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SWR2 Musikstunde

Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper Das Feuer des Prometheus – seria und Reformoper (4)

Von Karl Böhmer

Sendung: Donnerstag, 03.07.2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Bettina Winkler

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Musikstunde 03.07.2014 Antiker Schmerz, griechische Thränen Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper (4) Das Feuer des Prometheus – Opera seria und Reformoper Mit Karl Böhmer

Signet Musikstunde

Ansage: …mit Karl Böhmer. „Antiker Schmerz, griechische Thränen“ – Christoph Willibald Gluck, ein Europäer der Oper. Teil IV: „Das Feuer des Prometheus“

Musikstunden-Indikativ Giuliani-Gitarrenmusik, ca. 0‘20

„Feuer“ – immer wieder fällt den Zeitgenossen dieses Wort ein, wenn sie an Gluck denken: das Feuer des Prometheus, das Lodern des Genies. François Arnauld schreibt 1776 in Paris über ihn: „Dieser Prometheus hat das Feuer vom Himmel geraubt.“ Auch für den Dichter Wieland ist Gluck ein „Feuergeist“, ein „mächtiges Genie“, dem es gelungen ist, die Opernkunst „in ihre ursprüngliche Würde wieder einzusetzen.“ Aus nächster Nähe kann der schwedische Hofkapellmeister Joseph Martin Kraus Glucks Feuer beobachten, als er den alten Komponisten 1783 in Wien besucht. Kraus berichtet: „Meinen Gluck hab ich gefunden – ein herzguter Mann, aber feurig wie der Teufel, und da bin ich bloß Spaß gegen ihn. Wenn er ins Zeug neinkömt – hei! Da braußts, und jeder Nerve ist gespannt und hallet wider.“ Nicht erst beim späten Gluck wird diese brennende Leidenschaft diagnostiziert. Der schwäbische Dichter und Musiker Christian Friedrich Daniel Schubart hört sie schon aus den frühen Opern des Meisters heraus – ein „immer gleiches, durch die ganze Oper fortloderndes Feuer.“ In der heutigen Sendung möchte ich dieses Feuer auflodern lassen, in einigen der dramatischsten Opernszenen, die wir von Gluck kennen. Sie stammen nicht nur aus den so genannten „Reformopern“, sondern gerade auch aus den frühen Opere serie. Dort hat sich die Vorliebe des Komponisten für Menschen auf dem Siedepunkt, für Helden in Extremsituationen schon früh gezeigt. Als erstes Beispiel stelle ich Ihnen das Terzett aus dem von 1750 vor. Am Ende des zweiten Aktes entladen sich die Spannungen zwischen den Protagonisten. Der römische Kaiser Valentinian III. ist entsetzt: Gerade hat ihm die schöne Fulvia ins Gesicht geschleudert, dass sie nicht ihn liebt, sondern immer noch ihren Geliebten, den verhafteten Feldherrn Aetius. Damit durchkreuzt sie die Pläne ihres Vaters Maximus. Beide Männer stürmen auf sie ein: Die Kastratenpartie des Valentiniano wird hier gesungen von der Altistin Ruth 3

Sandhoff, der Massimo vom Tenor Stefano Ferrari. Die Rolle der Fulvia übernimmt Kirsten Blaise. Und Michael Hofstetter leitet das Orchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele. Drei Menschen in der Raserei des Affekts, aufgepeitscht vom Tremolo der Streicher:

Gluck: Terzetto (aus: Ezio), CD II, Track 8 (bis 2’45) Kirsten Blaise, Ruth Sandhoff, Stefano Ferrari Orchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele Leitung: Michael Hofstetter Oehms OC 918, LC 12424

So wilde, feurige Töne sind die Zeitgenossen in der Opera seria nicht gewöhnt. Der Wiener Hofpoet Metastasio ist entsetzt, als er 1748 sein Libretto Semiramide riconosciuta in Glucks Vertonung mitanhören muss. „Una musica arcivandalica, insopportabile“, schimpft er, eine „erzvandalische, unerträgliche Musik“. Auch den Text zum Ezio hat Mestastasio geschrieben, und zwar schon als junger Dichter in Rom. Dieses „Drama für Musik“ ist so erfolgreich, dass es jede Opernbühne in Europa nachspielen möchte, und zwar jeweils mit eigener Musik. Zwanzig Jahre lang wird der Ezio immer wieder neu vertont, bevor Gluck seine Version 1750 in Prag vorstellt. Metastasio liebt am meisten den Ezio von Hasse, wegen der Kürze der Arien und weil der Komponist darin „guten Geschmack und gesundes Urteil“ zeigt. Gluck ist genau das Gegenteil: ein „Enfant terrible“ der Opera seria. Guter Geschmack interessiert ihn überhaupt nicht, sondern nur die siedend heiße Leidenschaft seiner Heldinnen und Helden. Selbst Metastasio bescheinigt ihm „un fuoco meraviglioso, ma pazzo“, ein „wundersames, aber verrücktes Feuer“. Hier ist es wieder, das Schlüsselwort: „fuoco“, „Feuer“. Es folgt eine weitere Szene aus dem Ezio: Fulvia hat erfahren, dass der Kaiser ihren Geliebten Aetius hat ermorden lassen, und sie weiß, dass ihr eigener Vater daran Schuld ist. Im Delirium verliert sie die Orientierung. „Misera, dove son?“ „Ich Arme, wo bin ich? Ist es noch die Luft des Tiber, die ich atme? Oder hat mich das Schicksal an ein Gestade in Griechenland verschlagen, wo mich die Furien heimsuchen?“ Das Rezitativ beginnt mit leisen Tonwiederholungen, die sich langsam steigern. Sie bohren sich gleichsam ins Gemüt der jungen Frau – ein Mittel, das Gluck später immer wieder anwenden wird, um einen Riss im Gemüt seiner Helden anzudeuten. Die Arie dagegen stürmt gleich in wilder Erregung los. Während die Furien über Fulvia herfallen, beteuert sie immer wieder: „Ah, non son io che parlo“: „Ach ich bin’s nicht, die hier redet, es ist der Schmerz allein, der mir das Herz zerreißt und mich in die Verzweiflung stürzt.“ Es singt Cecilia Bartoli, begleitet von der Akademie für Alte Musik Berlin unter Bernhard Forck:

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Gluck: Misera, dove son – Ah, non son io che parlo (aus: Ezio) Anfang bis 5’07 (Rezitativ und erster Teil der Arie) Cecilia Bartoli, Akademie für Alte Musik Berlin, Bernhard Forck Decca 467 248-2, LC 00171

Nie zuvor hatte ein Komponist die Wahnsinnszene der Fulvia so maßlos vertont wie Gluck in seinem Prager Ezio. Als der Komponist 1755 endlich in kaiserliche Dienste tritt, muss sich Metastasio damit abfinden, diese erzvandalische Musik regelmäßig auf der Wiener Hofbühne zu hören. Nach und nach kann er sich sogar ein wenig Bewunderung für den ungeliebten Kollegen abringen. In einem Brief nach Rom nennt er ihn „il nostro Gluck“: „Unser Gluck hat eine ganz eigentümliche Lebhaftigkeit im Schreiben ... Er ist ein böhmischer Kapellmeister, dem sein Feuer, sein Lärm und seine Extravaganz schon auf mehr als einem Theater in Europa gute Dienste geleistet haben.“ Auch im Teatro San Carlo in Neapel bewundert man das Feuer des Böhmen Gluck. Dort stellt er 1752 seine Version von Metastasios vor. Es ist dieselbe Geschichte um den römischen Kaiser Titus, die 40 Jahre später auch Mozart vertonen wird, aber um wieviel wilder, hemmungsloser erscheint in Glucks Deutung die weibliche Hauptrolle Vitellia. Das zeigt uns nun wieder Cecilia Bartoli in der großen Arie „Come potesti, o Dio, perfido traditor“. Die stolze Römerin Vitellia ist außer sich. Ihr Geliebter Sextus hat den Kaiser Titus anscheinend ermordet. Sie selbst hatte ihn dazu angestiftet, aus Rache am Kaiser. Nun aber hat sie erfahren, dass Titus sie zur Kaiserin machen wollte, und klagt Sextus an, all ihre Träume zerstört zu haben. Zu Beginn schäumt sie vor Wut, dann jedoch besinnt sie sich und erkennt, dass sie selbst die Schuldige ist. In diesen leisen, langsamen Teilen kehrt das Furienmotiv wieder, das wir gerade so erregt in der Szene der Fulvia gehört haben. Nun ist es zart und gebändigt, ein Symbol für die Schuld, die in Vitellia endlich zärtliche Gefühle auslöst. Dazwischen aber flammt immer wieder ihre maßlose Wut auf:

Gluck: Come potesti, o Dio (aus: La clemenza di Tito), Track 6 (5’04) Cecilia Bartoli, Akademie für Alte Musik Berlin, Leitung: Bernhard Forck Decca 467 248-2, LC 00171

Wir hörten Cecilia Bartoli als Vitellia in Glucks La clemenza di Tito. Vom nagenden Gewissen der Vitellia führt ein grader Weg zu einer der berühmtesten Szenen, die Gluck geschrieben hat: zur Furienszene in Iphigénie en Tauride: Orestes, der Prinz von Mykene, wird von den Furien verfolgt, weil er seine eigene Mutter erschlagen hat. Sie hatte seinen Vater Agamemnon umgebracht, als dieser endlich aus dem Trojanischen Krieg heimkehrte. Längst schon hatte die Mutter Klytämnestra einen Liebhaber, mit dem sie den Mord 5 am Gatten plante. Orest aber rächt seinen Vater und ist seitdem auf der Flucht vor den Rachegöttinnen. Zu Beginn der Szene sucht er Vergessen im Schlaf, doch die Geister der Unterwelt lassen ihn nicht zur Ruhe kommen. Wieder erklingt ein leise stichelndes Motiv in den Bratschen und darüber jene fallende Terz der Geigen, wie sie schon bei Fulvia und Vitellia zu hören war. In dieser Szene offenbart das typische Gluckmotiv die wahren Gefühle des Helden. Jeder Zuhörer spürt: Diese Töne sind nur die Ruhe vor dem Sturm. Kaum ist Orest eingeschlafen, stürmen die Furien auf ihn ein, zunächst in einer Pantomime der Tänzer, untermalt vom Orchester, dann im wilden, quälenden Gesang des Chores. Die Musik malt den Alptraum des Helden, dem am Ende gar seine erschlagene Mutter Klytämnestra erscheint. In Wahrheit ist es seine Schwester Iphigenie, die von den Göttern nach Tauris verbannt wurde. Sie hat Mitleid mit dem Fremden, denn Bruder und Schwester erkennen sich noch nicht. In unserer Aufnahme leitet Chor und Orchester der Musiciens du Louvre. Simon Keenlyside ist Oreste, Mireille Delunsch kommt am Ende als Iphigénie hinzu:

Gluck: Le calme rentre dans mon cœur (aus: Iphigénie en Tauride), CD I, Track 19 (1’58) und 20 (2’51), Anfang von Track 21 (bis 0’47) Simon Keenlyside Les musiciens du Louvre Marc Minkowski Archiv Produktion 471 134-2, LC 0113

Die Furienszene aus Iphigenie en Tauride ist ein klassisches Beispiel für Glucks loderndes Genie. Schon sein Wiener Textdichter Raniero de’ Calzabigi meint von seinem Komponistenkollegen: „Gluck liebte die mächtigen Leidenschaften und ihre Siedepunkte auf der Höhe ihres Ausbruchs, er liebte den lauten, theatralischen Tumult.“ In der Iphigenie treibt Gluck die Leidenschaften immer wieder auf ihren Siedepunkt. Am Ende der Oper soll Iphigenie den Unbekannten aus Mykene, der ihr so viel Mitleid einflößt, den Göttern opfern, doch sie weigert sich, das grausame Opfer zu vollziehen. „Non, cet affreux devoir je ne pus le remplir“. Das forsche, ablehnende Rezitativ geht rasch in einer erregte Arie über: „Je t’implore et je tremble, oh déesse implacable.“ „Ich flehe dich an und ich zittre, unversöhnliche Göttin.“ Noch einmal singen und spielen Mireille Delunsch und Les Musiciens du Louvre unter Marc Minkowski:

Gluck: Non, cet affreux devoir (aus: Iphigénie en Tauride), CD II, Track 11 (3’38) Simon Keenlyside, Les musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 471 134-2, LC 0113

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Die Musik dieser Arie hat Gluck für seine Iphigénie nicht neu geschrieben, sie ist bei der Uraufführung schon ein Vierteljahrhundert alt. Ursprünglich stammt sie aus seinem römischen Antigono von 1756, geschrieben wieder auf ein Libretto von Metastasio. In Paris lässt sich Gluck von seinem Textdichter Guillard völlig neue Verse auf Französisch dazu schreiben, ohne Rücksicht auf den poetischen Gehalt der Szene bei Metastasio. Es ist nicht die einzige Übernahme aus einer Opera seria in seine letzte Musiktragödie. Gerade die Iphigénie en Tauride steckt voller „Parodien“, wie man diese Form von Umtextierung und Bearbeitung nennt. Der Forscher Klaus Hortschansky hat als erster das „Parodieverfahren“ in Glucks Opern gründlich untersucht und festgestellt, wie systematisch der Komponist gelungene Arien in späteren Werken wiederverwendet hat. Gluck benutzt dieses Verfahren so selbstverständlich wie Bach oder Händel. In unserem Fall gibt es sogar eine direkte Verbindung zu Johann Sebastian Bach. Für die gerade gehörte Arie benutzte Gluck ein Cembalostück von Bach, das er als junger Mann in Prag kennengelernt hatte. 1731 erschien in Leipzig das Opus I des Thomaskantors, die sechs Partiten für Cembalo. Im selben Jahr begann Gluck in Prag mit dem Studium. Er wird Bachs Noten wohl in einer Prager Klosterbibliothek entdeckt und am Cembalo durchgespielt haben, auch die Gigue aus der ersten Partita in B-Dur. In diesem Satz muss der Cembalist ständig mit der rechten Hand über die virtuosen Triolen der linken Hand übergreifen. Der Bass steigt in die Tiefe hinab, in der Höhe hört man ein prägnantes Motiv aus zwei Tönen:

J.S.Bach: Partita Nr. 1 B-Dur, BWV 826, Gigue (2’01) Andreas Staier, Cembalo DHM 054772 77306 2, LC 0761

Andreas Staier spielte die Gigue aus Bachs erster Cembalopartita. Gluck benutzt diesen Satz als Vorlage für seine stürmischste Arie in der römischen Oper Antigono. Indem er Bachs Triolen durch Streichertremolo ersetzt und die hohen Töne der Geigen mit Trillern verziert, kreiert er die passende Musik für den erregten Gemütszustand der Prinzessin . Hier aus seinem Antigono die Arie „Perché se tanti siete“. Es singt Anna Stéphany, begleitet von der Classical Opera Company unter Ian Page:

Gluck: Perché se tanti siete (aus: Antigono), Track 5 (3’25) Anna Stéphany Classical Opera Company Leitung: Ian Page WHLive0037, LC 14458

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Bevor Gluck diese Arie in seine zweite Pariser Iphigénie übernehmen kann, absolviert sie noch eine Zwischenstation im Wiener Telemaco von 1765. So besingen in Glucks Opern drei verschiedene Heldinnen zur gleichen Musik ihr so ganz unterschiedliches Leid: die ägyptische Prinzessin Berenike, die Zauberin Circe und die Priesterin Iphigenie auf Tauris. Und alle drei Heldinnen singen zu Harmonien, die Bach erfunden hat. Zurück zur Iphigénie en Tauride. Das antike Tauris ist nichts anderes als die heutige Krim. Dort lebt das wilde Volk der Taurer, beherrscht vom grausamen König Thoas. Freilich ist auch dieser Tyrann bei Gluck ein gebrochener Mann. Gleich bei seinem ersten Auftritt wird er von düsteren Vorahnungen seines Todes heimgesucht. „De noirs pressentiments“ heißt seine Arie, gesungen von Laurent Naouri. Das typische Tremolo Glucks wird hier mehrfach zu düster aufsteigenden, bedrohlichen Dreiklängen verdichtet. Auf diesen Siedepunkt der Leidenschaft folgt der theatralische Tumult: Die blutrünstigen Taurer treten auf, ihr primitiv brutaler Chor folgt unmittelbar auf die Arie.

Gluck: De noirs pressentiments und Les dieux appaisent leur courroux (aus: Iphigénie en Tauride), CD I, Track 8 (2’15) und Anfang von Track 9 (3‘09) und Take 10 (1’10). Les Musiciens du Louvre, Marc Minkowski Archiv Produktion 471 134-2, LC 0113

Der Bassist Laurent Naouri und der Chor der Musiciens du Louvre in einer Szene aus Iphigénie en Tauride. Mit Zusammenballungen wie dieser gelingt es Gluck, einen Stil für die „wahre griechische Tragödie“ zu finden. So sehen es seine Zeitgenossen. Schubart schreibt von ihm: „Seine Ideen reichen alle ins Große, ins Weitumfassende“. Auch der Philosoph Hegel bewundert Glucks Musiktragödien, denn in ihnen bleibe „die Leidenschaft durchaus rein, groß, edel und von plastischer Einfachheit.“ Der Mainzer Dichter Wilhelm Heinse fasst die Wirkung der Iphigenie auf Tauris folgendermaßen zusammen: „Es ist nichts Mittelmäßiges darin; alles greift ein, und macht das rührendste Schauspiel tiefer Leiden ... Die Pariser haben nicht übel geurtheilt, als sie von Glucks Musik sagten: sie sey antiker Schmerz, griechische Thränen und jungfräuliche Frischheit. Alles drei trifft in der Iphigenie zusammen.“ Dass dieses reine Feuer der antiken Tragödie schon in den frühen Opere serie brennt, das haben nur wenige Zeitgenossen erkannt wie etwa Heinse oder Schubart. Glucks Wiener und Pariser Meisteropern lagen gedruckt vor. Sie wurden in Paris auf Französisch, in Neapel auf Italienisch und bald auch in Mainz, Mannheim und Berlin auf Deutsch gespielt. Die früheren Opere serie aber sind vor unserer Zeit nie gedruckt worden, man kannte sie nur aus raren Manuskripten. An Aufführungen war nach dem Ende der Kastratenära nicht 8 mehr zu denken, auch wegen der allgemeinen Ablehnung von Metastasio und seiner Dramaturgie. Dass Gluck anders dachte, dass er Metastasios Dramen mit dem gleichen Feuer vertonte wie die beiden Iphigenien, hat erst die Gluck- Gesamtausgabe ans Licht gebracht. Sie entsteht seit Jahrzehnten in der Akademie der Wissenschaften und der Literatur zu Mainz unter der Leitung von Gabriele Buschmeier. Band um Band der frühen Opern haben emsige Forscherinnen und Forscher vorgelegt – und ihre Editionen finden immer größere Resonanz. Vom ganz frühen Demofoonte über La clemenza di Tito bis zum Trionfo di Clelia sorgen Glucks Opere serie heute wieder für Aufsehen. Am erfolgreichsten ist immer wieder der Ezio. In den letzten Jahren konnte man die Wiener Fassung bei den Ludwigsburger Schlossfestspielen sehen, die Prager Urfassung am Opernhaus Frankfurt, jeweils in packenden Inszenierungen. Deshalb hier als letztes Beispiel für das lodernde Feuer Glucks eine Arie des Ezio, und zwar aus der Wiener Fassung der Oper von 1763, „Se il fulmine sospendi“, „Wenn du den Blitzschlag zurückhältst“. Im Orchester wütet ein Gewitter, Blitze zucken durch den Himmel. Darüber erhebt sich der Gesang des Kastraten in virtuosen Koloraturen. Bläser stimmen einen Marsch an, denn die Ehre und der Kampfesmut des Aetius sind wieder hergestellt. Es singt der argentinische Franco Fagioli. Michael Hofstetter leitet das Orchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele:

Gluck: Se il fulmine sospendi (aus: Ezio), CD II, Track 10 (3’49) Franco Fagioli Orchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele Michael Hofstetter, Leitung Oehms OC 918, LC 12424

Franco Fagioli sang eine feurige Arie aus Glucks Ezio, begleitet vom Orchester der Ludwigsburger Schlossfestspiele unter Michael Hofstetter. „Das Feuer des Prometheus“ war das Thema unserer heutigen Musikstunde zu Glucks 300. Geburtstag. Am Mikrophon war Karl Böhmer. Morgen geht unsere fünfteilige Reihe zum Thema „Gluck – ein Europäer der Oper“ zu Ende mit einer Einladung ins Zauberreich der Töne. Wir erleben die Zauberin Armide in Glucks verführerischen Klängen.