgebet, das Elena Ledda und Simonetta Soro nach volkstümlicher Art vortragen, müssen Sie sich auf der geistigen Leiter allerdings gut festhalten! Diese Betgeschwindigkeit kann einen Schwindel erzeugen. Auch eine Form der Ekstase!

Musik 4.2 Traditionell Su Rosariu Elena Ledda, Simonetta Soro, Gesang IN-AKUSTIK BIBER 76691 3’12

Ein musikalisches Rosenkranzgebet aus Sardinien, vorgetragen von Elena Ledda und Simonetta Soro. Nur einen Hauch entfernt vom persiflierten Herunterleiern einer Litanei. Es soll sich bei einem solchen Gebetsvortrag wohl das Trancegefühl mittels schwindelerregendem Parlando einstellen, ein Abheben im Geschwindigkeitsrausch.

Der Furor divinus kennt verschiedene Spielarten. Der Renaissance-Gelehrte Marsilio Ficino hat ihn in seinem Platonkommentar mit dem Kreisen der Seele zusammen gebracht. Er spricht von vier Formen des Enthusiasmus: (Primus quidem poeticus furor, alter Myterialis, tertius vaticinum, amatorius affectus est quartus) Die erste ist die dichterische, die zweite die priesterliche, die dritte die wahrsagende Begeisterung, die vierte ist die Leidenschaft der Liebe.

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Jede Begeisterung ermögliche die Überwindung einer bestimmten Stufe in der Ordnung der Dinge. Zuerst würden durch die Künste die niederen Seelenkräfte besänftigt, die höheren ermuntert, und beide miteinander versöhnt. Die Dichter und Musiker seien inspiriert (divino afflati spiritu), von ihrer Erinnerung an die Schönheit der himmlischen Harmonie. Zuletzt steige die Seele als Eines im Verlangen nach dem übersinnlichen Guten und Schönen zu Gott als dem Einen auf! Die menschliche Ekstase - eine Art göttliche Emanation. Eine besondere Spielart dieser göttlichen Emanation oder Ergriffenheit sei die Zungenrede oder Glossolalie. Eine zwanghafte – sagen wir auslegungsbedürftige Rede aus persönlicher religiöser Ergriffenheit. Dieter Schnebel hat Glossolalie im Fremdwörterbuch nachgeschaut, bevor er eine experimentelle Komposition 1959 damit überschrieb. Die gefundene Definition als „Laute, die nichts mit irdischer Sprache zu tun hätten, sondern eine Erscheinung religiöser Verzückung seien“ hat er sarkastisch auf das Kauderwelsch und hirnlose Quasseln in der zivilisierten Welt gemünzt.

Musik 4.3 Dieter Schnebel Glossolalie 94 Ensemble recherche EIGENPROD WDR 3'50

Glossolalie von Dieter Schnebel. Der Ausschnitt einer Version, aufgenommen mit dem Ensemble recherche bei den Wittener Tagen für neue Kammermusik.

Nach dieser Persiflage auf Floskeln und Sinnlosigkeit zwischenmenschlicher Kommunikation aus den 1950ern wird unsere Kommunikation aber wieder ernst. Anonymos Four erteilt uns eine psalmodierte Lektion aus der Offenbarung des Johannes.

„Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde, denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen. Und ich sah das neue Jerusalem von Gott aus dem Himmel herabfahren.

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Und eine große Stimme von dem Stuhl sprach:

Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen. Er wird bei Ihnen wohnen, alle Tränen abwischen und der Tod wird nicht mehr sein...“

Musik 4.4 Anonymus Apocalypse 21/ 1- 5 aus Mass for the end of times Anonymos 4 HMU 907224 2‘39

Eine gesungene Lesung aus dem letzten Kapitel der Apokalypse, die eine neue Welt verspricht, hier von Anonymos Four vorgetragen. Die für ihren mittelalterlichen Gesang populären US amerikanischen Sängerinnen haben eine Messe auf das Ende der Zeiten aus mittelalterlichen Manuskripten rekonstruiert.

Etwas weniger streng klingen die Endzeitpredigten in den Betsälen Roms im 17. Jahrhundert. Hier wird nicht auf den Einschüchterungsfaktor, sondern auf Musik mit Überzeugungsfaktor gesetzt. Und Theaterstil zählt als Überzeugungsmittel auch im geistlichen Kontext.

Das lässt Domenico Mazzochi gleich hören. Seine geistlichen Dialogi e Sonetti, Madrigali e Poemata in drei Bänden sind für die Betsaal-Andachten in den römischen Oratorien der Bruderschaften entstanden. Dialog Magdalenas, Dialog Lazarus, Dialog nach der Apokalypse, lauten die Titel. Die Platonische Dialoge waren wohl als Lehrmuster gerade in Mode. Wobei jetzt die Frage ist, was in einem Dialog über die Apokalypse die Botschaft sein soll. Nichts Negatives!

Die Engel der Apokalypse mit Harfen Gottes in der Hand, loben und verherrlichen. Sie machen allenfalls ein bisschen Angst: Wer sollte Dich nicht fürchten?, Worauf große Scharen im Himmel „Jauchzet und Frohlocke, Erde!“, ausrufen und: „Lobpreiset, ihr Berge. Der Herr tritt die Königsherrschaft an!“

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Musik 4.5 Domenico Mazzochi Dialogo dell‘Apocalisse Harry van Berne, Tenor, Barbara Borden, Sopran, Nederlands Kamerkoor Christophe Rousset, Cembalo, Orgel, Lucia Swarts, Violoncello, Karl-Ernst Schröder, Theorbe. Leitung René Jacobs HMU 901357 6‘15

Harry van Berne, Barbara Borden, und der Nederlands Kamerkoor begleitet von Christophe Rousset, Cembalo und Orgelpositiv, Lucia Swarts, Violoncello, und Karl- Ernst Schröder, Theorbe, mit dem Dialogo dell‘Apocalisse von Domenico Mazzochi.

Jubilieren im Galopprhythmus. Und ein federndes Gaudeamus, weil der Herr seine Königsherrschaft antritt. Freudige Endzeitstimmung, die die kryptischen Botschaften über geheimnisvolle sieben Siegeln, apokalyptische Reiter, den Untergang der Hure Babylon und den Sieg über den Drachen Satan, im Glauben an eine bessere Welt hinter sich gelassen hat.

Was hat aber Jean Françaix, bekannt für leicht geschmeidige Werke, wohl bewogen, ein Oratorium für groß besetztes Orchester und Chor über die Apokalypse zu komponieren. Wobei bei ihm auch kryptisch-bedrohliche Bilder Farbe bekommen. Die Katastrophe des ausbrechenden Weltkrieges wird angenommen. Die Apokalypse hätte ihm ein Bild für bevorstehende irdische Endzeitstimmung geliefert. Die Uraufführung findet im Juni 1942 im damals schon besetzten Paris unter der Leitung von Charles Munch statt.

Die Instrumente der Apokalypse sind ja eigentlich die Posaunen. Der Organist Jürgen Essl hat aus Françaix Oratorium aber eine Suite für Trompeten extrahiert. Für Gesangsstimmen, 2 Trompeten und Orgel.

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Diese Suite ist 1995 in Sigmaringen in der dortigen Stadtpfarrkirche uraufgeführt worden. Wir hören daraus Prolog und die Vision von Gottes Thron.

Musikblock 4.6 Jean Francaix Prologue und Vision du Thrône de Dieu aus der Suite L'Apocalypse selon St. Jean (Bearbeitung für 1 Singstimme, 2 Trompeten und Orgel von Jürgen Essl) Bernhard Kratzer, Martin Maier, Trompete, Jürgen Essl, Orgel FERMATE 20018 1‘53; 3‘11

Prologue und Vision du Thrône de Dieu nach der L'Apocalypse selon St. Jean von Jean Françaix, hier bearbeitet als Suite für 2 Trompeten und Orgel von Jürgen Essl. Wir hörten eine Aufnahme mit Bernhard Kratzer und Martin Maier, Trompete. Jürgen Essl hat die Orgel gespielt.

Wir sind im Finale der heutigen SWR2 Musikstunde. Apokalyptische Bilder aus der Offenbarung in Verbindung mit durch Krieg ausgelöste Katastrophenstimmung und ihre Überwindung, das war ein Thema von und für Olivier Messiaën. Sein Quartett auf das Ende der Zeiten hat sogar Kultstatus. Er hat es in einem schlesischen Gefangenenlager, dem STALAG VIII A bei Görlitz komponiert. Gefangengenommen wurde er mit seiner Kompanie bei Verdun. Und übrigens mit Gewehr in der Hand. Olivier Messiaën, ein weiterer Cellist und ein Klarinettist hatten sich schon gefunden. Messiaen hatte bereits im Feld begonnen, Musik für den Klarinettisten zu entwerfen. Er hatte sein Instrument nämlich bei sich. Später im Gefangenenlager komplettiert ein Geiger mit Instrument die Gruppe. Und Messiaën komponiert weiter. Für ein Cello wird bei den Insassen gesammelt. Es wird bei einem Instrumentenbauer in Görlitz besorgt. Wobei Messiaën auf einem Klavier spielt, wo einige Tasten hängen. Der Tag der Uraufführung im Januar 1941 wird dennoch ein magischer Moment. Musiker in Lumpen mit Holzpantinen an den Füßen lösen ihn aus. Etwa 400 Gefangene hören zu. Das verschafft Messiaen natürlich sofort Sonderstatus. Die Musikergefangenen werden privilegiert nach einem Jahr entlassen. Außer dem Klarinettisten, der Jude ist.

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Hier der Satz En Fouillies d‘arcs-en-ciel pour l‘ange qui annonce la fin du temps – Wirbel der Regenbögen für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet.

Musik 4.8 En Fouillies d‘arcs-en-ciel pour l‘ange qui annonce la fin du temps aus Quatuor pour la fin du temps , Violne, , Klarinette, Jian Wang, Violoncello, Myung-Whun Chung, Klavier DG894690522 8‘20

Gil Shaham, Violine, Paul Meyer, Klarinette, {dschi'ann Wang} Jian Wang, Violoncello, {Mi'ung Hwuhn Tschung} Myung-Whun Chung, Klavier.

Letzterer auch Dirigent und ein Messiaënspezialist, der sich für die Aufführung seiner Werke mit vor allem französischen Orchestern große Verdienste erworben hat. Hier mit dem Satz Wirbel der Regenbögen für den Engel, der das Ende der Zeit verkündet aus dem berühmten Quartett auf das Ende der Zeit von Olivier Messiaën.

Das letzte Stück gehört heute einem möglicherweise gar nicht so unbekannten Komponisten. Denn Bertold Hummel wurde in Hüfingen Baden – in unserem Sendegebiet - geboren. Er studiert an der Musikhochschule Freiburg Violoncello und bei Harald Genzmer Komposition. Und arbeitet nebenbei auch als freier Mitarbeiter des SWR in Baden-Baden. Bis er als Kompositionslehrer nach Würzburg geht und dort eine akademische Karriere startet. 2002 ist er verstorben. Seine Hauptwerke sind aus heutiger Sicht das Oratorium Der Schrein der Märtyrer und eine seiner Sinfonien unter dem Titel Visionen nach der Apokalypse des heiligen Johannes für großes Orchester.

Auf der CD mit der Einspielung dieser Visionen ist das berühmte Altarbild von Hans Memling zu sehen. Johannes, wie er auf der kleinasiatischen Insel Patmos festsitzt und verzückt in den Himmel schaut. Seine Vision schreibt er auf, und das, ohne aufs Blatt zu sehen.

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Ein Gemälde wollte Bertold Hummel auch komponieren. Er hat sich mit dem Bibeltext zuvor allerdings intensiv auseinander gesetzt und aus heutiger Sicht gefragt: „sind seine Gesichte Halluzinationen eines Schizophrenen, gequälte Wunschträume eines Gefangenen und Gehetzten. Johannes vernahm Stimmen, sah Gestalten hörte sogar Posaunen und Donnerschläge… Alles Anzeichen einer geistigen Umnachtung“.

Und doch widerspiegelt die Vision den uralten Kampf der Dunkelheit mit dem Licht oder moderner ausgedrückt: die dramatische Antizipationen einer irischen Endzeit. Krieg. Hummel ist als 20jähriger zum Kriegsdienst gezwungen worden, ein Trauma, das ihn immer wieder auf die Apokalypse stößt. Letztendlich endet die Offenbarung des Johannes aber nicht mit dem Untergang der Welt, sondern mit einer neuen Welt, in der es keine Tränen mehr gibt und die Gerechtigkeit siegt. In diesem Sinne lässt jetzt Hummel das Licht gegen das Böse kämpfen.

In seinen sinfonischen Visionen nach der Apokalypse des heiligen Johannes, mit den Münchener Philharmonikern unter Werner Andreas Albert

Musik 4.9 Bertold Hummel Visionen für großes Orchester op 73 Münchner Philharmoniker Leitung: Werner Andreas Albert 10'41

Ein Ausschnitt aus dem ersten Satz der zweisätzigen Symphonie „Visionen“ von Bertold Hummel. Nach der Apokalypse des heiligen Johannes, uraufgeführt 1980 von den Berliner Philharmonikern unter Aldo Ceccato. Wir hörten eine Aufnahme mit den Münchener Philharmonikern unter Werner Andreas Albert.

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Die swr2 Musikstunde ist in der himmlischen Zielkurve angekommen. Morgen blicken wir noch einmal himmelwärts, und Sie dürfen erleben, wie in einem orientalischen Ritual der Sufi himmlische Entwerdung erreicht wird.

Hier gleich Treffpunkt Klassik. Ich bin Sabine Weber, Tschüss bis morgen!

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