Mylène Farmer: Libertine Und Befreit
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Artikel über Mylène Farmer in Paris Match, November 2001 Mylène Farmer: Libertine und befreit Für das Erscheinen des „Best ofs“ ihrer Lieder offenbart sie uns das Best of ihrer geheimsten Gedanken Sie ist eine Diva, die die Einsamkeit kultiviert. Ihre sechs Alben, von denen sich jedes mehr als 1 Million Exemplare mal verkaufte, spüren das Leiden. Zwei Videoclips der flammenden Rothaarigen wurden wegen Verherrlichung von Sex und Gewalt zensiert. Seit 15 Jahren reiht Mylène Erfolge und Skandale aneinander. «Liberti- ne» (1986), «Tristana» (1987), «Pourvu qu’elles soient douces» (1988), «Désenchantée» (1991), «XXL» (1995), «Innamoramento» (1999) sind Klassiker der französischen Musikszene geworden. Nach ihrer Mylenium Tour, und einem Triumph bei den NRJ Music Awards im Januar 2001, ist die Künstlerin nach Kalifornien ent- fleucht, um sich zu sammeln. Dort, in der Anonymität, hat sie drei unveröffentlichte/neue Titel ausgebrütet. Weder ihr Name noch ihr Leben gefielen der jungen Mylène Gauthier. Nach einer verwundernden Kindheit in Nord- Kanada stürzte die Rückkehr der Familie in einen Pariser Vorort Mylène in eine tiefe Melancholie. Mit 18 Jahren verließ sie das Gymnasium und schrieb sich in den Schauspielkursen Florent ein. Die Kunst leitete ihr Leben. Das junge romantische Mädchen, das Poe und Baudelaire liest, trift dann ihr Pygmalion, Laurent Boutonnat. Komponist, Texter und Experte in Public Relations, schreibt er ihr den ersten Hit, «Maman a tort» (1984) (Anm. Peter Marwitz: Das stimmt so nicht ganz; das Lied haben Boutonnat und Jerôme Dahan bereits geschrieben, bevor sie Mylène trafen!) In die Top 50 katapultiert bricht Mylène endgültig mit ihrer Vergangenheit und ändert ihren Namen. Sie nannte sich Mylène Far- mer, eine Hommage an Frances Farmer, einem Hollywood-Star, die ihr Leben in einer psychiatrischen Anstalt beende- te. Der Mythos der provokanten Rothaarigen ist geboren. Ein Interview mit Dany Jucaud Paris Match: Sie fühlen sich so unwohl, wenn ein Blick auf Ihnen liegt – und Ihre letzten Fotos sind an der Grenze zum „Porno Chic“. Ist das nötig, um zu verkaufen? Mylène Farmer: Dazu müßte man erst einmal definieren, was man unter Ponro Chic versteht. Soweit ich weiß ist auf die- sen Fotos weder Pornographie noch Nacktheit zu sehen. Meines Wissens nach – um Ihre Formulierung aufzugreifen – war die Pornographie niemals chic. Sie sind auf jeden Fall provokant... Ich mache diesen Beruf nicht, um zu provozieren. Aber manchmal sind gewissen Provokationen gleichbedeutend mit Freiheit. In einem Fernsehspot, der für die Promotion des Best ofs gedreht wird, der einige Ausschnitte meiner Clips enthält, gibt es eine Einstellung von drei Sekunden, in denen ein Mann eine Decke vorsichtigt/delikat mit einem Stöckchen anhebt und ein Paar Pobacken entblößt. Die Zensoren der Werbung haben uns diese drei Sekunden her- ausschneiden lassen, ohne eine Erklärung zu geben. Was für eine Scheinheiligkeit, da man uns doch den ganzen Tag mit Gewalt überhäuft. Alles das, was lau ist, langweilt mich, das politisch korrekte, die Gleichschaltung der Gedanken und des Ausdrucks... Ich bin nicht naiv, ich weiß sehr wohl, daß ich mit dem Veröffentlichen dieser Fotos eine gewisse Art von Reaktion hervorrufe. Weil ich die erste bin, die sich gegen die Zensur erhebt, kann ich nicht meine eigene Zen- sorin sein. Ich folge meinen Wünschen/meinem Verlangen. Es ist selten, daß man Sie auf Fotos lächeln sieht... Diese Fotos repräsentieren nur eine Facette meiner Persönlichkeit, ohne Zweifel die gewagteste. Eine Frau die ihre Weiblichkeit zurückfordert, hat vielleicht mehr Schwung/Feuer als eine andere. Es ist die Situation, die mich 2 zum Lächeln bringt, denn diese Frau auf diesen Fotos ist auch das Gegenteil von mir. Denken Sie niemals an die Gestörten/Verwirrten, die sich in Wahnvorstellungen/Phantasien über Sie ergehen? Ich ziehe es vor, nicht daran zu denken, ansonsten würde ich ja gar nichts mehr machen. Mögen Sie es, wenn man Sie betrachtet/anschaut? Ich wähle meine Augenblicke/Momente. Ich liebe es, mit Worten zu verführen, mit Gesten. Wenn ich Verführung nicht lieben würde, wie könnte ich dann diesen Beruf machen? Sie sagen immer, daß Sie es nicht mögen, sich zu zensieren. Dennoch sind Sie „kontrollkrank/-süchtig“... Ich spüre eine gewisse Agressivität in Ihrer Frage. Diese zwei Sachen sind nicht widersprüchlich. Ja, ich bin jemand, der kontrolliert, aber warum soll Kontrolle verdammenswert sein? Kontrollieren bedeutet, mit sich selbst genauso streng zu sein wie mit anderen, kontrollieren heißt nicht, das Talent anderer zu ignorieren oder nicht zu respektie- ren. Ich mache diesen Beruf seit 18 Jahren. Ich habe sehr schnell ver- standen, daß man sich mißtrauen muß, weil es immer Ablenkungen/ Verführungen gibt: die Ablenkung/das Untreuwerden von den eigenen Absichten, die Ablenkung/Verzerrung/Verfälschung der Worte in den Interviews. Vor allem deshalb gebe ich fast nie Interviews. Ich versuche mein „Verfälschen“ zu begrenzen, die Abschweifungen, die Lügen. Ich bevorzuge die Stille als meine Zeit damit zu verbringen, mich zu recht- fertigen, was auch nicht in meiner Natur liegt. Ist es nicht manchmal besser, sich zu irren/täuschen als immer auf der Hut zu sein? Ich mißtraue einer gewissen menschlichen Natur. Mehr als alles fürchte ich Betrug/Verrat. Aber das Mißtrauen schließt nicht aus, daß man etwas von sich gibt. Vielleicht hat man mich oft betrogen. Ich weiß nicht. Oder nicht mehr. Ich habe keine Erinnerung an meine Kindheit, und meine Jugendzeit ist dabei, ausgelöscht zu werden/zu verschwinden. Ich stelle Sie mir sehr gut als kleines Mädchen vor, das dabei ist, seinen Puppen die Augen auszustechen! (bricht in Lachen aus) Sehen Sie mich wirklich so? Vor einem Monat habe ich einem alten Stoffhasen die Augen wieder eingesetzt. Außerdem scheint es so, daß ich Lastwagen den Mädchenspielen vorgezogen habe und daß ich, wie in „Tom und Jerry“, kleine Bomben mit Korken und einem Docht gebastelt habe, die ich vor die Treppe legte, bevor ich davonlief! Diese Geschichte mit der Amnesie, ist die wahr oder habe Sie sie erfunden, um nicht über Ihre Vergangenheit zu reden? Ich verstehe nicht, wie Sie so etwas denken können! Warum erlauben Sie es sich niemals, sich gehen zu lassen? Es ist nicht nötig, Gründe für Angst zu haben. Sie bestehen wirklich aus Widersprüchen. Sie sind die größte/stärkste Schizophrene, die ich kenne. Seit dem ersten Mal, als ich sie auf der Bühne gesehen habe, vom Himmel schwebend, halb nackt, der Öffentlichkeit dargeboten, Sie so schüchtern, zurückhalten, verloren in Ihren Tiefen, habe ich, das gebe ich zu, meine Schwierigkeiten, die Teile Ihrer Per- sönlichkeit zusammenzufügen... Auf der Bühne schaffe ich es, den Blick der anderen zu vergessen, vielleicht weil ich weiß, daß, wenn die Leute sich die Mühe machen, zu kommen um mich zu sehen, dies deswegen geschieht, weil sie mich mögen/lieben. 3 Das Leben hat mir ein gealtiges Geschenk gemacht: ich habe eine unglaubliche Kraft in mir, selbst wenn ich manchmal wanke, erlaubt sie es mir immer wieder aufzustehen. Seit einem Jahr werfen Ihre Fans Ihnen vor, sie, ich zitiere, „für Milchkühe zu halten“ und nichts im Austausch zu geben... Machen Sie aus einem Einzelfall keine Allgemeingültigkeit. Ich will, daß man weiß, daß ich niemals einen Fanclub initi- iert/unterstützt habe, weder offiziell noch halbamtlich. Ich stimme einem (solchen) Kult meiner Persönlichkeit nicht zu! Wenn sich jemand aus freien Stücken entschlossen hat, einen Fanclub zu gründen, so geschieht das komplett in ihrer eigenen Verantwortlichkeit. Ich habe mich nicht gegen die Veröffentlichung ihrer Magazine gewehrt, weil sie von Qua- lität waren. Aber ihr Schicksal ist nicht meine Sache und das wissen sie sehr gut. Im Gegenzug bin ich immer wieder erstaunt gewisse Medien permanent die gleichen falschen Informationen aufgreifen zu sehen. Aber Sie geben ihnen nichts! Ich glaube nicht, daß man unbedingt etwas „gibt“, wenn man sein Leben den Zeitschriften erzählt. Ich bin jemand sehr zurückgezogenes. Mein Respekt für das Publikum ist ohne Doppeldeutigkeiten. Meine moralische, intellektuelle und gefühlsmäßige Involvierung ist immer die gleiche, ob nun beim Schreiben eines Liedes oder bei der Erstellung eines Clips, eines T-Shirts oder einer Show. Wenn ich ein Konzert gebe gibt es ein gigantisches Investment an Gefühlen wie an Finanzmitteln. Ich gebe exakt die gleiche Show in Paris wie in der Provinz oder in Ruß- land. Nach einer Untersuchung sind Sie nach Laetita Casta die Person, die das meiste Geld in diesem Beruf verdient: 35 Millionen Francs im Jahr. Ist das wahr? Das ist genauso falsch wie daß ich schwanger bin, daß mein wahrer Vorname Marie-Hélène ist oder wenn das Magazin „Marie Claire“ bestätigt, daß ich Mutter eines Kindes bin. Das Geld gibt mir eine tolle Freiheit, aber es ist nicht das ultimative Ziel. Verdienen Sie mehr oder weniger? Als Laetita Casta? Sie lehnen es immer ab von Ihrem Privatleben zu erzählen, deshalb erfindet man was! In meinem Privatleben ist es privat. Das Wort ist hinreichend erklärend. Ich gewähre diese Form des Eindringens (ins Private) nicht. Ich bin emotional zufrieden in meinem Leben und meiner Karriere, ich habe nichts hinzuzufügen. Sie bieten sich selbst total, Sie ziehen sich auch zurück. Sind Sie sich dennoch bewußt, daß Sie neurotische Beziehun- gen zum Berühmtsein unterhalten? Ich habe mich nicht entschlossen, diesen Beruf zu machen, um erkannt/berühmt, sondern um anerkannt zu werden. Ich muß mich nicht rechtfertigen. Man wirft mir dauernd meine vorgeschobene Stille vor, aber die Stille ist meine grund- legende Natur. Was amüsant ist, ist, daß es das ist, was einige an mir mögen und gleichzeitig andere mir permanent vorhalten. Also was tun? Neulich, bei einem sehr Pariserischen Abendessen, haben sich einige der Gäste unter anderem über Ihre Freundschaft mit Salman Rushdie gewundert... Ich mag die Literatur. Diejenigen, die mich mögen, wissen das. Sie müssen dazu nicht auf Ihren mondänen Dinerpar- ties auftauchen. Die Kultur hat immer einen sehr wichtigen Platz in meinem Leben gehabt. Ich mag Bataille, Cioran, Edgar Poe, Tschechow, Baudelaire. Die Poesie beflügelt/bewegt mich. Da ich wenig spreche, lese ich viel.