Karl Popper, Die Mühle Bei Hunstanton Und Die Anfänge Der Molekularbiologie Bemerkungen Zu Karl Poppers Medawar-Vorlesung, Teil II
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Hans-Joachim Niemann (Poxdorf) Karl Popper, die Mühle bei Hunstanton und die Anfänge der Molekularbiologie Bemerkungen zu Karl Poppers Medawar-Vorlesung, Teil II Die Sonderstellung des Menschen in der frönt hatten? Wieso brauchte andererseits Natur und die Frage nach dem Ursprung der Birkenspanner nur wenige Generatio- des Lebens sind Fragen, die oft schon nen und nicht Millionen Jahre, um sein von Kindern gestellt werden. Solange die Aussehen an die industrielle Schwärzung Wissenschaft nichts dazu zu sagen hatte seines Lebensraumes anzupassen? oder der kindliche Verstand deren Antwor- Der ›Baldwin-Effekt‹ als Selektionsdruck ten nicht begreifen konnte, lieferten die in der selbstgewählten Nische und die Religionen, unbeschwert von jedem Zwei- ›Populationsgenetik‹ mit dem Genpool als fel, die Erklärung, Gott habe alles Leben Lösungsvorrat für Lebens- und Umwelt- geschaffen und den Menschen als Krone probleme retteten die Darwinsche Theo- der Schöpfung über Pflanzen und Tiere rie und das Weismann-Dogma ›Es gibt gestellt. Dann hatte die Wissenschaft et- keine Rückwirkung vom Individuum auf was zu sagen, und mit wachsendem Wis- die Gene‹. Aber schon mit dem Baldwin- sen akzeptierte man Darwins ›Variation Effekt kommt, wie Popper bemerkte, der und Selektion‹ als Ursache für die Entste- Geist zurück in die Evolution und be- hung und Vielfalt der Arten. Dieser geist- stimmt ihre Richtung: als Suche der Lebe- los ablaufende Mechanismus füllt seitdem wesen nach einer besseren Welt und als die Stelle in unserem Hirn, die zuvor die ständiger Versuch, Probleme zu lösen. Religion besetzt hatte. Eine neue Ideolo- Je mehr man mit ›Darwin‹ glaubte, alles gie ersetzte die alte und erhob die Ver- durch ›Mutation und Selektion‹ erklären nichtung des schlechter Angepassten zur zu können, desto stärker wurde jede Form Leitidee für Nationalismus, Rassismus von Lamarckismus als Aberglaube abge- und Wirtschaft. stempelt: Dass erworbene Eigenschaften Dann kamen aber doch wieder Fragen auf: oder erworbenes Verhalten vererbbar sei- Warum arbeitet die Evolution mit zufälli- en, galt bis fast in unser Jahrhundert hin- gen und meist zerstörerischen Mutationen ein als Zeichen von geistiger Rückstän- des Erbguts, wenn doch gezielte Variatio- digkeit und als Sünde wider die neue, der nen schneller zu einer besseren Anpassung Physik nun ebenbürtige Wissenschaft der führen würden? Wozu die hübschen und Biologie1. doch schlecht angepassten, ja geradezu Die Anfänge eines drastischen Umschlags lebensgefährlichen Pfauenfedern? Sollte da des Denkens wurden deshalb gar nicht etwa der Geschmack der Pfauenhennen wahrgenommen oder heftig bekämpft: evolutionär eine Rolle gespielt haben? Conrad Waddingtons ›Epigenetik‹ (1942), Warum bekamen kurzhalsige Paarhufer Barbara McClintocks genetische Kontroll- wunschgemäß lange Hälse und wurden mechanismen (1944), Lynn Margulis’ ko- Giraffen, nachdem sie Millionen Jahre ih- operierende Einverleibung fremder Gene rer Vorliebe für hochhängende Blätter ge- (1967) und Histone als Genregulatoren Aufklärung und Kritik 2/2013 7 (1980er Jahre). Allmählich aber wurden sich im Laufe der Zeit in der Zelle ›ange- erworbene Eigenschaften als vererbbar ak- sammelt‹ hat? Und bloß reines Sammeln zeptiert. Das Zusammenspiel von Zufall und kann es nicht sein. Denn nach Popper gibt Selektion hörte auf, als einziger Mechanis- es nur das aktive Ausprobieren und Fest- mus betrachtet zu werden, der die Lebe- halten dessen, was der Prüfung anhand wesen gestaltet und den Gang der Evolu- der Wirklichkeit standgehalten hat. Weil tion bestimmt. Gedankenblitz und Presse- das logisch so ist, kann es in der Biologie donner lagen aber Jahrzehnte auseinander, nicht anders sein3. Auch in der Zelle wird und erst in letzter Zeit berichten auch po- man daher Methoden finden, die dazu die- pulärwissenschaftliche Bücher darüber, nen, neues Wissen auszuprobieren und ›Wie Erfahrungen vererbt werden‹, ›Wie bewährtes Wissen zu bewahren. Wenn der Lebensstil unsere Gene steuert‹, ›Wie Wissen, Zwecke und Aktivität eine so gro- die Umwelt unsere Gene verändert‹2. ße Rolle spielen, hat Popper dann nicht Doch auch die neue Biologie lässt Fragen mit Recht bestritten, dass Biologie auf rei- offen. Je mehr man weiß, wie die Zelle ne Chemie reduzierbar sei? Die Diskussi- mit dem Genom umgeht, wie sie es als on mit Max Perutz um die ›reine Chemie‹ riesiges Notizbuch verwendet, um dort ist nicht beendet4. Die neuen Rätsel des das Wann und Wo und Wie der Protein- Lebens sind nicht gelöst. synthese zu speichern, wie sie Texte her- Max Perutz (1904-2002) hatte seine An- ausliest, unpassenden Text seitenweise un- sicht dazu 1986 im New Scientist unter lesbar macht, besonders wichtige Texte dem Titel ›Eine neue Sichtweise des Dar- markiert oder gar verdoppelt, wie sie ei- winismus‹ ausführlich dargestellt5. Nach nen beschädigten Text mit Hilfe der Ko- Poppers Tod veröffentlichte er diesen Ar- pie wiederherstellt, wie sie lange Passa- tikel erneut6. Er erwähnte nicht, dass Pop- gen vor Veränderung schützt, um sie eini- per seine Einwendungen noch einmal ge- ge Hundertmillionen Jahre verwenden zu nau erklärt und ihn inständig gebeten hat- können; je mehr man über all das weiß, te, darauf einzugehen7. Stattdessen gab desto drängender stellen sich neue Fra- Perutz seinem Diskussionsbeitrag 2002 gen: Woher nimmt die Zelle diese Aktivi- den neuen Titel: ›Darwin hatte Recht‹. Er tät? Woher hat sie ihr Wissen? Ist alles wiederholte darin seine These: die DNA reine Chemie? Fragen, die die Biologen sei die Partitur einer Musik, die die Zelle meist nicht interessieren, zu denen sie aber abspiele; einen Dirigenten gäbe es nicht. die Antworten liefern. Alles sei reine Chemie. Doch schon zu Perutz’ Lebzeiten hatte Hier nun endlich kommt Karl Popper mit sich das Weltbild der Biologie in Rich- seiner Medawar-Vorlesung ins Spiel. Auch tung Popper verschoben: Die Zelle hat viele 27 Jahre danach sind diese bio-philoso- Möglichkeiten, die ›Partitur‹ unterschied- phischen Fragen immer noch unbeantwor- lich zu lesen; und die DNA ist nicht die tet. Es geht um die neuen Geheimnisse einzige Partitur. Die Zelle ›weiß‹, welche des Lebens: Woher kommen die auf Zie- Musik aus welcher der Partituren erklin- le, Zwecke und Problemlösungen gerich- gen soll, wann sie erklingen soll, und wel- teten Aktivitäten der Organismen? Woher che Teile daraus niemals erklingen sollen. kommt das Wachstum des Wissens, das Ob mit oder ohne Dirigent: Sie, die Zelle, 8 Aufklärung und Kritik 2/2013 und nicht die DNA, ist der aktive Teil des tellektuellen Austausch mit Leuten, die Ganzen. Poppers Forschungsprogramm, seine Wissenschaftstheorie auf die Biolo- über Darwin hinauszukommen, scheint mir gie anwenden wollten, die selber bereits heute so aktuell zu sein wie nie zuvor. Das Großes in der Biologie geleistet hatten und Besondere, das Popper im biochemischen später berühmt werden würden, einer von Leben sah, nämlich aktiv zu sein, Ziele zu ihnen (Conrad Waddington) erst in unse- verfolgen, Probleme zu lösen und Wis- ren Tagen. Zu Poppers Entsetzen waren sen über die Wirklichkeit zu erwerben, das diese bewundernswert klugen Leute fast alles sind Dinge, die nicht nur im mensch- durchweg politische Utopisten, die enga- lichen Leben, sondern auch im Kosmos giert auf Stalin und den Marxismus setz- der Zelle realisiert sind. ten. Von solcher Art radikalem Sozialis- mus hatte sich Popper längst verabschie- Auf der Suche nach einer besseren det, 1919 schon. Er arbeitete bereits an Welt: Popper 1935/1936 in England einer großen Abrechnung mit dem linken Wie kam nun Popper zur Biologie und wie dem rechten Totalitarismus. Von da- dazu, in seiner Medawar-Vorlesung eine her kann man sich die lebhaften Diskus- Zwischenbilanz seiner Philosophie der sionen vorstellen. Ein Teilnehmer des Biologie zu ziehen? Woher stammte sein Treffens (Berthold Wiesner) regte ihn dazu Interesse an Darwin, an der Evolution und an, seine politischen Ideen zu einem Buch an der Entstehung des Lebens, Dinge, mit zu verarbeiten. Es wurde Die Offene Ge- denen er sich schon vor seiner Logik der sellschaft und ihre Feinde9. Forschung (1934) befasst hatte8 und zu denen er bis an sein Lebensende Beiträge Wie kam Popper 1935 überhaupt nach geliefert hat? England? Hier scheint es mir doch nötig, Die Geschichte dazu ist lang; sie beginnt noch etwas weiter auszuholen. In jenen in den 1920er Jahren und endet erst mit Jahren ahnten viele jüdische Künstler und Poppers Tod 1994. Statt vieles nur anzu- Wissenschaftler das bevorstehende Un- deuten, möchte ich hier den Teil heraus- heil. Antisemitismus und Straßenterror wa- greifen, der in Vergessenheit geraten könn- ren bereits Jahre vor Hitlers Machergrei- te und der gleichermaßen für Poppers spä- fung und seinem Einmarsch in Österreich teres Leben wie auch für die Entwicklung nicht mehr zu übersehen: 1927 wurden der ›molekularen Biologie‹, als zuständi- Popper und seine zukünftige Frau Augen- ge Disziplin für die Chemie der Zelle, be- zeugen, als mitten in Wien, auf der Stra- deutsam war, das Treffen mit der biologi- ße, friedliche Demonstranten und Unbe- schen Avantgarde Englands im Juni 1936 teiligte von der Polizei niedergeschossen an jenem Ort, den Popper genau fünfzig wurden10. Im Juli 1936 wurde Moritz Jahre später in seiner Medawar-Vorlesung Schlick ermordet, der Prüfer von Poppers erwähnte: in der ›Windmühle bei Hunstan- Doktorarbeit, der Herausgeber seiner Lo- ton‹. Dieses Treffen im Theoretical Bio- gik der Forschung und das Haupt des logy Club war für Popper der Abschluss ›Wiener Kreises‹. Rückblickend schreibt seiner