https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 [II Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agbPsychosozial-Verlag https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Heinz-Jürgen Voß, Michaela Katzer (Hg.) Geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung durch Kunst und Medien

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb ie Reihe »Angewandte Sexualwissenschaft« sucht den Dialog: Sie ist Dinterdisziplinär angelegt und zielt insbesondere auf die Verbindung von Theorie und Praxis. Vertreter_innen aus wissenschaftlichen Institutionen und aus Praxisprojekten wie Beratungsstellen und Selbstorganisationen kommen auf Augenhöhe miteinander ins Gespräch. Auf diese Weise sollen die bisher oft lang- wierigen Transferprozesse verringert werden, durch die praktische Erfahrungen erst spät in wissenschaftlichen Institutionen Eingang finden. Gleichzeitig kann die Wissenschaft so zur Fundierung und Kontextualisierung neuer Konzepte bei­- tragen. Der Reihe liegt ein positives Verständnis von Sexualität zugrunde. Der Fo­- kus liegt auf der Frage, wie ein selbstbestimmter und wertschätzender Umgang mit Geschlecht und Sexualität in der Gesellschaft gefördert werden kann. Sexua- lität wird dabei in ihrer Eingebundenheit in gesellschaftliche Zusammenhänge betrachtet: In der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist sie ein Lebensbereich, in dem sich Geschlechter-, Klassen- und rassistische Verhältnisse sowie weltan- schauliche Vorgaben – oft konflikthaft – verschränken. Zugleich erfolgen hier Aushandlungen über die offene und Vielfalt akzeptierende Fortentwicklung der Gesellschaft.

Band 17 Angewandte Sexualwissenschaft Herausgegeben von Ulrike Busch, Harald Stumpe, Heinz-Jürgen Voß und Konrad Weller Institut für Angewandte Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Heinz-Jürgen Voß, Michaela Katzer (Hg.)

Geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung durch Kunst und Medien

Neue Zugänge zur Sexuellen Bildung

Mit Beiträgen von Angela Pi Altendorfer, Johann Bischoff, Bettina Brandi, Melissa Büttner, Marion Denis, Nicola Döring, Thomas Fuest, Marco Geßner, Joachim von Gottberg, Maya Götz, Michaela Katzer, Sophie Kirchner, Anna-Leena Lutz, Yvonne Most, Astrid Nelke, Anja Stopp, Elisabeth Tuider und Heinz-Jürgen Voß

Psychosozial-Verlag

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Open-Access-Publikation wurde durch eine Förderung des Bundes ministerium für Bildung und Forschung ermöglicht.

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https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Inhalt 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Einleitung 9 12 Kulturelle und Medienbildung zur Förderung der 13 Persönlichkeitsentwicklung und der geschlechtlichen 14 und sexuellen Selbstbestimmung 15 Heinz-Jürgen Voß & Michaela Katzer 16 17 1: Künstlerische Beiträge zur Förderung 18 geschlechtlicher Selbstbestimmung 19 20 Double blind 23 21 Marion Denis 22 23 Geschlechtliche Vielfalt – Eine künstlerische Verbindung 24 von Menschen und Pflanzen 37 25 Thomas Fuest 26 27 ErSieEs – Eine fotografische Spurensuche 28 zwischen den Geschlechtern 47 29 Yvonne Most 30 31 Fight the Cistem – Fotografien von Horst P. Horst 32 neu interpretiert 57 33 Angela Pi Altendorfer 34 35 Grautöne – Eine Fotoarbeit über Intersexualität 67 36 Sophie Kirchner 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 5 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Inhalt

1 2: Kultur- und medienpädagogische Zugänge 2 zu Selbstbestimmung 3 4 Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung 77 5 Möglichkeiten zur Verbindung von Antidiskrimierungsarbeit 6 und Ästhetischer Forschung 7 Anja Stopp 8 9 Theater der Irritationen 117 10 Konstruktion von Parallelwelten bei David Greenspan 11 Bettina Brandi 12 13 Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung 139 14 Madame X – Eine abolute Herrscherin von Ulrike Ottinger 15 Johann Bischoff 16 17 Gewalt in Film und Fernsehen 167 18 Eine Untersuchung am Beispiel des Horrorfilms 19 Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre 20 Johann Bischoff 21 22 Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt 23 und Sexualität 201 24 Elisabeth Tuider 25 26 3: Chancen – Selbstbestimmung in Film, 27 Fernsehen und Neuen Medien 28 29 Jugendsexualität heute 221 30 Zwischen Offline- und Online-Welten 31 Nicola Döring 32 33 Plurale Medien leisten ein Plädoyer für sexuelle 34 Selbstbestimmung 245 35 Öffentliche Diskurse und die Entwicklung von Ethik 36 Joachim von Gottberg 37 38

6 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Inhalt

Der Einfluss von Medien auf die Förderung 1 der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung 263 2 Egalitäre Geschlechterdarstellungen in den Medien 3 Astrid Nelke 4 5 Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen 277 6 Geschlechterinszenierung im Kinderfernsehen 7 Maya Götz 8 9 Homosexualität im deutschen Spielfilm 295 10 Ein Überblick über Filme mit schwulem Inhalt 11 Marco Geßner 12 13 Die Dekonstruktion des Weiblichen* 14 im zeitgenössischen Musikvideo 335 15 Anna-Leena Lutz 16 17 Der Blick junger Frauen auf Pornografie 353 18 Qualitative Analyse eines Onlineforums 19 Melissa Büttner 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 7 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Einleitung 1 2 Kulturelle und Medienbildung zur Förderung der 3 Persönlichkeitsentwicklung und der geschlechtlichen 4 und sexuellen Selbstbestimmung 5 6 Heinz-Jürgen Voß & Michaela Katzer 7 8 9 10 11 Kunst und Literatur regen neue Perspektiven an und fördern Selbstbe- 12 stimmung. Das lässt sich im Großen, also im Gesellschaftlichen, gut ent- 13 lang der verschiedenen Bürgerrechtsbewegungen zeigen. So nutzte Maxie 14 Wanders Buch Guten Morgen, du Schöne (1977) mit Tonband aufgezeich- 15 nete Berichte von Frauen, um diese selbst zu Wort kommen zu lassen. Das 16 Buch prägte ein neues Genre – und die Frauenbewegung. Auch Verena 17 Stefans Band Häutungen (1975) suchte zunächst nach einer Sprache, 18 mit der Frauen selbst über Sexualität und Begehren sprechen konnten, 19 anstatt im andersgeschlechtlichen sexuellen Akt allein über die dominie- 20 rende männliche Seite definiert zu sein. Schließlich hat Gerd Branten- 21 bergs Buch Die Töchter Egalias (1980) durch die literarische Verkehrung 22 das die Männer bevorteilende Geschlechterverhältnis vorgeführt. In der 23 deutschsprachigen Schwulenbewegung befeuerte Rosa von Praunheims 24 und Martin Danneckers Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern 25 die Situation, in der er lebt (1971) die gesellschaftliche Debatte um die 26 Situation der männlichen Homosexuellen. Jean Genet in Frankreich und 27 Hubert Fichte in Deutschland gehören zu den prominenten schwulen 28 Autoren, die neue literarische Stile prägten und Generationen beeinfluss- 29 ten und beeinflussen. 30 Nicht zuletzt geht von Massenmedien eine Wirkung aus – auch eine 31 emanzipatorische. Das wird etwa deutlich, wenn wir an den Aufmacher der 32 Zeitschrift Stern »Wir haben abgetrieben« denken – er stellte ein Schlüs- 33 selereignis für die (gewiss in der BRD noch unzureichende) Reform des 34 Strafparagrafen 218 dar. In seiner Studie Queere (Un-)Sichtbarkeiten stellt 35 Yener Bayramoğlu die produktive und emanzipatorische Wirkung selbst 36 von Boulevardzeitungen heraus, auch dann, wenn sie in den Beiträgen ein 37 anderes Ziel verfolgen, etwa die Bild-Zeitung mit der Artikelserie »Die 38

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1 Verbrechen der lesbischen Frauen«. Eine ähnliche durchaus empowernde 2 Wirkung lässt sich auch für das Fernsehen zeigen (Bayramoğlu, 2018). 3 Der vorliegende Band will hier, aber auch in Bezug auf individuelle ge- 4 schlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung, Zugänge eröffnen und – wie 5 man so schön sagt – Schlaglichter auf die Bedeutung von Kunst und Medien 6 für die Förderung von geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung werfen. 7 Die explizit künstlerischen Beiträge sind dabei mit wissenschaftlichen und 8 pädagogischen verwoben. Im Folgenden soll ein – knapper – Überblick 9 über die Beiträge des Bandes gegeben werden. 10 11 12 Überblick über die Beiträge des Bandes 13 14 Der vorliegende Sammelband ist dreigeteilt. In dem ersten Teil werden ex- 15 plizit künstlerische – vornehmlich fotografische – Beiträge vorgestellt, die 16 insbesondere auf die geschlechtliche (weniger auf die sexuelle) Selbstbe- 17 stimmung zielen. Alle beitragenden Autor_innen – Marion Denis, Thomas 18 Fuest, Yvonne Most, Angela Altendorfer und Sophie Kirchner – haben ihre 19 künstlerischen Arbeiten mit einem Text versehen, der die Wirkung der Ar- 20 beiten hinsichtlich der geschlechtlichen Selbstbestimmung erläutert. 21 Der zweite Teil ist analytisch angelegt. Die dort versammelten Bei- 22 träge – von Anja Stopp, Bettina Brandi, Johann Bischoff und Elisabeth 23 Tuider – wenden sich den künstlerischen Vermittlungsformen und päda- 24 gogischen Wirkungen zu. Dabei gehen die Beiträge jeweils sehr anschau- 25 lich entlang verschiedener Beispiele vor. Eröffnet werden damit »kultur- 26 und medienpädagogische Zugänge zu Selbstbestimmung«, auch um die 27 Bedeutung Kultureller und Medienbildung allgemein für pädagogische Pro- 28 zesse vorzustellen. Für Selbstbestimmung Jugendlicher ist auch relevant, 29 was sie eigentlich unter Grenzverletzungen und Übergriffen verstehen – 30 das erläutert Elisabeth Tuider mit Blick auf die von ihr geleitete Studie 31 »Safer Places«. Dabei geht sie von der Feststellung digitaler Versiertheit 32 heutiger Jugendlicher (»Digital Natives«) aus und leitet damit zu dem 33 auf Neue Medien und Massenmedien fokussierten abschließenden Teil 34 des Bandes über. 35 Im dritten Teil werden Film, Fernsehen und Neue Medien in Bezug auf 36 ihre Wirkung hinsichtlich geschlechtlicher und sexueller Selbstbestim- 37 mung reflektiert.Nicola Döring betrachtet zunächst Fragen zur sexuellen 38 Entwicklung und Jugendsexualität allgemein, um im Weiteren die Bedeu-

10 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Einleitung tung von alten und insbesondere Neuen Medien für die Jugendlichen zu 1 erläutern. Die sich anschließenden Beiträge von Joachim von Gottberg, 2 Astrid Nelke und Maya Götz betrachten die Bedeutung des Fernsehens, 3 eines interessanterweise hinsichtlich des Themas Selbstbestimmung kaum 4 untersuchten Massenmediums. Dabei fokussieren sie auf widersprüchliche 5 Norm bestärkende und Norm verunsichernde Wirkungen und auf die Be- 6 deutung des Fernsehens für die Förderung von Selbstbestimmung. Marco 7 Geßner schließt mit Betrachtungen zur emanzipatorischen Wirkung von 8 Spielfilmen mit schwulem Inhalt an, während sich Anna-Leena Lutz und 9 Melissa Büttner mit Blick auf zeitgenössische Musikvideos bzw. Online- 10 foren – also ebenfalls Neue Medien – emanzipatorischen Strategien junger 11 Frauen zuwenden – und damit die heutigen emanzipatorischen medialen 12 Wirkungen in den Blick nehmen, die an die oben benannten älteren Arbei- 13 ten der Frauenemanzipation anschließen. 14 Mit der Zusammenstellung der Aufsätze und durch die wunderbare Mit- 15 wirkung der Autor_innen ist – aus unserer Sicht – ein innovativer Sammel- 16 band gelungen, der Ihnen als Leser_innen hoffentlich einige Inspirationen 17 bietet. Bevor Sie in den Band starten, möchten wir noch kurze analytisch 18 orientierte Bemerkungen voranstellen. Es handelt sich dabei um Ausfüh- 19 rungen zu auf Kunst und Medien basierten pädagogischen Angeboten der 20 Kulturellen Bildung, der Sexuellen Bildung und ihrer Wirkung. Schließlich 21 wird noch ein kurzer Blick auf Massenmedien geworfen, gerade weil sie ge- 22 sellschaftlich zuweilen pauschal als stigmatisierend, Stereotype befördernd 23 und daher problematisch eingestuft werden. 24 25 26 Kulturelle Bildung zur Förderung von Selbstbestimmung 27 28 Die internationale Forschung belegt die Transferwirkungen künstlerischer 29 Erfahrungen auf kognitive (wie Lesen, Sprechen, räumlich-zeitliches Vor- 30 stellungsvermögen etc.) und emotionale, soziale und moralische Qualitäten 31 von Heranwachsenden (vgl. Rittelmeyer, 2010). Transferwirkungen bedeu- 32 tet, dass das Erlernen von Inhalten durch Angebote Kultureller Bildung 33 verbessert wird. Ein umfassenderer internationaler Überblick über die Wir- 34 kungen Kultureller Bildung gelang Bamford (2010) in ihrer UNESCO- 35 Metastudie. Neben vielen positiven Transferwirkungen konstatiert sie, dass 36 sich schlecht durchgeführte kulturelle Bildungsprogramme negativ auf die 37 Kreativität junger Menschen auswirken können (vgl. auch Grebosz, 2006). 38

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1 Im Sinne der internationalen Arbeiten betont auch die Enquete-Kommis- 2 sion des Deutschen Bundestages »Kultur in Deutschland« die positiven 3 Wirkungen Kultureller Bildung sowohl im Hinblick auf Kreativität und so- 4 ziale Ausgeglichenheit als auch für die Persönlichkeitsentwicklung (Deut- 5 scher Bundestag, 2007, S. 379). Die OECD (2013) fordert, dass Kulturelle 6 Bildung nicht auf Transferwirkungen eingeengt, sondern als »art for art’s 7 sake« betrieben werden sollte (OECD, 2013). Trotz der grundsätzlich 8 posi ­tiven Wirkungen Kultureller Bildung gerade hinsichtlich Transferwir- 9 kungen werden auch im Hinblick auf Angebote der Kulturellen Bildung 10 mehr multimethodische, aber insbesondere quantitative Forschungsan- 11 sätze zur Wirkevaluation eingefordert (vgl. etwa Reinwand-Weiß, 2013; 12 ­Keuchel, 2012, S. 907ff; Liebau et al., 2014). 13 In Bezug auf Forschungen zur Prävention von sexualisierter Gewalt und 14 der Förderung von Kompetenzen der Selbstbestimmung ist relevant, dass 15 sich bei den Adressat_innen für gut gemachte und gut vermittelte Ange- 16 bote Kultureller Bildung positive Effekte zeigen; hingegen kann schlecht 17 gemachte Kulturelle Bildung auch negative Effekte erzielen. Bedeutsam 18 sind entsprechend der Forschungslage insbesondere die Kompetenz der 19 Fachkraft und möglicherweise gerade die Abstimmung und Qualität des 20 Angebots, da zumindest Jugendliche die Bedeutung von vor- und nachbe- 21 reitenden Angeboten als nicht bedeutsam einordnen. Gerade im Kontext 22 von einem vielfach mit Tabus und Schamhaftigkeit belegten Themen- 23 felds wie dem der Sexualität kommt es auf die Qualität des Angebots an, 24 wenn positive Effekte bei den Jugendlichen erzielt werden sollen (vgl. Blu- 25 menthal, 2014). Als positiv könnte eine Zunahme an Wissen, an Reflexion, 26 Selbstbestimmung und Grenzachtung gewertet werden, sowie die Förde- 27 rung emotionaler und sozialer Fähigkeiten. 28 29 30 Sexuelle Bildung und ihre Wirkung 31 32 Im Kontext der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen er- 33 weist es sich von jeher als schwierig, ein einzelnes Ereignis als bedeutsam 34 für den Wissenszuwachs auszumachen (u. a. Weller, 2013). Am ehesten 35 und klarsten ist in Bezug auf Kinder und Jugendliche mit Lernschwie- 36 rigkeiten der Einsatz von visuellen Mitteln – etwa von Bildkarten – als 37 ertragreich nachgewiesen (vgl. Lache, 2016); dieser Zielgruppe kann bei 38 guter pädagogischer Begleitung auf diesem Wege gut bzw. überhaupt nur

12 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Einleitung auf diesem Weg angepasstes Basiswissen aus dem Bereich der Sexuellen Bil- 1 dung vermittelt werden. 2 Aber auch für sie, wie auch in Bezug auf Kinder und Jugendliche der 3 Allgemeinheit, erweist sich Sexuelle Bildung als multiperspektivischer Bil- 4 dungsprozess, in dem familiäre, schulische, weitere soziale sowie mediale 5 Faktoren zusammenwirken. (Das Gleiche gilt auch bei anderen Kompe- 6 tenzen, die in der Persönlichkeitsentwicklung anstehen.) Bildung hat hier 7 einen Einfluss – ein Zusammenhang ergibt sich auch in Bezug auf die Bil- 8 dungsaffinität im Elternhaus. So zeigen Jugendliche mit höheren Bildungs- 9 abschlüssen einen verantwortungsbewussteren Umgang mit ihrer Sexuali- 10 tät und der anderer (BZgA, 2010a, b; Linke, 2015). Vorhandene Angebote 11 zur Sexualaufklärung können zugleich von ihnen besser genutzt werden 12 (BZgA, 2010a, b). Marginalisierte Personengruppen, mit schlechterem 13 Zugang zu Bildung, erweisen sich hingegen als weniger aufgeklärt und als 14 unbefangener im Umgang mit ihrer Sexualität. Gleichzeitig spielen gerade 15 in ihren Identitätsmustern Marker zu Geschlecht und Sexualität beson- 16 dere Rollen. Etwa Stefan Wellgraf (2012) weist in seiner Studie in Bezug 17 auf Hauptschüler_innen darauf hin, dass sie in Reaktion auf die »Verach- 18 tung«, die ihnen gesellschaftlich entgegengebracht wird, im Kontext ihrer 19 Identitätsbildung gerade überspitzte Weiblichkeits- und Männlichkeits­ 20 bilder – und zugeordnete Sexualitätskonstruktionen – nutzen und darüber 21 eigenen Selbstwert generieren (ebd.). 22 Angebote der Sexuellen Bildung reagieren auf diese doppelte Anforde- 23 rung, dass einerseits sexualpädagogische und künstlerische Angebote für 24 Adressat_innen aus bildungsaffinen Elternhäusern einen konkreten Nutzen 25 generieren und andererseits Angebote so lebensnah ausgerichtet sind, dass 26 möglichst alle Kinder bzw. Jugendlichen erreicht werden. Gleichfalls gibt es 27 derzeit noch keine umfassenderen Ausarbeitungen, die die Angebote Sexu- 28 eller Bildung evaluieren; das hängt auch damit zusammen, dass Angebote 29 Sexueller Bildung zwar formal in den Rahmen­lehrplänen verankert sind, 30 aber bislang kaum Angebote Sexueller Bildung in Studien- bzw. Ausbil- 31 dungsgängen für Fachkräfte an Schulen (Lehrer_in­nen, Hort-Fachpersonal 32 etc.) existieren. Das hat sich auch seit dem Abschluss­bericht des Runden 33 Tisches »Sexueller Kindesmissbrauch« (Abschlussbericht, 2011/12, S. 43) 34 nicht grundsätzlich verändert – vielmehr wurden durch die Anstrengungen 35 des BMBF mittlerweile einige Init­iativen angestoßen, die perspektivisch 36 Veränderungen erreichen können, etwa das Curriculum der Juniorprofes- 37 suren (Dekker et al., 2015). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 13 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Heinz-Jürgen Voß & Michaela Katzer

1 Massenmedien und ihre Wirkung 2 3 Die Literaturlage zur Sexuellen Bildung durch Massenmedien ist d­ ürftig. 4 Unbekannt ist etwa, welchen Anteil sie an der Sexuellen Bildung von 5 Kindern und Jugendlichen einnehmen (Weller, 2010). Zentrale Arbeiten 6 zur Medienanalyse, gerade mit Blick auf Sexualität, stammen von Nicola 7 Döring (vgl. etwa Döring, 2013) – Nicola Döring ist in diesem Band mit 8 einem Beitrag vertreten, der Jugendsexualität im Kontext Neuer Medien 9 (Web, Web 2.0) betrachtet. Auch wurde in der Literatur die Bedeutung 10 Neuer Medien für marginalisierte Gruppen betont, da mit ihnen Informati- 11 onen leichter zugänglich und eine Vernetzung mit Gleichgesinnten möglich 12 wurden (vgl. in Bezug auf Intergeschlechtlichkeit etwa: Zehnder, 2010). 13 Vor dem Hintergrund der notwendigen Beschäftigung mit Neuen Medien 14 wurden aber von der Forschung gängige Massenmedien vernachlässigt. 15 Sind auch hierzu mit den Beiträgen von Joachim von Gottberg, Astrid Nelke 16 und Maya Götz einige Beiträge in diesem Band vertreten, soll auch hier auf 17 die Bedeutung der konventionellen Massenmedien – das Fernsehen und die 18 Boulevard-Zeitungen – fokussiert werden, zunächst auf das Fernsehen. 19 Lediglich die ZeitschriftenTelevizion (2005) und tv diskurs (2011) 20 wenden sich jeweils in einem Schwerpunktheft explizit Fragen der Sexuel- 21 len Bildung mit Blick auf das Fernsehen zu. Thematisiert werden insbeson- 22 dere in der Televizion (2005) auch empirische Untersuchungen mit jugend- 23 lichen Teilnehmenden, die als Anforderungen an gute und gewünschte 24 Darstellungen von Sexualität insbesondere ästhetische Ansprüche, Wün- 25 sche nach realitätsnahen Darstellungen (statt Übertreibungen) und die 26 Wahrung der Würde (der Frauen) formulieren. Das gilt sowohl für die 27 befragten Mädchen als auch für die Jungen (vgl. die Beiträge von Gunter 28 Neubauer / Reinhard Winter, Anne Schwarz und Dagmar Hoffmann in 29 Televizion, 2005). Weitere Arbeiten diskutieren differenziert Fragen der 30 Wirkung von Pornografie und Aspekte des Jugendschutzes (Hummert, 31 2011; Schuegraf et al., 2012). Allgemein wird in sexualwissenschaftlichen 32 Untersuchungen stets ein verantwortungsvoller Umgang junger Menschen 33 mit ihrer Sexualität und der anderer festgestellt (vgl. etwa Weller, 2010). 34 Einen Überblick über Fragen zu Sexualität und Sexueller Bildung in Bezug 35 auf Fernsehformate gibt Gottberg (2005) sowie Joachim von Gottberg in 36 diesem Band. 37 Zur Frage der Darstellung von Geschlechterstereotypen liegt deutlich 38 mehr Material vor: unter anderem Lünenborg et al. (2013), Goetz (2012),

14 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Einleitung

Televizion (2013, 2010, 2006), Weiderer (1993), Weiderer & Komorek- 1 Magin (1994). In den Arbeiten werden auch Fragen normativer Darstel- 2 lungen im Kinderfernsehen thematisiert (vgl. etwa Goetz, 2012; Felsmann, 3 2008; Weiderer & Komorek-Magin (1994). Dabei werden insbesondere der 4 Anteil weiblicher und männlicher Figuren und ihre geschlechterstereotype 5 und heteronormative Darstellung analysiert. Maya Götz und Astrid Nelke 6 geben im vorliegenden Band einen Überblick über den Forschungsstand. 7 Zuletzt wurden von Forscher_innen gerade für die unter Jugendli- 8 chen beliebten Reality-Shows und Talentshows Veränderungen postu- 9 liert: In ihnen würden (vermeintliche) »Tabubrüche« genutzt, um die 10 Attraktivität der Sendungen zu erhöhen. So ermittelte die Untersuchung 11 »Skandalisierung im Fernsehen«, die im Auftrag der Landesanstalt für 12 Medien Nordrhein-Westfalen durchgeführt wurde, dass Provokationen 13 im Untersuchungszeitraum von 2000 bis 2009 in Reality-TV-Sendungen 14 in zunehmendem Maß festgestellt werden konnten: In der Studie halten 15 die Autor_innen fest, dass 1) in der Außendarstellung der Medien ein 16 (vermeintlicher) Tabubruch herausgestellt wird, dass 2) durch »geziel- 17 tes Casting von Kandidaten, die entweder persönliche Schicksalsschläge 18 erlebt oder intime Geheimnisse haben« Emotionen oder andere Erzähl­ 19 figuren bei den Zuschauenden angesprochen werden. Und – hier ebenfalls 20 relevant – 3) »Durch erotisierende und sexualisierte Darstellungen der 21 Kandidatinnen und Kandidaten wird ein Versprechen auf mögliche oder 22 bereits begangene Tabubrüche aus dem Bereich des Sexuellen gegeben. Die 23 filmisch-ästhetische Erzählung verwendet dabei zunehmend Stilmittel soft- 24 pornographischer Darstellungen« (Lünenborg et al., 2011b; vgl. Lünen- 25 borg, 2011a).1 Entsprechende Veränderungen zwischen 2000 und 2009 26 wurden von den Autor_innen insbesondere für DSDS (Deutschland sucht 27 den Superstar) festgestellt. Hingegen wurde bei anderen Formaten – wie 28 Big Brother – zwar etwa mit realem Sex, der zwischen den Protagonist_ 29 innen real im Fernsehen stattfinden könnte, als »Tabubruch« geworben, 30 letztlich wirkte der Tabubruch hier aber über die Ankündigung und die 31 Verhandlung der Möglichkeit. 32 Tabubrüche können dabei durchaus Raum für Menschen schaffen, die 33 nicht cisgeschlechtlicher und heterosexueller Norm entsprechen – je nach- 34 dem, ob sie in den entsprechenden Sendungen einfach als exotisch darge- 35 36 1 Vgl. mit ähnlicher Einschätzung etwa: Hoffmann (2010, S. 190); vgl. auch: Prokop et al. 37 (2006); Prokop et al. (2009); Pundt (2008). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 15 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Heinz-Jürgen Voß & Michaela Katzer

1 stellt werden oder aber als konkrete Personen, mit Lebensgeschichte. In 2 letzterem Fall haben (junge) Menschen die Möglichkeit, sich mit den Prota- 3 gonist_innen zu identifizieren und einen wertschätzenden Selbstbezug und 4 eine stabile Identität zu entwickeln. Nicht zuletzt haben Tabubrüche und 5 skandalisierende Darstellungen in der Fernsehgeschichte gesellschaftliche 6 Debatten befördert und Marginalisierten Räume eröffnet – wie Jo­achim von 7 Gottberg in seiner ethischen Reflexion in diesem Band hervorhebt. 8 Ein neuerlicher Tabubruch mit Relevanz für das Thema Selbstbestim- 9 mung liegt mit dem DokumentarfilmElternschule (2018) vor, der Zwangs- 10 maßnahmen gegen Kinder in einer »Klinik« und in der »Erziehung« 11 von Kindern noch übliche Gewaltanwendungen thematisiert. Gibt es 12 auch Aufrufe nach einem Ausstrahlungsverbot des Films, so trägt er doch 13 zu einer gesellschaftlichen Diskussion über aktuell noch stattfindende ge- 14 waltförmige »Erziehungspraxen« bei (Elternschule, 2018; Onlinepetition, 15 2018; Deutschlandfunk, 2018; Spiegel, 2018). 16 Yener Bayramoğlu (2018) eröffnet im Hinblick auf Boulevard-Zeitungen 17 – er untersuchte die deutsche Bild-Zeitung und die türkische Hürriyet – 18 einen differenzierten Blick auf die Wirkungen von Massenmedien. Dabei 19 geht er insbesondere Fragen von »Sichtbarkeit« nach, ob und wie sie mehr 20 Möglichkeiten für diskriminierte und marginalisierte Gruppen eröffnen 21 kann. Dabei hat er insbesondere die Situation von Trans*-Personen, Lesben 22 und Schwulen – kurz gefasst queeren Personen – im Blick. Sein knapp ge- 23 fasstes Fazit lautet, 24 25 »dass Boulevardjournalismus seit 1969 sowohl in der Türkei als auch in 26 Deutschland ein vielfältiges und großes Repertoire von queeren Reprä- 27 sentationen produziert hat. Es ist nicht ausreichend, die unterschiedlichen 28 Formen von Repräsentationen schlicht als Stereotypisierungen zu verstehen 29 und zu argumentieren, dass solche Repräsentationen die Realität nicht wider- 30 spiegeln würden. Ebenfalls zu kurz gegriffen ist es, die Darstellungen in die 31 dichotomen Kategorien ›gut‹ und ›schlecht‹ aufzuteilen. Es scheint sich 32 vielmehr um ein Spannungsfeld zu handeln, das sich wiederholt zwischen 33 der diskursiven Konstruktion von Heteronormativität und widerständigen, 34 alternativen queeren Deutungen bildet. Durch dieses Spannungsfeld werden 35 die Grenzen des Sagbaren und Sichtbaren in den Medien ständig neu gezo- 36 gen bzw. verschoben. Des Weiteren scheinen sich die konträren Deutungen 37 gegenseitig zu beeinflussen: Während der boulevardjournalistische Versuch, 38 queere Identitäten abwertend darzustellen, oft Räume für queere Repräsen-

16 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Einleitung

tationen eröffnet, führen ›positive‹ Darstellungen von queeren Subjekten 1 in den Boulevardformaten oft dazu, dass kritische und politische Potenziale 2 der queeren Deutungen gezähmt oder gelöscht werden« (Bayramoğlu, 2018, 3 S. 269). 4 5 Bayramoğlu zeigt also, dass (a) selbst abwertende mediale Repräsentatio- 6 nen queerer Personen Möglichkeiten für diese eröffnen können und dass 7 (b) die normalisierenden Darstellungen, dazu beitragen, Anschlusspunkte 8 zu alternativen queeren Deutungen in den Massenmedien auszulöschen. 9 Der politische Aktivismus – abwertend oder unterhaltsam dargestellt – 10 erwies sich in der Studie als bedeutsam, um Repräsentationsräume zu er- 11 öffnen: Kurz, ohne das konkrete aktivistische Streiten von Menschen oder 12 konkrete gesellschaftliche Ereignisse bleiben Massenmedien still. 13 Nach diesen ersten erläuternden Ausführungen, die auch die Schwer- 14 punktsetzung im Band verdeutlichen sollen, wünschen wir Ihnen nun eine 15 gute Lektüre und würden uns freuen, wenn der vorliegende Band weitere 16 Reflexionen zur Bedeutung von Kunst und Medien – und damit auch Kul- 17 tureller Bildung – für die geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung 18 anstoßen würde. 19 20 Michaela Katzer und Heinz-Jürgen Voß 21 Merseburg im Januar 2019 22 23 24 Literatur 25 26 Abschlussbericht (2011/12). Abschlussbericht Runder Tisch Sexueller Kindesmiss- brauch in Abhängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen 27 Einrichtungen und im familiären Bereich. Berlin: BMJ, BMFSFJ, BMBF. 28 Bamford, A. (2010). Der Wow-Faktor. Eine weltweite Analyse der Qualität künstlerischer 29 Bildung. Münster u. a.: Waxmann. 30 Bayramoğlu, Y. (2018). Queere (Un-)Sichtbarkeiten: Die Geschichte der queeren Reprä- 31 sentationen in der türkischen und deutschen Boulevardpresse. Bielefeld: transcript Verlag. 32 Blumenthal, S.-F. (2014). Scham in der schulischen Sexualaufklärung: Eine pädagogische 33 Ethnographie des Gymnasialunterrichts. Wiesbaden: Springer VS. 34 Brantenberg, G. (1980). Die Töchter Egalias. Berlin: Olle und Wolter. 35 BZgA (2010a). Jugendsexualität 2010. Repräsentative Wiederholungsbefragung von 14- bis 17-Jähirgen und ihren Eltern – aktueller Schwerpunkt Migration. Köln: 36 BZgA. http://publikationen.sexualaufklaerung.de/cgi-sub/fetch.php?id=660 37 (04.11.2018). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 17 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Heinz-Jürgen Voß & Michaela Katzer

1 BZgA (2010b). Sexualität und Migration: Milieuspezifische Zugangswege für die Sexual­ 2 aufklärung Jugendlicher. Köln. http://www.bzga.de/pdf.php?id=6d361f8ad670a 38d807b3c729bc9a403 (04.11.2018). 3 Dekker, A., Henningsen, A., Retkowski, A., Voß, H.-J. & Wazlawik, M. (2015). Konzeptpa- 4 pier: Basis-Curriculum zur Verankerung des Themas »Sexuelle Gewalt in Institu- 5 tionen« in universitärer und hochschulischer Lehre. http://heinzjuergenvoss.de/ 6 Curriculum_V6_final.pdf (04.11.2018). Deutscher Bundestag (2007). Schlussbericht der Enquete-Kommission. http://dip21. 7 bundestag.de/dip21/btd/16/070/1607000.pdf (04.11.2018). 8 Deutschlandfunk (2018). Umstrittener Film »Elternschule«: »Wir versuchen der Arbeit der 9 Klinik gerecht zu werden«. https://www.deutschlandfunkkultur.de/umstrittener- 10 film-elternschule-wir-versuchen-der-arbeit-der.1008.de.html?dram:article_ id=432241 (04.11.2018). 11 Döring, N. (2013). Medien und Sexualität. In D. Meister, F. v. Gross & U. Sander (Hrsg.), 12 Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online EEO / Fachgebiet Medienpädago- 13 gik / Abschnitt Aktuelle Diskurse. Weinheim und Basel: Beltz Juventa. http://www. 14 nicola-doering.de/wp-content/uploads/2014/08/D%C3%B6ring-2013-Medien- 15 und-Sexualitaet.pdf (4.11.2018). Elternschule (2018). http://www.elternschulefilm.de/ (04.11.2018) [Homepage zum 16 Dokumentarfilm »Elternschule«]. 17 Felsmann, K.-D. (2008). »Sexbomben« im Kinderfernsehen. tv diskurs, 12(46) (4/2008), 4–7. 18 Goetz, M. (2012). Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen: Geschlechterspezifi- 19 sche Studien zum Kinderfernsehen. München: kopaed. Gottberg, J. v. (2005). Sexualität, Jugendschutz und der Wandel der Moral. Televizion, 20 18 (2005/1), 12–16. http://www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/ 21 televizion/18_2005_1/gottberg.pdf (04.11.2018). 22 Grebosz, K. (2006). Der Einfluss musikalischer Ausbildung auf die Entwicklung der 23 Psyche von Kindern. Eine empirische Untersuchung an drei unterschiedlichen Grundschulen in Polen. Dissertation. Salzburg: Universitat Mozarteum Salzburg. 24 Hoffmann, A. (2010). Die Inszenierung von Ablösungskonflikten in der Adoleszenz. Eine 25 tiefenhermeneutische Medienwirkungsanalyse der TV-Sendung Die Ausreißer 26 – Der Weg zurück. In A. Stach (Hrsg.), Von Ausreißern, Topmodels und Superstars: 27 Soziale Ungleichheit und der Traum vom sozialen Aufstieg als Spielthemen in popu- lären Fernsehformaten (S. 186–218). Norderstedt: BoD. 28 Hummert, M. (2011). Sexualpädagogische Perspektiven auf Jugend und Pornografie. 29 tv diskurs, 15(57) (3/2011), 38–42. 30 Keuchel, S. (2012). Empirische kulturelle Bildungsforschung – Methodik, Themen und 31 aktueller Forschungsstand. In H. Bockhorst, V.-I. Reinwand-Weiss & W. Zacharias (Hrsg.), Handbuch Kulturelle Bildung [Schriftenreihe Kulturelle Bildung, Band 30], 32 (S. 907–911). München: kopaed. 33 Lache, L. (2016). Sexualität und Autismus. Die Bedeutung von Kommunikation und Spra- 34 che für die sexuelle Entwicklung. Gießen: Psychosozial-Verlag. 35 Liebau, E., Jörissen, B. & Klepacki, L. (Hrsg.). (2014). Forschung zur Kulturellen Bildung. Grundlagenreflexionen und empirische Befunde. München: Schriftenreihe Kultu- 36 relle Bildung. 37 Linke, T. (2015). Sexualität und Familie. Möglichkeiten sexueller Bildung im Rahmen erzie- 38 herischer Hilfen. Gießen: Psychosozial-Verlag.

18 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Einleitung

Lünenborg, M. & Maier, T. (2013). Gender media studies. Eine Einführung. Konstanz: 1 UVK. 2 Lünenborg, M., Martens, D., Köhler, T. & Töpper, C. (2011a). Skandalisierung im Fern- sehen. Strategien, Erscheinungsformen und Rezeption von Reality TV Forma- 3 ten. [Schriftenreihe Medienforschung der Landesanstalt für Medien NRW (LfM), 4 Band 65]. Berlin: Vistas. 5 Lünenborg, M., Martens, D., Köhler, T. & Töpper, C. (2011b). Skandalisierung im Fern­ 6 sehen – Strategien, Erscheinungsformen und Rezeption von Reality TV Formaten Eine Untersuchung im Auftrag der Landesanstalt für Medien Nordrhein-West­ 7 falen (LfM) – Kurzfassung. http://www.lfm-nrw.de/fileadmin/lfm-nrw/Forschung/ 8 Kurzfassung-Band-65-Skandalisierung-im-Fernsehen.pdf (04.11.2018). 9 OECD (2013). Art for Art’s Sake? The Impact of Arts Education. http://www.oecd.org/ 10 edu/ceri/arts.htm (04.11.2018). Onlinepetition (2018). openPetition »Ausstrahlungsende des Films Elternschule und 11 Überprüfung der Klinikabteilung«. https://www.openpetition.de/petition/online/ 12 ausstrahlungsende-des-films-elternschule (04.11.2018). 13 Praunheim, R. & Dannecker, M. (1971). Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die 14 Situation, in der er lebt. Ein Film der Bavaria Atelier GmbH. [Drehbuch]. 15 Prokop, U., Jansen & M. M. (Hrsg.). (2006). Doku-Soap, Reality-TV, Affekt-Talkshow, Fantasy-­Rollenspiele – Neue Sozialisationsagenturen im Jugendalter. Marburg: 16 Tectum Verlag. 17 Reinwand-Weiss, V.-I. (2013). Wirkungsforschung in der Kulturellen Bildung. In V. Henne­ 18 feld & R. Stockmann (Hrsg.), Evaluation in Kultur und Kulturpolitik. Eine Bestands­ 19 aufnahme (S. 111–136). Münster u. a.: Waxmann. Rittelmeyer, C. (2010). Warum und wozu ästhetische Bildung? Über Transferwirkungen 20 künstlerischer Tätigkeiten. Ein Forschungsüberblick. Oberhausen: Athena-Verlag. 21 Schuegraf, M. & Tillmann, A. (Hrsg.). (2012). Pornografisierung von Gesellschaft. Kon­stanz: 22 UVK. 23 Spiegel (2018). Doku »Elternschule«: Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Kinderklinik. http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/elternschule-staatsanwaltschaft- 24 ermittelt-gegen-kinderklinik-a-1235888.html (04.11.2018). 25 Stefan, V. (1975). Häutungen. München: Frauenoffensive. 26 Televizion (2005). Erotik und Sexualität. Televizion, 18 (2005/1). http://www.br-online. 27 de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/18_2005_1.htm (04.11.2018). Televizion (2006). Welche Rolle spielt Geschlecht? Televizion, 19 (2006/1). http:// 28 www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/19_2006_1.htm 29 (04.11.2018). 30 Televizion (2010). Diversität im Kinderfernsehen. Televizion, 23 (2010/2). http:// 31 www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/23_2010_2.htm (04.11.2018). 32 Televizion (2013). Geschlechter-stereotype Bilderwelten? Televizion, 26 (2013/2). http:// 33 www.br-online.de/jugend/izi/deutsch/publikation/televizion/26_2013_2.htm 34 (04.11.2018). 35 Wander, M. (1977). Guten Morgen, du Schöne. Berlin: Buchverlag Der Morgen. Weiderer, M. (1993). Das Frauen- und Männerbild im Deutschen Fernsehen. Eine inhalts- 36 analytische Untersuchung der Programme von ARD; ZDF und RTL plus. Regensburg: 37 Roderer. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 19 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Heinz-Jürgen Voß & Michaela Katzer

1 Weiderer, M. & Komorek-Magin, A. (1994). Frau/Mann und Mädchen/Jungen in Kinder­ 2 sendungen des deutschen Fernsehens. Resultate einer inhaltsanalytischen Untersuchung. Televizion, 7 (1994/2), 31–36. http://www.br-online.de/jugend/ 3 izi/deutsch/publikation/televizion/7_1994_2/weiderer_komorek-magin.pdf 4 (04.11.2018). 5 Weller, K. (2010). Kindheit, Sexualität und die Rolle der Medien. tv diskurs, 14(5) (1/2010), 6 54–57. Weller, K. (2013). Partner 4 – Sexualität & Partnerschaft ostdeutscher Jugendlicher 7 im historischen Vergleich. [Handout der Ergebnisse online, Tabellenband über 8 K. Weller zu beziehen]. http://www.ifas-home.de/downloads/PARTNER4_Hand 9 out_06%2006.pdf (04.11.2018). 10 Wellgraf, S. (2012). Hauptschüler: Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung. Bielefeld: transcript Verlag. 11 Zehnder, K. (2010). Zwitter beim Namen nennen: Intersexualität zwischen Pathologie, 12 Selbstbestimmung und leiblicher Erfahrung. Bielefeld: transcript Verlag. 13 14 15 Die AutorInnen 16 Heinz-Jürgen Voß studierte in Dresden und Leipzig Diplom-Biologie; 2010 Promotion 17 zur gesellschaftlichen Herstellung biologischen Geschlechts in Bremen. Seit Mai 2014 18 hat Voß die Professur für Sexualwissenschaft und sexuelle Bildung an der Hochschule Merseburg inne und leitet dort mehrere Forschungsprojekte – u. a. die vom BMBF 19 geförderten Projekte »Schutz von Kindern und Jugendlich vor sexueller Traumatisie- 20 rung« und »Sexuelle Bildung für das Lehramt« (gem. mit Barbara Drinck, Universität 21 Leipzig). Aktuelle Publikationen: Queer und (Anti-)Kapitalismus (gem. mit Salih Alexander 22 ­Wolter, 2013), Schwule Sichtbarkeit – schwule Identität (gem. mit Zülfukar Çetin und Salih ­Alexander Wolter, 2016), Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung 23 (Hrsg., gem. mit Michaela Katzer, 2016) und Die Idee der Homosexualität musikalisieren 24 (Hg., 2018). www.heinzjuergenvoss.de 25 26 Michaela Katzer, Fachärztin für Urologie. Nach mehrjähriger klinischer Tätigkeit, unter anderem im Universitätsklinikum Halle und im BG-Klinikum Bergmannstrost Halle 27 ist sie seit 2014 Mitarbeiterin im Projekt »Schutz von Kindern und Jugendlichen vor 28 sexueller Tramatisierung« an der Hochschule Merseburg. Ihre Forschungsschwerpunkte 29 sind unter anderem Intersexualität, Transsexualismus, Sexualität und Behinderung, 30 Vermittlung medizinischer Sachverhalte, Prävention und Intervention bei sexuellen und 31 vergleichbaren Grenzverletzungen. 32 33 34 35 36 37 38

20 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb 1: Künstlerische Beiträge zur Förderung geschlechtlicher Selbstbestimmung

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind 1 2 Marion Denis 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Marion Denis: Wenn ich Chromosomen betrachte, sind es für mich unter- 12 schiedlich lange Streifen. Insofern unterscheiden sie sich nicht so stark. 13 Es sei denn, da wäre eine runde, eine quadratische oder eine dreieckige 14 Form dabei; dann wären die Unterschiede stärker. Wenn man sie nur 15 als Form betrachtet, ähneln sich die Chromosomen aber schon. 16 Biologin: Der Mensch hat dreierlei Chromosomentypen: die metazent- 17 rischen, die submetazentrischen und die akrozentrischen, mit dieser 18 zum Teil sehr auffälligen Satellitenstruktur. Das ist ein sehr deutlicher 19 Unterschied. Ein Chromosom ist in gewisser Weise stäbchenförmig 20 oder linear; es hat ein Zentrum, das sogenannte Zentromer. Wir 21 sehen hier [auf dem Bildschirm] – in diesem Stadium – nicht, dass 22 sie in sich gespalten sind; wenn sie sich aber weiter kondensieren, das 23 heißt im Verlauf des Zellzyklus verkürzen, dann bekommen sie diese 24 X-Form. Die Strukturproteine, die diese beiden homologen, identi- 25 schen Schwesterchromatiden zusammenhalten, geben ihre Funktion 26 auf. Das weitere Fortschreiten in der Mitose ist, dass sich die beiden 27 Schwesterchromatiden vollständig trennen und auf die zwei neuen 28 Tochterzellen verteilt werden. Das hier, die Metaphase, ist sozusagen 29 eine Momentaufnahme. Du hast recht; es gibt keine runden Chro- 30 mosomen. Aber es gibt submikroskopisch runde Strukturen; es gibt 31 lineare Strukturen. Aber es gibt keine eckigen Strukturen; es gibt in 32 der Natur relativ wenig quadratische Strukturen, wahrscheinlich, weil 33 das verhältnismäßig instabil oder vom Energieaufwand nicht geeignet 34 wäre. Es verbraucht zu viel Energie in der Herstellung und bringt nicht 35 ausreichend Stabilität. Deswegen hat man dreieckige Strukturen oder 36 Wabenstrukturen, weil das stabiler ist. Aber im Prinzip ist es eine An- 37 näherung an rund; und wenn viele runde Strukturen dicht zusammen 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 23 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marion Denis

1 kommen, kommt man der Wabenstruktur immer näher. Ich weiß, was 2 du meinst, wenn Dir zunächst alles sehr gleichförmig erscheint. Mit der 3 Zeit erlangt man in der zytogenetischen Arbeit eine andere Sichtweise. 4 Ich sehe da unheimliche Unterschiede, aber das Sehen muss sich erstmal 5 entwickeln über Jahre. 6 M. D.: Wie hast du dieses Erkennen gelernt, dieses Ablesen? 7 B.: Bei mir selbst kann ich mich kaum daran erinnern; es war ein allmähli- 8 cher Prozess. Ich hab 1986 angefangen, Chromosomen zu betrachten. 9 Während der Schulzeit haben wir ein humangenetisches Institut be- 10 sucht und ich hatte Bio-Leistungskurs. Also ist da schon für mich der 11 Fokus auf Naturwissenschaften gelegt worden. Es war nicht besonders 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Abb. 1: Marion Denis, double blind, Fotografien einer Künstlerin #2, © VG Bild- 38 Kunst, Bonn 2019

24 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind berauschend oder eindrücklich dort im Institut, aber für mich war klar: 1 Ich möchte in die Humangenetik. Alle anderen Disziplinen erschienen 2 mir dagegen eher deskriptiv. Die Chromosomen mit der DNA darin: 3 Das ist wirklich die Struktur, wo es geschrieben steht. Meistens wird 4 Symptom-Doktorei betrieben, aber man muss an die Ursachen heran. 5 Für mich ist das ursächlich gewesen damals, Anfang der 80er Jahre. Ich 6 habe mein ganzes Studium so ausgerichtet, um in die Humangenetik 7 kommen zu können, um mit diesem Fachgebiet Kontakt zu haben; 8 und der erfolgte schließlich durch ein Praktikum, wo ich mir homogen 9 gefärbte [somit einheitlich angefärbte und nicht wie auf dem Bildschirm 10 derartig gemusterte, d. h. gebänderte] Chromosomen angeguckt habe. 11 Ich habe ganz hart lernen müssen, Chromosomen überhaupt erst zu 12 erkennen, lange im Dunkeln auf ein Präparat zu gucken, eine Mitose zu 13 finden und als geeignet für die Analyse zu erfassen. Die mikroskopischen 14 Präparate hatten natürlich eine andere Qualität als heute. Im Zuge der 15 Weiterentwicklung von Kulturmedien ist alles hochwertiger geworden. 16 Das erste war ein Präparat, das irgendwo in der Routine abgefallen ist, 17 also ein Forschungsprojekt, für das zunächst keine Zeit und Arbeitskraft 18 zu Verfügung stand und das bislang niemand ausgewertet hatte. Und 19 so habe ich ca. sechs Wochen lang in der Dunkelheit gesessen und mir 20 angeeignet, wie Mitosen im Gegensatz zu Zellkernen aussehen, wie 21 vollständige Mitosen aussehen; ich musste anfangen zu lernen, sie im 22 Mikroskop zu zählen. Als nächstes sollte ich an einem homogen gefärbten 23 Präparat das X-Chromosom erkennen. Die C-Gruppe des menschlichen 24 Chromosomensatzes erscheint anfangs sehr einheitlich. Ich habe dann 25 bei jeder Mitose, die ich angeguckt habe, überlegt, welches könnte ein 26 X-Chromosom sein. Jedes Mal habe ich dann die Professorin und Leiterin 27 geholt – meine Beliebtheit, so schien es mir, sank von Mal zu Mal – und 28 sie musste sich alles mit angucken. Ich habe Vorschläge gemacht und 29 dann hat sie mir gesagt, wie es tatsächlich ist. Es war durchaus eine harte 30 Schule, an homogen gefärbten Mitosen ein C-Banden-Chromosom 31 herauszufinden. Es sind anfangs »14 Dinger« im Fall eines weiblichen 32 Chromosomensatzes, die gleich auszusehen scheinen. Und es war müh- 33 sam zu lernen, sie zu differenzieren. Aber ich glaube, es war eigentlich 34 der beste Einstieg. Ich kann mir keine Vokabeln merken; ich bin schlecht 35 in Sprachen, aber ich glaube, was visuelle Dinge angeht, habe ich Glück 36 und bin ganz gut. Und so hatte ich Glück, dass ich nicht nur von dem 37 Fach Humangenetik begeistert war, sondern dass ich auch ein gewisses 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 25 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marion Denis

1 Talent habe, Strukturen erkennen zu können. Ein bisschen ist Chro- 2 mosomendiagnostik wie Memory spielen. Ich schaue [im Mikroskop 3 und auf dem Bildschirm] nicht auf ein bereits sortiertes Karyogramm, 4 sondern ich schaue auf die ungeordnete Mitose und merke mir dabei: 5 »Dort ist das eine der beiden Chromosomen 6!« Dann schaue ich die 6 ganze Mitose durch, wo das andere Chromosom 6 ist: Gut ist, dann 7 noch zu wissen, wo das erste Chromosom 6 in dem Wirrwarr lag, um 8 beide Chromosomen [6] dann hinsichtlich ihrer Struktur miteinander 9 zu vergleichen. Aufgrund der Art der Präparation, der Herstellung der 10 mikroskopischen Objektträger kann das eine zum Beispiel gebogen 11 sein oder auf dem Kopf liegen. Beim Memory sagt man ja immer, 12 gegen Kinder hätten Erwachsene keine Chance. Aber ich schaffe es 13 auch noch gegen Vier- und Fünfjährige! Weil es meine tägliche Arbeit 14 ist, Chromosomenpaare zu suchen und möglichst auch zu finden. 15 M. D.: Hattest du, als du in dieser Dunkelkammer warst, im dunklen Raum, 16 eine Art Vorlage? Ein Lehrbuch, in dem stand, wie die Strukturen 17 aussehen, um sie zu finden? 18 B.: Nein, ich kann mich nicht erinnern. 19 M. D.: Also hattest du davor schon irgendwo lernen müssen, wie das aussieht, 20 was du suchst. 21 B.: Auch nicht. Ich bin wirklich ins kalte Wasser geschubst worden: »Neh- 22 men Sie sich ein Chromosomenpräparat und gucken Sie erst einmal.« 23 Irgendwann traust du dich und denkst: »Du hast jetzt so oft gefragt; 24 jetzt musst du allein damit klarkommen.« Wann immer die Leiterin 25 mir etwas gezeigt hat, habe ich, wenn sie den Mikroskopierraum wieder 26 verlassen hat, noch lang die Mitose angesehen und mir alles eingeprägt. 27 Nachher bei meiner Diplomarbeit habe ich eine Bänderungstechnik 28 [Darstellungsverfahren menschlicher Chromosomen] angewandt, die 29 R-Banden [ein anderes Darstellungsverfahren], die sonst nur selten bzw. 30 zu der Zeit im Labor nicht durchgeführt wurden. So musste ich mir 31 schließlich das meiste alleine aneignen. Dafür hatte ich zwei Karyo­ 32 gramme zur Verfügung von ehemaligen Absolventen, die das Labor 33 schon verlassen hatten. Auf Basis dieser beiden Karyogramme habe 34 ich angefangen – eigentlich ein bisschen wie ein Autodidakt. Meinen 35 jetzigen Mitarbeiterinnen kann ich oft auch nicht direkt helfen, sie 36 müssen sich, wie wir immer sagen, eingucken. Man muss hinsehen, 37 gucken und sich alles nochmals einprägen. Man muss allmählich ein 38 Gefühl dafür bekommen. So war es bei mir.

26 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind

M. D.: Ich habe überlegt, was es für Erkenntnisstrategien in deinem Fach gibt. 1 Es ist eventuell das, was du eben schon gesagt hast. Gucken, vergleichen, 2 benennen, bezeichnen. 3 B.: Ja. Und dann gehört natürlich eine enorme Erfahrung dazu. Das macht 4 die Einarbeitung so schwierig. Wir produzieren sehr viele artifizielle 5 Strukturen, da zum Beispiel mit Fixierung und Hypotonie gearbeitet 6 wird. Prozesse, die natürlicherweise so nicht passieren. Außerdem färben 7 und trypsinieren wir, das heißt verdauen die Proteinstrukturen, und 8 dann tropfen wir das auch noch aus einer gewissen Höhe auf – so, als 9 würde man eine Handvoll Spaghetti aus unterschiedlich großer Höhe 10 auf den Boden werfen. Jeder Spaghetti-Haufen [Mitose, Zellteilungs- 11 stadium], der dabei entsteht, ist natürlich sehr individuell. Es gibt für 12 die einzelnen Mitosen keine Vorlagen. Es benötigt viel, sehr viel Übung. 13 M. D.: Wie erlangt man darin Vertrauen? Ist das groß, das Vertrauen; gibt 14 es Punkte, wo man sagt, das ist jetzt wahr? Ich habe jetzt so etwas wie 15 eine Grunderkenntnis? 16 B.: Eigentlich nicht. Vor allem, wenn wir erfahren, dass die Zytogenetik ab- 17 gelöst wird durch andere Verfahren, die ein höheres Auflösungsvermögen 18 haben. In dem Augenblick, in dem man die Begrenzung der Methode 19 erfährt, weiß man, dass man immer nur an der Peripherie bleibt. Es hängt 20 vieles davon ab, wie man den Befund, das Chromosomengutachten, 21 formuliert. Wenn im Rahmen einer Pränataldiagnostik die Schwangere 22 oder der werdende Vater anrufen und aufgrund eines unauffälligen 23 Chromosomenbefundes folgern: »Also ist mein Kind gesund?«, 24 dann müsste – was im Vorfeld geschehen sein muss bzw. sein sollte – 25 darauf hingewiesen werden, dass diese Frage nicht mit letzter Sicher­ 26 heit beantwortet werden kann und damit zu einem Teil offen bleibt. 27 Zytogenetik hört »sehr früh« auf, was die Genauigkeit angeht, stellt 28 ein verhältnismäßig grobes Raster dar. Ich betrachte zwar das gesamte 29 Genom, aber die »Eindringtiefe« ist relativ gering. Wenn es sich um 30 Pränataldiagnostik handelt, dann kann man – rein statistisch bedingt – 31 sagen, dass zu ca. 98 Prozent ein unauffälliger Chromosomenbefund 32 zu erwarten ist. Das ist der empirische Erfahrungswert, was die Rate 33 der Kinder angeht, die mit klinischen Auffälligkeiten geboren werden. 34 Zwei bis vier Prozent ist das sogenannte allgemeine Fehlbildungsrisiko; 35 nur ca. ein Prozent von diesem Risiko kann durch eine vorgeburtliche 36 Chromosomenanalyse abgeklärt werden. Das heißt, bei einem Anteil 37 von ca. 99 Prozent der »Durchschnittsneugeborenen-Bevölkerung« 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 27 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marion Denis

1 ist chromosomal ein unauffälliges Ergebnis zu erwarten. Wenn ich 2 tiefer hineinsehen würde, würde ich mehr finden. Aber das kann diese 3 Methode nicht leisten. Mit diesem Verfahren ist man in gewisser Weise 4 vorerst auf der sicheren Seite. Dazu kommen natürlich das persönliche 5 Ermessen und die Erfahrung. Mit einer großen Erfahrung kann man 6 Veränderungen etwas sicherer erkennen und bewerten als mit einer 7 geringeren Erfahrung. Es liegt an der Institutsstruktur, an der Labor- 8 organisation, dass erfahrene Menschen vorhanden sind, die Ergebnisse 9 und Einschätzungen überprüfen und Sicherheit geben. Ich bin beruf- 10 lich so aufgewachsen, dass zunächst jemand da gewesen ist, den man 11 fragen konnte und der das Gefühl von großer Erfahrung ausgestrahlt 12 hat. Später, bei meiner Diplom- und vor allem Doktorarbeit, änderte 13 sich die Situation. Da ist mir klar geworden, dass sich sonst keiner bzw. 14 kaum jemand mit den Verfahren der Arbeiten auskennt und man sich 15 die Grundkenntnis selbst aneignen muss. Glücklicherweise war aber 16 die diagnostische Relevanz meiner Aussagen und Feststellungen eher 17 nichtig: Ich habe nicht allein die Diagnostik gemacht, sondern ich 18 habe überwiegend postnatal [nachgeburtlich] wissenschaftlich nach- 19 untersucht. Es existierte somit schon ein Befund, sodass von meiner 20 Aussage nichts abhing. Es war schön bzw. interessant, in einigen Fällen 21 eine Veränderung oder Auffälligkeit gefunden und damit eventuell eine 22 Frage ansatzweise beantwortet zu haben, aber durch mein Ergebnis, 23 meine Einschätzung ergab sich keine Handlungsoption, wie zum Bei- 24 spiel ein Schwangerschaftsabbruch oder gar Heilung. Humangenetische 25 Diagnostik, insbesondere Pränataldiagnostik, ist insofern für alle, die 26 daran beteiligt sind, schon eine Belastung. Es liegt keine eindeutige 27 und abschließende phänotypische Bewertung vor; die Ultraschall­ 28 diagnostik wird zwar immer besser, aber ob das Kind wirklich gesund 29 ist, weiß man nicht mit Sicherheit. Bei einer gesunden bzw. phäno- 30 typisch unauffälligen Person ist kaum zu erwarten, dass eine klinisch 31 bedeutsame chromosomale Veränderung vorhanden ist. Zudem wäre 32 es relativ wahrscheinlich, dass diese Veränderung so klein ist, dass sie 33 nur sehr schwer zu erkennen ist. Zytogenetische Diagnostik erinnert 34 insofern an eine Art Doppelblindstudie, bei der man nicht nur nicht 35 weiß, ob eine Chromosomenveränderung vorliegt, sondern auch nicht, 36 ob der, dessen Chromosomen man betrachtet, überhaupt klinische 37 Auffälligkeiten hat. Zu dieser manchmal unklaren Ausgangssituation 38 kommt noch der zeitliche Druck dazu.

28 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Abb. 2: Marion Denis, double blind, Fotografien einer Künstlerin #8, © VG Bild- 25 Kunst, Bonn 2019 26 27 Die mikroskopische Arbeit bzw. Aus- und Bewertung ist oft schon 28 eine sehr einsame Angelegenheit. Es wäre natürlich schön, wenn man 29 stets jemanden bei sich hätte, um sich zu beraten, gerade an Tagen, an 30 denen man voller Zweifel ist und einem die Chromosomen gar nicht 31 gefallen. Bei einem Chromosomenpräparat gefallen mir zum Beispiel 32 die Chromosomen 18 beim strukturellen Abgleich nicht. Wenn aber 33 eine Kollegin, ein Kollege da wäre und daran erinnerte, wie oft man 34 allgemein über das Chromosom 18 grübelt und redet, weil es häufiger 35 am kurzen Arm oder am Zentromer merkwürdig erscheint, dann wäre 36 das eine andere Situation. Es würde schon sehr helfen. Aber eine solche 37 personelle Besetzung kommt immer weniger vor. Also ist es manchmal 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 29 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marion Denis

1 ein langer Weg und auch ein einsamer Weg zum Befund – manchmal 2 auch ein Weg voller Zweifel. Man muss sich irgendwann durchringen 3 und, wenn alle Möglichkeiten erschöpft und alle diagnostischen Wege 4 gegangen sind, den Befund einfach schreiben. So schreiben, dass der 5 Sachverhalt sich widerspiegelt, auch wenn man zum Teil auf keine 6 absolute, endgültige Aussage festgelegt werden kann. 7 M. D.: Gibt es in der Befundung Aspekte oder Punkte, die für dich hinter- 8 fragbar sind? Oder kannst du im Grunde hinter allem stehen, was du 9 erkannt hast? 10 B.: Ich nehme mir generell viel, vielleicht manchmal in den Augen einiger 11 auch zu viel Zeit für meine Diagnostik; das ist ein Vorwurf, den ich 12 gerne höre. Irgendwann bist du aber an einem Punkt, wo du sagst: 13 »Ich muss jetzt zu einem Ergebnis kommen.« Es ist niemandem damit 14 gedient, das noch eine Woche hinauszuzögern; es muss zum Abschluss 15 kommen. Wenn man aber zu dem Schluss kommt, dass eine Wieder- 16 holung erforderlich ist, dann gilt es, mit einer anderen Methode die 17 Unklarheiten zu überprüfen. An einem bestimmten Punkt muss man 18 loslassen und sein Ergebnis formulieren. In bestimmten Fällen versuche 19 ich, in meinem Befund deutlich zu machen, wo gegebenenfalls noch 20 offene Fragen sind, damit die Chance besteht, später eventuell durch 21 neuere Verfahren nochmals an diesem Punkt nachzuhaken und doch 22 eine Diagnose zu finden. Wobei ich weiß, dass von anderen, gerade 23 Kollegen im privatwirtschaftlichen Bereich, gesagt wird, dass man 24 einem Einsender, also einem Kunden, so etwas nicht antun kann und 25 ihn daher nicht mit möglichen Zweifeln konfrontiert. Aber da sehe ich 26 eine falsche Entwicklung; für mich handelt es sich nicht um Kunden, 27 sondern es sind für mich Kollegen, die mit dem Patienten an einer 28 anderen Stelle, das heißt direkten Kontakt haben. Man muss manchmal 29 jedoch in den sauren Apfel beißen und auch diese Wahrheit sagen. Auch 30 wenn dies heißt, dass man mit einer bestimmten Diagnostik nicht zu 31 einem abschließenden Ergebnis kommt. So unangenehm das für den 32 Patienten ist, vor einem vermeintlichen Experten zu sitzen, der mit den 33 Achseln zuckt und sagt: »Ich kann es Ihnen nicht beantworten. Ich 34 weiß es auch nicht.« Aber das ist Lebensrealität. Und alles andere halte 35 ich oft für falsch. Es wird zunehmend der scheinbar bequemere Weg 36 gegangen; aber das ist eine Entwicklung, die vielleicht global vorhanden 37 ist: Schnelle Antworten, scheinbar klare Schwarzweiß-Kategorien, keine 38 Unklarheiten und bloß nicht das bestehende Ordnungssystem erweitern

30 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind

oder infrage stellen. Das ist eigentlich nicht erwünscht. Ich glaube, da 1 bin ich unbequem und relativ hart. Ich schreibe in meine Befunde sehr 2 viel; ich schreibe sehr lange Befunde, möglicherweise anstrengend zu 3 lesende Befunde; ich höre immer wieder diese Kritik, aber das regt mich 4 nicht mehr auf. Vielleicht bin ich da auch eine berühmt-berüchtigte 5 Ausnahme. Ich kann es sogar nachvollziehen, »auf Station« mit all 6 der Hektik, dem dauernden Druck hätte man wahrscheinlich gerne 7 kurze, klare Aussagen wie: »normaler männlicher Karyotyp« oder 8 »normaler weiblicher Karyotyp«. »Sie« – und man selbst sicherlich 9 auch – lesen nicht gerne von dem Zweifel, den andere hatten und haben, 10 dass an der einen oder anderen Stelle etwas überprüft werden musste. In 11 manchen Fällen stellen die Veränderungen möglicherweise ein Artefakt 12 ohne klinische Bedeutung dar, oder es ist bei »weiterhin bestehendem 13 Verdacht auf Vorliegen einer Chromosomenveränderung« anzuraten, 14 über weiterführende Maßnahmen nachzudenken. 15 Das möchte wahrscheinlich keiner gerne lesen. Aber das ist in 16 manchen Fällen Fakt. Das zu unterschlagen hielte ich sogar für einen 17 Fehler, wenn nämlich daraus resultiert, dass der Schluss gezogen wird, 18 der Patient habe gar keine chromosomale Auffälligkeit. Und in der Folge 19 wird daher in einer anderen »Ecke« weitergesucht. Häufiger ist dies 20 der Fall bei Patienten mit einem unklaren Fehlbildungssyndrom. Wenn 21 nun vonseiten der Zytogenetik behauptet wird, chromosomal sei alles 22 in Ordnung und zweifelsfrei, nimmt man sich und anderen – in einem 23 Gesundheitssystem, was immer mehr davon abgeht, Untersuchungen 24 doppelt zu machen – die Option, später mit verbesserten Methoden 25 nochmal nachzuuntersuchen. In dem Augenblick, wo eine kategorische 26 Aussage gemacht wird, ist der (Rück-)Weg und sind eventuell auch 27 weitere Wege weitgehend verbaut. Gegebenenfalls werden dadurch 28 Weichen gestellt und die ursprüngliche Trasse, das heißt der richtige 29 diagnostische Ansatz wird nicht fortgeführt. 30 M. D.: Du hattest erwähnt, dass von deiner Warte aus echte Intersexe sehr 31 selten sind; das hab ich noch nicht ganz nachvollzogen. 32 B.: Es kommt auf die Definition an und, worauf die Intersexualität beruht. 33 Ist es zum Beispiel aufgrund der Gonosomenkonstellation, ist es auf- 34 grund einer Mutation bei einem der Gonosomen oder ist es aufgrund 35 einer autosomalen Mutation. Bei den ganz klassischen Hermaphroditen 36 oder Zwittern, die sowohl männlich als auch weiblich sind, sozusagen 37 Chimären, beruht es darauf, dass in der Gebärmutter primär eine männ- 38

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1 liche und eine weibliche Zygote vorhanden waren, wobei zwei Eizellen 2 befruchtet worden sind. Bei wahrscheinlich komplexen Abläufen und 3 großer räumlicher Nähe kann es zu einer Fusion dieser Fruchtanlagen 4 kommen; primär hätten es zweieiige Zwillinge werden können, aber es 5 ist praktisch ein Organismus entstanden, der auf einer eigenständigen 6 weiblichen und einer eigenständigen männlichen Linie beruht, also 7 eine echte Chimäre darstellt. Das ist wirklich absolut selten. 8 M. D.: Wie sieht dann der Karyotyp aus? 9 B.: CHI 46 XX / 46 XY. Das ist wie zwei Geschwister, die allerdings 10 verschmolzen sind. Es gibt auch bei zweieiigen Zwillingen sogenannte 11 Blutchimären. Außerdem kann man bei einer Frau, die Kinder geboren 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Abb. 3: Marion Denis, double blind, Fotografien einer Künstlerin #10, © VG 38 Bild-­Kunst, Bonn 2019

32 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind

hat, Zellen ihrer Kinder auch noch Jahre später in ihr nachweisen. Auch 1 eine Knochenmarktransplantation stellt einen vergleichbaren Vorgang 2 dar, übertrieben eine Art künstliche Chimäre: Einer [fremden] Person 3 wird Knochenmark entnommen, und bei einem Patienten eingebracht, 4 das heißt gespritzt. In dem Patienten finden diese Zellen eigenständig 5 den Sitz des Knochenmarks, also ihr Stammhaus. Etwas Vergleichbares 6 kann auch bei Zwillingen passieren, dass Stammzellen hinüberwandern; 7 dies sind dann berühmte und spektakuläre Fälle, wo man zum Beispiel 8 bei einer Frau im Blut einen männlichen Karyotyp diagnostiziert, 9 weil sie primär aus einer Zwillingsanlage stammt. Von dem anderen 10 Zwilling, dem sogenannten »vanishing twin« sind lediglich diese 11 Stammzellen übrig geblieben. Vielleicht gibt es tatsächlich noch viel 12 häufiger Chimären, aber wenn das Geschlecht übereinstimmt, es zum 13 Beispiel zwei Mädchen gewesen wären, dann würde man das konven­ 14 tionell so schnell nicht erfassen können. Zytogenetisch ließe sich das nur 15 an sehr auffälligen Polymorphismen sehen und wenn es einen Grund 16 gäbe, zu untersuchen. Sehr selten gibt es auch körperliche Merkmale, 17 die auf ein Mosaik oder einen Chimärismus hinweisen, zum Beispiel 18 ein auffälliges, typisches Pigmentmuster. Das wäre das, was man ganz 19 klassisch als »Zwitter« bezeichnet. 20 M. D.: Gibt es dafür einen klassischen Phänotyp? 21 B.: Das geht nicht. Das entscheiden die Zellen und vor allem ihre Ver- 22 teilung in dem Organismus. Das kann sehr unterschiedlich sein. Je 23 nachdem, wie und wann sie fusionierten; insofern kann es keinen 24 klassischen Phänotyp geben. Aber das ist wirklich extrem selten und 25 sehr unwahrscheinlich. Es gibt aber auch sogenannte Intersexualität 26 zum Beispiel durch Nebennierentumoren. Es könnte vielen noch 27 passieren, dass es eine Überproduktion der »gegengeschlechtlichen« 28 Sexualhormone gibt. Außerdem kennt man Chromosomenstörungen, 29 die zu einem Intersex oder zu Andeutungen eines Intersex führen 30 kön­ nen oder Mutationen zum Beispiel der Gene für Androgenrezep- 31 toren; derartige Mutationen können unterschiedliche Schweregrade 32 der Abweichungen nach sich ziehen; es existieren vielfältige Mechanis- 33 men, woraus eine nicht eindeutige Geschlechtszuordnung resultieren 34 kann; zudem sind die Erscheinungsbilder sehr fließend. Aber das, was 35 man so ganz klassisch unter »Zwitter« versteht, das wären Formen 36 von Chimären. Ob ein Nachweis immer gelingt, ist die Frage. Vor 37 ein paar Tagen ist mit 120 ausgewerteten Mitosen wieder eine sehr 38

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1 ausgedehnte Diagnostik notwendig geworden. Unabhängig davon 2 wie umfangreich diese Auswertungen aber sind, zunächst bleiben die 3 Untersuchungen auf ein Zellsystem – von vielen im Organismus – be- 4 schränkt. Blut ist mesodermalen Ursprungs, stammt also vom mittleren 5 Keimblatt der frühen Fruchtanlage. Bei bestimmten Fragestellungen 6 wird daher auch eine Untersuchung von Zellen, die ektodermalen 7 Ursprungs sind, vom äußeren Keimblatt stammen, angeregt; man 8 untersucht deswegen manchmal Haut. Für zytogenetische Routine- 9 untersuchungen ist das innere Keimblatt im Prinzip unerreichbar. Von 10 den 100 Billionen Zellen, die einen erwachsenen Menschen ungefähr 11 aufbauen, betrachtet man in der Diagnostik einen winzigen Teil und 12 zwar nur eines Zellsystems, in der Regel Blut. Blut ist ein sehr schnell 13 proliferierendes System. Es gibt eine Chromosomenveränderung, die 14 zum Pallister-Killian-Syndrom führt. Hintergrund ist ein zusätzliches 15 sogenanntes Markerchromosom, das von Chromosom 12 abstammt. 16 Dieses zusätzliche Chromosom ist fast nur in sehr langsam wachsen- 17 den Geweben nachzuweisen; in schnell wachsenden Geweben haben 18 diese Zellen mit dem zusätzlichen Markerchromosom einen Selek- 19 tionsnachteil. Es wird daher im Blut nicht oder kaum gelingen, die 20 jetzt 47 Chromosomen – plus Markerchromosom, das Derivat vom 21 kurzen Arm von Chromosom 12 – nachzuweisen. Beschränkt man 22 sich auf nur ein Untersuchungsgewebe, hätte man einige ursächliche 23 Veränderungen nie erfasst, und so auch nicht erfahren, was es alles 24 gibt. Vielleicht führt das dann dazu, zu schlussfolgern, dass das, was 25 man – warum auch immer – noch nicht beobachtet hat, dann einfach 26 nicht existiert. Es wird häufig nicht die Begrenzung gesehen, sondern 27 es wird in Abrede gestellt, dass es bestimmte Phänomene überhaupt 28 gibt. Es ist wahrscheinlich leichter, so damit umzugehen. Was ich nicht 29 kenne, weiß, verstehe, das gibt’s einfach nicht, das schließe ich aus 30 bzw. das ziehe ich überhaupt nicht in Erwägung. 31 M. D.: In meinem Wahrnehmungssystem … 32 B.: Ja. Das ist auch eine Schutzreaktion – wahrscheinlich oft ganz unbe- 33 wusst. Und man muss ganz einfach sagen; es sind und können auch 34 nicht alle gleichermaßen differenziert sein. So hat jeder seine Schwer- 35 punkte; und man muss bei diesem Wahnsinnsangebot manchmal 36 »ausgrenzen«, ausblenden, um klarzukommen. Nur wie man »aus- 37 grenzt«, ausblendet, ist wichtig; das muss, darf und sollte nicht immer 38 so radikal sein. Oder man muss sich dieses Ausgrenzens immer wieder

34 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Double blind

bewusst werden. Aber eigenes Begrenzen oder eigene Begrenzung 1 und Beschränkung wahrzunehmen, zu akzeptieren, ist wahrscheinlich 2 unheimlich schwer. 3 4 5 Die Autorin 6 Marion Denis, gelernte Krankenpflegerin, studierte Fotografie an der FH Bielefeld und 7 an der HGB Leipzig. Sie erhielt Förderungen der Kunststiftung NRW und ihr Künstler- 8 buch double blind erschien 2012 bei Revolver Publishing. Ihre künstlerischen Arbeiten 9 verhandeln Fragen der bio-kulturellen Konstruktion von Geschlecht, Mechanismen im 10 Wissenschaftsbetrieb und Normierungspraktiken, die in diesen Feldern aufscheinen. Meist mit fotografischen Mitteln angelegt, fokussieren die Arbeiten oftmals Personen 11 aus der Medizingeschichte oder der wissenschaftlichen Forschung und beinhalten eine 12 intensive Bild- und Textrecherche. www.mariondenis.de 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 35 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlechtliche Vielfalt – 1 Eine künstlerische Verbindung 2 3 von Menschen und Pflanzen 4 Thomas Fuest 5 6 7 8 9 10 11 Im Jahr 2014 habe ich im Rahmen meiner Masterarbeit »Geschlechtliche 12 Vielfalt – Konzeption, Durchführung und Evaluation einer fotografischen 13 Ausstellung«, die ich im Studiengang Angewandte Sexualwissenschaft 14 an der Hochschule Merseburg geschrieben habe, eine Fotoausstellung re- 15 alisiert. 16 Das Thema geschlechtliche Vielfalt sollte auf einem eher unkonventi- 17 onellen Weg an Betrachter*innen herangetragen sowie die Wirkweise der 18 Ausstellung evaluiert werden. Dazu wurden zunächst theoretische Verbin- 19 dungslinien zwischen Pflanzen und Menschen beschrieben – ausgehend 20 von der Evolution, vorkommender Geschlechtlichkeit etc. Dabei wurde 21 kritisch hinterfragt, ob es lediglich zwei Geschlechter geben sollte, da sich 22 sowohl bei Menschen als auch bei Pflanzen vielfältigere Geschlechtlich­ 23 keiten zeigen. 24 25 26 Konzeption der Fotoausstellung 27 28 Die Ausstellung war so konzipiert, dass das Thema über eine kreative und 29 zusätzlich noch eine informative Ebene zu Betrachter*innen transportiert 30 wurde. Es wurde demnach zunächst ein Konzept entwickelt, das im Folgen- 31 den kurz vorgestellt werden soll. 32 Wesentliche Aspekte des Projekts fußen auf Erkenntnissen zur ästheti- 33 schen Bildung. Der Begriff »ästhetisch« leitet sich dabei vom griechischen 34 aísthesis ab, das mit Gefühl und Geschmack, aber auch Sinnlichkeit, Wahr- 35 nehmung und Erkenntnis übersetzt werden kann. Oftmals wirdaísthesis 36 auch einfach mit den Begriffen »sinnliche Wahrnehmung« in die deutsche 37 Sprache übertragen (vgl. Röll, 2005, S. 24). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 37 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Thomas Fuest

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 Abb. 1 17 18 Nach Dietrich, Krinninger und Schubert lässt sich unter der Begrifflichkeit 19 »ästhetische Bildung« 20 21 »heute Verschiedenes [verstehen]: Er wird zum einen als Oberbegriff für 22 alle pädagogischen Praxen genutzt, die einzelne ästhetische Felder (Kunst, 23 Musik, Literatur, Theater etc.) zum Gegenstand haben, er wird zum ande- 24 ren verwendet als Grundbegriff bildungstheoretischer Diskurse, in denen es 25 um Fragen der Persönlichkeitsbildung in und durch ästhetische Erfahrun- 26 gen geht. In diesem Verständnis bezieht sich ästhetische Bildung nicht nur 27 auf Kunst und Kultur, sondern thematisiert auch allgemeinere Aspekte eines 28 ästhetischen Ich-Weltverhältnisses, vor allem unter der Frage nach der Be- 29 deutung von Wahrnehmung und Sinnlichkeit. In diesem weiteren Sinne geht 30 es aber auch um die Verbindung zwischen Pädagogik und Kultur, zwischen 31 Kunst und Markt oder zwischen Kunst und Macht und deren Auswirkungen 32 auf Bildung und Erziehung« (Dietrich et al., 2012, S. 9). 33 34 Die Autor*innen beschreiben weiter, dass die Wirkweise der ästhetischen 35 Bildung in den letzten Jahrzehnten zunehmend empirisch erforscht wurde 36 und ihre Sinnhaftigkeit damit unterstrichen werden kann. Das gilt nicht 37 nur für die Schulpädagogik, sondern erfasst auch außerschulische Bildungs- 38 bereiche der Kinder- und Jugendarbeit sowie der Arbeit mit Erwachsenen.

38 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlechtliche Vielfalt – Eine künstlerische Verbindung von Menschen und Pflanzen

Ganz gleich in welchem Alter oder mit welchem Hintergrund, bei 1 der ästhetischen Bildung bilden ästhetische Erfahrungen die wesentliche 2 Essenz. Diese lassen sich sowohl in der Wahrnehmung der ästhetischen 3 Objekte Anderer (beispielsweise in der Besichtigung einer Bildhauerei­ 4 ausstellung) als auch in der eigenen produktiven und kreativen Gestal- 5 tung ästhetischer Objekte (zum Beispiel über die Teilnahme an einem 6 Fotografiekurs) machen (vgl. Röll, 2005, S. 27). Ästhetisches Erleben ist 7 dabei häufig ein sozialer Prozess, da ästhetische Produkte – mit denen man 8 ästhetische Erlebnisse hat – zumeist das Ergebnis direkter menschlicher 9 handwerklicher Arbeit sind und häufig ein Austausch über gemeinsames 10 ästhetisches Erleben anhand ästhetischer Produkte stattfindet. Hier seien 11 als Beispiele ein Gespräch mit anderen Besucher*innen in einem Museum 12 über ein polarisierendes Gemälde genannt, à la: »Was möchte uns die 13 Künstlerin damit sagen?«; oder auch ein Kinobesuch mit Freund*innen, 14 bei dem anschließend der Film besprochen wird (vgl. Dietrich et al., 15 2012, S. 20f.). Dabei wird auch deutlich, dass ästhetische Erfahrungen oft 16 über (be-)greifbare Darstellungen oder ästhetische Ausdrucksformen ge- 17 wonnen werden können (vgl. Röll, 2005, S. 27). 18 19 20 Fotografien als kommunikative Medien 21 22 Eine wesentliche Grundlage des kreativen Parts der Arbeit war die Erstel- 23 lung von Fotografien, die später mit anderen Menschen einen Kontakt zum 24 Thema »Geschlechtliche Vielfalt« initiieren und dadurch ebenfalls eine 25 ästhetische Erfahrung bewirken sollten. 26 Fotografien stellen dabei ein wesentliches Medium dar, mit dem dieser 27 Kontakt hergestellt wird. Dieses Medium kann als materiell und kommu- 28 nikativ charakterisiert werden. Materiell ist es, da es während der Ausstel- 29 lung an ein Material (Fotopapier) gebunden ist; kommunikativ ist es, da 30 über die Motive eine »Information« an Empfänger*innen gerichtet ist. 31 Außerdem lassen sich die ausgestellten Fotografien nach Pruss auch als 32 s ­ekundäre Medien kategorisieren, die zur Erzeugung des Endproduktes ein 33 oder mehrere Geräte benötigen (Dittmar, 2011, S. 41). Die Hervorbrin- 34 gung geschieht dabei über die Aufzeichnung via Fotokamera, die Nach- 35 bearbeitung mittels Bildbearbeitungssoftware und das Belichten über den 36 Ausbelichter. Die Wahrnehmung entsteht via Betrachtung der ausbelich- 37 teten Bilder der Ausstellung. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 39 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Thomas Fuest

1 Eine Eigenschaft von Bildern ist, dass Menschen oftmals einen direkteren 2 und leichteren Zugang hierzu finden als zu Texten. Dies ist darin begrün- 3 det, dass Bilder Ähnlichkeit mit der Realität besitzen. Auch wenn sie dabei 4 (zwangsläufig) nicht die Realität abbilden (vgl. Schnelle-Schneider, 2011, 5 S. 162ff.), lassen sie doch ihre Bildinformation unmittelbarer wahrnehmbar 6 werden, da ein Großteil der Menschen ihre Umwelt zu einem erheblichen 7 Teil visuell wahrnimmt. Diese Wahrnehmung ermöglicht einen Austausch 8 mit anderen Menschen und lässt einem Individuum beispielsweise Emotio- 9 nen und Bedürfnisse anderer Menschen gewahr werden. Dittmar erläutert 10 die Wirkweise von Bildern, die von Zillmann auch als ikonische Kommuni- 11 kation bezeichnet wird, als »stärker, fundamentaler, schneller, emotionaler, 12 nachhaltiger als die rein soziokulturell kopierte[r] Zeichen (also Schrift)« 13 (Dittmar, 2011, S. 94). 14 Ein Grundgedanke des Projekts war es, dass die fotografierten Perso- 15 nen während des Shootings eigene Geschlechtlichkeit ausdrücken, sich in 16 andere Geschlechtlichkeiten hineinversetzen, Klischees und Stereotype 17 von Geschlechtlichkeit aufgreifen und damit experimentieren konnten. Da 18 nicht die Gedanken des Fotografierenden zur Geschlechtlichkeit des jewei- 19 ligen Models inszeniert werden sollten (zumindest nicht bewusst), sondern 20 die des Models, sollte dies auch später für Betrachter*innen zu einer dadurch 21 wahrnehmbaren Authentizität führen. Diese sollte ihrerseits bewirken, dass 22 Betrachter*innen – wie zuvor beschrieben – emotionaler, schneller und stär- 23 ker mit dem jeweiligen Model und mit dessen performativ ausgedrückten 24 Gedanken zur »geschlechtlichen Vielfalt« in Kontakt kommen. 25 Ein weiterer Gedanke der Ausstellung war die gemeinsame »Natürlich- 26 keit« der geschlechtlichen Vielfalt von Menschen und Pflanzen sichtbar 27 werden zu lassen. Daher wurde auf die Methode des Bodylightpainting zu- 28 rückgegriffen. Die Methode ist bereits einige Jahrzehnte alt und fand bei- 29 spielsweise in den frühen James-Bond-Filmen im Vorspann Anwendung.1 30 Bei dieser Ausstellung wurde sie angewandt, indem Makroaufnahmen von 31 Pflanzenblüten – mit ihren sichtbaren Geschlechtsmerkmalen – gefertigt 32 wurden; die Abbildungen wurden dann via Beamer auf die Hautoberfl­ äche 33 der Models projiziert. Die Methode der Aktfotografie sollte dabei eine in- 34 tensivere Kommunikation zwischen Model und Betrachter*in bewirken. 35 Nacktheit (und die damit einhergehenden bildlichen Resultate der Akt­ 36 37 1 In den Filmen geschieht dies mit der Besonderheit, dass die Motive auf Körper projiziert 38 und dann gefilmt und nicht fotografiert wurden.

40 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlechtliche Vielfalt – Eine künstlerische Verbindung von Menschen und Pflanzen fotografie) ist bis heute, bei aller Präsenz im Alltäglichen (beispielsweise 1 über Werbung), für viele Menschen mit einem besonderen Reiz verbunden 2 (vgl. Majonica, 1999, S. 8). Majonica spricht bei der modernen Aktfoto­ 3 grafie von einem Spiegelbild des Menschen, das ihn in der Vielfalt seiner 4 Existenz zeigt (vgl. ebd., S. 13). Demnach sollte analog dazu über die Body- 5 lightpaintings ein Einblick speziell in die Vielfältigkeit der Geschlechtlich- 6 keit der Models gewährt werden. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Abb. 2 38

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1 Auf die Blüten wurde zurückgegriffen, weil diese, wie bereits zuvor erklärt, 2 ein großes Spektrum an Variationen innerhalb ihrer Geschlechtssysteme 3 haben. Dies kann vielen Menschen noch aus ihrer schulischen Bildungszeit 4 bekannt sein und falls nicht, sollen Betrachter*innen der Ausstellung Infor- 5 mationen dazu erhalten. Es hätten auch andere Lebensformen dafür ver- 6 wendet werden können. Blütenpflanzen haben hier allerdings den Vorteil, 7 dass sehr viele Menschen etwas Positives mit ihnen verbinden. So können 8 Pflanzen mit bunten Blüten etwas Farbe in den Lebensraum bringen, fas- 9 zinieren mit Formenreichtum und erfreuen auch die Nase vieler Menschen 10 mit ihren häufig2 als angenehm empfundenen Düften (vgl.G­ uéguen & 11 Meineri, 2013, S. 59ff.). Auch alltägliche »Sprichworte und Weisheiten« 12 verkünden mit »blumigen Begriffen« nicht selten etwas Positives, wie 13 »Lasst Blumen sprechen«, »Ein Mensch ist in der Blüte des Lebens« oder 14 »Wer sich über des anderen Glück freut, dem blüht das eigene«. 15 Andere Lebensformen wie zum Beispiel Würmer, Schnecken und einige 16 Fischarten, die auf andere Weise geschlechtliche Vielfalt repräsentieren, 17 wurden nicht verwendet, da es nicht wenige Menschen gibt, die eine oder 18 mehrere dieser Spezies aufgrund von Ekel ablehnen. 19 Die Auswahl der Blüten erfolgte dabei im Vorfeld. Neben Aspekten der 20 Vielfalt, Sichtbarkeit und Morphologie der Geschlechtsmerkmale spielten 21 dabei auch Merkmale wie Färbung und Musterung eine Rolle, wobei das 22 Ziel war, ein möglichst vielfältiges Potpourri an Blütenbildern zu erhalten. 23 Durch die anschließende Projektion der Blütenbilder auf die Models sollte 24 sich ein optischer »Verschmelzungsprozess« ergeben, der wiederum foto- 25 grafiert wurde. Die auf diese Weise entstandenen Bilder sollten in die Aus- 26 stellung eingehen. 27 28 29 Zugang durch »multi-sensorische« Methoden 30 31 In die Ausstellung sind neben den Bildern auch weitere Informationsma- 32 terialien zu geschlechtlicher Vielfalt eingegangen. So wurden schriftliche 33 Informationen zur geschlechtlichen Vielfalt von Pflanzen und Menschen 34 gestalterisch aufbereitet, indem auch diese Materialien projiziert und ab- 35 fotografiert wurden. Damit klar erkennbar blieb, auf welche Spezies sich 36 37 2 Einige Blüten, wie beispielsweise der Titanenwurz, verströmen einen aasähnlichen Ge- 38 ruch, der mutmaßlich auf die meisten Menschen abstoßend wirken dürfte.

42 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlechtliche Vielfalt – Eine künstlerische Verbindung von Menschen und Pflanzen

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 Abb. 3 38

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Abb. 4

44 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlechtliche Vielfalt – Eine künstlerische Verbindung von Menschen und Pflanzen die Informationen beziehen, wurden schriftliche Informationen zur ge- 1 schlechtlichen Vielfalt bei Menschen auf menschliche Haut und Informa- 2 tionen zu geschlechtlicher Vielfalt bei Pflanzen auf Pflanzenblätter proji- 3 ziert. Die daraus resultierenden Bilder bilden eine Schnittstelle zwischen 4 einem reinen Bild und einer Textinformation (vgl. Dittmar, 2011, S. 95). 5 Um dabei ein gutes Textverständnis für möglichst viele Leser*innen zu 6 erreichen, wurde bei der Erstellung der Texte darauf geachtet, dass diese 7 nach den Kriterien der »Leichten Sprache« geschrieben sind. So wurden 8 kurze und verständliche Sätze verwendet und Fremdwörter vermieden bzw. 9 erklärt. Außerdem wurde eine deutliche, leicht lesbare Schriftart gewählt 10 (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2013, S. 15ff.). 11 Eine weitere Zugangsmöglichkeit zur Thematik wurde über tiefer ge- 12 hende Informationen zu Gedanken der Models geschaffen. Diese Infor- 13 mationen wurden auf drehbaren Informationstafeln (nachfolgend Info- 14 Wendekarten genannt) gedruckt, die unter den Bildern hingen. Dafür 15 wurden die Gedanken der Models zur Thematik im Vorfeld über einen 16 Kurz-Interviewbogen erhoben. Dieser eruierte, was das Model über Ge- 17 schlechtlichkeit im Allgemeinen denkt, wie es sich in und mit der eigenen 18 Geschlechtlichkeit wahrnimmt und was das Model über Menschen im ei- 19 genen Umfeld annimmt, die nicht der »Norm« des »weiblichen« oder 20 »männlichen« entsprechen (wollen). Einige Aussagen daraus wurden auf 21 den erläuternden Tafeln bei den entsprechenden Models zitiert. Durch 22 diese »persönliche Aussage und/oder Botschaft« sollte eine möglichst 23 direkte und unmittelbare Verbindung zwischen Model und Betrachter*in 24 hergestellt werden. Betrachter*innen konnten hierbei auch eine Art von 25 Authentizität des Models erfahren, wenn sie eine Kongruenz in geschlecht- 26 lichem Ausdruck auf den Bildern und der zitierten Aussage bemerkten. 27 Dies eröffnete die Möglichkeit, sich in das Model einzufühlen und einige 28 Gedanken des Models nachzuempfinden. Auch die Informationen zu den 29 jeweiligen Blüten wurden über eine erläuternde Tafel vermittelt. Sie gingen 30 in die Info-Wendekarten mit ein. 31 Nichtsdestotrotz handelte es sich bei den Info-Wendekarten um aus- 32 schließliche Textinformation und diese kann dementsprechend durch 33 Betrachter*innen nicht so schnell erfasst werden wie die in der Ausstel- 34 lung zentral stehenden Bilder. Um der Betrachter*in einen Zugang auch 35 zu diesen Informationen zu erleichtern, wurden die Info-Wendekarten so 36 konzipiert, dass sie unter dem Projektionsbild hingen und in die Hand 37 genommen werden konnten. Der Tastsinn wurde dadurch angesprochen 38

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1 und konnte über den Prozess des Anfassens und Begreifens auch einen er- 2 leichterten Zugang zu den darauf gedruckten Informationen geben (vgl. 3 Zimmer, 2012, S. 99ff.). Zusammengefasst ergaben sich also eine sensorisch-­ 4 visuelle Ansprache mittels Bildern und Text sowie eine sensorisch-taktile 5 Ansprache über die Info-Wendekarten. 6 7 8 Auswertung 9 10 Der wissenschaftliche Part des Projekts erforschte mittels Methoden der 11 qualitativen Sozialforschung und eines Fragebogens die Wirkungsweise der 12 Ausstellung. Dabei konnte gezeigt werden: Die Betrachter*innen konnten 13 einen Zugang zum Thema finden. Das gelang über die multidimensionale 14 Ansprache mehrerer Sinne der Betrachtenden. Aber auch die Präsentation 15 der Informationen wurde von den Besucher*innen der Ausstellung als er- 16 tragreich empfunden. 17 18 Literatur 19 Bundesministerium für Arbeit und Soziales (Hrsg.). (2013). Leichte Sprache. Ein Rat- 20 geber. http://www.gemeinsam-einfach-machen.de/SharedDocs/Downloads/DE/ 21 AS/UN_BRK/LS_EinRatgeber.pdf?__blob=publicationFile&v=2 (02.05.2017). 22 Dietrich, C., Krinninger, D. & Schubert, V. (2012). Einführung in die ästhetische Bildung. 23 Weinheim u. a.: Beltz. Dittmar, J. F. (2011). Grundlagen der Medienwissenschaft. Berlin: Universitätsverlag der TU. 24 Guéguen, N. & Meineri, S. (2013). Natur für die Seele. Die Umwelt und ihre Auswirkungen 25 auf die Psyche. Berlin u. a.: Springer. 26 Majonica, R. (1999). Aktfotografie. Ästhetik und Bildgestaltung. Augsburg: Augustus. 27 Röll, F. J. (2005). Ästhetische Bildung. In J. Hüther & B. Schorb (Hrsg.), Grundbegriffe 28 Medienpädagogik­ (S. 24–29). 4. Aufl. München: kopaed. Schnelle-Schneyder, M. (2011). Sehen und Photographie. Ästhetik und Bild. 2. Aufl. Berlin 29 u. a.: Springer. 30 Zimmer, R. (2012). Handbuch Sinneswahrnehmung. Grundlagen einer einheitlichen Bildung 31 und Erziehung. 1. Ausgabe der überarb. Neuaufl. (22. Gesamtaufl.). Freiburg: Herder. 32 33 Der Autor 34 Thomas Fuest studierte zunächst in Hildesheim Soziale Arbeit und arbeitet seit 2007 in 35 der Beratungsstelle für HIV und STI der Region Hannover. Berufsbegleitend absolvierte er das Masterstudium Angewandte Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, 36 welches er 2014 abschloss. In seiner Freizeit beschäftigt er sich mit Makro- und Akt­ 37 fotografie und widmet sich der Pflege exotischer und heimischer Pflanzen im eigenen 38 Garten.

46 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb 1 ErSieEs – Eine fotografische Spurensuche 1 zwischen den Geschlechtern 2 3 Yvonne Most 4 5 6 7 Go between – Dazwischen: Ob wir eine Frau oder einen 8 Mann vor uns sehen, ist keine rein biologische Frage. Die 9 Einordnung hängt von unserem Blick auf die Menschen 10 ab: Nehmen wir die Gesichtszüge als weiblich wahr oder 11 als männlich? Die Porträtserie ErSieEs lässt sich auf die 12 Zwischenräume ein und sucht ihre Schönheit. 13 14 15 Wir treffen uns an einem trüben Novembertag im Café in einer Stadt, 16 aus der wir beide längst weggezogen sind. Es war mir klar, dass es eines 17 Tages zu der Offenbarung kommen wird und ich bin nicht überrascht. 18 Es bewegt mich, denn sie möchte von nun an mit einem Männernamen 19 angesprochen werden. Er möchte als das wahrgenommen werden, als das 20 er sich sieht, das er ist. Der Schritt der körperlichen Angleichung wird 21 die Konsequenz sein: Die Hormone ändern sich, die Stimme senkt sich, 22 die Brüste verschwinden fast. Er ist er, ein Transmann. Seither aber ist 23 das ­Bedürfnis geweckt, diesen Prozess der Angleichung fotografisch fest­ 24 zu ­halten. Ich beschäftige mich mit Geschlechterentwürfen und Begriffen 25 aus der Gender-Szene und erkenne, wie mich Sprache einengt. Überall 26 sehe ich Gender. Beim Ausfüllen von Formularen mit den Kästchen 27 für Frau und Mann fange auch ich an zu fragen, wo die fehlenden Käst- 28 chen sind. Mein bisheriges Bildergedächtnis ist geprägt von inszenierten 29 Selbstdarstellungen, wenn es fotografisch um das Thema Geschlechter­ 30 rollen geht. Eine Vorher-Nachher-Serie kommt nicht in Betracht, ich will 31 das voyeuristische Element nicht bedienen. 32 33 34

1 Die Fotografien in diesem Beitrag stammen aus der Reihe ErSieEs – Porträts dazwischen 35 von Yvonne Most. Die Porträts stellen keine eindeutigen Geschlechterrollen dar, sondern 36 lassen Facetten von weiblich und männlich zu und zeigen die individuelle Schönheit 37 der Charaktere. 38

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

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1 Bald ist der Transmann nicht mehr mein Hauptakteur, sondern wird 2 durch Gespräche der Anlass für die Porträtserie ErSieEs. Private sexuelle 3 Vorlieben sind keine Kriterien für meine Auswahl der Porträtierten. Viel- 4 mehr stehen Irritation und Annäherung im Vordergrund. Immer stellt 5 sich die Frage: Wie nehmen sich die Menschen wahr und welches Bild 6 halte ich fest? Oft hatte ich Angst Menschen anzusprechen: Für eine 7 Frau kann es sehr kränkend sein, auf ihre maskulinen Züge hingewiesen 8 zu werden oder zu bemerken, dass sie von anderen an ihr wahrgenom- 9 men werden – umgekehrt ähnlich für einen Mann. Die meisten haben 10 in meiner Wahrnehmung sowohl weibliche als auch männliche Ge- 11 sichtszüge. Bei der Frage nach diesen Kategorien sind wir dazu verleitet, 12 sie biologisch zu beantworten. Was sie aber in sozialer, psychischer und 13 emotionaler Hinsicht als Antworten bereithalten, ist nur sehr komplex 14 wiederzugeben, ich wage dies nicht. 15 Beim Fotografieren entsteht ein intimer Raum – manchmal reden wir 16 kaum, oft kommt es zu sehr privaten Gesprächen. Die Fotografien sind 17 Zeugen einer Kommunikation, die gesucht und zugelassen wird. M­ anches 18 bleibt verborgen oder es gibt keine Worte dafür, was in den Gesichtern zu 19 sehen ist. Es ist die verborgene Schönheit, die wir mit ­Blicken zum Vor- 20 schein bringen wollen. Etwas fordert unsere Aufmerksam­keit heraus, dem 21 wir uns nicht entziehen können. Was ist das? Jemand möchte verweilen 22 und Zeuge meiner Beobachtung werden, spüren und bekannte Anteile 23 seiner und ihrer selbst sehen, die nicht körperlich sind, vielmehr Teile der 24 Persönlichkeit. Ich fotografiere Individuen, die sich im Zwischenraum be- 25 wegen, aber auch Charaktere, die diesen Raum an sich nicht vermuten, 26 den ich durch das Fotografieren erst geschaffen habe. In der Reflexion über 27 Identität und Körperlichkeit ist das beladene Wort Heimat nicht abwegig: 28 Sich in der eigenen Haut wohlfühlen, einen Platz finden in sich und in 29 der Umwelt, die Heimat im eigenen Körper. Das »Dazwischensein« ist 30 viel mehr Normalität, als es uns unsere Vorstellung davon suggeriert. An 31 den Männernamen und seine tiefe Stimme habe ich mich längst gewöhnt, 32 an seinen weiblichen Geburtsnamen denke ich kaum noch. Er ist Teil der 33 Serie und es ist nicht wichtig, wer der Transmann unter ihnen ist. 34 35 36 37 38

50 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb ErSieEs – Eine fotografische Spurensuche zwischen den Geschlechtern

Heinz-Jürgen Voß im Interview: 1 »Es gibt nicht nur zwei Geschlechter« 2 3 Das folgende Interview mit Dr. Heinz-Jürgen Voß (Martin-Luther-Uni- 4 versität Halle Wittenberg, Institut für Geschichte und Ethik der Medizin) 5 wurde im November 2011 für einen Beitrag des SOME Magazine durch- 6 geführt. In dieser Ausgabe widmeten sich Studierende des Studiengangs 7 Kommunikationsdesign an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule 8 Halle aus unterschiedlichen Perspektiven dem Thema »Error«. 9 10 Yvonne Most: Wie würdest du einem Jugendlichen aus ländlicher Region 11 in kurzen Sätzen deine Themen erklären? 12 Heinz-Jürgen Voß: Ich würde sagen, es geht nicht kurz, man muss sich 13 miteinander Zeit nehmen. Ich würde fragen, was er unternimmt, um 14 sich als typisch geschlechtlich herzustellen. Was er denn macht, sich 15 beispielsweise rasiert oder parfümiert, um bei seiner Peergroup aner- 16 kannt zu sein. Davon ausgehend kann man auch zu biologischen Fragen 17 kommen, das muss man aber nicht. Eine Unterscheidung zwischen 18 ländlicher und städtischer Region würde ich nicht machen. Egal, wie 19 simpel Antworten sind und ob sie widerlegt sind, sie ziehen immer 20 wieder, überall. Das gilt in der Populärkultur, in der Jugendkultur, bei 21 SeniorInnen, das findet tatsächlich breit in der Gesellschaft statt, auch 22 im urbanen Raum, auch an Universitäten. Es wird kaum reflektiert, 23 wie man durch sein eigenes Handeln stets Geschlecht selbst herstellt. 24 Das versuche ich herauszuarbeiten. In Vorträgen verwende ich 25 zum Beispiel einfache Sachen wie Anziehpuppenmodelle, wie wir sie 26 aus unserer Kindheit kennen. An ihnen kann man herausstellen: Ok, 27 Mädchen und Jungs sind ganz unterschiedlich gekleidet, werden mit 28 unterschiedlichen Gestiken versehen, haben unterschiedliche Haar­ 29 längen. Der Junge ist häufig so dargestellt, dass er eine Raum einneh- 30 mende Stellung einnimmt, während das Mädchen eher auf das Innere 31 des Körpers fixiert abgebildet wird. Da wird deutlich und leuchtet ein, 32 dass Geschlecht nicht einfach da ist, sondern eine erlernte Haltung, 33 die im Leben eingenommen wird. 34 Y. M.: Gibt es im Bereich der Alltagsgegenstände Diskriminierung? 35 H.-J. V.: Es gibt Studien dazu, zum Beispiel ist der Bereich Architektur dazu 36 auseinandergenommen worden, inwiefern dort Geschlecht berücksich- 37 tigt wird. Das ist für mich die Grundlage, Geschlecht ist nicht einfach 38

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1 da, sondern wir lernen es. So werden in der Architektur unter anderem 2 dunkle Gassen oder Garagenplätze auf geschlechtsspezifische Wirkung 3 reflektiert, wie sie als gefährlich empfunden oder gemieden werden. 4 Weitere Fragen sind: Inwieweit werden in der Architektur gerade 5 männliche Stereotype bedient: höher, schneller, weiter. Ein gewisser 6 Gigantismus, riesige Hochhäuser bauen für wenige Reiche und eben 7 keinen vernünftigen Wohnraum und Arbeitsraum für alle zu schaffen. 8 Wie würde eine eher matriarchal geordnete Gesellschaft zu anderen, 9 vielleicht preiswerten, Bauweisen kommen? 10 In Linz gibt es ein Projekt, in dem versucht wird Maschinen ge- 11 schlechterstereotyp zu entwickeln. Solche Projekte sind nicht emanzi- 12 patorisch, sondern sie tragen eher dazu bei, dass wieder unterschieden 13 wird, also Geschlechterunterschiede wieder naturalisiert werden. 14 Es gibt auch Beispiele im medizinischen – biologischen Alltag. 15 Gerade mit Betrachtungen zu Fortpflanzung werden Frauen eher 16 konfrontiert. Bei Frauen werden »schädigende« Einflüsse auf Fort- 17 pflanzung stärker thematisiert als bei Männern. Weitere Fragen sind 18 auch hier relevant, als Gender-Medizin. Aber auch hier gilt: Gender- 19 Medizin ist keineswegs per se emanzipatorisch, teilweise wird auch 20 dort Sozialisation überhaupt nicht betrachtet. 21 Y. M.: Vom Biologen zum queer-feministischen Missionar? Inwiefern ist die 22 Beschäftigung persönlich motiviert? 23 H.-J. V.: Mir würde eine Überschrift in der konservativen Bild-Zeitung ge­ 24 fallen: Wissenschaftlicher sagt: »Es gibt nicht nur zwei Geschlechter«. 25 Aber darauf kann man noch ein bisschen warten. Die Arbeit an dem 26 Thema ist weniger persönlich motiviert. Ich habe Biologie studiert, 27 ganz dumm vor mich hin. Das Denken hat erst nach dem Studium 28 richtig eingesetzt, erst dann habe ich ein paar Sachen reflektiert. 29 Neben ­bei kam mein Coming-out, so 2000. Damit verbunden habe 30 ich den Studien- und Wohnort gewechselt. Ich bin in Berührung mit 31 queer-feministischen Kreisen und Denkweisen gekommen. Ich dachte: 32 »Das Schwulsein soll wieder eine genetische Disposition haben? 33 Das ist doch ein bisschen hohl, da kannste näher ran gehen.« Der 34 Denkprozess hat eingesetzt und mit den Untersuchungen bin ich zu 35 dem Schluss gekommen, dass Geschlechter keineswegs eindeutig sind, 36 sondern eher sehr vielfältig. 37 Y. M.: »Geschlecht ist gesellschaftlich gemacht.« Wie reagiert fachfremdes 38 Publikum auf diese These?

52 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb ErSieEs – Eine fotografische Spurensuche zwischen den Geschlechtern

H.-J. V.: Für viele ist es unverständlich. Weil viele Geschlecht als einfach da- 1 seiend empfinden und eigene Probleme nicht mit Geschlecht in Ver- 2 bindung bringen. Probleme sehen sie eher bei sich selbst. Zum Beispiel 3 bei Aufstiegschancen von Frauen in der Wissenschaft gehen Frauen oft 4 davon aus, dass es an ihnen selbst liege, dass sie nicht aufsteigen. Die 5 Ursache wird bei sich selbst gesucht. Dass es an Strukturen liegt und 6 an konservativen Männernetzwerken, wird nicht in Betracht gezogen. 7 Pubertäre Jungen, die gerade ihre Hoden entdecken, führen auf 8 einmal alles auf sie zurück. Das dann auch wieder in den einfachsten 9 Denkweisen: Es müsse den Mann geben und der stärkere setzt sich 10 durch. Es müsse die Frau geben und sie wähle die Männer entsprechend 11 aus. Solche Stereotype werden unterstützt. 12 Aber ich habe mittlerweile den Eindruck, dass sich relativ viele 13 Leute auf das Thema einlassen wollen. Es gab eine Reihe von Inter- 14 viewanfragen und Buchbesprechungen und es zeigte sich eine eher 15 positive Resonanz. Der Bedarf sich selbst zu informieren ist da. Die 16 Wahrnehmung nimmt zu, Ursachen für die stockende Karriere nicht 17 mehr gleich bei sich selbst zu suchen, sondern nach den Strukturen zu 18 fragen. Das kann ein befreiendes Moment für jemanden sein und zu 19 einer kritischen Aktivität anregen. 20 Bezüglich biologischer Fragen: Nur weil die Fortpflanzung zum 21 Erhalt des Menschen notwendig ist, heißt es nicht, dass sie jeden 22 Menschen betreffen müsse. Die Frage der Fortpflanzung kann also 23 auch relativiert werden. Beim Geschlecht – also bezogen auf die 24 Genitalien – ist sogar eine größere Variabilität als zum Beispiel beim 25 Herzen oder bei der Leber möglich. Herz und Leber müssen funkti- 26 onstüchtig sein oder medizinisch in einem funktionsfähigen Zustand 27 versetzt werden können, damit ein Mensch leben kann. Genitalien 28 sind hingegen nicht notwendig, um leben zu können. Ganz wich- 29 tig finde ich den Satz »durch eine Medizin in einen lebensfähigen 30 Zustand zu bringen«. Medizin ist bedeutsam, etwas vermeintlich 31 »Natürliches« eben nicht klar abgrenzbar. Noch im 19., Anfang des 32 20. Jahrhunderts sind 30 bis 50 Prozent der Kinder vor Erreichen des 33 fünften Lebensjahres gestorben. In diesem Sinne wird offensichtlich, 34 wie die Lebens- und Entwicklungsmöglichkeiten von Menschen 35 gesellschaftlich bestimmt sind. 36 Y. M.: In Bezug auf »error« – Welche Parallelen siehst du zu Fehler/Norm 37 im Gender-Kontext? 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 53 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Yvonne Most

1 H.-J. V.: Ich finde den Bezug zu Medizin wichtig und möchte dort weg von 2 den Begriffen »Fehler«, »Missbildungen« – und wie es auch immer 3 genannt wird, Dinge als »Störung« wahrzunehmen. Mir geht es 4 darum, die Perspektive zu verschieben, zu sehen: Eine Entwicklung 5 findet individuell statt, daran sind verschiedene Variablen beteiligt, die 6 sie beeinflussen. Wir müssen von einem Denken weg, das vielen Men- 7 schen Leid gebracht hat, und das »Missbildungen« und »Störungen« 8 kannte. Das meinte, es sei etwas nicht normal, behandlungsbedürftig 9 und erklärungsbedürftig. Aktuell werden wir noch in Ideale gepresst – 10 weichen wir von ihnen sehr ab, sind wir nicht anerkannt. Mit solchen 11 Setzungen ist vielfach Gewalt verknüpft. Das lässt sich am Beispiel 12 der Intersexualität ganz gut zeigen. Menschen, die mit uneindeutigem 13 Geschlecht wahrgenommen wurden, wurden heranzitiert, um typisch 14 weibliche/männliche Geschlechtsmerkmale überhaupt zu finden. 15 Auch in der Forschung wurden ihnen grauenhafte Dinge angetan, so 16 geschlechtliche Zuweisungen im Säuglings- und Kindesalter, die sie als 17 äußerst traumatisierend und gewaltvoll empfunden haben. 18 Y. M.: Der Blick von SOME richtet sich nach der Chance im Design aus 19 Fehlern zu lernen. Welche Aussichten siehst du im 21. Jahrhundert 20 für das Thema/die Toleranz der Transidentität? 21 H.-J. V.: Ab der europäischen Moderne, seit dem ausgehenden 15. Jahr- 22 hundert, spätestens aber ab dem 18. Jahrhundert ,zeigt sich eine 23 starke Suche nach Eindeutigkeit, nach Wahrheit – keineswegs nur auf 24 Geschlecht bezogen. Es kam die Vorstellung auf, eine Wissenschaft 25 müsse eine und genau eine wahre Aussage treffen. Für Europa gilt 26 es, zu erlernen, Pluralität zuzulassen. Menschen könnten frei und 27 widersprüchlich leben. Ich möchte dort ankommen, dass man weit- 28 gehend selbstbestimmt leben kann und sich zum Beispiel nicht konkret 29 ­hetero-, homo, bisexuell einordnen muss. Wir sind gewohnt in starren 30 Identitätsmodellen zu denken, es fällt schwer, daraus auszubrechen. 31 Ich sehe im Moment – unter anderem wegen der sich abzeichnenden 32 Krise des Kapitalismus – die Möglichkeit, von der Suche nach »der 33 Eindeutigkeit« wegzukommen und stattdessen mehr Pluralität und 34 Widersprüchlichkeit zuzulassen. 35 Y. M.: Fühlst du dich diskriminiert? 36 H.-J. V.: Wir werden alle diskriminiert, und das merke ich auch ein Stück 37 weit an mir. Weil wir alle ein bestimmtes Bild in Bezug auf Geschlecht 38 erfüllen müssen.

54 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb ErSieEs – Eine fotografische Spurensuche zwischen den Geschlechtern

Literatur 1 Voß, H.-J. (2018). Geschlecht. Wider die Natürlichkeit. 4. Aufl. Stuttgart: Schmetterling 2 Verlag. 3 Voß, H.-J. (2011). Making Sex Revisited. Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch- 4 medizinischer Perspektive. 3. Aufl. Bielefeld: transcript Verlag. 5 6 Die Autorin 7 8 Yvonne Most, 1981 geboren in Thüringen, absolvierte den Bachelor Cultural Engineering an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und baute mit dem Master of Arts 9 Photography an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle auf. Ihre dokumen- 10 tarische Fotografie spezialisierte sie an der Ostkreuzschule für Fotografie bei Sibylle 11 Bergemann in Berlin und arbeitet als freischaffende Fotografin für zahlreiche Magazine 12 wie Neon, Nido und ZEIT Campus und als Dozentin, unter anderen bei C/O Berlin. Als Dozentin in der Vermittlung von Fotografie arbeitet sie seit 10 Jahren unter anderem für 13 Hochschulen und freie Träger für verschiede Altersgruppen besonders zu den Themen: 14 Portrait, Empowerment, Selbst- und Fremdwahrnehmung und Social Media Storytelling. 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 55 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Fight the Cistem – 1 Fotografien von Horst P. Horst 2 1 3 neu interpretiert 4 Angela Pi Altendorfer 5 6 7 8 9 10 11 Die Weißenfelser Museumsnacht unter dem Motto »Auf den Spuren von 12 Horst P. Horst« am 6. Juni 2015 (vgl. Führmann, 2015) und der Eintrag des 13 Begriffs »cisgender« ins Oxford English Dictionary am 25. Juni des­selben 14 Jahres (vgl. Green, 2015) stellen zwei völlig voneinander unabhängige Er- 15 eignisse dar, spiegeln aber die Aktualität der damals entstandenen Fotoserie 16 Fight the Cistem sehr gut wider. Für meine Postkartenserie habe ich mich 17 von Motiven des 1906 in Weißenfels geborenen Fotografen Horst P. Horst 18 inspirieren lassen, diese neu inszeniert und mit dem Slogan »Fight the 19 Cistem« auf der Vorderseite versehen. Diese abgewandelte Anspielung auf 20 den Aufruf »Fight the system«, die für den Widerstand gegen unterdrü- 21 ckende Herrschaftsverhältnisse im Allgemeinen steht, richtet sich in dieser 22 Schreibweise im Besonderen gegen normative Vorstellungen hinsichtlich 23 der unterschiedlichen Dimensionen von geschlechtlicher Identität und 24 ihres Ausdrucks, von biologischem Geschlecht und sexueller Orientierung 25 (vgl. Killerman, 2011). Ergänzend dazu erfolgt auf der Rückseite eine kurze 26 Erklärung der Begriffe »trans« und »cis«. Mit dieser Darstellung möchte 27 ich dazu beitragen, gewohnte Sichtweisen in Bezug auf Geschlechter­rollen­ 28 wahr ­nehmung und das Denken in nur binären Kategorien aufzubrechen, 29 wie es bereits andere Gruppen wie beispielsweise die aktivistische Vereini- 30 gung Bialogue aufzeigen, die sich für mehr Sichtbarkeit einer groß gefassten 31 LGBTQI*-Gruppe2 auf lokaler, regionaler, nationaler und inter­nationaler 32 Ebene einsetzen und auf deren Webseite ich von der Darstellung eines Tat- 33 toos (vgl. bidyke, 2013) zum Symbol für »Fight the cistem« inspiriert wurde. 34 35 1 Die Bilder werden mit freundlicher Genehmigung von Johanna Retzlaff, Laura Kemme 36 und Timo Ludwig abgedruckt. 37 2 LGBTQI* steht für Lesbian, , Bi, Trans, Queer, Inter und weitere. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 57 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Angela Pi Altendorfer

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Abb. 1

58 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Fight the Cistem – Fotografien von Horst P. Horst neu interpretiert

Klare Ästhetik, elegante Linienführung und drastische Lichtsetzung zeich- 1 nen den Stil von Horst P. Horst aus, mit dem er die Titel­bilder der Vogue 2 über Jahrzehnte hinweg prägte. Mit dem Meisterwerk Mainbocher Corset, 3 1939 Titelbild der französischen Vogue, schuf er eine der berühmtesten 4 Modefotografien des 20. Jahrhunderts. Das Londoner Victoria and Albert 5 Museum würdigte den außergewöhnlichen Künstler mit der Ausstellung 6 »Horst: Photographer of style« von September 2014 bis Januar 2015 (vgl. 7 Schneider, 2014). Angestoßen durch die Initiative der Hochschule Merse­ 8 burg, vertreten von Thomas Tiltmann, Mitarbeiter der Fotowerkstatt, 9 setzten sich die Studierenden des Fachbereichs »­Soziale Arbeit. Medien. 10 Kultur.« mit dem Werk von Horst P. Horst kreativ und kritisch auseinan- 11 der, um ihre Werke dann bei der Museumsnacht 2015 in Zusammenhang 12 mit einigen Originalwerken präsentieren zu können. Da mich zum einen 13 die Ästhetik und Eleganz seiner Fotografien sehr in ihren Bann zogen, ich 14 zum anderen aber die stereotype Darstellung von Weiblichkeit und Männ- 15 lichkeit in der Modefotografie als sehr reduziert wahrnehme, wollte ich 16 durch meine spezielle Darstellung eine Irritation dieser Kategorien bei der 17 Rezeption erreichen. Dabei war es mein Ziel, das Gesehene in Beziehung 18 zu gedachten Kategorien wie männlich und weiblich zu setzen und dabei 19 genau diese Kategorien zu hinterfragen. Um das zu erreichen, bat ich un- 20 terschiedliche Personen aus meinem Umfeld mir Modell für die nachinsze- 21 nierten Fotomotive zu stehen. Dabei machte ich verschiedene Vorschläge 22 für die Vorlagen, wobei die Auswahl gemeinsam erfolgte. Ob die Personen 23 sich selbst als cis, trans, inter oder als genderfluid und/oder genderqueer 24 bezeichnen, spielte dafür ebenso wenig eine Rolle wie eine vorhandene 25 »Übereinstimmung« mit dem in der Originalfotografie abgebildeten Ge- 26 schlecht. Horst P. Horst fotografierte nicht nur Foto­modelle und Stars, 27 sondern ebenso Menschen aus seinem Freundeskreis. Bei den im Original 28 abgebildeten Personen handelt es sich um Stephanie Grimaldi (1985), 29 Baron Nicolas von Gunzburg (1937), Carl Trees (1937) und das berühmte 30 Fotomodell Jean Patchett (1948). 31 Die Fotografien sind im Fotostudio der Hochschule Merseburg mithilfe 32 der dort vorhandenen Technik entstanden. Um die Qualität der Licht­ 33 setzung der originalen Vorbilder von Horst P. Horst annähernd zu errei- 34 chen, war aufwändige Lichttechnik nötig. Für eine möglichst detailgetreue 35 Wiedergabe war vor der eigentlichen Umsetzung im Fotostudio aber noch 36 eine umfangreiche Planung sowohl des Lichtkonzeptes als auch die Aus- 37 wahl der Requisiten und Kostüme erforderlich. Ihre Beschaffung erfolgte 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 59 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Angela Pi Altendorfer

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Abb. 2

60 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Fight the Cistem – Fotografien von Horst P. Horst neu interpretiert teilweise privat, aber auch aus dem öffentlichen Kostümfundus des MDR. 1 Die jeweiligen Sitzungen zu den fünf ausgewählten Motiven dauerten meh- 2 rere Stunden und verlangten den Modellen einiges an Geduld und Kör- 3 perbeherrschung ab. Die Ergebnisse lassen nun trotz einiger verfremdender 4 Momente eine klare Assoziation mit der Bildsprache Horst P. Horsts erken- 5 nen. Dennoch sollen die Motive die Betrachtenden zu einem zweiten Blick 6 bewegen, zu einer kurzen Irritation, zu der Frage: »Was oder wen sehe ich 7 da?« Die eigene Identifikation der Modelle spielt dabei nur eine unterge- 8 ordnete Rolle, da es nicht darum geht, Trans- versus Cisgeschlechtlichkeit 9 zu setzen, sondern darum, nicht-binäre Sichtweisen und Selbstverständ- 10 nisse sichtbar zu machen und zu stärken. 11 Dies soll auch durch den Slogan »Fight the Cistem« unterstrichen 12 werden. Obwohl der Begriff »Fight« eine gewisse Aggression ausstrahlt, 13 soll damit natürlich keineswegs ein Angriff auf bestimmte Menschen, die 14 sich mit dem Begriff cis durch Eigen- oder Fremdzuschreibung identifizie- 15 ren, gemeint sein. Es heißt ja nicht »Fight Cis«. Mit »Cistem« ist eine 16 Denkweise angesprochen, die sich in ihrer vermeintlichen Normalität als 17 Norm begreift. Auch Heterosexualität als Begriff kam erst auf und wurde 18 für die häufigere sexuelle Orientierung populär, nachdem Homosexualität 19 schon als Begriff etabliert war. Menschen, deren Geschlecht eindeutig 20 einer der beiden Kategorien »männlich« bzw. »weiblich« zuzuordnen 21 ist und die sich mit diesem auch in ihrer Eigenwahrnehmung und ihrem 22 Selbstausdruck identifizieren, bilden in unserer Gesellschaft eine gefühlte 23 Mehrheit, was uns auch die Repräsentation in den Medien deutlich zeigt. 24 »Cisgeschlechtlichkeit gilt in unserer Gesellschaft als normal und wird 25 strukturell bevorzugt. Zugleich unterliegt Cisgeschlechtlichkeit starken 26 Normierungen, die bestimmen, wie Frauen und Männer auszusehen, zu 27 handeln und zu fühlen haben« (Schmitz-Weicht, o. J.). Dass sich diese 28 unmarkierte Mehrheit aber als »Normalbevölkerung« gegenüber einer 29 markierten Minderheit sieht und erstere keiner besonderen Bezeichnung 30 bedarf, impliziert ja im umgekehrten Fall, dass sich anders fühlende oder 31 anders identifizierende Menschen als irgendwie »nicht normal« bezeich- 32 net werden. Hier setzt die Kritik an, die den Begriff Cisgender hervor- 33 brachte. Schon bevor 1991 Volkmar Sigusch, damaliger Direktor des Ins- 34 tituts für Sexualwissenschaft am Universitätsklinikum Frankfurt am Main, 35 den Begriff »zissexuell« in Analogie zu »transsexuell« prägte, kam dieser 36 bereits Ende der 1980er Jahre in westdeutschen Selbsthilfegruppen auf, 37 um der pejorativen Konnotation des Begriffs »trans« für Menschen, die 38

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 Abb. 3

62 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Fight the Cistem – Fotografien von Horst P. Horst neu interpretiert nicht dieser vermeintlichen Norm der Mehrheit entsprechen, etwas entge- 1 genzusetzen (vgl. Kühne, 2016). Da sich viele Menschen, die sich nicht in 2 den genderinformierten Kreisen eines bestimmten akademischen Milieus 3 bewegen, noch nicht mit diesen Begriffen auseinandergesetzt haben bzw. 4 nicht vertraut damit sind, habe ich eine kurze Erklärung auf der Rückseite 5 der Postkarten angefügt. Der Text auf den Karten lautet: 6 7 »Mit ›Cis‹ werden Menschen bezeichnet, die sich mit dem ihnen bei 8 Geburt zugewiesenen Geschlecht identifizieren und dabei keine Diskrepanz, 9 kein Unbehagen empfinden. Mit dem Begriff der ›Geschlechtszuweisung‹ 10 ist hier nicht der kinderchirurgische Eingriff bei Säuglingen mit uneindeuti- 11 gen äußeren Geschlechtsmerkmalen gemeint. ›Trans‹ dient als Oberbegriff 12 zu Identitäten jenseits der Cis-Geschlechtlichkeit.« 13 14 Der Text sollte kurz, prägnant und leicht verständlich sein, weshalb ich auf 15 den Ursprungsverweis der beiden Vorsilben aus dem Lateinischen verzich- 16 tet habe. »Die Vorsilbe ›trans‹ bedeutet lateinisch ›jenseits‹, ›darüber 17 hinaus‹, die Vorsilbe ›cis‹ ›diesseits‹« (Kühne, 2016). Dass der Begriff Cis- 18 gender gerade im Prozess ist, in den allgemeinen Sprachgebrauch überzuge- 19 hen, zeigt auch die Aufnahme des Wortes in das englischsprachige Pendant 20 des Duden. Interessant ist, dass daraufhin Stimmen laut wurden, die sich 21 dagegen aussprachen, als cis bezeichnet zu werden. Diese Proteststimmen 22 empfinden sich eben genau in jener Position der unhinterfragten Normali- 23 tät, die ihrer Meinung nach einfach existiert und keiner Benennung bedarf. 24 Eine Benennung hätte zuschreibenden, objektivierenden und sogar unter- 25 drückenden Charakter, so eine oft geäußerte Kritik. Cisgeschlechtlichkeit 26 entspricht laut dem Lexikon queer@school der Norm (vgl. Lambda Berlin/ 27 Brandenburg e. V., o. J.). Um aber genau dieses Privileg der Cisgeschlecht- 28 lichkeit zu hinterfragen, ist es leichter, von cis- und transgeschlechtlichen 29 Personen, von Cis- und Transpersonen zu sprechen – wie soll ich das sonst 30 ausdrücken? (vgl. James, 2015). Dabei können alle Bezeichnungen immer 31 nur eine Hilfestellung sein, um auszudrücken, wo in etwa sich eine Person 32 in einem riesigen Koordinatensystem der Möglichkeiten und Orientierun- 33 gen und Ausprägungen verortet fühlt. Niemals kann ein verbaler Ausdruck, 34 ein »Label«, die vielschichtige und komplexe Struktur, die unsere Identität 35 oder unsere mehrfachen Identitäten prägt, in allen Facetten wiedergeben. 36 Aber es kann als ein Versuch gesehen werden, ein System infrage zu stellen, 37 das alles, was nicht normgerecht ist und nicht in eine bestimmte Kategorie 38

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1 einsortiert werden kann, ausklammert und unsichtbar macht. Dafür ist es 2 notwendig, für alle und alles eine Bezeichnung zu finden, die auf derselben 3 Stufe steht. In diesem Sinn ist das »Fight the Cistem« als ein Aufruf ge- 4 dacht, immer die einzelne Person im Blick zu behalten und nicht die Labels. 5 Die Form der Postkarte als Medium zeichnet sich durch ihre Einfachheit in 6 der Verbreitung aus: Eine Postkartenserie kann ausgelegt und wie ein Infoflyer 7 einfach mitgenommen werden. Von dieser Möglichkeit haben auch diverse 8 Einrichtungen, die im Bereich Beratung zu sexueller Vielfalt oder Gender 9 Studies tätig sind, Gebrauch gemacht und von positivem Feedback berichtet. 10 Aber auch auf queer.de (CW, 2015) wurde die Serie vorgestellt sowie in der 11 Siegessäule (Noll, 2015), dem queeren Stadtmagazin . Ziel ist, die Serie 12 im Sommer 2018 zu erweitern und eine Fortführung zu realisieren. 13 14 15 Literatur 16 bidyke (2013). Fight The CisTem, bialogue-group, Januar 2013. http://bialogue-group. 17 tumblr.com/post/41477429592/fight-the-cistem (07.04.2018). 18 CW (2015). Fight the Cistem – Bild des Tages. Queer.de, Juni 2015. http://www.queer. de/bild-des-tages.php?einzel=1174 (07.04.2018). 19 Führmann, C. (2015). Museumsnacht in Weißenfels: Auf den Spuren von Horst P. Horst. 20 Mitteldeutsche Zeitung, Juni 2015. https://www.mz-web.de/1043396 (07.04.2018). 21 Green, C. (2015). »Cisgender« has been added to the Oxford English Dictionary. 22 Independent, Juni 2015. https://www.independent.co.uk/incoming/cisgender- 23 has-been-added-to-the-oxford-english-dictionary-10343354.html (07.04.2018). James, St. J. (2015). 6 Reasons Why Being Called a Cis Person Is Not »Oppressive«. Every- 24 dayfeminism, Januar 2015. https://everydayfeminism.com/2015/01/being-called- 25 cis-is-not-oppressive/ (07.04.2018). 26 Killerman, S. (2011). The genderbread person. It’s pronounced metrosexual, November 27 2011. http://itspronouncedmetrosexual.com/2011/11/breaking-through-the- binary-gender-explained-using-continuums/ (07.04.2018). 28 Kühne, A. (2016). Was bedeutet Cisgender? Tagesspiegel, Januar 2016. https://www. 29 tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/das-queer-lexikon-was-bedeutet-cisgen- 30 der/12792450.html (07.04.2018). 31 Lambda Berlin/Brandenburg e. V. (o. J.). Queeres Lexikon queer@school. Jugendnetz- werk Berlin. http://queer-at-school.de/?page_id=38 (07.04.2018). 32 Noll, J. (2015). Aufbrechen. Siegessäule, August 2015, S. 6. https://issuu.com/siegessaeule/ 33 docs/sis_08-15 (07.04.2018). 34 Schmitz-Weicht, C. (o. J.). Aufklärung und Beratung zu geschlechtlicher und sexuel- 35 ler Vielfalt. Abqueer. http://www.abqueer.de/infos-und-materialien/begriffe/ (07.04.2018). 36 Schneider, H. (2014). »Horst: Photographer of Style« im V & A London. Vogue, August 37 2014. http://www.vogue.de/people-kultur/kultur-tipps/ausstellung-horst-photo 38 grapher-of-style-im-v-a-london/(bild)/1045417 (07.04.2018).

64 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Fight the Cistem – Fotografien von Horst P. Horst neu interpretiert

Die Autorin 1 Angela Pi Altendorfer ist seit 2015 als Medienpädagogin für Fotografie und Film (BA) 2 selbstständig tätig und hat seitdem zahlreiche Projekte zur Medienkompetenzförde- 3 rung für verschiedene Zielgruppen konzipiert und durchgeführt. Dabei ist ihr ein in- 4 terkultureller und gendersensibler Ansatz sehr wichtig. Darüber hinaus widmet sie sich 5 der künstlerischen Fotografie und erprobt das Aufbrechen gewohnter Sichtweisen. Ihr besonderes Interesse gilt der 3D-Animation mit Figuren. www.filmwerkstatt-leipzig.de 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 65 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Grautöne – Eine Fotoarbeit 1 über Intersexualität 2 3 Sophie Kirchner 4 5 6 7 8 9 10 11 12 Im Laufe meines Fotografie-Studiums an der Hochschule für Angewandte 13 Wissenschaften in Hamburg entdeckte ich drei Interessengebiete, die sich 14 bis heute in meinen Arbeiten widerspiegeln – Tabuthemen, soziale Rand- 15 gruppen und die Identität des Menschen. 16 Die Fotografie nutze ich dabei als eine Plattform, um Dialoge zu för- 17 dern, die wir als Gesellschaft führen sollten – darüber, wie wir über Andere 18 denken, und was passiert, wenn wir diese Denkmuster hinterfragen. 19 Im Rahmen eines Seminars bei Prof. Vincent Kohlbecher zu dem Thema 20 »Fremd« entschied ich mich für eine Arbeit über das Thema »Intersexu- 21 alität«. Zu Beginn meiner Recherche, befasste ich mich zunächst mit dem 22 Begriff »Tabu« und damit, was wir in der heutigen deutschen Gesellschaft 23 noch als Tabu bezeichnen. Denn Tabus existieren kaum noch. In Deutsch- 24 land ist in den letzten Jahrzehnten der Umgang mit schwierigen Themen 25 viel offener geworden. Jedoch stellen bestimmte Bereiche immer noch 26 einen wunden Punkt dar und werden weitgehend aus dem öffentlichen 27 Leben ausgeblendet, wie zum Beispiel die Intersexualität. 28 Ich entdeckte bei meinen Recherchen auch, dass das Thema bis jetzt 29 nur selten in Form einer fotografischen Arbeit behandelt wurde, und wenn 30 ich dazu künstlerische Auseinandersetzungen finden konnte, waren diese 31 meinem Empfinden nach unzureichend, gar vorführend oder oberflächlich. 32 Ich erkannte die Notwendigkeit, dass zwischengeschlechtliche Menschen 33 »sichtbar« gemacht werden, ihre Geschichten erzählt werden müssen – 34 und das in einer Form, in der sich die Protagonisten wiedererkennen, 35 respekt ­voll und human. 36 Darüber hinaus befasste ich mich mit der Intersexualität als »anatomi- 37 sches Phänomen«. Ich verstand es als meine Aufgabe als Fotografin, mich 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 67 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Sophie Kirchner

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 Abb. 1: Jessika 26 27 zunächst ausführlich über Intersexualität zu belesen. Die Protagonisten 28 hatten ein Recht darauf, dass ich mich mit dem Thema angemessen beschäf- 29 tigte, bevor ich ihnen eine Zusammenarbeit vorschlug.1 30 Für mich war von Beginn an klar, dass ich diese, ihre Geschichte keines- 31 falls in einer Art und Weise erzählen wollte, in der ich darstelle, inwieweit 32 sich die Personen von anderen Menschen unterscheiden. Die vermeintliche 33 »Andersartigkeit« Intersexueller wurde schon zu oft als Sensation darge- 34 stellt und das Vertrauen dieser Menschen von Medienanstalten und Jour- 35 nalisten missbraucht. 36 37 1 Im Literaturverzeichnis zu diesem Beitrag finden sich die Quellen, die ich studiert habe, 38 um mein Wissen über Intersexualität zu vertiefen.

68 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Grautöne – Eine Fotoarbeit über Intersexualität

Mir wurde bewusst, dass es ein hohes Maß an Geduld, Sensibilität und 1 Empathie erfordert, um diese Arbeit mit dem gebotenen Respekt umzu- 2 setzen. 3 Die Annäherung an die Bildsprache in meiner Arbeit erlebte ich zu 4 Beginn als einen unbewussten Prozess. Sie entwickelte sich im Laufe der 5 Zusammenarbeit mit den einzelnen Personen zu einer individuellen, 6 dem Thema gerechten Erzählweise. Ich wollte mich herantasten an die 7 ­Menschen, zuerst ihre Geschichte kennenlernen und keine vorgefertigte 8 fotografische Haltung einnehmen. Zudem ist das Thema Intersexualität 9 innerhalb unserer Gesellschaft nach wie vor recht unbekannt. Ich brauchte 10 Zeit, um herauszufinden, wie ich diesem gerecht werden konnte. 11 Durch das Kennenlernen von unterschiedlichen Menschen und Schick- 12 salen habe ich verstanden, dass es eine große Bandbreite an intersexuellen 13 Formen und Identitäten gibt, dass ich mit jeder Person, die ich fotografiere, 14 eine vollkommen andere Geschichte erzählen würde. Die fünf porträtier- 15 ten Personen2, um die es in dieser Arbeit geht, beschreiben durch ihre un- 16 terschiedlichen Lebensweisen einen wichtigen Aspekt: Intersexualität lässt 17 sich nicht kategorisieren. 18 Im Rahmen meiner Recherche wurde schnell deutlich, dass das Internet, 19 mit Foren und Vereinshomepages, den größten Sammel- und Vernetzungs- 20 punkt für intersexuelle Menschen darstellt. Ich beschloss, mich bundesweit 21 bei einzelnen Selbsthilfegruppen und Vereinen um mein Anliegen zu be- 22 werben. Nach intensiver Recherche und Überzeugungsarbeit, wurde ich 23 von dem Verein »Intersexuelle Menschen e. V.« (ein Verein, der sich für die 24 Ziele und Interessen intersexueller Menschen einsetzt) zu einem Stamm- 25 tisch eingeladen, um mich und mein Projekt vorzustellen. Durch dieses 26 Treffen ist der Stein ins Rollen geraten – ich konnte die ersten Kontakte 27 knüpfen. 28 Im Laufe der Zeit entstanden Kontakte zu fünf intersexuellen Men- 29 schen, von denen ich letztendlich auch die Porträtserien anfertigte. Wie 30 eingangs erwähnt, ließ ich mir zu Beginn ausreichend Zeit, die Personen 31 genau kennenzulernen. Ich gewann mehr und mehr den Eindruck, dass 32 zwischengeschlechtliche Menschen als normale und unauffällige Personen 33 erscheinen, dass sie nicht auffallen wollen und sich dahinter eine Sehnsucht 34 nach Normalität verbirgt. 35 36 2 Drei der fünf portraitierten Personen haben einer Bildveröffentlichung in diesem Buch 37 zugestimmt. 38

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1 Schätzungsweise jeder zweitausendste Mensch, der auf die Welt kommt, 2 weist bei seiner Geburt eine Variante von geschlechtlicher Uneindeutigkeit 3 auf. Es gibt jedoch keine verlässlichen Zahlen, denn vereinzelte Formen 4 der Intersexualität fallen erst im Pubertätsalter auf. Wenn es allein in 5 Deutschland so viele intersexuelle Menschen gibt, ist eine unwissentliche 6 Begegnung mit ihnen – einfach auf der Straße – sehr wahrscheinlich. Mir 7 wurde deutlich, dass ich den Eindruck der »Unscheinbarkeit« in meinen 8 Bildern sichtbar machen wollte. Hinzu kam auch die Erkenntnis, dass es 9 viele untersch­ iedliche Lebenskonzepte von Intersexualität gibt, die es in 10 meiner Arbeit zu beschreiben galt. Um an dieser Stelle eine Person aus 11 meiner Arbeit zu zitieren: 12 13 »Intersexualität ist kein Prädikat, sondern eine ganze Bandbreite von Er- 14 scheinungsbildern, Wahrheiten und Lebensentwürfen. Deshalb ist es auch 15 so schwer, alle Formen unter einen Hut zu bekommen« (anonym). 16 17 Ich wollte auch die individuellen Geschichten der einzelnen Menschen, 18 mit ihren Leidenserfahrungen, ihren Träumen und Sehnsüchten, ihren 19 Wünschen und Bedürfnissen durch alltäglich anmutende Situationen 20 beschreiben. Aus diesem »unerreichbar erscheinenden Traum selbstver- 21 ständlicher Akzeptanz« wollte ich »gelebte Wirklichkeit werden lassen«, 22 wie es Heinz Lohmann (Publizist und Sammler) in seinem Vorwort zu der 23 Buchausgabe meiner Arbeit Grautöne formulierte. Ein weiterer Aspekt in 24 meinem Anspruch an diese Arbeit war, dass sich die porträtierten Personen 25 in keiner Situation falsch vorkommen sollten. 26 Trotz der teilweise normal anmutenden Lebenssituationen, in denen 27 sich die Porträtierten befinden, ist doch in vielen Bildern ein Schleier von 28 Melancholie zu finden. Ich wollte damit auf eine Art die innere Verletztheit 29 der Personen angesichts des Erlebten zum Ausdruck bringen. 30 Ich habe die fotografische Arbeit im März 2010 begonnen und im April 31 2011 beendet.3 Um den Personen nahezukommen , brauchte es Zeit und 32 Geduld. Ich entschied mich, mit einer analogen Mittelformatkamera zu 33 arbeiten. Mittelformatkameras entschleunigen den Prozess des Fotografie- 34 rens zugunsten des Porträts. Der Fotograf bzw. die Fotografin entscheidet 35 viel bewusster, wann das Bild entsteht. Der Ausdruck im Foto ist bestimm- 36 ter, entschiedener und ruhiger. Die Digitalfotografie erscheint mir in dieser 37 38 3 Die ganze Fotoarbeit ist zu sehen unter: www.sophiekirchner.com

70 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Grautöne – Eine Fotoarbeit über Intersexualität

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 Abb. 2: Diana 25 26 Hinsicht mehr als ein Fluch statt ein Segen. Sie verleitet sehr dazu alles 27 kontrollieren zu wollen, anstatt sich auf seine Erfahrung und sein Gefühl 28 zu verlassen. 29 Die Fotografien wurden in unterschiedlichen Zeitungen veröffentlicht. 30 Vordergründig ging es darum, ein generelles Bewusstsein für die Thematik 31 zu schaffen. Vereinzelte Personen, die von meiner Arbeit erfuhren, hielten 32 Intersexualität bis dahin für einen griechischen Mythos, ein Märchen. Ich 33 wurde zu meinem Erstaunen gefragt, ob auch ich eine Form von Intersexu- 34 alität hätte – was mich irritierte, denn dadurch fragte ich mich, ob davon 35 ausgegangen wurde, dass man sich nur mit Dingen intensiv befasst, wenn 36 sie einen unmittelbar betreffen. Themen wie Ausgrenzung und Ablehnung 37 betreffen uns jedoch alle. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 71 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Sophie Kirchner

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 Abb. 3: Elisabeth 26 27 Abschließend möchte ich erwähnen, dass ich durch die Zusammenarbeit 28 mit den Protagonisten zu einer wichtigen Schlussfolgerung gekommen bin: 29 Es ist nicht die Andersartigkeit, die den Menschen Angst macht, sondern das 30 Fremde. Diese Erkenntnis scheint mir in hochpolitischen Zeiten wie diesen 31 wichtiger denn je. Lernen wir uns gegenseitig kennen! 32 33 34 35 36 37 38

72 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Grautöne – Eine Fotoarbeit über Intersexualität

Literatur 1 Benthien, C. & Gutjahr, O. (2008). Tabu – Interkulturalität und Gender. München: Wilhelm 2 Fink Verlag. 3 Klöppel, U. (2010). XX0XY ungelöst. Hermaphroditismus, Sex und Gender in der deutschen 4 Medizin. Eine historische Studie zur Intersexualität. Bielefeld: transcript Verlag. 5 Lang, C. (2006). Intersexualität – Menschen zwischen den Geschlechtern. Frank- furt a. M.: campus Verlag. 6 Mortimer, R., Thomas, B. J., Kromminga, I. A., Lüth, N., Mbessakwini, E., Sykora, K., 7 Herrn, R., Pei-Mun Tsang, J., Palm, K., Balzer, C., Hornscheidt, A. Bronstering, A., 8 Thaemlitz, T., Rossi, R.; Tolmein, O., Reiter, M., Frietsch, U., Krämer, F., Scheper de 9 Aguirre, K., Ulrike, K. (2005). 1–0–1 Intersex – Das Zwei-Geschlechter-System als Menschenrechtsverletzung. Berlin: Neue Gesellschaft für bildende Kunst. 10 11 Internetverweise 12 13 www.101intersex.de www.dgti.info 14 www.intersex-forschung.de 15 www.netzwerk-is.de 16 www.xy-frauen.de 17 18 Die Autorin 19 20 Sophie Kirchner ist 1984 in Ost-Berlin geboren. Sie studierte Fotografie an der HAW Hamburg, sowie am Maryland Institute College of Art in Baltimore, USA. 2012 absol- 21 vierte sie bei Vincent Kohlbecher und Ute Mahler ihr Diplom mit einer Fotoarbeit über 22 Intersexualität mit dem Titel Grautöne. In ihren Arbeiten befasst sich die Fotografin 23 hauptsächlich mit gesellschaftlichen Themen, sozialen Randgruppen sowie Tabu­ 24 themen. Teile ihrer Arbeiten befinden sich in der permanenten Kollektion des Museum of Contemporary Photography in Chicago. Die Fotografin lebt und arbeitet in Berlin. 25 www.sophiekirchner.com 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 73 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb 2: Kultur- und medien­ pädagogische Zugänge zu Selbstbestimmung

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren 1 in der Kunstvermittlung 2 3 Möglichkeiten zur Verbindung von 4 Antidiskrimierungsarbeit und Ästhetischer Forschung 5 6 Anja Stopp 7 8 9 10 11 Ausgangslage 12 13 Die Akzeptanz von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt ist ein Thema, 14 das in der Bundesrepublik Deutschland erst seit wenigen Jahrzehnten in 15 den Blick gerät. Lange Zeit waren hingegen Ausgrenzung, Bedrohung, Ver- 16 achtung und Bestrafung von geschlechtlichen und sexuellen Minderheiten 17 in Deutschland und der »westlichen Welt« an der Tagesordnung. 18 Eine wichtige Rolle für die Meinungsbildung und den gesellschaftlichen 19 Umgang mit queeren Lebensweisen spielen die Medien. Zumindest in 20 Deutschland und in vielen Teilen Europas gibt es einige positive Beispiele 21 von Medien, die den Rahmen des gesellschaftlich Denkbaren erweitern. 22 Das gilt etwa für Bücher (z. B. Wie wir begehren von Carolin Emcke) sowie 23 Fernsehserien und Filme, in denen queere Personen auftauchen (z. B. The 24 Danish Girl, Transparent oder The L Word – Wenn Frauen Frauen lieben). 25 Darüber hinaus gibt es immer mehr bekannte Sportler_innen, Politi­ 26 ker_innen, Musik- und Filmstars, die sich offen als lesbisch, schwul, bi­ 27 sexuell, trans* und/oder inter* positionieren (z. B. Klaus Wowereit, Thomas 28 ­Hitzlsperger, Jodie Foster, Laura Jane Grace und Conchita Wurst). Dem 29 steht allerdings eine große Gruppe von Menschen gegenüber, die öffent- 30 lich ihre Ablehnung von geschlechtlicher und sexueller Vielfalt zum Aus- 31 druck bringen. Als Beispiel sei an dieser Stelle die Schriftstellerin Sibylle 32 Lewitscharoff genannt, die 2014 in einer Rede mit dem Titel »Von der 33 Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über Geburt und Tod« 34 homosexuelle Elternschaft abwertete und Kinder, die durch künstliche 35 Befruchtung auf die Welt kommen, als »Halbwesen […] [,] zweifelhafte 36 Geschöpfe, halb Mensch, halb künstliches Weißnichtwas« (Lewitscharoff, 37 2014, S. 12f.) bezeichnete. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 77 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 Aktuelle Zahlen zeigen, dass LGBTI-Personen solche und andere De- 2 gradierungen, diskriminierende Tendenzen und Gewaltandrohungen als 3 große Belastung empfinden. Die EU-weite Umfrage der »EU Agency 4 of Fundamental Rights« (FRA, dt.: Agentur der EU für Grundrechte) 5 mit insgesamt 93.079 Befragten aus dem Jahr 2012 illustriert beispiel- 6 haft, mit welchen Ängsten LGBT-Personen leben – die Lebenssituation 7 von intersexuellen Menschen wurde in dieser Umfrage nicht erhoben. 8 Die Ergebnisse zeigen unter anderem, dass sich mehr als 80 % der Um- 9 frageteilnehmenden an negative Bemerkungen oder Mobbing gegenüber 10 jugend ­lichen LGBT-Personen in der Schule erinnern (FRA, 2013, S. 1). 11 47 % aller Befragten haben innerhalb des Jahres vor der Umfrage persön- 12 lich Diskriminierung oder Belästigung aufgrund ihrer sexuellen Ausrich- 13 tung erlebt (ebd.), in Deutschland waren es 46 % (ebd., S. 26). Über ein 14 Viertel (26 %) aller Befragten wurden in den letzten fünf Jahren vor der 15 Befragung Opfer von Angriffen oder Drohungen (: 34 %), 16 bezogen auf die letzten zwölf Monate waren es 10 % (Transgender: 15 %) 17 (ebd., S. 56). 18 Mit Blick auf weitere statistische Daten und Erfahrungsberichte lässt 19 sich feststellen, dass LGBTI-Personen einige Belastungen ertragen müssen, 20 die heterosexuellen Menschen fremd sind. Vielen fällt es schwer, in Schule, 21 Beruf und Öffentlichkeit offen zu ihrer Identität zu stehen, weil sie Ableh- 22 nung und Benachteiligung befürchten. Aus diesem Grund sollte sich die 23 Politik intensiver für die Gleichberechtigung und den Schutz von LGBTI- 24 Menschen einsetzen. 25 Der Grundstein für eine offenere Gesellschaft wird in der pädagogischen 26 Praxis gelegt, insbesondere in der Schule als bedeutende Sozialisations­ 27 instanz. Hier sollte ein wertschätzender Umgang mit vielfältigen Lebens- 28 konzepten gefördert werden. Doch der Weg dahin ist noch sehr lang, da 29 das Schulsystem an vielen Stellen sehr rückständig erscheint: Im Unterricht 30 werden tradiertes und veraltetes heteronormatives Wissen, die Dualität von 31 Norm und Abweichung, Entweder-oder-Ansichten und die Dichotomie 32 von gleich- und andersgeschlechtlichen Lebensweisen vermittelt (Hart- 33 mann, 2014, S. 104f.). In den seltenen Fällen, in denen in der Schule über 34 Homo- oder Bisexualität gesprochen wird, werden diese Existenzweisen 35 nicht als Selbstverständlichkeit, sondern als Abweichung, die zusätzlich 36 zum »Normalen« besteht, dargestellt (ebd., S. 105). 37 Auch die verwendeten Unterrichtsmaterialien spiegeln selten die He- 38 terogenität der aktuellen Gesellschaft wieder. In einer Untersuchung von

78 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

Melanie Bittner aus dem Jahr 2012 (Bittner, 2012) wurden Schulmate- 1 rialien auf geschlechtliche und sexuelle Vielfalt hin untersucht. Bittners 2 Recherche ergab, dass es in Schulbüchern zwar keine direkte Abwertung 3 von Lebensweisen gebe, die nicht der heterosexuellen Norm entsprechen, 4 dass jedoch die Unterrichtsvorlagen klar heteronormativ ausgerichtet seien 5 (Hartmann, 2014, S. 103). So zeigten die Menschen in Schulbüchern und 6 Unterrichtsmaterialien oft ein stereotypes Aussehen, Homo- oder Bisexu- 7 alität würden kaum, Trans- oder Intersexualität nie thematisiert. Durch 8 die heteronormativ geprägte Darstellung von Sexualität erhielten Schü- 9 ler_innen ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit, in dem sich einige nicht 10 wiederfinden könnten (ebd., S. 103f.). Schulbücher und Unterrichtsmateri- 11 alien bilden die Grundlage für den Schulunterricht und sind somit prägend 12 für die Ausbildung von Wertvorstellungen der Heranwachsenden. Dadurch 13 aber, dass sie die aktuelle Realität nicht berücksichtigen und nicht auf dem 14 neusten wissenschaftlichen Stand sind, tragen sie dazu bei, Gleichstellung 15 zu verhindern und normative Eingrenzungen und Auslassungen zu fördern 16 (ebd., S. 104). 17 Pläne zu einer Reform des Bildungsplans hinsichtlich der Vermittlung 18 vielfältiger Lebensweisen lösten vorwiegend in den konservativen Bundes­ 19 ländern Deutschlands Angst vor einer »Pornografisierung des Unter- 20 richts« (Welt.de, 2014) und vereinzelte Proteste aus. Wenn es so schwierig 21 ist, die starren Strukturen des Schulsystems zu lockern, auf welchem Weg 22 können sonst Wertschätzung und Gleichberechtigung von queeren Lebens- 23 entwürfen unterstützt werden? 24 Im Folgenden werden zwei methodische Ansätze vorgestellt und ver- 25 glichen, die zur Förderung der Akzeptanz von Vielfalt und ihrer gleichbe- 26 rechtigten Thematisierung im Unterricht verwendet werden können. Zum 27 einen ist dies die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen von Jutta Hartmann 28 und zum anderen die in der Kunstvermittlung angewandte Methode der 29 Ästhetischen Forschung nach Helga Kämpf-Jansen. Der Fokus liegt auf der 30 Frage, wie sich diese beiden Konzepte kombinieren lassen, also wie künstle- 31 rische Projekte eine Wertschätzung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt 32 befördern können. 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 79 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 Auseinandersetzung mit den Themen 2 »Geschlecht und Begehren« im Rahmen 3 der Kunstvermittlung 4 5 Zur Pädagogik Vielfältiger Lebensweisen 6 7 Als Grundlage für die Entwicklung der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 8 hat Jutta Hartmann verschiedene Diskursstränge der 1990er Jahre unter- 9 sucht, in denen mindestens zwei der Kategorien Geschlecht, Sexualität und 10 Lebensweise kritisch bearbeitet werden (Hartmann, 2002, S. 180f.). Zur 11 weiterführenden Analyse wählte sie Diskursfragmente aus drei Ansätzen 12 kritischer Pädagogik aus: Die Pädagogik der Vielfalt, die lesbisch-schwule 13 Pädagogik und die Pädagogik der Berufs- und Lebensplanung. (Hartmann, 14 2002, S. 185). 15 Den drei Diskurssträngen ist gemein, dass sie gesellschaftlich-soziale 16 Ungleichheiten thematisieren, Differenzen anerkennen, Ungleichheiten 17 kritisch hinterfragen und versuchen, Hierarchien und Zwänge aufzulösen 18 (ebd., S. 195). Vielfalt ist in den drei Ansätzen ein zentraler Begriff. So be- 19 zieht sich »Vielfalt« in der Pädagogik der Vielfalt auf unterschiedliche 20 Kate ­gorien. Die lesbisch-schwule Pädagogik betrachtet die Vielfalt les­ 21 bischer und schwuler Existenzweisen als Teil der umfassenden Vielfalt an 22 Lebensweisen und die Pädagogik der Berufs- und Lebensplanung schließ- 23 lich strebt eine Vervielfältigung der beruflichen und familienplanerischen 24 Möglichkeiten für Mädchen und Jungen an (ebd.). 25 In allen drei Ansätzen entdeckte Jutta Hartmann allerdings die Tendenz 26 zur Begrenzung von Vielfalt durch den unreflektierten Umgang mit nor- 27 mativen Grundannahmen für die Kategorien Geschlecht, Sexualität und 28 Lebensweise. Die Diskursstränge neigten, laut Hartmann, zur Dualisierung, 29 Naturalisierung und Vereindeutigung. Die heterosexuelle Zweigeschlecht- 30 lichkeit gilt als zugrunde liegendes Organisationsprinzip »im Sinne einer 31 biologisch-anatomischen Basis zweier distinkter Geschlechter« (ebd., 32 S. 261f.). Dadurch erscheint Vielfalt nur als zusätzliche Option, nicht als 33 Ausgangspunkt. Der »Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit, Dynamik 34 und Temporalität der Identitäten« (ebd., S. 263), den »Machtverhältnissen 35 und Interessenskonflikten in und zwischen den homogenisierten Gruppen« 36 (ebd., S. 263f.) sowie den »Veränderungspotentialen und -realitäten« (ebd., 37 S. 264) würden die untersuchten Ansätze, Hartmann folgend, nicht gerecht. 38 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen von Jutta Hartmann setzt an

80 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung dieser Stelle an. Sie kann also als Weiterentwicklung der Ansätze kritischer 1 Pädagogik verstanden werden, die Lücken und Widersprüche ausgleicht, 2 indem sie bisherige Annahmen zu der Triade von Geschlecht, Sexualität 3 und Lebensweise nicht unreflektiert verwendet und das eigene Denken 4 »auf normativ begrenzende Mechanismen« (ebd., S. 266) überprüft. 5 Bei der Entwicklung des Begriffs vielfältige Lebensweisen orientiert sich 6 Hartmann an Erkenntnissen unter anderem von Michel Foucault, Jacques 7 Derrida, Judith Butler und Andrea Maihofer und versucht diese für die 8 Pädagogik und Erziehungswissenschaft nutzbar zu machen. Hartmanns 9 Ansatz ist ein Versuch, hegemoniale Vorgaben in den Feldern Geschlecht, 10 Sexualität und Lebensweise zu delegitimieren und durch Methoden der kri- 11 tischen Pädagogik zu dynamisieren (Hartmann, 2007, S. 96). Sie schlägt vor, 12 »mit dem Begriff ›vielfältige Lebensweisen‹ darüber hinaus verstärkt auch 13 die offene Dynamik, Uneindeutigkeiten, Schattierungen, widersprüch­ 14 lichen Gleichzeitigkeiten und fließenden Übergänge innerhalb einzelner 15 Lebensformen und -läufe zu berücksichtigen« (Hartmann, 2002, S. 36). 16 In der Verwendung des Begriffes Lebensweise (anstatt Lebensform) 17 sieht sie die Verbindung von Fragen zu Strukturen von Lebensformen mit 18 denen zu geschlechtlichen und sexuellen Existenzweisen, um Geschlecht 19 und Sexualität nicht mehr als feststehende eindeutige Größen, sondern als 20 dynamische gesellschaftlich-kulturelle Diskurse zu verstehen (ebd., S. 118). 21 Hartmann folgert: »Fragen zur Gestaltung des eigenen Lebens werden 22 damit auch zu Fragen des geschlechtlichen und sexuellen Selbstverständ- 23 nisses, die vor dem Hintergrund historisch-gesellschaftlicher Veränderun- 24 gen und kultureller Gegebenheiten reflektiert werden können« (ebd.). Der 25 Begriff derLebensweise steht darüber hinaus mit dem Prinzip der différance 26 im Sinne der Dekonstruktion nach Derrida in Verbindung und greift die 27 Dynamik und das Veränderungspotenzial im Feld zwischen den vorherr- 28 schenden Dualitäten auf (ebd., S. 119). Jutta Hartmann fasst zusammen: 29 »Mit dem Begriffvielfältige Lebensweisen verbinde ich die aktuelle Debatte 30 zur Pluralisierung von Lebensformen mit einem dekonstruktiven Verständ- 31 nis geschlechtlicher und sexueller Existenzweisen. Dabei betone ich die 32 dynamisierenden Momente – Momente also, die vorherrschende Grenzen 33 und Normalitätsvorstellungen in Bewegung bringen« (Hartmann, 2013, 34 S. 7, Hervorh. i. O.). In der durch den gesellschaftlichen Wandelb ­ edingten 35 Dyna ­misierung sieht Hartmann keinen Verlust und keine Bedrohung, 36 ­sondern eine herausfordernde Chance und eine Erweiterung von Hand- 37 lungsmöglichkeiten (ebd., 2004, S. 19). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 81 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 Jutta Hartmanns Entwurf motiviert dazu, eindeutig historisch be- 2 stimmte Geschlechtsmerkmale und die Verbindung von Körper, Gefühl 3 und Erleben nicht unreflektiert anzunehmen (ebd., 2002, S. 120f.) Der 4 Ansatz beabsichtigt, Wertschätzung gegenüber Vielfalt nicht nur im Sinne 5 von Respekt zu fördern, sondern auch als »Freude an der Vielfalt« (ebd., 6 S. 121) und als »Gefühl der Lebendigkeit« (ebd.) durch die »eigene[ ] 7 Verortung mitten in dem Verschiedenen« (ebd.). Mit den Worten Theo- 8 dor W. Adornos gesprochen: Ziel der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 9 ist eine Gesellschaft, in der »man ohne Angst verschieden sein kann« 10 (Adorno, 1951, S. 185). 11 12 13 Handlungsempfehlungen zur Umsetzung 14 der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 15 16 Zu Erreichung der Ziele einer Pädagogik vielfältiger Lebensweisen hat Jutta 17 Hartmann konkrete Handlungsempfehlungen entwickelt. Diesen sind fol- 18 gende Grundvoraussetzungen vorangestellt: 19 20 Selbstreflexion 21 Die Person, die im Sinne der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen handeln 22 möchte, sollte sich zunächst mit sich selbst, der eigenen Geschlechtsiden- 23 tität und der persönlichen Lebensweise auseinandersetzten sowie die eigene 24 Lebensgestaltung und gegebenenfalls eingeschränktes Denken reflektieren 25 und hinterfragen (Hartmann, 2002, S. 39). 26 27 Schutzräume schaffen 28 Grundlage des pädagogischen Ansatzes ist es, sich für den Schutz queerer 29 Menschen, insbesondere Kinder und Jugendlicher, einzusetzen und bei 30 Übergriffen zu intervenieren (Hartmann, 2013, S. 7). Es sollten ein Klima 31 der Wertschätzung gegenüber vielfältigen Lebensweisen und inklusive 32 ­Settings geschaffen werden (ebd.). 33 34 Anregung zum Perspektivenwechsel 35 Die pädagogische Arbeit sollte einen Perspektivenwechsel anregen, der 36 sich von einer identitätszentrierten Orientierung an Identitätssuche und 37 - ­stärkung distanziert. Stattdessen sollen bei »einer Auseinandersetzung mit 38 dem konstruierten Charakter von Identitäten und […] einer Ausarbeitung

82 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung und Gestaltung der eigenen Identität, die bisherige Grenzen befragt [und] 1 aus[ge]dehnt« werden (Hartmann, 2013, S. 7). 2 3 Gesellschaftliche Machtverhältnisse mitdenken 4 Die Auseinandersetzung mit vielfältigen Lebensweisen sollte die Reflexion 5 der gesellschaftlichen Machtverhältnisse und Norm(alis)ierungsbestrebun- 6 gen beinhalten (ebd., S. 7). Weiterhin sollten die Vorzüge des Dynamischen 7 und die »wechselnden Schattierungen« (ebd.) vielfältiger Lebensweisen 8 erkundet werden. 9 10 Offenheit und Unterstützung 11 Personen, die im Sinne der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen handeln, 12 sollten stets darum bemüht sein, die Herausbildung eines geschlechtlichen 13 und sexuellen Selbstverständnisses zu unterstützen, das die eigene Prozess­ 14 haftigkeit anerkennt und offen für andere Existenz- und Lebensweisen 15 bleibt (ebd.). 16 17 Nur, wenn eine Ausgangslage geschaffen ist, die oben genannte Vorausset- 18 zungen erfüllt, könnten die folgenden, ebenfalls von Jutta Hartmann ent- 19 wickelten, Handlungsempfehlungen für eine Pädagogik vielfältiger Lebens- 20 weisen erfolgreich umgesetzt werden: 21 22 Irritation von Selbstverständlichkeiten 23 Vorherrschende Sehgewohnheiten und Gewissheiten zu irritieren, ist 24 ein zentraler Bestandteil dekonstruktiver Perspektiven (ebd.). Dadurch 25 können die Erweiterung des Denkbaren sowie die Entdeckung des Aus- 26 geschlossenen und des Raumes zwischen Dualitäten ermöglicht werden 27 (ebd.). Zuschreibungen wie lesbisch, schwul oder hetero sollen nicht 28 gänzlich vermieden werden, da sie politisch notwendig sind. Doch die 29 Bezeichnungen sollten beweglich bleiben und die Selbstverständlichkeit 30 der dahinter stehenden Identitäten muss hinterfragt werden (Hartmann, 31 2002, S. 38). Auch uneindeutige Geschlechtsidentiäten und veränderliche 32 Sexualitäten sollten thematisiert werden, ohne diese zu problematisieren 33 (Hartmann, 2013, S. 4). So können »TransRäume« (ebd.) als »offene 34 Geschlechterräume« (ebd.) eröffnet werden, »in denen Bedeutungen 35 und Begegnungen quer zu eindeutigen Repräsentationen, Inszenierungen 36 und Selbstverständnissen möglich werden« (ebd.). Es soll außerdem ver- 37 mittelt werden, dass das sexuelle Begehren und die Lebensweise mancher 38

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1 Menschen wandelbarer sind als die anderer, was mitunter auch vom so- 2 zialen und historischen Kontext abhängt (Hartmann, 2004, S. 24). So ist 3 es beispielsweise möglich, dass ein Mann in seiner Pubertät homosexuelle 4 Fantasien entwickelt, die er in der familiär-schulischen Umgebung als Be- 5 drohung empfindet und die er aus diesem Grund abwehrt. Dem gleichen 6 Mann allerdings können während seiner Studienzeit alternative Werthal- 7 tungen und Verhaltensoptionen begegnen, die ihn dazu ermutigen, sein 8 Begehren zu leben (ebd., S. 23). Daraus lässt sich folgern, dass genauso wie 9 die Biografie eines Menschen auch seine Sexualität wandelbar und nicht 10 gleichbleibend ist (FRA, 2014, S. 24). 11 12 Sensibilisierung für Differenzen 13 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen regt dazu an, für Differenzen 14 zwischen Geschlechtern und Sexualitäten sowie für das Verschwimmen 15 der Geschlechter- und Sexualitätsgrenzen zu sensibilisieren (Hartmann, 16 2013, S. 7). Als methodisches Beispiel hierfür nennt Jutta Hartmann eine 17 Bildergalerie mit Porträtfotografien, auf denen Menschen unterschiedli- 18 cher geschlechtlicher Inszenierungen zu sehen sind. Darunter gibt es auch 19 Porträts, die nicht eindeutig einem Geschlecht zuordenbar sind. Dadurch 20 erfährt die/der Betrachter_in eine Irritation der gegebenen Vorstellungen 21 vom Frau- oder Mannsein (ebd., S. 8). Die Thematisierung von Existenz- 22 weisen und Inszenierungen, die nicht in vorherrschende Kategorien passen, 23 kann mehr Aufmerksamkeit für grenzüberschreitende Interaktionen und 24 Entwürfe erzeugen, dynamische Erfahrungsräume eröffnen und schließlich 25 einen Beitrag dazu leisten, die Annahme zur Binarität der Geschlechter 26 aufzulösen (ebd.). 27 28 Vielfalt von der Vielfalt aus denken 29 Vielfalt sollte als Ausgangspunkt aller pädagogischen Interventionen 30 gelten. Dies schließt ein, dass allen vorzufindenden Existenz- und Lebens- 31 weisen in ihrer Komplexität und unabhängig von ihrem quantitativen 32 Vorkommen Wertschätzung entgegengebracht wird (Hartmann, 2002, 33 S. 270). Wie auch in der interkulturellen und antirassistischen Pädagogik 34 sollte Offenheit für sich neu entwickelnde Lebensweisen vermittelt werden 35 (ebd.). Einseitige normierende Maßstäbe sollten infrage gestellt und Kate­ 36 goriegrenzen verflüssigt werden (ebd.). Ein zusätzliches Thematisieren von 37 Lebensweisen, die nicht der herrschenden Norm entsprechen, sollte ver- 38 mieden werden, da dies zur Reproduktion von Norm und Abweichung,

84 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

Allgemeinem und Besonderem führt (Hartmann, 2013, S. 8). Stattdessen 1 sollten stets die vielfältige gesellschaftliche Realität als Selbstverständlich- 2 keit abgebildet und dabei die hegemonialen Grundstrukturen hinterfragt 3 werden (Hartmann, 2002, S. 270; 1998, S. 37). Die Pädagogik vielfältiger 4 Lebensweisen schafft ein Bewusstsein dafür, dass jeder einzelne Mensch 5 sowohl Teil einer umfassenden Vielfalt als auch in sich selbst vielfältig ist. 6 Dabei bestehen gleichermaßen Differenzen und Diskontinuitäten inner- 7 halb eines Menschen wie auch innerhalb einer vermeintlich homogenen 8 Gruppe (Hartmann, 2002, S. 271). Zu beachten ist weiterhin, dass es nicht 9 ausreicht, das pädagogische Geschlechterkonzept von einer Bipolarität hin 10 zu einer Bipluralität, die von vielfältigen Weiblichkeiten und Männlich­ 11 keiten ausgeht, zu verschieben, da dieser Ansatz Geschlechterkonzepte aus- 12 blendet, die dazwischen angesiedelt sind und somit erneut eine Dualität 13 reproduziert (Hartmann, 2013, S. 3). Vielfalt von der Vielfalt aus zu denken 14 beinhaltet stattdessen die Auflösung sämtlicher Dichotomien. 15 16 Entwicklung einer kritischen Haltung 17 Vielfalt lediglich zu benennen, genügt nicht, »um bestehende Macht- und 18 Herrschaftsverhältnisse bewusst zu machen und an deren Verschiebung 19 bzw. Abbau zu arbeiten« (ebd., S. 8). Es ist darüber hinaus notwendig, eine 20 kritische Haltung zu schulen und die gesellschaftspolitische Wahrnehmung 21 zu sensibilisieren (ebd.). Für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen 22 eignet sich hierfür beispielsweise die Lektüre von kurzen Geschichten, die 23 Fragen nach sozialen Erwartungen und Normen aufwerfen. Anschließend 24 kann gemeinsam darüber diskutiert und der Frage nachgegangen werden, 25 wer eigentlich darüber bestimmt, was richtig, normal oder schön ist und 26 was nicht (ebd.). Jutta Hartmann zufolge sollen Bildungsprozesse Kinder 27 und Jugendliche dazu befähigen, ihr gesamtes Leben reflektiert zu gestalten 28 (Hartmann, 1998, S. 39). Die Auseinandersetzung soll dabei die Lebens- 29 bereiche Beziehung, Sexualität, Arbeit, Kinder, Freizeit, Politik und deren 30 geschlechtsbezogene Implikationen einschließen. Vielfältige Lebensweisen 31 sollen also nicht nur in der Sexualpädagogik, sondern fächerübergreifend 32 als Abbild gesellschaftlicher Realität besprochen werden (ebd.). Die Päda- 33 gogik vielfältiger Lebensweisen zielt auf eine kritische Reflexion der sozi- 34 alen und gesellschaftlichen Realität ab, die neue Denk- und Handlungs- 35 potenziale hervorruft (Hartmann, 2002, S. 273). Durch die Methode der 36 Dekonstruktion kann immer wieder nach Ausgeschlossenem, Verschwie- 37 genem und Verdrängtem gesucht werden (Hartmann, 2004, S. 22; 1998, 38

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1 S. 36). So soll insbesondere die kausale Verbindung zwischen biologischem 2 Geschlecht (sex), kulturell-sozialem Geschlecht (gender) und Begehren 3 (desire) hinterfragt werden (Hartmann, 2004, S. 20; 1998, S. 3). 4 5 Alltägliche Konstruktionsweisen von Geschlecht und Sexualität 6 zum Gegenstand pädagogischer Auseinandersetzung machen 7 Michel Foucault geht davon aus, dass die Wirkkraft von Macht durch die 8 Analyse und das Erkennen ihrer Konstruktionsmechanismen zerstört 9 werden kann (Hartmann, 2013, S. 3). Die Pädagogik vielfältiger Lebenswei- 10 sen setzt diesen Gedanken um, indem sie empfiehlt, Herstellungsprozesse 11 der gesellschaftlichen Strukturkategorien Geschlecht, Sexualität und Le- 12 bensweise altersgerecht zu erörtern (ebd., S. 8). Aus der kritischen Auseinan- 13 dersetzung mit der Entstehung vorherrschender Grenzen dieser Kategorien 14 können deren Verschiebung sowie die Auflösung von Hierarchien, das Er- 15 kennen von Ausgeschlossenem und das Zulassen von Uneindeutigkeit und 16 Wandelbarkeit hervorgehen (Hartmann, 2002, S. 273f.; 2013, S. 3). Dabei 17 nimmt das Hinterfragen eigener normativer Annahmen stets eine zentrale 18 Rolle ein (Hartmann, 2002, S. 273). Eine geeignete Methode zur Analyse 19 von Kon­struktionsmechanismen ist die Beschäftigung mit der historischen 20 Herstellung von bestimmten Identitäten anhand dazugehöriger Bilder, 21 Alltags ­theorien und wissenschaftlicher Erklärungsmodelle aus bestimmten 22 (vergangenen) Zeiten und an spezifischen kulturellen Orten. Jutta Hartmann 23 beschreibt den Nutzen dieser Methode folgendermaßen: »Lebensformen 24 und Identitäten werden so erkennbar als von Menschen in bestimmten Kul- 25 turen, zu bestimmten historischen Zeiten, unter bestimmten Bedingungen, 26 in bestimmter Weise, selbst hergestellte und eben nicht als von Natur aus ge- 27 gebene oder vom Schicksal vorherbestimmte« (Hartmann, 1998, S. 38). Für 28 die analytische Auseinandersetzung bieten sich im Besonderen authentische 29 Materialien wie biografische Literatur oder Interviews an (ebd.). Durch die 30 Untersuchung von Lebensläufen anderer Menschen werden die Dynamik, 31 Veränderbarkeit und Prozesshaftigkeit von Identitäten deutlich. Die Analyse 32 zeigt, dass es in jedem Leben einen Wechsel zwischen problematischen und 33 glücklichen Zeiten sowie Brüche und Ungereimtheiten gibt, dass aber kein 34 Leben konstant und unveränderlich ist (ebd.). In Interviews mit M­ enschen, 35 die ein Leben »quer zur Norm« führen, können Fragen zu Schlüsselerleb- 36 nissen, die Veränderungen hinsichtlich der geschlechtlichen oder sexuellen 37 Identität bewirkt haben, gestellt werden. Durch unterschiedliche Erklä- 38 rungsansätze für gleiche Lebenskategorien wird die Vielfalt innerhalb von

86 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

Kategorien deutlich (ebd., S. 39). Es können aber auch Ausgangsmaterialien 1 verwendet werden, die die geltende Norm vertreten, denn auch diese können 2 der Dekonstruktion zugänglich gemacht werden (Hartmann, 2013, S. 9). 3 Hartmann bemerkt hierzu: »Einen macht- und normfreien Zugang kann es 4 nicht geben, wohl aber einen, der Macht und Normativität kritisch reflek- 5 tiert und bearbeitbar macht« (ebd.). 6 7 8 Herausforderungen der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 9 für die Praxis 10 11 Die fünf soeben erläuterten Handlungsempfehlungen bringen gewisse Her- 12 ausforderungen für die pädagogische Praxis mit sich. Die Pädagogik vielfäl- 13 tiger Lebensweisen versucht, Eindeutigkeiten aufzulösen und Spielräume 14 zu eröffnen. In der Nutzung dieses Ansatzes besteht deshalb die Gefahr, 15 Ungewissheit und Denormalisierungsängste bei denjenigen auszulösen, die 16 eigene Sicherheit bisher ausschließlich in einer genormten und vordefinier- 17 ten Gesellschaft fanden (Hartmann, 2002, S. 172). Diese Beunruhigung 18 kann jedoch durch die vielfältigen »Selbstverortungs-, Bewegungs- und 19 Ausdrucksmöglichkeiten« (ebd.) ausgeglichen werden. Die Methode ist 20 somit manchmal lustvoll und anregend, manchmal aber auch beängstigend, 21 verunsichernd, anstrengend oder schmerzvoll. Wichtig ist, dass eventuell 22 auftauchende Ängste der Teilnehmenden von den Pädagog_innen ernst ge- 23 nommen werden. Ängste können als ein Signal und eine Hürde vor dem 24 Erreichen eines Wachstums betrachtet werden. (ebd.) Die Unsicherheiten 25 können positiv besetzt werden. Durch einen lustvoll-kreativen und spieleri- 26 schen Umgang damit können Neugier und Freude gefördert werden (ebd.). 27 Wie junge Menschen ihre Lebensentwürfe entwickeln, hängt von sozi- 28 alen und ökonomischen Ressourcen sowie von ihren bisherigen zwischen- 29 menschlichen und biografischen Erfahrungen und den darauf basierenden 30 Bedürfnissen, Ängsten und Konfliktpotenzialen ab (ebd., S. 173). Aber 31 auch Angebote, die sie über unterschiedliche Diskurse erhalten, haben eine 32 bedeutende Auswirkung. Ein Ziel der Pädagogik vielfältiger Lebensweise 33 ist es dementsprechend, eine freiheitlich-bewusste Gestaltung des späteren 34 Lebens zu unterstützen (ebd.). 35 Zur Förderung von Gemeinschafts-, Konflikt- und Kommunikations­ 36 fähigkeiten sieht der Ansatz verschiedene pädagogische Gruppenpro- 37 zesse vor, innerhalb derer gleichberechtigt abgestimmt, verhandelt und 38

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1 verschiedene Ansichten ausbalanciert werden müssen (ebd., S. 174). Die 2 pädagogischen Betreuer_innen werden dabei mitunter zu prägenden 3 Orientierungspersonen für die Adressat_innen und können biografische 4 Schlüsselerlebnisse setzen. 5 Bei der Anwendung von Handlungsempfehlungen der Pädagogik viel- 6 fältiger Lebensweisen in Bildungsprojekten oder im Schulalltag gilt es 7 außer ­dem Folgendes zu beachten: Die Vorstellung von der Notwendigkeit 8 einer eindeutigen Identität sollte aufgelöst werden. Der Fokus sollte auf den 9 Möglichkeiten der Verflüssigung in den Kategorien Geschlecht, Sexualität 10 und Lebensweise sowie auf der Wertschätzung von Vielfalt liegen (ebd., 11 S. 174f.). Die Arbeit mit Beispielen, die gegen die Norm laufen, ist zu emp- 12 fehlen. Diese wecken zum einen Neugier und zum anderen fungieren sie als 13 Vorlagen »für erweiterte Inszenierungen und grenzüberschreitende Inter- 14 aktionen« (ebd., S. 175) in Bezug auf die eigene Identität. 15 Die Anwendung der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen sollte des Wei- 16 teren mit vielfältigen Methoden umgesetzt werden. Dabei ist zu betonen, 17 dass der bloße kognitive Zugang durch die Vermittlung von Wissen und 18 die Reflexion darüber oftmals nicht ausreichend sind, um bei den Rezipi- 19 ent_innen eine nachhaltige Erkenntnis auszulösen (vgl. ebd.). Empfehlens­ 20 wert ist es von daher, verschiedene Konstitutionsebenen anzusprechen und 21 kreativ- ­spielerische Zugänge anzubieten. So kann beispielsweise die Ausein- 22 andersetzung mit Wünschen, Fantasien und Utopien jenseits der Realität 23 »innerpsychische […] Räume potentieller Realisierung« (ebd.) schaffen. 24 Die Arbeit mit der eigenen Biografie kann dazu führen, dass sich festge- 25 fahrene Muster und Verhärtungen verflüssigen und Potenziale zu Pluralität 26 entwickelt werden (ebd.). Eine besonders wirksame Variante zur Ausein- 27 andersetzung mit den Kategorien Geschlecht, Sexualität und Lebensweise 28 bieten »Zugänge auf sinnlich-symbolischer Ebene« (ebd.). So kann der 29 Umgang mit Paradoxien, Irritationen usw. auch in theater- oder kunstpäd- 30 agogische Arbeitsweisen, wie der im Folgenden vorgestellten Ästhetischen 31 Forschung, eingebettet werden (vgl. ebd.). 32 33 34 Zur Ästhetischen Forschung 35 36 Das Konzept der Ästhetischen Forschung wurde von der Kunstpädagogin, 37 Wissenschaftlerin und Künstlerin Helga Kämpf-Jansen (1939–2011) ent- 38 wickelt. Die Methodik, die vorrangig in kulturellen Bildungsprojekten

88 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

­Anwendung findet, stellt eine kreative Abwechslung zum oftmals starren 1 und durch Regeln bestimmten Schulalltag dar. Sie basiert unter anderem 2 auf Offenheit, Vielfalt, Individualität, Partizipation und Lebensweltbezug. 3 Die Themen, die mittels der Ästhetischen Forschung bearbeitet werden, 4 wählen die Teilnehmenden den eigenen Interessen entsprechend meist 5 selbst aus. Dadurch handelt es sich vorrangig um sehr aktuelle Themen. Da 6 die Pluralisierung von Lebensentwürfen ebenfalls von hoher Aktualität ist, 7 bietet sich die Auseinandersetzung mit dieser Thematik im Rahmen der 8 Ästhetischen Forschung sehr gut an. Eine Verbindung der Pädagogik viel- 9 fältiger Lebensweisen mit dieser Methode erweist sich zudem als sinnvoll, 10 da beide Ansätze die Diversität des Lebens mitdenken und einen wertschät- 11 zenden Umgang mit Vielfalt pflegen. 12 Nachfolgend wird die Methodik der Ästhetischen Forschung in knapper 13 Form vorgestellt, um daran anschließend die Vereinbarkeit der Pädagogik 14 vielfältiger Lebensweisen mit der Ästhetischen Forschung zu untersuchen. 15 Die Ästhetische Forschung wird definiert als ein Prozess, »in dem sich 16 unterschiedliche Formen der Herangehensweisen und Bearbeitungen in 17 ästhetischen Bereichen miteinander verknüpfen« (Kämpf-Jansen, 2012, 18 S. 19). Für die Fragestellung, die in diesem Prozess bearbeitet werden soll, 19 gibt es keine Einschränkungen. So kann es sich darin beispielsweise um eine 20 konkrete Frage handeln, aber auch um einen Gedanken, eine Befindlich- 21 keit, einen Gegenstand, eine Pflanze, ein Tier, ein Phänomen, ein Werk, 22 eine fiktive oder authentische Person, eine künstlerische Arbeit, eine Ge­ 23 gebenheit, einen literarischen Text, einen Begriff, ein Sprichwort oder einen 24 komplexen Inhalt (ebd., S. 19, 274). Da der Weg hin zu einer Fragestellung 25 bereits zum Prozess der Ästhetischen Forschung dazugehört, sollten keine 26 konkreten Fragen vorgegeben oder spezifischen Ziele formuliert werden. 27 Stattdessen kann die Aufmerksamkeit der Projektteilnehmenden geweckt 28 werden; es gilt, diese zu unbekannten und experimentellen Vorg­ehens­ 29 weisen zu motivieren und den Ausdruck ihrer subjektiven Sichtweisen zu 30 provozieren (Blohm & Heil, 2012, S. 10). Ebenso kann die Frage anhand 31 einer Inspiration, wie zum Beispiel einem Foto oder einer künstlerischen 32 Arbeit, entwickelt werden. Wichtig ist, dass jede Teilnehmerin und jeder 33 Teilnehmer für sich eine persönliche Frage, ein Interesse, eine Idee oder 34 einen Wunsch entdeckt. Denn damit hat jede_r Einzelne einen »Motor 35 und Motivation, etwas für sich zu erarbeiten, um es auch für andere sicht- 36 bar und erfahrbar zu machen« (Kämpf-Jansen, 2012, S. 274). Die Auf­ 37 gaben ­stellung sollte also so offen sein, dass alle zukünftigen Forscher_innen 38

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1 einen individuellen Sinn und Reiz darin finden können. Dadurch ist der 2 Motivationsgrad im Projekt weitaus höher als bei den meisten Arbeits- 3 zusammenhängen in Schule, Hochschule oder Beruf. Es sollte außerdem 4 darauf geachtet werden, dass die Teilnehmenden nicht durch Anweisungen 5 eingeengt werden. Es gibt lediglich eine Rahmung durch die Vorgabe von 6 Institutionen, Zeiten und Orten, welche im Forschungsprozess eine Rolle 7 spielen (Blohm & Heil, 2012, S. 10). 8 Für den Verlauf des ästhetischen Forschungsprojektes gibt es keine kon- 9 kreten Vorgaben. Die Vorgehensweisen sind nicht additiv, sondern in be- 10 sonderer Weise vernetzt und bedingen einander (Kämpf-Jansen, 2012, 19, 11 S. 274). Dabei werden sowohl wissenschaftliche Methoden als auch Ver- 12 fahren aus dem Alltag und der (Gegenwarts-)Kunst verwendet (Blohm & 13 Heil, 2012, S. 6ff.). Durch die Vernetzung der drei Bezugsfelder Alltag, 14 Wissenschaft und Kunst entsteht eine besonders reichhaltige Auswahl an 15 Methoden, Verfahren und Strategien, die eine produktive Arbeitsweise 16 begünstigen (Kämpf-Jansen, 2012, S. 275). Im Folgenden werden die drei 17 Forschungsfelder kurz umrissen. 18 19 Bezugsfeld Alltag 20 Zu dem Forschungsfeld Alltag gehören alle Handlungs- und Erkenntnis­ 21 weisen, die aus alltäglichen Situationen bekannt sind. Einerseits wird 22 im Alltag entdeckend mit Dingen und Phänomenen umgegangen, was 23 verbunden ist mit Neugier, Nachforschen, Hinterfragen oder Staunen 24 (ebd., S. 20, S. 275). Andererseits ist auch der handelnde Umgang im 25 Alltag verankert, wozu das Sammeln, Ordnen, Arrangieren und Präsen- 26 tieren der Dinge gehört, die man selbst als schön oder wichtig betrachtet 27 (ebd., S. 20, S. 275). Quellen aus dem Alltag, die für die Forschungspro- 28 jekte von Nutzen sein können, sind beispielsweise Bilder, Gegenstände, 29 Sammlungen, Biografisches, Wissen aus der eigenen Familiengeschichte, 30 Fotoalben, Tagebücher oder Internetblogs (Blohm & Heil, 2012, S. 9). 31 Ein wesentlicher Bestandteil der Ästhetischen Forschung ist es, Alltäg- 32 lichkeiten zu hinterfragen. Besonders in Hinsicht auf geschlechtliche 33 Konnotationen bestimmter Gegenstände lohnt sich die Erforschung der 34 »Dinge in den ästhetischen Umwelten von Mädchen und Jungen […], da 35 gerade sie ästhetisches Verhalten, Sichtweisen und Wertvorstellungen prä- 36 formieren« (Kämpf-Jansen, 2012, S. 35). Nicht nur unter diesem Aspekt 37 ist auch die Rückbesinnung auf Dinge und Erlebnisse aus der eigenen 38 Kindheit interessant.

90 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

Bezugsfeld Wissenschaft 1 Ausgangspunkt einer wissenschaftlichen Annäherung ist die mit Neugier 2 und persönlichem Interesse aufgeladene Fragestellung der Projektteilneh- 3 merin / des Projektteilnehmers. Gemäß dieser sollte eine Ausgangshypo- 4 these gefunden werden, um den Forschungsprozess zu planen und zu struk- 5 turieren (ebd., S. 133). Außerdem sollte man sich mit Forschungsmethoden 6 wie dem Interview, dem Experiment, der Messung, der Dokumentation 7 oder der Literaturanalyse vertraut machen, um eine oder mehrere geeignete 8 wissenschaftliche Herangehensweisen für das eigene Vorhaben zu finden 9 (Blohm & Heil, 2012, S. 9; Kämpf-Jansen, 2012, S. 21, 275f.). 10 11 Bezugsfeld Kunst 12 Das Feld der Kunst stellt für Projekte der Ästhetischen Forschung einen 13 wichtigen Bezugsrahmen und eine Inspiration für ästhetisches Handeln 14 dar. In Helga Kämpf-Jansens ursprünglicher Konzeption liegt der Fokus 15 dabei auf Arbeiten zeitgenössischer Künstler_innen. Die Strategien und 16 Konzepte zeitgenössischer Kunst zeigen eine Vielfalt ästhetischer Sprachen 17 und kreativer Arbeitsweisen auf, die zur Grundlage des eigenen Projekts 18 innerhalb der Ästhetischen Forschung werden können (Kämpf-Jansen, 19 2012, S. 275; Blohm & Heil, 2012, S. 9). Eine wichtige Voraussetzung zur 20 produktiven Nutzung von künstlerischen Verfahren ist es, sich intensiv mit 21 aktueller Kunst auseinanderzusetzen und ihre Herstellungsweisen kennen- 22 zulernen (Kämpf-Jansen, 2012, S. 20f.; Heil, 2006, S. 203). 23 Neben den klassischen Tätigkeiten aus dem Kunstunterricht und Dar- 24 stellenden Spiel können die Forscher_innen für ihre eigenen künstlerischen 25 Arbeiten auch alle praktischen Vorgänge des Alltags wie Zeichnen, Foto- 26 grafieren, Filmen, Nähen, Collagieren und Verkleiden nutzen. Aber nicht 27 nur die traditionellen ästhetisch-praktischen Verfahren, sondern auch mo- 28 derne und experimentelle Arbeitsweisen wie die Nutzung von computer- 29 generiertem Material, Animationen, Objektarrangements, irritierende und 30 ungewöhnliche Transformationen von Alltagsdingen, Klangelemente, ge- 31 sprochene Sprache und multimediale Installationen können Anwendung 32 finden (Kämpf-Jansen, 2012, S. 20). Dem künstlerischen Ausdruck sind 33 dabei fast keine Grenzen gesetzt: Es kann experimentiert, verändert, ver- 34 fremdet und provoziert werden. So kann zum Beispiel die künstlerische 35 Transformation alltäglicher Dinge eine neue Sichtweise erzeugen (ebd., 36 S. 111). Dabei gilt es immer zu beachten: »Nicht das schöne Produkt, 37 sondern die Beobachtungen und Erfahrungen beim Herstellen sind für die 38

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1 Ästhetische Forschung ausschlaggebend« (Blohm & Heil, 2012, S. 10). 2 Das Sprechen und damit die Reflexion über künstlerische Prozesse und 3 Arbeiten nehmen in der Ästhetischen Forschung einen hohen Stellenwert 4 ein. Während der Arbeit an eigenen Kunstwerken ist es oftmals mühsam, 5 das Entstehende sprachlich zu fassen. Doch Helga Kämpf-Jansen versi- 6 chert: »[I]m kurzen Innehalten, in Versuchen sprachlicher Annäherung 7 entstehen nach und nach begriffliche Sicherheiten, mit denen man sich an 8 die Grenzen des Beschreibbaren in der Kunst herantasten kann« (Kämpf- 9 Jansen, 2012, S. 112). Auch in der Auseinandersetzung mit künstlerischen 10 Arbeiten hat Sprache die wichtige Funktion, das Gesehene bewusst zu ver- 11 innerlichen und zu reflektieren (ebd., S. 13, 18). Durch die regelmäßige 12 ­Beschäftigung mit Kunst verändern sich die Sehgewohnheiten im Alltag 13 und alltägliche Situationen oder wissenschaftliche Methoden werden auto­ 14 matisch mit künstlerischen Denkformen verknüpft (Heil, 2006, S. 204). 15 Dies führt nicht nur zum bloßen Nachvollzug eines bestimmten künstleri- 16 schen Werkes, sondern dazu, dass ein großes Reservoir an kennengelernten 17 ästhetischen Möglichkeiten angelegt wird. Aus diesem kann je nach Inten- 18 tion oder Fragestellung der eigenen Arbeit eine bestimmte Herangehens- 19 weise ausgewählt, variiert und modifiziert werden (Kämpf-Jansen, 2012, 20 S. 21; Heil, 2006, S. 203; Brenne, 2006, S. 196). 21 22 Für Projekte im Rahmen der Ästhetischen Forschung gilt prinzipiell: Der 23 Fokus sollte immer auf dem Prozess und den gesammelten Erfahrungen 24 liegen, nicht auf dem konkreten Ergebnis. Der Ausgang der Forschungs- 25 arbeit bleibt lange Zeit ungewiss und ist geprägt von wechselnden Zielvor- 26 stellungen, Verwerfungen, veränderlichen Methoden und ständig neuen 27 Entscheidungen (Kämpf-Jansen, 2012, S. 19, 276). Dabei können immer 28 wieder andere Aspekte aus den drei Forschungsfeldern im Vordergrund 29 stehen. 30 Die Vorgehensweise der Ästhetischen Forschung ist sehr subjektiv und 31 emotional geprägt, sodass sich für die Forscher_innen neue Dimensionen 32 der Selbstreflexion und unbekannte Bewusstseinsprozesse eröffnen können 33 (Kämpf-Jansen, 2012, S. 276). Die jeweiligen Erfahrungen können wiede- 34 rum auf unterschiedlichste Art und Weise festgehalten und kommentiert 35 werden. Hierfür eignen sich beispielsweise Tagebuchaufzeichnungen, 36 ­Skizzen, fotografische Dokumente, poetische Texte, Befragungsergeb- 37 nisse oder Gesprächsnotizen (ebd.). Durch das Ausprobieren verschiede- 38 ner ästhet­ischer Methoden können die Teilnehmenden ihre individuellen

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­Zugänge, Ausdrucksformen und Positionierungen ausloten und dadurch 1 ihre persönlichen Grenzen erweitern (ebd.). Die Ästhetische Forschung 2 bietet die Möglichkeit, sich in Situationen zu begeben, welche unter all- 3 täglichen Bedingungen so nie eingetreten wären. Dadurch können neue 4 Fähigkeiten sowie Erkenntnis- und Verhaltensmöglichkeiten zum Umgang 5 mit Offenheiten, Unsicherheiten, Verwerfungen und verschiedenen Ent- 6 scheidungen hervorgebracht werden (ebd., S. 277). Selbst tief greifende 7 Grenzerfahrungen sind durch bestimmte ästhetische Methoden, wie zum 8 Beispiel den Selbstversuch, möglich (ebd.). 9 Die Ästhetische Forschung birgt das Potenzial für überraschende 10 Formen der Erkenntnis. Durch die Verknüpfung von künstlerisch-prak- 11 tischen Herangehensweisen mit vorwissenschaftlichen Handlungs- und 12 Denkakten und wissenschaftlich orientierten Methoden ergeben sich indi- 13 viduelle Erkenntnisformen jenseits der Vernunft, ungewöhnliche Zugänge 14 und ein anderes Begreifen der Welt (ebd.). 15 Die Ästhetische Forschung ist eine Methode, die in verschiedenen Rah- 16 mungen angewendet werden kann. Man kann sich als Einzelperson der 17 Anregungen des Ansatzes bedienen, als eine Gruppe von Kolleg_innen 18 zur innovativen Forschung in einem Unternehmen, aber auch im Rahmen 19 von Schulprojekten als Schulklasse oder gesamte Schulgemeinschaft. 20 Nachfolgend wird erläutert, welche Potenziale die Ästhetische Forschung 21 im Schulalltag mit sich bringt und welche Voraussetzungen dafür erfüllt 22 werden müssen. 23 24 25 Ästhetische Forschungsprojekte in Kooperation 26 mit Kulturakteur_innen – Vorteile für den Schulunterricht 27 28 Das staatliche Schulsystem gilt vorrangig als zu starr und reglementiert. Die 29 einzelnen Unterrichtsfächer werden so vermittelt, dass sie scheinbar nichts 30 miteinander zu tun haben und auch kaum einen Bezug zur Lebenswelt der 31 Schüler_innen aufweisen (Brenne, 2006, S. 193f.). 32 Mit der Durchführung von Projekten der Ästhetischen Forschung in 33 Zusammenarbeit mit Kultureinrichtungen oder Künstler_innen ergeben 34 sich zahlreiche Vorteile für Schulen und Schüler_innen. So sind Koope- 35 rationen für fast alle Fachbereiche möglich. Ob Deutschunterricht im 36 Theater, Geschichte im Archiv, Physik in der Kunsthalle oder Politik im 37 Ballettsaal – die Projekte bieten zahlreiche Anregungen für die V­ erbesserung 38

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1 des fächerübergreifenden Lernens (Brandes, 2012, S. 17f.), denn laut Helga 2 Kämpf-Jansen ist ein umfassendes Verständnis ohnehin erst durch einen 3 übergreifenden Kontext möglich. Darüber hinaus sprengt das Konzept 4 der Ästhetischen Forschung auch die beschränkenden Zeitvorgaben der 5 Unterrichtsstunden, um das Verstehen nicht zu blockieren. (Leuschner & 6 Riesling-Schärfe, 2012, S. 12). Die künstlerisch-ästhetischen Qualitätsan- 7 sprüche und die Professionalität der kooperierenden Künstler_innen oder 8 Kulturpädagog_innen spiegeln sich dabei in den Projekten wieder. Die 9 Kunst- und Kulturexpert_innen zeigen, wie man auch schwierige Pro- 10 bleme mit professionellem Handwerk und der eigenen Kreativität lösen 11 kann (Brandes, 2012, S. 17f.). Die Arbeit an dem ästhetischen Forschungs- 12 projekt kann die individuellen Leistungsvermögen der Schüler_innen 13 durch persönlichkeitsbildende Aspekte wie Körperwahrnehmung, Bewusst- 14 sein, Sprachbeherrschung und Entdeckung der Kreativität fördern. Die 15 künstlerischen und irritierenden Betrachtungsweisen von Dingen eröffnen 16 zudem neue Möglichkeiten zum Begreifen des eigenen Ichs (Leuschner & 17 Riesling- ­Schärfe, 2012, S. 11) und die neu erlernten künstlerischen Techni- 18 ken sowie positives Feedback stärken das Vertrauen der Teilnehmenden in 19 ihre persönlichen Fähigkeiten. Darüber hinaus geht die Arbeit im Rahmen 20 der Ästhetischen Forschung für viele Teilnehmende mit Grenzerfahrungen, 21 erweiterten Erfahrungsräumen, Gratwanderungen und Selbstversuchen 22 einher (Kämpf-Jansen, 2012, S. 21). In einem komplexen Prozess des 23 Denkens, Handelns und Fühlens auf dem Weg hin zu einem zufrieden- 24 stellenden Ergebnis, erlebt jede_r Einzelne intensive Momente der Ich-­ 25 Wahrnehmung in Verbindung mit Staunen und Verwunderung, Fremdheit 26 und Irritation sowie Phasen des »Sich-Verlierens« und »Sich-Findens« 27 (ebd., S. 260). Nicht zuletzt haben die Möglichkeiten der ästhetischen 28 Praxis auch selbsttherapeutische Funktionen. So gibt es sowohl Momente 29 der Identifikation und Projektion als auch Erfahrungen der Ablösung und 30 des Loslassens (ebd., S. 261). 31 Durch die Arbeit im Team und die Feedbackrunden wird zusätzlich das 32 Sozialverhalten der Schüler_innen verbessert. So können selbst Schüler_­ 33 innen, die als schwierig gelten, plötzlich ungeahntes Potenzial entfalten 34 (Brandes, 2012, S. 17f.). Zudem treffen die Teilnehmenden auf Perspek- 35 tiven und Ansichten, die sich von den jeweils eigenen unterscheiden. Im 36 gegenseitigen Austausch wird so kulturelle Vielfalt erfahrbar und eigene 37 Sichtweisen können hinterfragt und relativiert werden (Leuschner & 38 Riesling- ­Schärfe, 2012, S. 11).

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Indem den Schüler_innen Freiräume zum Experimentieren und Er­ 1 forschen geboten werden, entdecken sie eine neue Kultur des Lernens. 2 Durch die offene Struktur der Ästhetischen Forschung kann das Projekt 3 individuell auf die einzelnen Interessen, Fähigkeiten und Neigungen, die 4 unterschiedlichen Lerntypen und das Vorwissen der Forscher_innen abge- 5 stimmt werden (ebd.; vgl. Schulz, 2012, S. 23). Die Bezüge zur Lebenswelt 6 der Schüler_innen führen gleichzeitig zu einer Effektivierung der Lern­ 7 ergebnisse­ (Kammler, 2012, S. 14) und die unkonventionellen und kreati- 8 ven M­ ethoden tragen zur Entwicklung von Selbstlernstrategien und -kompe- 9 tenzen der Teilnehmenden bei (Leuschner & Riesling-Schärfe, 2012, S. 12). 10 Darüber hinaus werden durch die Kooperation mit Kultureinrichtungen 11 Berührungsängste mit etablierten, vermeintlich altmodischen und lang- 12 weiligen Kulturangeboten abgebaut. Je öfter die Schüler_innen ­Theater, 13 Museen usw. besuchen, desto mehr wächst ihr Verständnis für die Bedeu- 14 tung von Kultur (Brandes, 2012, S. 18). 15 16 17 Voraussetzungen für eine gelungene Anwendung 18 der Ästhetischen Forschung in Schulen 19 20 Damit die Methoden der Ästhetischen Forschung erfolgreich in der Schule 21 umgesetzt werden können, sollten insbesondere die beteiligten Lehrer_ 22 innen offen für neue Ideen sein (ebd., S. 19). Die Beteiligung an einem äs- 23 thetischen Forschungsprojekt sollte möglichst freiwillig geschehen. Denn 24 ein positiver Verlauf des Projektes ist nur möglich, wenn die Mitwirken- 25 den selbst vom Nutzen und Wert der Ästhetischen Forschung überzeugt 26 sind (Schulz, 2012, S. 23). Indem die Lehrer_innen in den Planungspro- 27 zess des Projektes eingebunden werden, lässt sich deren Identifikation mit 28 der Methode erreichen (ebd., S. 26). Die programmatische Verankerung der 29 Ästhetischen Forschung in das Schulprogramm verhindert, dass die Me- 30 thode nicht weitergeführt wird, falls es zu einem Wechsel oder Ausfall von 31 Lehrer_innen kommt (ebd., S. 23). Vor Beginn des Projektes sollten sich 32 beteiligte Lehrer_innen und Künstler_innen bzw. Vertreter_innen der 33 Kultureinrichtung gegenseitig kennenlernen und sich über den ästhetischen 34 Anspruch, pädagogische Leitlinien, bestimmte Ziele, Verantwortlich­keiten 35 und Rahmenbedingungen austauschen (Brandes, 2012, S. 19). Für die 36 Entwicklung von konkreten Konzepten, Zielen, Umsetzungsstrukturen, 37 Projekt- und Qualitätsmanagement wird die Gründung einer Steuergruppe 38

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1 empfohlen (Schulz, 2012, S. 23f.). Für die Umsetzung der Ästhetischen 2 Forschung an einer Schule soll darüber hinaus der Grundsatz der Partizi- 3 pation gelten, sodass möglichst alle schulischen Akteur_innen – Lehrer_in- 4 nenschaft, Schüler_innen- und Elternrat – daran beteiligt sind. Als externe 5 und neutrale Unterstützung können Prozessbegleiter_innen oder -berater_ 6 innen hinzugezogen werden, die in vielen Bundesländern über Bildungs­ 7 institute oder Schulämter erreichbar sind (ebd., S. 524). 8 9 10 Ansätze zur Kombination der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 11 mit der Methode der Ästhetischen Forschung 12 13 Nachdem die Grundlagen der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen sowie 14 der Ästhetischen Forschung vorgestellt wurden, folgt nun eine Gegenüber- 15 stellung der beiden Konzepte. Dabei werden folgende Fragen beleuchtet: 16 1. In welchen Punkten gibt es Überschneidungen zwischen der Päda- 17 gogik vielfältiger Lebensweisen und der Ästhetischen Forschung, 18 die für die Antidiskriminierungsarbeit im Bereich sexueller und ge- 19 schlechtlicher Lebensweisen nutzbar gemacht werden können? 20 2. Worin liegen die Unterschiede zwischen der Pädagogik vielfältiger 21 Lebensweisen und der Ästhetischen Forschung und durch welche 22 Maßnahmen kann dennoch eine Verknüpfung der beiden Konzepte 23 gelingen? 24 25 Gemeinsamkeiten der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 26 mit der Ästhetischen Forschung 27 28 Folgende Gemeinsamkeiten lassen sich bei der Analyse beider Ansätze 29 feststellen: 30 31 Offene Zielgruppe 32 Sowohl die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen als auch die Ästhetische 33 Forschung sind Ansätze, die sich auf Personen aller Altersklassen ab etwa 34 drei Jahren anwenden lassen. So kann bereits im Kindergarten altersge- 35 recht und im Sinne des Begriffs vielfältige Lebensweisen über Geschichten 36 gesprochen und diskutiert werden, in denen Geschlechternormen oder 37 ver ­schiedene Formen des Zusammenlebens eine Rolle spielen. Auch die 38 ­Methoden der Ästhetischen Forschung können je nach Alter und Vor­

96 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung wissen der A­ dressat_innen mal mehr und mal weniger komplex und 1 professionell durchgeführt werden. Primär sind die beiden Ansätze für 2 Schüler_innen konzipiert. Im Sinne des lebenslangen Lernens ist die An- 3 wendung der beiden Ansätze aber noch weit über das Schulalter hinaus 4 sinnvoll. 5 6 Dekonstruktive Ansätze 7 Beide untersuchten Konzepte hinterfragen die Herrschaftsstruktur von 8 Normalität und Abweichung sowie geltende Ordnungskategorien. Sie ar- 9 beiten mit der Irritation vorherrschender Seh- und Denkgewohnheiten, 10 wodurch zur Hinterfragung der eigenen Sichtweise angeregt wird sowie 11 neue Perspektiven und Handlungsimpulse eröffnet werden können. 12 13 Dynamisierung vorherrschender Grenzen und Normalitätsvorstellungen 14 Beide pädagogischen Ansätze geben Anreize, gängige Vorgaben oder An- 15 nahmen zu überdenken bzw. diesen entgegenzuhandeln, was mitunter 16 die Verschiebung und Neubestimmung von Bedeutungen bewirken kann. 17 Während sich der Fokus der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen hierbei 18 auf die Kategorien Geschlecht, Sexualität und Lebensweise bezieht, strebt 19 die Ästhetische Forschung grundlegend eine Dynamisierung in Bezug auf 20 Lern- und Erkenntnisprozesse an. Eine Thematisierung von Geschlecht 21 und Begehren auf Grundlage von Jutta Hartmanns Handlungsempfehlun- 22 gen ist im Rahmen der Ästhetischen Forschung durchaus denk- und um- 23 setzbar. Beide Konzepte zielen darauf ab, Zuschreibungen als beweglich zu 24 vermitteln und dynamisierte Erfahrungsräume für jede_n zu ermöglichen. 25 Auch die Identität jedes Subjekts wird von beiden Ansätzen als prozessual 26 vermittelt und somit das Potenzial jeder/jedes Einzelnen zur Veränderung 27 und Weiterentwicklung betont. 28 29 Analyse von Konstruktionsmechanismen 30 Sowohl die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen als auch die Ästhetische 31 Forschung empfehlen eine Auseinandersetzung mit Entstehungsweisen 32 der Identität durch den Einfluss von gesellschaftlichen und historischen 33 Strukturen. So finden sich in der Konzeption der Ästhetischen Forschung 34 von Helga Kämpf-Jansen auch Anregungen zur Hinterfragung von All- 35 täglichkeiten, insbesondere in Bezug auf bestimmte geschlechtlich konno- 36 tierte Gegenstände, wie zum Beispiel die Halskette für Frauen oder das 37 Gewehr für den Mann (Kämpf-Jansen, 2012, S. 35). Durch die Recherche 38

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1 dazu, durch welche historischen Einflüsse diese Zuordnungen entstanden 2 sind, können sich die Forschenden dieser Prägung gegenüber emanzipie- 3 ren. Eine reflektierte und kritische Haltung, die von beiden untersuchten 4 Konzepten angestrebt wird, bewahrt die Handlungsfähigkeit der einzel- 5 nen Subjekte. 6 7 Wertschätzung von Pluralisierung und Vielfalt 8 Die beiden pädagogischen Ansätze vermitteln Vielfalt als Chance und Er- 9 weiterung von Handlungsmöglichkeiten, nicht als Bedrohung oder Verlust. 10 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen bezieht sich dabei vorrangig auf 11 die geschlechtliche und sexuelle Vielfalt, kann aber auch auf weitere Ka- 12 tegorien wie Hautfarbe, Herkunft oder Religion ausgeweitet werden. Die 13 Ästhetische Forschung strebt insbesondere eine Pluralisierung von Denk- 14 und Lernformen sowie ästhetischen Zugängen an, kann aber ebenfalls auf 15 Geschlecht und Begehren bezogen werden. Für beide Konzepte ist Viel- 16 falt der Ausgangspunkt des Vorgehens. Voraussetzung zur Umsetzung der 17 beiden Ansätze ist ein Klima der Wertschätzung gegenüber verschiedenen 18 Ansichten und Blickwinkeln sowie die Ablehnung der strikten Kategorien 19 »richtig« und »falsch«. 20 21 Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Umgebung 22 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen zielt darauf ab, Vielfältigkeit, Dy- 23 namik und Differenzen sowohl zwischen unterschiedlichen Menschen als 24 auch innerhalb einzelner Individuen und deren Biografien aufzuzeigen. 25 Auch die Ästhetische Forschung nimmt sowohl Bezug auf das Subjekt 26 als auch auf seine Umwelt. So werden die Forscher_innen je nach Frage- 27 stellung dazu motiviert, die persönliche Biografie und den eigenen Alltag 28 einerseits sowie die sie umgebende Welt und Gesellschaft andererseits zu 29 untersuchen. In Verbindung mit künstlerischen, alltagsorientierten oder 30 wissenschaftlichen Methoden ergeben sich für die Forscherin / den For- 31 scher mitunter ganz neue Möglichkeiten, das eigene Ich und die Welt, in 32 dem es lebt, zu begreifen. Beide Konzepte weisen also einen starken Bezug 33 zur Lebenswelt der Adressat_innen auf, was optimalerweise die Stärkung 34 der eigenen Identität nach sich zieht. 35 36 Vorlagen für erweiterte Handlungsfähigkeit 37 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen beabsichtigt, genauso wie die 38 Ästhetische Forschung, neue Handlungsoptionen zur selbstständigen

98 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

Gestaltung des Lebens aufzuzeigen. Der Pädagogik vielfältiger Lebens- 1 weisen gelingt dies über die Beschäftigung mit Geschichten, die ein freies 2 Begehren ermöglichen. Die Ästhetische Forschung orientiert sich an den 3 grenzenlosen künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten, die zu einem erwei- 4 terten Gestaltungsfreiraum in allen Lebensbereichen inspirieren können. 5 Zur Kombination der beiden Konzepte böte sich beispielsweise die Aus- 6 einandersetzung mit künstlerischen Arbeiten oder Theaterstücken an, die 7 Geschlecht, Sexualität oder Lebensweise thematisieren. 8 9 Besondere Bedeutung von Sprache 10 Beide pädagogischen Ansätze schulen den Umgang mit der eigenen Spra- 11 che. In der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen gilt ein reflektierter und 12 bewusster Umgang mit Sprache als notwendig, um Begehren differenziert 13 entwickeln zu können. Die Ästhetische Forschung nutzt den überlegten 14 Einsatz von Sprache, um sich künstlerischen Arbeiten anzunähern und sich 15 Lernergebnissen und Erkenntnissen bewusst zu werden. Zusätzlich wird das 16 Schreiben von Texten gefördert, die als Form der Speicherung von Reflexion 17 fungieren. Durch die verbale oder schriftliche Annäherung an künstlerische 18 Ausdrucksformen mit dem Thema Geschlecht, Sexualität oder Lebensweise 19 könnte eine Verbindung der beiden Herangehensweisen gelingen. 20 21 Fächer- und disziplinenübergreifende Arbeitsweise 22 Beide Konzepte gehen davon aus, dass neue Erkenntnisse und ein um- 23 fassendes Verständnis einer Thematik nur durch übergreifende Kontexte 24 realisierbar sind. Mit Bezug auf die Anwendung im Schulunterricht heißt 25 das für die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen, dass diese nicht nur in 26 der Sexualpädagogik im Rahmen des Biologieunterrichts Anwendung 27 finden soll, sondern dass möglichst in allen Unterrichtsfächern vielfäl- 28 tige Lebensweisen als Abbild gesellschaftlicher Realität vermittelt werden 29 müssen. Dies setzt auch voraus, dass die Schulbücher und Unterrichts- 30 materialien so gestaltet sind, dass Vielfalt darin als Selbstverständlichkeit 31 vermittelt wird. Auch die Ästhetische Forschung ist eine Methode, die in 32 allen Schulfächern angewandt werden kann. Je ungewöhnlicher die Zu- 33 sammenhänge (z. B. Physikunterricht im Kunstmuseum), desto nachhalti- 34 ger die Lernergebnisse. Durch den Einbezug unterschiedlicher Methoden 35 aus Alltag, Kunst und Wissenschaft kann die Einspurigkeit schulischer 36 Wissensvermittlung überwunden und ein allumfassendes Verständnis er- 37 zeugt werden. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 99 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 Balance zwischen Anleitung und Freiheit 2 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen will erreichen, dass sich jede_r 3 Einzelne unabhängig von herrschenden Normvorstellungen eine freie Mei- 4 nung bilden kann. Sie geht dabei davon aus, dass es keinen normenfreien 5 Zugang geben kann, dass aber jeder Zugang den Ist-Zustand, geltende 6 Normen und Regularien kritisch hinterfragen sollte. Dadurch wird, wie 7 Judith Butler es ausdrückt, eine »Improvisation im Rahmen des Zwanges« 8 (Hartmann, 2014, S. 103) möglich. Hierfür werden Anreize geboten, wie 9 zum Beispiel die Vorgabe einer Geschichte oder eines Bildes, über die bzw. 10 das gemeinsam diskutiert werden kann. Welche Assoziationen bei den Dis- 11 kussionsteilnehmenden entstehen, ist nicht beschränkt. Alle Meinungen 12 werden zunächst angenommen und besprochen. Auch in der Ästhetischen 13 Forschung sollen so wenige Vorgaben wie möglich gelten. Die im Voraus in 14 der Gruppe gemeinsam erarbeiteten Strukturen und Rahmenbedingungen 15 dienen lediglich der Orientierung, aber innerhalb dieser sind die Teilneh- 16 menden gänzlich frei in ihren Entscheidungen und Handlungen. 17 18 Impulsgeber_innen 19 Beide pädagogischen Ansätze sind auf kompetente Persönlichkeiten ange- 20 wiesen, die sich mit der jeweiligen Methode identifizieren können. So sollte 21 es bei der Umsetzung der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen Lehrer_ 22 innen, Gruppenleiter_innen oder auch Mitglieder eines alternativen Auf- 23 klärungsprojektes geben, die den jeweiligen Gruppen im richtigen Moment 24 geeignete (aber keinesfalls manipulative) Impulse für neue Denkweisen in 25 Bezug auf die Kategorien Geschlecht, Sexualität und Lebensweise geben. 26 Auch in der Ästhetischen Forschung nehmen Impulsgeber_innen wie 27 Lehrer_innen, Künstler_innen und Kulturvermittler_innen eine wichtige 28 Funktion ein. Sie regen zu ungewöhnlichem Vorgehen, zum Experimentie- 29 ren und zum Überdenken des Projektes an. 30 31 Verbesserung des Sozialverhaltens 32 Sowohl die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen als auch die Ästhetische 33 Forschung bauen auf der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Mei- 34 nungen und Perspektiven auf. Während bei ersterem Ansatz vorrangig 35 inner ­halb von Diskussionsrunden (z. B. über gelesene Texte) verschiedene 36 Blickwinkel besprochen werden, erfolgen im letzteren Ansatz soziale Inter- 37 aktionen auf verschiedenen Ebenen. Die Ästhetische Forschung motiviert 38 zu einem Einbezug von Familie, Freund_innen und Unbekannten sowohl

100 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung im Rahmen der eigenen künstlerischen Arbeit als auch innerhalb verbal- 1 diskursiver Auseinandersetzungen. Eine Anwendung der Pädagogik viel- 2 fältiger Lebensweisen in einem erweiterten Interaktionsradius könnte zur 3 Nachhaltigkeit der Methodik beitragen. 4 5 Unterschiede zwischen der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 6 und der Ästhetischen Forschung 7 8 In der Analyse haben sich folgende Unterschiede zwischen beiden Metho- 9 den gezeigt: 10 11 Orte der Durchführung 12 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen ist nach der bisherigen Literatur als 13 eine Methode angelegt, die in festen Institutionen wie Schulen und Kinder­ 14 tagesstätten durchgeführt wird. Die Ästhetische Forschung hin­gegen be- 15 zieht diese Bildungsinstitutionen zwar mit ein, legt aber besonderen Wert 16 auf die Kooperation mit Kulturpartner_innen und/oder Künstler_innen. 17 Außerdem regt sie zur Erforschung von ungewöhnlichen Orten wie Stadt- 18 räumen, Museen oder Fabrikhallen an. 19 Eine Verlegung der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen an ungewöhn- 20 liche Orte und die Zusammenarbeit mit Kulturakteur_innen könnte 21 der Auseinandersetzung mit Geschlecht, Sexualität und Lebensweise 22 mehr Spannung und Nachdruck verleihen. So wäre beispielsweise denk- 23 bar, in einer ersten Phase in einem Einkaufszentrum zu Geschlechter­ 24 rollen zu forschen und anschließend durch künstlerische Interventionen 25 die Passant_innen zu verunsichern, deren Reaktionen zu beobachten und 26 auszuwerten. 27 28 Ausgangsthematik 29 Der thematische Fokus der Pädagogik vielfältiger Lebensweisen liegt auf 30 den Feldern Geschlecht, Sexualität und Lebensweise. Sie beabsichtigt die 31 Auflösung vorgegebener Normen und Grenzen mittels Gesprächen über 32 die Herstellungsweisen dieser Herrschaftskriterien und durch das Hinter- 33 fragen von geltenden Vorstellungen zu den drei Kategorien. Das Problem 34 an dieser rein verbalen und gedanklichen Auseinandersetzung besteht 35 darin, dass Zugänge schnell suggestiv sein können und dadurch die Adres- 36 sat_innen die erwünschten Antworten erkennen. Sie stimmen mitunter 37 dem Gehörten zu, ohne es wirklich verinnerlicht zu haben. 38

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1 Im Vergleich dazu verfolgt die Ästhetische Forschung den Anspruch, an 2 den persönlichen Interessen, Wünschen oder Fragen der Teilnehmenden an- 3 zusetzen. Es gibt keine konkreten thematischen Vorgaben, keine Einschrän- 4 kungen bei der Umsetzung und die Forscher_innen sind von Anfang an an 5 den Entscheidungsprozessen beteiligt. Dies führt zu höherer Motivation und 6 Verbundenheit als bei gewöhnlichen Lernprozessen in der Schule. Der Pro- 7 zess der Wissensaneignung hält viele Spielräume offen und ist auf die indivi- 8 duellen Bedürfnisse jeder/jedes Einzelnen anpassbar. So entfällt die »innere 9 Distanz« (Legler, 2006, S. 129, Hervorh. i. O.), die »dauerhafte Einstellungs-­ 10 und Verhaltensänderungen« (ebd., Hervorh. i. O.) blockiert. Die Ausein- 11 andersetzung mit der gewählten Thematik erhält durch die ästhetische Er- 12 fahrung und die praktisch-ästhetische Annäherung einen sehr subjektiven, 13 emotionalen und intuitiven Charakter (Legler, 2006, S. 130). Dieser Prozess 14 geht teilweise mit individuellen Grenzerfahrungen und erweiterten Erfah- 15 rungsräumen, auf jeden Fall aber mit einer intensiven Selbstreflexion und 16 Bewusstseinsveränderung einher. Diese Erfahrung kann durch die Vergegen- 17 ständlichung beispielsweise durch Zeichnen, Malen oder Fotografieren die 18 Verinnerlichung der Erkenntnisse verstärken (ebd., S. 130). Insgesamt lässt 19 sich sagen, dass eine Umstrukturierung gängiger Leitbilder und verfestigter 20 Einstellungen (auch im Bezug auf die Felder Geschlecht, Sexualität und Le- 21 bensweise) eher über Formen einer ästhetischen Annäherung und Bearbei- 22 tung möglich ist als mit Argumenten oder Moralpredigten (ebd.). Es ist also 23 vorteilhaft, den Aspekt der subjektiven und freiwilligen Auseinandersetzung 24 in die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen zu integrieren, damit sich die 25 ­Adressat_innen mehr oder weniger selbstständig die Einstellungsänderung 26 erarbeiten können. Diesbezüglich wäre denkbar, ein grobes Rahmenthema 27 zu finden, dass sich in einem erweiterten Sinn auf die Kategorien Geschlecht, 28 Sexualität oder Lebensweisen bezieht, wie zum Beispiel »Familie«, »­Typisch 29 Junge, typisch Mädchen« oder »Was ist ein normales Leben?«. Innerhalb 30 dieses Oberbegriffes oder -themas kann dann jede_r Forscher_in einen eige- 31 nen Schwerpunkt und einen individuellen Sinn finden. Als Inspiration zur 32 Entwicklung einer persönlichen Fragestellung bietet sich die Auseinander- 33 setzung mit einer Geschichte oder einer künstlerischen Arbeit an, die sich 34 mit einem Aspekt der Thematikvielfältige Lebensweisen beschäftigt. 35 36 Ziele/Intention 37 Auch in ihrer Zielsetzung unterscheiden sich die zwei untersuchten An- 38 sätze. Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen intendiert die Herausbil-

102 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung dung eines geschlechtlichen und sexuellen Selbstverständnisses, das dyna- 1 misch bleibt und gleichzeitig eine Wertschätzung gegenüber allen anderen 2 Lebensweisen aufbringt. Der Ansatz beabsichtigt außerdem, zu einer re- 3 flektierten Gestaltung des gesamten Lebens zu befähigen. 4 Die Ziele der Ästhetischen Forschung sind hingegen offener und all- 5 gemeiner gehalten. Die Methode strebt die Erweiterung des Bewusstseins 6 und einen Wissenszuwachs durch eine ästhetische Erkundung des Umfel- 7 des an. Sie sieht vor, nachhaltig neue Herangehensweisen für den Lern- 8 prozess und zur Lösung von Problemen zu vermitteln. Deswegen liegt 9 der Fokus auch weniger auf dem konkreten Ergebnis als vielmehr auf dem 10 Forschungsprozess.­ 11 Auch hinsichtlich der Zielsetzungen bietet sich die Verbindung der 12 Pädagogik vielfältiger Lebensweisen mit der Ästhetischen Forschung an. 13 Demnach sollte eine freiwillige Auseinandersetzung der Adressat_innen 14 mit der Thematikvielfältige Lebensweisen ermöglicht werden. Durch einen 15 sinnlich-künstlerischen Zugang zum Thema sind die Lernergebnisse effek- 16 tiver und die Erkenntnis über eine Gleichwertigkeit aller Lebensweisen 17 wird intensiver und nachhaltiger verinnerlicht. 18 19 Forschungsfelder 20 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen bedient sich der zwei Forschungs- 21 felder Alltag und Wissenschaft. Sie untersucht verschiedene Ebenen des 22 Alltags hinsichtlich des Einflusses durch gegenwärtige Diskurse zu Ge- 23 schlecht, Sexualität und Lebensweise wie beispielsweise der heterosexuel- 24 len Zweigeschlechtlichkeit. Dabei werden wissenschaftliche Methoden wie 25 zum Beispiel Befragungen, Literaturanalysen und Gruppendiskussionen 26 genutzt. Ein sinnlich-ästhetischer Zugang ist bisher allerdings noch kaum 27 beschrieben worden. 28 Die Ästhetische Forschung bietet hingegen eine umfangreiche Auswahl 29 an Zugängen an. So kann der Forschungsfrage mithilfe zahlreicher Metho- 30 den aus den Forschungsfeldern Alltag, Wissenschaft und Kunst nachgegan- 31 gen werden. Der Umgang mit den drei Forschungsfeldern ist kein additiver, 32 sondern die verschiedenen Zugänge und Methoden sind miteinander ver- 33 netzt und bedingen sich gegenseitig. Das breite Angebot an Vorgehens­ 34 weisen steht in enger Verbindung mit Freiräumen und Möglichkeiten zum 35 Experimentieren und Improvisieren. 36 Mehr Spielräume und Wahlmöglichkeiten könnten dazu beitragen, die 37 Pädagogik vielfältiger Lebensweisen um den Aspekt der Partizipation und 38

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1 Freiwilligkeit zu ergänzen. Der sinnliche Zugang zur Thematik würde den 2 Adressat_innen dabei helfen, sich mit den Inhalten zu identifizieren, was 3 wiederum zur nachhaltigen Verinnerlichung der vermittelten Werte führen 4 könnte. 5 6 Methodik 7 Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen arbeitet primär mit Methoden, die 8 nur geringfügig die emotionale Einbringung der Adressat_innen verlangen. 9 Die Empfehlung zu einer methodischen Vielfalt, die auch künstlerische 10 Zugänge einschließt, erfolgt nur am Rande (vgl. Hartmann, 2002, S. 426– 11 429). Großteils aber wird eine eher wissenschaftliche Auseinandersetzung 12 beschrieben. 13 Die Ästhetische Forschung ist dagegen sehr facettenreich und experi- 14 mentell. Die ästhetische Auseinandersetzung und die künstlerische Produk- 15 tion stehen hierbei im Vordergrund. Die Verknüpfung mit wissenschaftli- 16 chen Methoden und an Alltagspraxen orientierten Verfahren wirkt beinahe 17 nebensächlich, führt aber faktisch zu einer intensiven Verinnerlichung der 18 neuen Erkenntnisse. Gleichzeitig kann das durch die ästhetische Arbeit 19 gesteigerte Interesse an der Thematik auch zu einer höheren Motivation 20 führen, sich mit wissenschaftlichen Texten und Methoden zu beschäftigen. 21 Abstrakte Diskurse werden auf diese Weise persönlich relevant. Empfeh- 22 lenswert ist es, insbesondere für langfristige Projekte, ein Forschungstage- 23 buch anzulegen. Darin können beispielsweise Reflexionen, Fortschritte, 24 Ideen, Skizzen, Fundstücke, Fotografien und alles andere, was für die Er- 25 forschung des selbst gewählten Themas bedeutsam ist, gesammelt werden. 26 Dies kann die Verinnerlichung des Arbeits- und Denkprozesses unterstüt- 27 zen. Besonders wichtig ist auch die Zusammenarbeit mit Kulturinstitu- 28 tionen und/oder Künstler_innen. Diese sind Expert_innen, wenn es um 29 kreative und unorthodoxe Problemlösungen geht. Durch ihre Anregungen 30 ergeben sich mitunter Möglichkeiten, sich in ungewöhnliche Situationen 31 zu begeben und sich auszutesten. So können persönliche Positionierungen 32 ausgelotet, tief greifende Grenzerfahrungen erlebt oder unkonventionelle 33 Verhaltensmöglichkeiten erprobt werden. Das kann zu individuellen Er- 34 kenntnisformen führen, die nur aus einer derartigen emotionalen Nähe 35 zum Untersuchungsthema entspringen können. 36 Dies belegt, dass sich die Verknüpfung einer wissenschaftlichen Ausein- 37 andersetzung mit der künstlerischen Annäherung auch für die Pädagogik 38 vielfältiger Lebensweisen anbieten würde.

104 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

Anwendungsbeispiel: »Travestie für Fortgeschrittene« 1 in der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig 2 3 Wie die Antidiskriminierungsarbeit im Sinne der Pädagogik vielfältiger Le- 4 bensweisen in Verbindung mit den Methoden der Ästhetischen Forschung 5 konkret aussehen kann, soll am Beispiel der Ausstellungsreihe »Travestie 6 für Fortgeschrittene« illustriert werden, die 2015/2016 in der Galerie für 7 Zeitgenössische Kunst (GfZK) in Leipzig zu sehen war. Durch die Vorstel- 8 lung ausgewählter der damals präsentierten künstlerischen Arbeiten wird 9 das Potenzial der Auseinandersetzung mit den Künsten für die Erweiterung 10 des eigenen Denkhorizontes deutlich. 11 Anhand von Expertinneninterviews mit zwei Teammitgliedern der 12 GfZK, der Kuratorin Julia Schäfer und der Kunstvermittlerin Lena Seik, 13 konnten Einblicke in die kuratorische Praxis und die Kunstvermittlung des 14 Hauses gewonnen werden. 15 16 17 Die Galerie für Zeitgenössische Kunst 18 19 Die GfZK sieht sich als »Ausstellungshaus für zeitgenössische Kunst und 20 ein Museum für Kunst nach 1945« (Galerie für Zeitgenössische Kunst 21 Leipzig, o. J. a). Zwei vorrangige Ziele der GfZK sind die Förderung und 22 Vermittlung internationaler und bundesweiter künstlerischer Positionen 23 in den eigenen und öffentlichen Räumen (ebd.). Es werden sowohl Arbei- 24 ten jüngerer Künstler_innen als auch bedeutende kunsthistorische Werke 25 der vergangenen Jahrzehnte präsentiert (ebd.). Die Themen der Ausstel- 26 lungen orientieren sich überwiegend an »Veränderungen des politischen, 27 gesellschaftlichen und urbanen Umfelds, Migration und transkulturelle[n] 28 Phänomene[n]« (ebd.). 29 30 31 Die Ausstellungsreihe »Travestie für Fortgeschrittene« 32 33 Die Ausstellungsreihe »Travestie für Fortgeschrittene« war von Februar 34 2015 bis Januar 2016, kuratiert von Franciska Zólyom und Julia Schäfer 35 in Zusammenarbeit mit Julia Kurz (Galerie für Zeitgenössische Kunst 36 Leipzig, 2015a, 2015d), als »[e]ine szenische Darbietung in mehreren 37 Akten« (ebd., 2015d) zu sehen. Im Neubau der GfZK entstand eine 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 105 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 »Mischform aus Ausstellung und Bühne« (ebd., o. J. b) mit Präsentatio- 2 nen künstlerischer Arbeiten, Performances, Tanzaufführungen, Vorträ- 3 gen und Workshops. Die Ausstellungsserie behandelte »Wertvorstellun- 4 gen einer vermeintlichen Mehrheitsgesellschaft […], die über kollektive 5 Identitäten und Ausgrenzungsmechanismen gefestigt werden« (ebd., 6 2015d). Das Anliegen der Kuratorinnen war es, auf die Problematik 7 massen ­wirksamer Propaganda zum Festhalten am Althergebrachten und 8 die daraus folgenden starren Strukturen aufmerksam zu machen. »Tra- 9 vestie für Fortgeschrittene« beschäftigte sich demzufolge mit »Themen, 10 die von neokonservativen und populistischen Tendenzen besetzt und 11 vereinnahmt werden« (ebd., 2015d, 2015a), wie beispielsweise Ge- 12 schlechtergleichstellung, Migration und Homosexualität. Weiterhin 13 sollte die dreiteilige Ausstellungsreihe zeigen, welche vielseitigen kultu- 14 rellen und ökonomischen Chancen für Individuen und Gesellschaften in 15 Dynamik und Wandel liegen, wenn man diese nur zulässt (ebd., 2015a). 16 Damit »[ging] [d]as Projekt […] gegen statische und eindimensionale 17 Lebensentwürfe und Gesellschaftsmodelle vor« (ebd., 2015d, 2015a). Die 18 unterschiedlichen künstlerischen Positionen in »Travestie für Fortgeschrit- 19 tene« warfen einen kritischen Blick auf das »Verhältnis von Subjekt, Macht 20 und Geschlecht« (ebd., 2015a) und schlugen eine Neudefinition dieser 21 Konstellation in Anbetracht der aktuellen gesellschaftspolitischen Wand- 22 lungen vor (ebd., 2015d, 2015a). Durch die Zusammenarbeit mit regiona- 23 len und internationalen Institutionen, Universitäten, Ausstellungshäusern, 24 Theatern, Fachstellen für politische Bildung und Extremismusbekämp- 25 fung gedachte die GfZK mit »Travestie für Fortgeschrittene« eine große 26 Öffent ­lichkeit und verschiedene Zielgruppen zu erreichen (ebd., 2015a). 27 Passend zur Grundthematik der Ausstellungsreihe lautete die Über- 28 schrift des dazu gehörigen Programms der Kunstvermittlung »Was wäre, 29 wenn …?« (GfZK Für Dich, 2015). In verschiedenen Workshops und Pro- 30 jekten, die vorrangig für Kinder und Jugendliche angeboten wurden, sollte 31 hierbei untersucht werden, »was ›Normalität‹ bedeutet und warum es 32 sie gibt« (ebd.). Dieser Frage konnte im künstlerischen Experimentierfeld 33 durch das Hineinversetzen in bestimmte Szenarien oder Situationen und 34 mit verschiedenen künstlerischen Methoden (wie z. B. Fotografie, Schau- 35 spiel, Verkleiden oder Schreiben) nachgegangen werden (ebd.). Einige 36 Ergebnisse aus den verschiedenen Workshops wurden in der »Galerie für 37 Dich«, dem hauseigenen Ausstellungsraum für die Ergebnisse der (zumeist) 38 jungen Künstler_innen aus den Vermittlungsangeboten, präsentiert.

106 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

»Travestie für Fortgeschrittene« als Ausgangspunkt 1 für Projekte der Ästhetischen Forschung im Sinne der 2 Pädagogik vielfältiger Lebensweisen 3 4 Mit Blick auf die allgemeinen Ziele der Ausstellungen und Vermittlungspro- 5 jekte in der GfZK lassen sich einige Parallelen zu den Grundzügen der Päda- 6 gogik vielfältiger Lebensweisen erkennen. So sind zum Beispiel die Ausstel- 7 lungsmacher_innen und Vermittler_innen der GfZK stets darum bemüht, 8 den Besucher_innen neue Perspektiven und Denkweisen mit auf den Weg 9 zu geben (Schäfer, 2015b, Z. 0450ff.) und sie zu einer kritischen Haltung zu 10 ­motivieren. Die GfZK definiert es als eine ihrer Aufgaben, auf Diskriminie- 11 rung aufmerksam zu machen und Vielfalt wertschätzend zu thematisieren 12 (ebd., Z. 0730f.). Die Ausstellungsserie »Travestie für Fortgeschrittene« ließ 13 sich besonders gut mit den Zielsetzungen der Pädagogik vielfältiger Lebens- 14 weisen in Verbindung bringen. Die präsentierten künstlerischen Arbeiten 15 regten dazu an, Position zu beziehen (ebd., Z. 0453f.), führten zu Verunsiche- 16 rungen, die durchaus produktive Folgen haben konnten, und versuchten, der 17 Angst vor Vielfalt entgegenzuwirken (ebd., Z. 0477f.). Gleichzeitig fungierte 18 die Ausstellungsreihe als eine Art Vorlage zur Ermöglichung von vielfältigem 19 Begehren und Leben. Dadurch bot die GfZK einen Anlaufpunkt für Kinder 20 und Jugendliche an, die sonst keinen Zugang zu vielfältigen Lebensweisen 21 erhalten (ebd., Z. 0719–0726). Die Dynamik, die Jutta Hartmann in Bezug 22 auf das Denken über geschlechtliche und sexuelle Zuschreibungen fordert, 23 lässt sich in der allgemeinen Herangehensweise zur Konzeption der Ausstel- 24 lungen und Vermittlungsprojekte der GfZK wiederfinden. Denn hierfür gibt 25 es keine starren Vorgaben. Im Gegenteil: Das Vorgehen ist stets sehr offen 26 und unkonventionell, Ausstellungen und Projekte sind nicht vollständig 27 durchgeplant, sondern lassen immer Spielräume offen. 28 Aktuelle gesellschaftliche Fragen sind oftmals Ausgangspunkt für die 29 Ausstellungen in der GfZK. Anlass für »Travestie für Fortgeschrittene« 30 waren unter anderem die Demonstrationen gegen Homo-Ehe und Bil- 31 dungsplanreform, die rechtspopulistische Compact-Konferenz in Leipzig 32 (mit dem Titel »Für die Zukunft der Familie«, 2013) sowie die homo- 33 phobe Rede von Sibylle Lewitscharoff im Staatsschauspiel Dresden (2014). 34 In den drei Teilen der Ausstellung wurden Arbeiten gezeigt, die die Besu- 35 cher_innen zur kritischen Reflexion über vermeintliche Normalitäten, be- 36 grenzendes und kategorisierendes Denken oder auch Diskriminierungen 37 anregen sollten. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 107 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 Im Folgenden werden die Arbeiten aus »Travestie für Fortgeschrittene« 2 kurz vorgestellt, die sich besonders gut als Ausgangspunkt für eine Aus- 3 einandersetzung mit den Themen Geschlecht und Begehren unter Ver- 4 wendung sowohl der Handlungsempfehlungen der Pädagogik vielfältiger 5 Lebensweisen als auch der Methoden der Ästhetischen Forschung eignen. 6 Dabei wäre der Ansatz stets der gleiche: 7 a) die Arbeit betrachten 8 b) Fragen an die Arbeit und sich selbst stellen 9 c) eine Frage oder ein Thema auswählen, die/das näher erforscht werden 10 soll 11 d) unter Verwendung von Methoden aus Alltag, Wissenschaft und 12 Kunst nach Antworten suchen – Dabei können gegebenenfalls künst- 13 lerische Methoden, die in der Ausstellung zu finden sind, oder andere 14 selbst erprobt werden (z. B. Film, Fotografie, Kostümierung, Perfor- 15 mance, Collage, Malerei, Installation) 16 e) eine geeignete Form der Präsentation der Forschungsergebnisse finden 17 (Fotoausstellung, Film, Beamerpräsentation, Performance, Ausstel- 18 lung eines Forschungstagebuchs, Lesung selbst verfasster Texte u. v. m.) 19 20 Darüber hinaus gelten in allen Projektphasen die oben erläuterten Gelin- 21 gensbedingungen, Handlungsempfehlungen und Methoden der zwei vor- 22 gestellten Konzepte aus Pädagogik und Kunstvermittlung. 23 Eine erste Arbeit, die zur Auseinandersetzung mit Fragen zu Ge- 24 schlecht und Begehren, insbesondere zu Konstruktionsmechanismen 25 von Normen und Macht anregt, ist die Installation Grandiose Simulanten 26 (2014) von Sebastian Helm und Studierenden der Bauhaus-Universität 27 Weimar. Die Arbeit zeigt eine Zollsituation (wahrscheinlich an einem 28 Flughafen), in der Regeln und Gesetzte festlegen, »was da durch darf und 29 was nicht« (Schäfer, 2015b, Z. 0249f.). Auf abstrakte Art und Weise wird 30 hier deutlich gemacht, wie gnadenlos die Auslese darüber wirken kann, 31 was »normal« ist und was nicht, wenn man sie auf einzelne Subjekte 32 und Schicksale überträgt und einen Blick auf die Gesellschaft wirft, in der 33 Menschen, die nicht der Norm entsprechen, abgewiesen, ausgeklammert 34 oder verfolgt werden. 35 Eine andere passende Arbeit ist Hysterical Men 3 (2014) von Henrik 36 Olesen, bei der Schwarz-Weiß-Fotografien auf Zeitungspapier gedruckt 37 und dann auf eine über zehn Meter lange Leinwand tapeziert wurden. Die 38 Collage sensibilisiert über die Darstellung von Gegenständen und Tieren,

108 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung die mit sexuellen Zuschreibungen assoziert werden können, sowie durch 1 die Verwendung von Porträtbildern für Differenzen und Vielfalt. Die Por- 2 träts zeigen zwei Transgender-Persönlichkeiten, deren Schicksale weltweit 3 bekannt wurden (Schäfer, 2015b, Z. 0264–0318). Einige der Porträts 4 zeigen Brandon Teena, der als Mädchen geboren wurde, aber in seiner 5 Jugend begann, eine männliche Identität zu leben. Dies zog den Hass seines 6 Umfeldes auf ihn und ließ ihn zum Opfer von Vergewaltigung und Mord 7 werden (ebd., Z. 0283–0289). Auf anderen Bildern ist Chelsea Manning 8 zu sehen, die als US-Soldat wegen Spionageverdacht inhaftiert wurde, im 9 ­Gefängnis ihre weibliche Identität offenbarte und, begleitet von einer hefti- 10 gen öffentlichen Debatte, schlussendlich von der US-Armee eine Hormon- 11 therapie genehmigt bekam (ebd., Z. 0290–0301). 12 Die raumübergreifende Installation training (2015) des Künstler_in- 13 nenduos Hoelb/Hoeb hingegen verhandelt anhand von Verweisen auf 14 Gesundheit/Krankheit oder Natur/Technik verschiedene Auffassungen 15 zu Körperlichkeit und Verhaltensmustern. Im Projektionsraum der Instal- 16 lation geben vier verschiedene Videos Anlass, sich mit Vielfalt, Machtkon­ 17 strukten und Geschlechterzuschreibungen zu beschäftigen (Galerie für 18 Zeitgenössische Kunst Leipzig, 2015b). Zu sehen ist ein Chor mit gehör­ 19 losen Jugendlichen (Artur Żmijewski: Singing Lesson 2, 2003), Rassehunde 20 bei der Abrichtung (Clara Rueprich: Condition M, 2006), eine Dame mit 21 rot geschminktem Gesicht im Kaufhaus (NAF1: Die schönen Dinge des 22 Lebens, 2014) und energisch tanzende Füße (Ruti Sela: Steps, 2006). Über 23 die Auseinandersetzung mit diesen Videos lassen sich Diskussionen über 24 Themen wie Wertschätzung von Vielfalt, Unterdrückung von Begehren, 25 Leben entgegen der Norm oder Eindeutigkeit von Geschlecht beginnen. 26 Grit Hachmeisters Arbeit Eimer und Schrank (2015) lädt mit ihren ge- 27 malten und gezeichneten Gegenständen und Tieren dazu ein, eindeutige 28 Zuordnungen von männlichen und weiblichen Identitäten kritisch in den 29 Blick zu nehmen (Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, 2015b). 30 Anhand eines weiteren Beitrags von Henrik Olesen mit dem Titel 1935 31 1922 (2003) liegt eine »Auseinandersetzung mit der Kriminalisierung und 32 Bestrafung von Homosexualität« (Galerie für Zeitgenössische Kunst Leip- 33 zig, 2015b) nahe. Im Mittelpunkt der Arbeit stehen die Collageelemente 34 35 1 NAF steht für Nana And Friends, ein Künstlerinnenkollektiv mit Basis in Stuttgart, be- 36 stehend aus Nana Hülsewig, Fender Schrade und Mona Kuschel (NAF – Performance 37 Space – Nana Hülsewig und Fender Schrade, o. J.). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 109 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 auf den Seiten von zwei Bildromanen des Surrealisten Max Ernst, die »die 2 Erzählungen von einer ursprünglich heterosexuellen Fixierung zu facetten- 3 reichen, homosexuellen Szenerien [verschieben]« (kunstaspekte, o. J.). 4 Das Tanzstück Optophobia (2015) von der Choreografin Heike Hennig, 5 das in der Installation training aufgeführt wurde, soll unter dem Einsatz 6 von »Sprache, Sound, Bewegung und Leidenschaft« (Hennig, o. J.) Fragen 7 danach aufwerfen, woher die Angst vor Vielfalt in der Gesellschaft kommt 8 und wie diese produziert wird (Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig, 9 2015b). 10 Eine weitere in »Travestie für Fortgeschrittene« präsentierte Arbeit, 11 die sich gut mit den Handlungsempfehlungen der Pädagogik vielfältiger 12 Lebensweisen in Verbindung bringen lässt, ist das Video NORM IST 13 F!KTION #1/1 (2015) von Nana Hülsewig und Fender Schrade (Künst- 14 lerinnenkollektiv NAF). Im Rahmen ihres mehrteiligen Projekts NORM 15 IST F!KTION führen die Künstlerinnen Performances im öffentlichen 16 Raum durch, die die Grenzen der Kategorien Geschlecht und Sexualität 17 verwischen sowie Selbstverständlichkeiten und Normvorstellungen in- 18 frage stellen (Schäfer, 2015a). NORM IST F!KTION #1/1 ist die Video­ 19 aufnahme einer Performance, in der sich Hülsewig und Schrade, ver­kleidet 20 als Finanzexpert_innen, in einem Business Center unter pausierende, 21 rauchende und telefonierende Manager_innen, Geschäftsfrauen und 22 -männer mischen und sich zunächst unauffällig und angepasst verhalten. 23 Aus dem Nichts heraus werden beide umgerissen, scheinbar attackiert und 24 zum Kampf aufgefordert – die/der Gegner_in bleibt für die verwirrten 25 Außen ­stehenden allerdings unsichtbar (NAF – Performance Space – 26 Nana ­Hülsewig und Fender Schrade, o. J.). Zurück bleiben Fragen nach 27 Ver ­haltenskonventionen und den Grenzen des Machbaren in einer durch 28 Regeln und Normen bestimmten Welt. 29 Als letztes Beispiel einer für die Anwendung der Pädagogik vielfältiger 30 Lebensweisen sowie der Ästhetischen Forschung geeigneten künstlerischen 31 Arbeit sei die Installation Plastiken (2015) von Franz Kapfer genannt. 32 Dabei handelt es sich um etwa 15 senkrecht stehende Stangen in verschie- 33 denen Größen, die kunstvoll mit modifizierten Plastikflaschen in bunten 34 Farben verziert sind. Dabei bezieht Kapfer sich auf die Prangerstangen aus 35 der Region um Salzburg, die als »alpine Fruchtbarkeitssymbole« (Galerie 36 für Zeitgenössische Kunst Leipzig, 2015c) gelten und zu bestimmten An­ 37 lässen von den Junggesellen des Ortes bei einem Umzug getragen werden. 38 Die Stangen können bis zu acht Meter lang und 80 Kilogramm schwer sein

110 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung und sind traditionell mit Blumen geschmückt. Dabei gilt selbstverständlich: 1 Je größer, schwerer und bunter geschmückt, desto beeindruckender wirkt 2 die Prangerstange auf das Publikum. Auf den ersten Blick sehen Kapfers 3 Stangen aus wie italienische Glaskunst. Erst beim genaueren Hinschauen 4 wird klar, dass es sich hierbei um »wertlose« Plastikflaschen handelt. Ob 5 der Künstler hiermit beabsichtigt, »geschlechterkonnotierte Rituale« 6 (ebd., 2015c) und Prahlereien abzuwerten und ins Lächerliche zu ziehen? 7 8 9 Handlungsempfehlungen für die wertschätzende 10 Thematisierung geschlechtlicher und sexueller Vielfalt 11 im Rahmen der Kunstvermittlung 12 13 Die durchgeführte Untersuchung zeigt, dass die Auseinandersetzung mit 14 den Themen Geschlecht, Sexualität und Lebensweise durch ästhetisch- 15 künstlerische Zugänge eine emotionale Nähe zu den Problemen, aber auch 16 Potenzialen, die sich hinter der Thematik verbergen, schaffen können. Der 17 sinnliche Zugang über die Künste, der durch die Ästhetische Forschung 18 ermöglicht wird, bietet Abstand zu alltäglich-pragmatischen Ordnungen, 19 vermag Unsagbares auszudrücken sowie vorherrschende Identitätsan­ 20 nahmen und Normvorstellungen aufzulösen. Einzelne in der ästhetischen 21 Forschungsarbeit erfahrene Aspekte können Reflexionsprozesse auslösen, 22 die zu einer offeneren Haltung gegenüber sich selbst und der Welt führen. 23 Somit kann auch die Wertschätzung gegenüber geschlechtlicher und sexu- 24 eller Vielfalt gefördert werden. 25 Um diese wertschätzende Haltung, die Stärkung der Identität sowie 26 die Erweiterung des Bewusstseins bei den Adressat_innen erreichen zu 27 können, sollten bei der Umsetzung von Bildungsprojekten, die Geschlecht 28 und Begehren in der Auseinandersetzung mit Kunst thematisieren, fol- 29 gende Punkte beachtet werden: 30 31 Die Rolle der Pädagog_innen 32 Die Pädagog_innen und Kulturakteur_innen, die am Projekt beteiligt sind, 33 müssen selbst bereit sein, sich auf einen Prozess einzulassen, der viele Spiel- 34 räume offen lässt und somit teilweise spontane Entscheidungen zum Pro- 35 jektverlauf erfordert. In dieser Hinsicht sollten die Projektbetreuer_innen 36 stets sehr sensibel die Gruppenprozesse sowie den Fortschritt jeder/jedes 37 Einzelnen beobachten und gegebenenfalls Anreize schaffen, Hilfe anbieten 38

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1 oder Feedbackrunden einberufen. Als selbstverständlich ist vorausgesetzt, 2 dass die mitwirkenden Pädagog_innen sich mit den Wertvorstellungen der 3 Pädagogik vielfältiger Lebensweisen sowie der Ästhetischen Forschung 4 identifizieren können. Denkbar wäre, dass hierzu Multiplikator_innen- 5 fortbildungen durchgeführt werden, bei denen Pädagog_innen und Vertre- 6 ter_innen aus Kunst und Kultur zusammenkommen und gemeinsam ein 7 eigenes Forschungsprojekt realisieren. 8 9 Orientierung an den Bedürfnissen der Teilnehmenden 10 und Wertschätzung 11 Bei der Durchführung von Bildungsprojekten ist zu beachten, dass die 12 Thematik nicht »aufgezwungen« werden darf, da dadurch eine emotional 13 aufgeladene Auseinandersetzung blockiert wird. Aus diesem Grund sollte 14 so behutsam wie möglich zu der Thematik hingeführt werden, ohne die 15 Teilnehmenden zu manipulieren. Fragen sollten nicht suggestiv formuliert 16 werden, da sonst die Gefahr besteht, Antworten zu erhalten, die als sozial 17 erwünscht angesehen werden. Was für den gesamten Prozess gilt, trifft auch 18 auf die Themenfindung zu: Die Ästhetische Forschung zeichnet sich durch 19 die Partizipation aller Projektteilnehmenden am Prozess aus. Die Teilneh- 20 menden sollten in allen Belangen so frei wie möglich entscheiden dürfen, 21 da durch den Einbezug ihrer eigenen Interessen die Motivation zur Mit­ 22 arbeit enorm gesteigert wird. 23 Vielfalt sollte als selbstverständlich mitgedacht werden und es sollte 24 darauf geachtet werden, keine Binaritäten zu konstruieren. Darüber hinaus 25 ist es wichtig, dass den Teilnehmenden Wertschätzung für ihre Arbeit ent- 26 gegengebracht und bei Konflikten in der Gruppe möglichst sanft eingegrif- 27 fen wird. Außerdem sollte ein angemessener Zeitrahmen für das gesamte 28 Projekt vorgesehen sein, der Raum zum Experimentieren lässt. 29 30 31 Literatur 32 Adorno, T. W. (1951). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frank- 33 furt a. M.: Suhrkamp. 34 Agentur der EU für Grundrechte (FRA). (2013). Erfahrungen von LGBT–Personen mit 35 Diskriminierung und Hasskriminalität in der EU und Kroatien. http://fra.europa. eu/sites/default/files/eu-lgbt-survey-factsheet_de.pdf (21.06.2017). 36 Bittner, M. (2012). Geschlechterkonstruktionen und die Darstellung von Lesben, Schwulen, 37 Bisexuellen, Trans* und Inter* (LSBTI) in Schulbüchern. Frankfurt a. M.: Gewerkschaft 38 Erziehung und Wissenschaft. https://www.gew.de/ausschuesse-arbeitsgruppen/

112 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

weitere-gruppen/ag-schwule-lesben-trans-inter/ratgeber-praxishilfe-und-studie/ 1 gleichstellungsorientierte-schulbuchanalyse/ (01.02.2019). 2 Blohm, M. & C. Heil. (2012). Was ist ästhetische Forschung? In C. Leuschner & A. Knoke (Hrsg.), Selbst entdecken ist die Kunst. Ästhetische Forschung in der Schule (S. 6–10). 3 München: kopaed. 4 Brandes, S. (2012). Die Stärken nutzen: Zur Kooperation von Schulen und Kulturpart- 5 nern. In C. Leuschner & A. Knoke (Hrsg.), Selbst entdecken ist die Kunst. Ästhetische 6 Forschung in der Schule (S. 16–19). München: kopaed. Brenne, A. (2006). »Ästhetische Forschung – Revisited«. Gedanken über ästhetisch- 7 künstlerische Strategien zur Erforschung von Lebenswelt. In M. Blohm, C. Heil, 8 M. Peters, A. Sabisch & F. Seydel (Hrsg.), Über Ästhetische Forschung. Lektüre zu 9 Texten von Helga Kämpf-Jansen [Schriftenreihe Kontext Kunstpädagogik, Bd. 5] 10 (S. 193–201). München: kopaed. FRA – Agentur der EU für Grundrechte (2014). EU LGBT survey: European Union lesbian, 11 gay, bisexual and transgender survey – Main results. Wien. http://fra.europa.eu/sites/ 12 default/files/fra-eu-lgbt-survey-main-results_tk3113640enc_1.pdf (21.06.2017). 13 Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (o. J.). Institution/Position. http://gfzk.de/ 14 institution/ (25.06.2017a). 15 Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (o. J.). Projekte: Travestie für Fortgeschrittene. http://gfzk.de/aktivitaeten/projekte/ (25.06.2017b). 16 Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (2015a). Travestie für Fortgeschrittene. 17 Antragsschreiben für die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen. 18 Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig (2015b). Travestie für Fortgeschrittene, Teil 2: 19 »training« – Saaltexte. Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. (2015c). Travestie für Fortgeschrittene, Teil 3: 20 »Durch Wände gehen« – Saaltexte. 21 Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. 2015d. Travestie für Fortgeschrittene: Warte 22 mal! Galerie für Zeitgenössische Kunst Leipzig. http://gfzk.de/2015/travestie-fuer- 23 fortgeschrittene/ (25.06.2017). GfZK Für Dich (2015). »Was wäre, wenn …« – Teaser zum Vermittlungsprogramm der 24 GfZK Für Dich für die Ausstellung »Travestie für Fortgeschrittene«. https://foryou- 25 archiv.gfzk.de/?p=6671 (25.06.2017). 26 Hartmann, J. (1998). Die Triade Geschlecht – Sexualität – Lebensform. Widersprüchliche 27 gesellschaftliche Entwicklungstendenzen und neue Impulse für eine kritische Päda- gogik. In J. Hartmann, C. Holzkamp, L. Lähnemann, K. Meißner & D. Mücke (Hrsg.) 28 Lebensformen und Sexualität. Herrschaftskritische Analysen und pädagogische Per­ 29 spektiven [Wissenschaftliche Reihe, Bd. 106],(S. 29–41). Bielefeld: Kleine Verlag GmbH. 30 Hartmann, J. (2002). Vielfältige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht – 31 Sexualität – Lebensform. Kritisch-dekonstruktive Perspektiven für die Pädagogik. Opladen: Leske und Budrich. 32 Hartmann, J. (2004). Vielfältige Lebensweisen transdiskursiv. Zur Relevanz dekon­ 33 struktiver Perspektiven in Pädagogik und Sozialer Arbeit. In J. Hartmann (Hrsg.), 34 Grenzverwischungen. Vielfältige Lebensweisen im Gender-, Sexualitäts- und Genera- 35 tionendiskurs [Sozial- und Kulturwissenschaftliche Studientexte, Bd. 9] (S. 17–32). Innsbruck: STUDIA Universitätsverlag. 36 Hartmann, J. (2007). Intervenieren und Perpetuieren – Konstruktionen kritischer Päda- 37 gogik in den Feldern von Geschlecht, Sexualität und Lebensform. In J. Hartmann, 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 113 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anja Stopp

1 C. Klesse, P. Wagenknecht, B. Fritzsche & K. Hackmann (Hrsg.), Heteronormativität. 2 Empirische Studien zu Geschlecht, Sexualität und Macht,[Studien Interdisziplinäre Geschlechterforschung, Bd. 10] (S. 95–114). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwis- 3 senschaften/GWV Fachverlage GmbH. 4 Hartmann, J. (2013). Kritische Aspekte und Herausforderungen einer Pädagogik viel­ 5 fältiger Lebensweisen im Kontext von Geschlechter- und Sexualitäts­normen. http:// 6 www.gender-nrw.de/fileadmin/daten-fuma/4_Service/1_Download/3_FUMA_ Fachtagungen/Fachtagung_2013/Vortrag_Jutta_Hartmann.pdf (24.06.2017). 7 Hartmann, J. (2014). Geschlechtliche und sexuelle Diversität im Kontext Schule. 8 Reflexionen über subjektive Performanzen und pädagogische Relevanzen. In 9 B. ­Kleiner & N. Rose (Hrsg.), (Re-)Produktion von Ungleichheiten im Schulalltag: 10 Judith Butlers Konzept der Subjektivierung in der erziehungswissenschaftlichen For- schung (S. 97–115). Opladen: Barbara Budrich Verlag. 11 Heil, C. (2006). Bezugnahmen auf Kunst erforschen. Wie sich ein Reservoir ästhetischer 12 Möglichkeiten in der kartierenden Auseinandersetzung bilden kann. In M. Blohm, 13 C. Heil, M. Peters, A. Sabisch & F. Seydel (Hrsg.), Über Ästhetische Forschung. Lektüre 14 zu Texten von Helga Kämpf-Jansen [Kontext Kunstpädagogik, Bd. 5] (S. 203–213}. 15 München: kopaed. Hennig, H. (o. J.). Optophobia Travestie. http://www.heikehennig.de/Productions/ 16 Travestie/travestie.html (12.06.2017). 17 Kammler, C. (2012). Auf dem Weg in die Schule der Zukunft: Forschendes Lernen in 18 Kunst und Kultur. In C. Leuschner & A. Knoke (Hrsg.), Selbst entdecken ist die Kunst. 19 Ästhetische Forschung in der Schule (S. 13–15). München: kopaed. Kämpf-Jansen, H. (2012). Ästhetische Forschung: Wege durch Alltag, Kunst und Wissen- 20 schaft – Zu einem innovativen Konzept ästhetischer Bildung. [= KONTEXT Kunst – 21 Vermittlung – Kulturelle Bildung. Bd. 9.] 3. Aufl..Marburg: Tectum Verlag. 22 kunstaspekte. (o.J). Henrik Olesen. kunstaspekte. https://kunstaspekte.art/event/henrik-­ 23 olesen-2004-02 (12.07.2017). Legler, W. (2006). »He-man und Barbie« als Gegenstand Ästhetischer Forschung? Per- 24 sönliche Erfahrung und »emanzipatorischer Unterricht«. In M. Blohm, C. Heil, 25 M. Peters, A. Sabisch & F. Seydel (Hrsg.), Über Ästhetische Forschung. Lektüre zu 26 Texten von Helga Kämpf-Jansen, [Kontext Kunstpädagogik, Bd. 5] (S. 125–133). 27 München: kopaed. Leuschner, C. & Riesling-Schärfe, H. (2012). Warum brauchen wir Ästhetische Forschung 28 in der Schule? In C. Leuschner & A. Knoke (Hrsg.), Selbst entdecken ist die Kunst. 29 Ästhetische Forschung in der Schule (S. 11–12). München: kopaed. 30 Lewitscharoff, S. (2014). Von der Machbarkeit. Die wissenschaftliche Bestimmung über 31 Geburt und Tod. http://www.staatsschauspiel-dresden.de/download/18986/ dresdner_rede_sibylle_lewitscharoff_final.pdf (17.06.2017). 32 NAF – Performance Space – Nana Hülsewig und Fender Schrade. (o. J., a) NAF. http://naf. 33 space/norbert-andy-frank/ (01.07. 2017a). 34 NAF – Performance Space – Nana Hülsewig und Fender Schrade. (o. J., b) Norm ist 35 F!ktion #1/1. http://naf.space/norm-ist-fiktion11/ (01.07.2017). Schäfer, J. (2015a). E-Mail von Julia Schäfer an Anja Stopp – Betreff: Ergänzende Infor- 36 mationen zum Interview. 37 Schäfer, J. (2015b). Interview Nummer 1: Interview zwischen Anja Stopp und Julia 38 Schäfer (Kuratorin der GfZK Leipzig). In A. Stopp, Geschlecht und Begehren in

114 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Geschlecht und Begehren in der Kunstvermittlung

der Kunstvermittlung. Die Pädagogik vielfältiger Lebensweisen im Rahmen der 1 Ästhetischen Forschung am Beispiel der Galerie für Zeitgenössische Kunst Leip- 2 zig. Masterarbeit, Hochschule Merseburg. Schulz, J. (2012). Strukturen schaffen: Ästhetische Forschung im Schulalltag. In 3 C. Leuschner ­ & A. Knoke (Hrsg.), Selbst entdecken ist die Kunst. Ästhetische For- 4 schung in der Schule (S. 23–27). München: kopaed. 5 Welt.de (2014). Bildungsplan: Lehrer warnen vor Pornografisierung. http://www.welt. 6 de/politik/deutschland/article133520438/Lehrer-warnen-vor-Pornografisierung- der-Schule.html (21.06.2017). 7 8 9 Die Autorin 10 Anja Stopp, 1986 in Karl-Marx-Stadt geboren, studierte Kommunikationsdesign und An- 11 gewandte Medien- und Kulturwissenschaft. Nach zwei Jahren als Projektmanagerin bei 12 der Landesvereinigung Kulturelle Jugendbildung Thüringen arbeitet sie seit Mai 2018 13 als Mitarbeiterin für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising beim interaction Leipzig e. V., 14 der bei partizipativen kulturellen Veranstaltungen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Hintergründe auf Augenhöhe zusammenbringt. Nebenberuflich ist sie als Kunst- 15 vermittlerin (u. a. im Museum der bildenden Künste Leipzig) und Grafikdesignerin tätig. 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 115 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen 1 2 Konstruktion von Parallelwelten bei David Greenspan 3 4 Bettina Brandi 5 6 »Wir befinden uns in der Logik der Simulation, die nichts 7 mehr mit einer Logik der Tatsachen und einer Ordnung 8 von Vernunftgründen gemein hat.« 9 Jean Baudrillard 10 11 Einleitung 12 13 Theater, dieses sich standhaft behauptende, analoge Medium, ist ein ein- 14 zigartiger Spiegel für das menschliche Bewusstsein und der Ort, an dem 15 für David Greenspan in Gegenwart eines realen Publikums simultan 16 alles passieren kann. Der in seinen Anfängen umstrittene Autor, Regis- 17 seur und Schauspieler begann seit Ende der 1980er Jahre die New Yorker 18 Theaterszene mit turbulenten Theaterstücken und Inszenierungen heraus- 19 zufordern, indem er den psychologisch begründeten amerikanischen Er- 20 zählrealismus gekonnt mit den philosophischen Anliegen der Moderne 21 verschmolz. Damit haftet Greenspans Stücken eine ganz eigene Ästhetik 22 an, die sich postmodern aus allerlei Genres bedient und letztendlich das 23 profane Rätsel der eigenen Herkunft umkreist, oft auch den Finger mitten 24 in die Wunde dessen legt, was man Familie nennt. Greenspans Arbeit 25 ist experimentell, gewagt und wie ein Thinktank als eine Art praktisches 26 Versuchslaboratorium über das Wesen des Theaters zu verstehen, was sich 27 weiter unten in der Beschreibung seiner Stücke erschließen wird. 28 Der Beginn von Greenspans Karriere als Enfant terrible im Umfeld des 29 künstlerisch angesehenen Broadways steht in einer noch nicht allzu langen, 30 aber einflussreichen kulturellen Tradition der Selbstbestimmung gegen- 31 über als falsch empfundenen Machtstrukturen und Autoritäten Anfang des 32 20. Jahrhunderts unter anderem im New Yorker Boheme-Viertel Greenwich 33 Village. Es war die Zeit, in der neben der Bildenden Kunst auch das Thea- 34 ter zu einem wichtigen Ort für die Erforschung von Geschlechteridentität 35 und Sexualität wurde. Seit der Homophilenbewegung um die Jahrhundert- 36 wende brachten zunächst kleine Clubtheater und Off-Broadway-Bühnen 37 Anfang des 20. Jahrhunderts Stücke von Oscar Wilde, Djuna Barnes oder 38

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1 Eugene O’Neill auf die Bühne, die sich um die Zerrissenheit des Subjekts 2 in desolaten Familienverhältnissen und ein zunehmend als fremdbestimmt 3 empfundenes Leben drehten. Dies waren zum Beispiel bei O’Neill Themen 4 und Darstellungsweisen von der Wucht griechischer Tragödien oder wie 5 bei Djuna Barnes bis ins Groteske hinein gesteigerte, inzestuös aufgeladene 6 Familienneurosen. Vieles davon findet sich in postmoderner Choreografie 7 bei David Greenspan wieder. Die nach der Homophilenbewegung folgende 8 Gay Liberation (Homobefreiungsbewegung) der 1960 und -70er Jahre ar- 9 tikulierte sich im Zuge der Erfahrungen durch den Vietnamkrieg deutlich 10 politischer als es zuvor geschehen war. Viele Künstler_innen setzten sich im 11 Zuge der allgemeinen Politisierung radikal kritisch mit den erkanntermaßen 12 »falschen« Autoritäten auseinander, experimentierten mit Geschlechtlich- 13 keiten und Provokationen aller Art. Vor diesem hier nur kurz skizzierten 14 Hintergrund schuf David Greenspan zusammen mit anderen Autor_innen, 15 Schauspieler_innen und Regisseur_innen in den 1980er und -90er Jahren 16 eine ganz eigene Theaterwelt durch teils extreme sexuelle Inhalte mit konkret 17 körperlichen Vorgängen, die bis dahin selten im künstlerischen Theater jen- 18 seits von Travestie- und Sex-Clubs zu sehen waren. Greenspan interessierte 19 sich von Beginn an für Momente des Privatlebens mit all seinen sexuellen 20 Spielarten und familiären Verstrickungen. Manchmal sei es eine Art von Ex- 21 periment gewesen, so Greenspan, und alles drehte sich um die Frage, wie weit 22 ein Dramatiker oder Regisseur gehen kann, etwas zu zeigen, was ausdrücklich 23 sexuell ist – wie zum Beispiel eine Masturbation auf offener Bühne –, ohne 24 dabei pornografisch zu wirken. Zu Beginn seiner Arbeit habe er nach eigener 25 Aussage manchmal eine Grenze überschritten, die er heute durch die Aus- 26 weitung ästhetischer Mittel ins Symbolisch-Bildhafte überhöhe, ohne aller- 27 dings dabei ihre Wucht zu entschärfen. Wohl auch durch diese künstlerische 28 Suche nach einem adäquaten Ausdruck für seine Geschichten konstruieren 29 und dekonstruieren seine Inszenierungen und Stücke dramaturgische und 30 formalästhetische Regeln der Theaterkunst in traumgleiche, nahezu filmi- 31 sche Sequenzen, die auf unterschiedliches Echo stoßen. In den USA reagierte 32 die Theaterkritik zunächst überwiegend negativ. Frank Rich vergleicht in der 33 New York Times die – in seinen Worten – von jüdischer Kultur und Selbst- 34 ironie überbordende Fantasie Greenspans mit der Omnipotenz Richard 35 Wagners und warnt die Leser_innen geradezu davor, sich Greenspans Insze- 36 nierungen anzusehen. Zuschauer, die aus irgendeinem Grund doch in diese 37 Aufführungen geraten wären, sollten sich nicht für einen Trottel oder für 38 bigott halten, wenn sie mit dem Stück nichts anfangen könnten. Es liege

118 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen allein an Greenspan, dessen Ego keine Grenzen kenne, der sich selbst in 1 der Figur des monologisierenden Schauspielers ein egomanisches Denkmal 2 setzen wolle, was zwangsläufig zur Langeweile führen müsse (Rich, 1991). 3 In ignorant-herablassender Haltung wird am Autor Greenspan herumpsy- 4 chologisiert, und Kritiken wie die von Frank Rich sind insofern bemerkens- 5 wert, als sie mehr über die Übertragungs- und Verdrängungstechniken des 6 Kritikers im Mainstream der amerikanischen Kulturelite aussagen als über 7 die zu beurteilende Inszenierung. Rich schreibt, Greenspan sei ein Autor, 8 der in offensichtlich grenzenloser Anmaßung, Überheblichkeit und Egozen- 9 trik sein Gegenüber gern peinlich berühre, dass er nur eine aufgeheizte, eng 10 biografische Sphäre auf der Bühne ausbreite und keine anderen Themen als 11 diese get mother plays (»Wie rette ich meine Mutter«-Stücke) habe. Zur Ver- 12 schleierung seines eigenen, nach Veröffentlichung drängenden Tagebuchs, 13 so der anerkannte Theaterkritiker weiter, müsse Greenspan daher um die 14 eigentlich nur 15-minütige Kern- und Familiengeschichte eine zweistündige 15 Camouflage angeberischer Ausschweifungen in grellen, schrillen Variationen 16 theatralischen Stils ausbreiten, um die Kerngeschichte damit zu bemänteln. 17 Andere Artikel über das neue Bühnenbewusstsein der Schwulen bescheini- 18 gen Greenspan zwar Genialität und Klugheit im Aufgreifen dieser für das 19 Theater längst fälligen Thematik und in dem Angreifen der amerikanischen 20 Bigotterie, bleiben aber darin verhaftet und sehen nicht die eigentlichen in- 21 haltlichen und ästhetischen Dreh- und Angelpunkte in Greenspans Stücken. 22 23 24 »Jedes Kunstwerk ruft Feindschaft hervor« 25 (Michael Feingold) 26 27 Greenspans eigene Inszenierungen der 1980er und -90er Jahre, in denen er 28 bis heute oft selbst eine Rolle übernimmt, werden in der Regel ausschließ- 29 lich als Schwulen-Theater wahrgenommen. In den Besprechungen wird die 30 Aids-Thematik zwar erörtert, aber an den eigentlichen Inhalten vorbeikri- 31 tisiert. In der New York Post bekennt der oben genannte Theaterkritiker 32 Frank Rich vorsichtig: »Kritiker sind nie am besten, wenn sie mit Neuem 33 konfrontiert werden – und Greenspan ist eine neue Welle« (Rich, 1991; 34 Übers. B. B.).1 Im nächsten Satz relativiert Rich allerdings diese scheinbar 35 36 1 Im Original: »Critics are never at their best faced with the new – and there is a possibility 37 that Greenspan is a new wavelet.« 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 119 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Bettina Brandi

1 provokante Neuartigkeit: »Aber ich würde nicht darauf wetten – dieses 2 Zeug scheint mir so neu zu sein wie die neuen Kleider des Kaisers, und der 3 Kaiser trägt sogar einen falschen Phallus« (ebd.).2 4 Das amerikanische Theatersystem stand vor allem in den Anfängen von 5 Greenspans Inszenierungen diesem Bühnenfuror aus antiker Tragödie und 6 moderner Groteske etwas fassungslos gegenüber. Bis heute lernen Schau- 7 spieler aller Nationalitäten in der 1969 gegründeten New Yorker Schule 8 von Lee Strasberg den psychologischen Realismus der Schauspielkunst in 9 Anlehnung an den berühmten russischen Schauspiellehrer Stanislawski. 10 Das gewohnte Rezeptionsrepertoire versagt jedoch angesichts der thea- 11 tralen Collagen von David Greenspan, dieser vergnüglichen Mixtur aus 12 sprachlicher Farbigkeit, verwirrender Kargheit und dem rüden sch­ nellen 13 Ton der Comics. Greenspans Stücke und Inszenierungen verlangen eman- 14 zipierte Theatergänger_innen, die bereit sind, alles bisher Gewohnte an 15 der Garderobe abzugeben und sich der extravaganten labyrinthischen 16 Fantasie des Autors hinzugeben. Im Sinne der Kontingenzerfahrung muss 17 man gar nicht unbedingt eine logische Folgerichtigkeit erwarten oder eine 18 realistisch nachvollziehbare Geschichte verstehen wollen, da die Erzähl- 19 logik sich immer wieder in kubistischen Einzelelemente zersplittert und 20 aufzulösen scheint. Jeder entdeckt sowieso etwas anderes in den Auffüh- 21 rungen, versteht etwas anderes und verbindet es mit seinen eigenen Le- 22 benserfahrungen. Die einzig durchgängig positiven Kritiken in New York 23 schrieb Michael Feingold in Village Voice seien 24 25 »Mythologie, Klamauk, Geschlechterfarce, Familiendrama, rätselhafte 26 Vision, Alptraum, Vieldeutigkeit. Die möglichen Bedeutungen in Green- 27 spans theatralischem Menu sind lange nicht so wichtig wie das üppige, wit- 28 zige, verrückte Fest, welches sie zusammen ergeben. Hier ist der lebendige 29 Beweis dafür, dass das Theater in New York nicht nur höchst lebendig ist, 30 sondern dass sein Hirn auch noch funktioniert, schwindelerregende Unter- 31 haltung im Herzen der Kunst statt steifer Feierlichkeit. Also, alle zusammen, 32 Intelligenzia, ruft die Kasse an, und bringt Joe Papp dazu, das Stück zu ver- 33 längern. Dies muss jeder tun, der lebendiges Theater will und sich nicht zum 34 Helfer der New York Times machen möchte, die Greenspan mit Richard 35 36 37 2 Im Original: »But I wouldn’t bet on it – this stuff seems to me about as new as the Em­ 38 peror’s new clothes, and the Emperor is even wearing a fake phallus.«

120 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen

Wagner verglich, ein Vergleich, der stimmen könnte, wenn man ins Festspiel- 1 haus von Bayreuth eine Achterbahn einbaut« (Feingold, 1991). 2 3 David Greenspan wurde 1956 in Los Angeles, Kalifornien geboren, stu- 4 dierte Drama an der University of California, Irvine, und lebt mit seinem 5 langjährigen Partner, dem Maler William Kennon, in New York City, 6 von wo aus er sich als Stückeschreiber, passionierter Schauspieler und 7 Theaterdirektor der Off- und Off-Off-Broadway-Szene seit den 1980er 8 Jahren einen Namen machte und seit Anfang 2002 mit zahlreichen 9 Preisen (z. B. mehrmals mit dem Obie Award, dem Off-Broadway-Preis) 10 ausgezeichnet wurde. Inspiriert wurde Greenspan durch Literatur von 11 James Joyce (Ulysses) und Virginia Woolf sowie von Jean Anouilh, Ger- 12 trude Stein, Thornton Wilder und seit Mitte der 1980er Jahre durch den 13 Vaudeville-Stil von Philipp Dimitri Galas (1954–1986) und dem späten 14 Charles Ludlam (1943–1987), dessen Stücke schon sehr früh das Thema 15 HIV und Aids behandelten. Beide traten, wie Greenspan selbst, häufig 16 in Frauenrollen auf und öffneten das Theater für Themen der weiblichen 17 und männlichen Homosexualität. Die Liste von Greenspans eigenen, 18 in den Anfängen explizit biografisch eingefärbten Arbeiten ist lang. 19 Inhaltlich und ästhetisch bedient sich Greenspan aus dem reichen 20 Fundus der Theatergeschichte, wie zum Beispiel der griechischen Mytho- 21 logie, Shakespeares Komödien, dem Vaudeville, das seinen Ursprung im 22 französischen Jahrmarktstheater des 17. und 18. Jahrhunderts hat und oft 23 mit Tanz und Schlagern verbunden war. Das Vaudeville setzte sich Ende 24 des 19. Jahrhunderts auch in Nordamerika als Revuetheater durch und 25 inspirierte zahlreiche Künstler, darunter Charlie Chaplin, Buster Keaton, 26 die Marx Brothers und berühmte Schauspieler wie Sarah Bernhardt und 27 Freddie Frinton, wobei letzterer mit Dinner for One, das aus einer Vau- 28 deville-Nummer hervorging, auch in Deutschland berühmt wurde. Im 29 Vaudeville war alles möglich: Feuerschlucken mischte sich mit Tänzen, 30 Bauchredner und Schlager mit Magie und Akrobatik, Tierdressuren mit 31 Burlesken. Dieses bunte Gemisch bis an die Grenzen des schauspieleri- 32 schen Könnens prägt die Ästhetik der Stücke und Inszenierungen von 33 David Greenspan bis heute.3 34 35 3 Im Oktober 2017 spielte Greenspan mit jetzt 61 Jahren einen Eugene-O’Neill-Marathon, 36 indem er im Stück Strange Interlude über fünf Stunden alle acht Rollen darstellte und von 37 der Kritik über die Maßen gefeiert wurde. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 121 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Bettina Brandi

1 Im Berlin der 1980er bis Ende der 1990er Jahre hat es sich die Theater- 2 gruppe STÜKKE zur Aufgabe gemacht, ausschließlich Ur- bzw. Erstauf- 3 führungen aus dem englischsprachigen Raum auf die Bühne zu bringen, 4 und stieß auf diesem Weg auf den Dramatiker David Greenspan. Das En- 5 semble bewegt sich in der Versuchsanstalt des amerikanischen Autors mit 6 schlafwandlerischer Sicherheit, was angesichts der verwirrenden Dramen­ 7 texte einen besonderen Zugang bescheinigt. Denn Greenspans geschrie- 8 bene Stücke bersten vor Themen- und Ideenvielfalt, bewegen sich in einem 9 Gestrüpp hintergründiger Gedanken, die in ihrer Aktualität zutiefst phi- 10 losophisch und gleichzeitig erfrischend banal sind. Die kompliziert ver- 11 schachtelten Montagen drehen sich reigenhaft und mit teilweise hoher 12 Geschwindigkeit um Sexualität und Identität, Geilheit und Kreativität, 13 Schein und Sein, Simulation und virtuelle Realität. In Marshall McLuhans 14 Werk Die magischen Kanäle heißt es, »dass heute die sichtbare Welt 15 keine Wirklichkeit mehr ist und die unsichtbare Welt kein Traum mehr« 16 (McLuhan, 1992, S. 50). Die Science-Fiction-Welten von Walt Disney 17 seien, so McLuhan, vielleicht nur dazu geschaffen worden, uns das Gefühl 18 zu vermitteln, dass es doch eine reale Welt außerhalb dieser simulierten 19 gibt. Welche Realität ist real? Was ist noch wahr und wirklich? 20 21 »Handelt es sich bei den Sprengstoffanschlägen in Italien um Taten linker Ex- 22 tremisten oder um eine Provokation der extremen Rechten oder um eine von 23 der Mitte ausgehende Inszenierung mit der Absicht, alle Extremisten in Verruf 24 zu bringen, um damit die eigene angeschlagene Macht wiederzuerlangen, oder 25 handelt es sich um ein Szenario der Polizei und um eine Erpressung der öffent- 26 lichen Sicherheit? All das ist gleichzeitig wahr […]« (Baudrillard, 1978, S. 30). 27 28 Aktuelle Beispiele ließen sich im Schatten von Fake News ohne Mühe er- 29 gänzen. 30 Greenspan greift diesen Zustand der Unwissenheit durch Überinfor- 31 mation und der daraus resultierenden an den Grundfesten rüttelnden Ir- 32 ritation indirekt auf und führt die Theaterkunst dahin, wo schon immer 33 die Essenz und das Glücksversprechen aller Kunst war: zur Begegnung im 34 Imaginären und in einer Welt des Möglichen. Wir befinden uns in einem 35 Zeitalter der Angst mit Ausschlägen ins Hysterische. Nicht (nur) der Angst 36 vor einem Ende durch die Atombombe oder der Angst vor dem ökologi- 37 schen Overkill, sondern auch der Angst davor, unsere bisherige Rolle des 38 informierten, politisch korrekten Menschen aufgeben und einen auf einer

122 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen eher fragenden als wissenden Haltung beruhenden Standpunkt finden zu 1 müssen – in einer Welt, die dies durch die verwirrende Vielfalt der Nach- 2 richtensysteme immer mehr erschwert, ja eigentlich verunmöglicht. 3 Die Ablösung der medialen Zeichen von dem Dargestellten, das Ver- 4 schwinden der Referenzverhältnisse führt dazu, dass die artifiziellen Medien- 5 welten ein immer stärkeres Gewicht erhalten, dass sich alles zu einer einzigen 6 großen Simulation vermischt. David Greenspan geht einen anderen Weg. Er 7 setzt seine Stücke Schicht um Schicht zusammen, spart nichts aus, greift alles 8 an. Die Verunsicherung, die Irritation wird zum formalen Prinzip. Gesucht 9 wird eine ansatzweise Verankerung in vergangenen Kulturlandschaften, in 10 Mythologie und Geschichte. Unter einer kühlen postmodernen Oberfläche 11 verbergen sich ganze Welten abendländischer Kultur, Vergangenes und Zu- 12 künftiges – oder das Mögliche, das Oswald Spengler gegenüber dem Wirk- 13 lichen der Welt als »Seele« bezeichnet. Es gibt keinen Anfang und kein ei- 14 gentliches Ende. Es gibt keine Definition, sondern nur den mutigen Blick auf 15 das Leben. Das eigenartige Theater von David Greenspan verlangt in seiner 16 Surrealität dem Publikum eine gleichsam schwebend assoziierende Aufmerk- 17 samkeit ab und hat vielfältige Bezüge, die sich durch die Theoriegeschichte 18 des Theaters ziehen. Vom rituellen Urtheater über die mythologischen Er- 19 zählungen der Antike bis hin zur heute aktuellen Intermedialität, die jenseits 20 der rein technischen Möglichkeiten auch eine neue Ästhetik und Zeichen­ 21 haftigkeit hervorgebracht hat. Tony Kushner, Kollege und mehrmaliger 22 Gewinner des Pulitzer-Preises, sagt über David Greenspan: 23 24 »Er verschmilzt den psychologisch begründeten amerikanischen Erzählrealis- 25 mus mit den philosophischen Anliegen des Hochmodernismus, einschließlich 26 der Art und Weise, in der Kunstgriffe und vor allem das Theater die perfekte 27 Metapher für das menschliche Bewusstsein sind. Aber was ich an Davids Werk 28 so erstaunlich finde, macht es auch so unglaublich schwer. Weil viele der tollsten 29 Dinge, die er gemacht hat, abhängig waren von der Matrix, die er als Schau- 30 spieler-Autor-Regisseur erstellt« (Kushner, zit. n. Shewey, 2003; Übers. B. B.).4 31 32 33 4 Im Original: »He fuses psychologically grounded American narrative realism with high 34 modernism’s philosophical concerns, including the way that the artifice of art, and espe- cially the theater, is the perfect metaphor for human consciousness. But what I find so 35 amazing about David’s work also makes it incredibly hard to describe. Because a lot of 36 the most stunning things he’s done were dependent on the matrix he creates as actor-­ 37 writer-director.­ « 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 123 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Bettina Brandi

1 Sex und Sexualität sind Teil seiner theatralen Experimente als schwuler 2 Mann, sagt Greenspan. Auch wenn er zu Beginn seiner Theaterarbeit manche 3 Linie des allgemeinen Geschmacks überschritten hat, ist er immer und fast 4 ausschließlich interessiert an den Momenten des ganz privaten Lebens. 5 6 7 »Das Zeichen unserer Zeit ist die Auflehnung 8 gegen aufgezwungene Schemata« (Marshall MacLuhan) 9 10 In Berlin trifft das Theater Greenspans in einem Kreuzberger Hinterhof auf 11 ein überwiegend junges, theaterunerfahrenes Publikum, das die Abende 12 vergnüglich wie im Kino an sich vorüberziehen lässt. Hier hatte die 1984 13 gegründete Gruppe STÜKKE im Jahr 1992 ihr neues Domizil am Süd- 14 stern mit Greenspans Tote Mutter oder Shirley nicht alles umsonst eröffnet.5 15 STÜKKE produziert neue Theaterstücke für die Großstadt. Sie suchen vor 16 allem im deutschen und englischsprachigen Raum nach Vor­lagen, die nicht 17 in die traditionelle Ästhetik deutscher Theater einzugliedern sind. Die 18 Dramaturgie an den herkömmlichen Theatern, so der damalige Theater- 19 leiter Berkenhoff, ist oft zu schwerfällig, um auf Neues und Ungewohntes 20 reagieren zu können. Auch dauert der Transfer vom amerikanischen Agen- 21 ten zum Deutschen Verlag bis zur Dramaturgie in die Theater oft dreimal 22 so lang wie auf dem direkten Weg der informellen Kontakte. Der Berliner 23 Tagesspiegel lobt: 24 25 »In den vergangenen 15 Jahren hat STÜKKE sich dank seines klugen Spiel- 26 plans und seiner anspruchsvollen, dabei unterhaltsamen Inszenierungen ein 27 überregionales Ansehen erspielt. STÜKKE stand für das Experiment, garan- 28 tierte zugleich eine hohe Professionalität. Das Produktionsteam hat sich ganz 29 der zeitgenössischen Dramatik verschrieben. Die auf Uraufführungen und 30 deutschsprachige Erstaufführungen abonnierte Bühne zeigte junge Autoren, 31 die erst später als ›hot‹ gehandelt wurden« (Luzina, 1999). 32 33 34

35 5 Im Folgenden bezieht sich die Verfasserin dieses Beitrags auf ein persönlich geführtes 36 Interview mit dem Spielleiter Donald Berkenhoff von STÜKKE und seinem Ensemble von 37 1994 sowie auf Material aus dem Pressearchiv des damals in Berlin Kreuzberg situierten 38 Theaters.

124 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen

Hartmut Krug schrieb damals in der TAZ: 1 2 »Es begann 1984 mit David Mamets ›Sexual Perversity in Chicago‹, und 3 dann ging es weiter mit Stücken über tote Affen und tote Mütter, über 4 Hunde in Tanzstunden und arme Supermänner: Mit schrillen, schrägen, 5 in Form und Ton völlig neuen Stücken aus England und Amerika (u. a. von 6 ­Hagedorn, Fraser, Greenspan) brachte die Produktionsgruppe ›Stücke für 7 die Großstadt‹ [wie die Gruppe sich damals noch nannte] in die seinerzeit 8 sehr eingefahrene freie Theaterszene Berlins ein« (Krug, 1999). 9 10 Neu an dem Theater waren nicht nur die Erstaufführungen anglikanischer 11 Stücke, sondern auch die Abkehr von alten Betriebsformen der Freien Grup- 12 pen. STÜKKE verstand sich als Produktionsgemeinschaft, die sich ihre Mit- 13 arbeiter aus dem großen Pool freier Theaterkünstler für aktuelle Produktionen 14 zusammensuchte. Es ging der Gruppe nicht um das damals übliche Crossover 15 von Körper- und Tanztheater, sondern ganz elementar um Theatertexte. Texte 16 über Großstadtmenschen, die zwischen Alltag und virtueller Realität taumeln, 17 die nicht der Psychologie, sondern einem s­uchend ausgestellten Zeitgefühl 18 verpflichtet waren. »Stücke für die Großstadt«, so der anfängliche Name der 19 Gruppe, begann seine Theaterarbeit mit amerikanischen Autoren wie David 20 Mamet, Kathleen Tolan und ­Christopher Durang. Es folgten Inszenierungen 21 deutschsprachiger Stücke, wie zum Beispiel S.O.S. Sex, Overkill und Seelenheil 22 von Max Schreck oder Ludwigslust von Florian Weyh. Nach Jeff Hagedorn 23 und Brad Fraser folgten 1993 David Greenspans Tote Mutter oder Shirley 24 nicht alles umsonst und im April 1994 Ein Hund in der Tanzstunde. Beide In­ 25 szenierungen wurden von der Berliner Kritik überwiegend hochgelobt. 26 Was Donald Berkenhoff6, Lektor für amerikanische Literatur und 27 damaliger Regisseur bei STÜKKE an David Greenspan reizt, ist die Viel- 28 deutigkeit und vielschichtige Konstruktion der Stücke, die allerdings im 29 Original wesentlich karger im Ausdruck sind als in seinen eigenen deutsch- 30 sprachigen Bühnenfassungen. Mit Greenspan gelingt im Theater vielleicht 31 das, was Berkenhoff erreichen möchte: die Vereinbarkeit von Avantgarde 32 und Boulevard. »Wenn man es schafft, dass so ein experimentelles Stück 33 einen durchgängig von Grinsen bis Lachen bringt, und man dabei bleibt, 34 dann hat so eine Form von Theater eine Chance« (Berkenhoff, 1994). 35 36 6 Donald Berkenhoff ist nach Stationen in Tübingen, Münster und Karlsruhe seit 2011 37 Drama ­turg und Stellvertretender Intendant am Stadttheater Ingolstadt. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 125 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Bettina Brandi

1 Sein Verlagsleiter machte ihn auf die Stücke Greenspans aufmerksam. 2 Er schickte Berkenhoff die Tote Mutter mit dem Hinweis, dass dieses 3 Stück die schlechtesten Kritiken in New York bekommen hätte, die er 4 jemals gelesen hat – bis auf die eine von Michael Feingold. Berkenhoff las 5 das Stück, inszenierte es und erhielt geradezu begeisterte Reaktionen in 6 der Berliner Presse. Hier einige Beispiele: 7 8 »Sternstunden des Freien Theaters glitzern da über die karge metallische 9 Bühne mit der deutschen Erstaufführung des ungewöhnlichen amerikani- 10 schen Dramas von David Greenspan. Konsequent und gekonnt, locker und 11 witzig spielt er mit den europäischen Theatertraditionen, von der antiken 12 Tragödie über Strindberg bis hin zum modernen Boulevardtheater, paro- 13 diert, psychologisiert und mixt das Ganze mit aktuellen Themen wie wissen­ 14 schaftlichen Theorien. Regisseur Donald Berkenhoff und die hervorragen- 15 den Schauspieler haben daraus einen vor Ideen übersprudelnden Knaller 16 gemacht, der provozierende Akzente in der allzu brav gewordenen Off-Szene 17 setzt« (Berliner Zeitung, 1993).7 18 19 »Die Truppe ›Stücke für die Großstadt‹, die mit Greenspans Stück eine 20 eigene feste Spielstätte am Südstern eröffnet, führt ihre Erfahrungen mit 21 amerikanischer Off-Broadway-Dramatik ins Feld: Tiefsinn und Travestie, 22 lockerer Ernst und beiläufiger Witz formen einen Fixstern am freien Theater­ 23 himmel« (Stadtmagazin TIP, 1993). 24 25 »Gänzlich unverkrampft und nicht um großartige Interpretation bemüht, 26 geht das Ensemble unter der Regie von Donald Berkenhoff an den zuweilen 27 surrealen, wenn nicht absurden Stoff heran, spielt vielseitig, virtuos und oft 28 mit schriller Komik« (Berliner Morgenpost, 1993). 29 30 »Aus Greenspans Materialcollage hat Donald Berkenhoff ein hohes Maß an 31 Komik und Bühnenwirksamkeit herausgeholt, obwohl das Tempo biswei- 32 len zügiger sein könnte. Selbst wo die Phantasie des Autors Amok läuft, hat 33 Berkenhoff bühnentaugliche Lösungen gefunden. Dabei konnte er sich auf 34 eine vorzügliche Darstellerriege stützen. Ein schöner Erfolg für STÜKKE« 35 (Tagesspiegel Berlin, 1993). 36 37 7 Die Angaben zu den Zitaten aus Berliner Zeitungen und Zeitschriften stammen aus dem 38 Archiv der Theatergruppe »STÜKKE«, Berlin 1994.

126 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen

David Greenspan, von den positiven Reaktionen in Deutschland überrascht, 1 schickte gleich einen Stapel neuer Stücke, aus denen Berkenhoff denHund 2 in der Tanzstunde auswählte und wiederum mit großem Erfolg inszenierte. 3 4 »Der Regisseur Donald Berkenhoff hat Gespür für effektvolles Theater. Er 5 lässt seine hervorragenden Darsteller eine Stunde lang furios durch die Szene 6 spielen. Allerdings nimmt die Verwirrung im Publikum allmählich zu, und 7 zeitweise droht das Stück in puren Klamauk umzukippen. Die Premieren- 8 Vorstellung wurde mit Beifall überschüttet« (Berliner Morgenpost, 1994). 9 10 »Ein Meisterwerk der freien Dichtkunst ist das freilich nicht, aber immerhin 11 ein recht pfiffig zusammengeklebter Haufen Papier, der für Interpretation 12 viel weiße Fläche lässt. Donald Berkenhoff, der Regisseur von ›Stücke für die 13 Großstadt‹, hat diesen auskoloriert, sich für eine kunterbunte, fidele Variante 14 entschieden. Mit Tempo jagt er seine vier Darsteller durch das Unstück« 15 (Nümann, 1994). 16 17 »›Der Hund in der Tanzstunde‹ muss beim Lesen tatsächlich als unspiel- 18 bares Stück erscheinen. Gegen dieses Verdikt geht Donald Berkenhoff mit 19 nicht ablassender Intelligenz an. Mit bestrickender Überhöhung der Vorlage, 20 eigenen Beiträgen, deutschen Entsprechungen stellt sich die Regie ganz in 21 den Dienst der Spieler und macht sich damit praktisch überflüssig. Das Ver- 22 schwinden des inszenatorischen Ichs steht damit an. Sollte diese überfällige 23 Entwicklung Nachahmer finden, was zu wünschen wäre, dann könnte aus 24 dem Off-Sektor heraus ästhetisches Terrain besetzt werden, auf dem sich eine 25 Überlebensstrategie für die Kunstform ausprobieren könnte. […] Die Dyna- 26 mik steigert sich zum Drive, und der Zuschauer wird Zeuge, wie der Deckel 27 vom Theatertopf fliegen will« (Stadtmagazin Zitty, 1994). 28 29 30 »Die größte Lüge der Kunst ist, wenn sie so tut, 31 als sei sie die Realität« (Donald Berkenhoff) 32 33 Was macht die Stücke in Berlin so erfolgreich, und was interessierte den 34 Regisseur Berkenhoff damals am Autor Greenspan? Nach Berkenhoff 35 ist Greenspan kein Autor, der eine ganze Welt versucht zu verkaufen, 36 sondern der versucht, eine Welt zu zeigen, die so widersprüchlich ist, so 37 unverständlich und irritierend, wie jeder Mensch es erlebt, der sich der 38

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1 ­Realität stellt, sie wahrnehmen muss. »Was ich außerdem an ihm schätze, 2 ist, dass Greenspan unglaublich gebildet ist. Bei der Arbeit merkt man, wie 3 er die verschiedenen Ebenen konstruiert.« Die Texte haben neben Para- 4 phrasen auf Beckett (Warten auf Godot), Strindberg (Gespenster), Shake­ 5 speare (Sommernachtstraum) und Bezügen auf die Mythologie etwas Gro- 6 teskes. Da steht ein tief philosophischer Satz neben einem völlig banalen, 7 den sich niemand trauen würde, zu schreiben. Greenspan bringt diese 8 Materialien zusammen und ist damit weit näher am Leben als die Auto- 9 ren, »die immer noch drei Wände, einen Tisch, vier Stühle schreiben« 10 (Berken ­hoff, 1994). Die Textvorlagen öffnen eine andere Tür in der Fan- 11 tasie, was wie eine große Befreiung, eine sehr große Erleichterung wirkt. 12 In der Arbeit an den Stücken wurde Schicht um Schicht bloßgelegt, um 13 nach Wochen der Proben den uneinholbaren Eindruck zu haben, dass da 14 immer noch etwas zu entdecken ist. Die Texte vibrieren vor Spannung, und 15 es wird nach Aussage der Schauspieler_innen auch beim Spielen nie lang- 16 weilig. Bei aller Fantasie und Chaotik sind Greenspans Stücke sehr genau, 17 fast streng komponiert. Sie haben Rhythmus, der manchmal fast zum Er- 18 liegen kommt, um kurz darauf wieder hyperschnell zu werden. Alle seine 19 Stücke sind wie ein gutes Bild oder gute Musik nicht (nach-)erzählbar. Um 20 sie zu erzählen, muss man einen anderen Kanal öffnen. Und warum, so 21 Berken ­hoff, sollte man zwei bis drei Stunden im Theater sitzen, wenn man 22 den Inhalt des Bühnengeschehens in drei Sätzen wiedergeben kann? Wegen 23 dieser Offenheit und Vieldeutigkeit (beimHund in der Tanzstunde wurden 24 in Vorbereitung und während der Probenphasen 36 verschiedene Interpre- 25 tationen ausgemacht) ist die Erarbeitung der Stücke Greenspans ein aben- 26 teuerliches und lustvolles Wagnis. »Ich schicke die Leute gern ohne Land- 27 karte los«, so Berkenhoff. Die Schauspieler können sich zu Anfang nicht 28 vorstellen, wohin es geht. Wie in vielen Inszenierungsprozessen werden 29 Dinge probiert, die möglicherweise dann in der Aufführung gar nicht statt- 30 finden. Es wird partikelweise probiert, viel gelesen – und vor allen Dingen 31 der Mut gefordert, diesen Prozess sehr lange offen zu halten. »Wir machen 32 keine Volkshochschule. Der Regisseur erklärt hier nicht die Welt«, so 33 Berken­hoff. Denn die Regisseure sind bei den Stücken Greenspans genauso 34 ratlos wie die Schauspieler. Berkenhoff gibt den Text mit einigen freien As- 35 soziationen weiter an die Schauspieler. Dabei häuft er disparates Material 36 aufeinander. Auch die Schauspieler sollten in der Grundtendenz möglichst 37 unterschiedlich spielen. In seinem Theaterspiel geht es nicht darum, sich ge- 38 genseitig etwas »abzunehmen«, wie es in der klassischen Schauspielkunst

128 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen heißt, ­sondern im Gegenteil. Wenn das Ensemble sich gut versteht, werden 1 die Spieler auch mal – »wie im Sport«, so Berkenhoff – aufeinander ge- 2 hetzt, damit später das Publikum die Spannung erleben kann und merkt: 3 Hier geht es um was! »Man kann auch als Schauspieler nicht einfach aus 4 dem Stück aussteigen – auch nicht im Off. Es ist wirklich eine eigene Form 5 von Arbeit, die für mich auf gewisse Weise uneitler ist«, sagt eine Schau- 6 spielerin. Doch auch im Off-Theater gäbe es wenige, die bereit sind, sich aufs 7 Spiel zu setzen und ohne Netz und doppelten Boden einfach drauflos zu 8 experimentieren. Das mache die Szene für Theaterstücke dieser Art so klein. 9 Donald Berkenhoff unterscheidet beim Schauspiel zwischen dem 10 »Actor« und dem »Performer«. Der Actor beherrscht die Kunst des 11 Verstellens, die hundertprozentige Identifikation, wie sie zum Beispiel 12 in der Schule des russischen Schauspiellehrers Stanislawski grundlegend 13 war. Der Performer hingegen sollte die Kunst der perfekten Lüge beherr- 14 schen. Es nimmt einige Zeit in Anspruch, bis der professionell ausgebil- 15 dete Schauspieler die antrainierte psychologische Annäherung an eine 16 Rolle verlässt und – wie eine Schauspielerin der Gruppe STÜKKE sagt – 17 »springt«. Erst dann kann das Ensemble mit improvisatorischen Mitteln 18 auf der Grundlage der Textvorlage zu spielen beginnen. »Wenn man nicht 19 springt, passiert nichts.« In den etablierten Theaterhäusern würde nichts 20 mehr ­riskiert, man wird fast nur nach »Typ« besetzt und nicht nach dem, 21 was möglicherweise noch in einem steckt – wie es zum Beispiel im Tanz­ 22 theater von Pina Bausch üblich war. Der Beruf des Schauspielers sei in der 23 Regel zum Beamtentum verkommen und der 36. Hamlet nichts weiter als 24 die Umstrukturierung von Sozialhilfe, so Berkenhoff im Gespräch. Beim 25 Theater von der Malerei oder der Musik auszugehen, ist seine Sehnsucht. 26 Es sollte auch im Theater möglich sein, dass jemand abstrakt malen kann. 27 »Da jault immer alles auf, wenn sie nicht die Geschichten erzählt bekom- 28 men, mit denen man sich identifizieren kann.« Es würde auch niemand 29 von einem Klavierspieler verlangen, er solle das Klavierstück sein, sagt er 30 im Sinne Brechts. »Ich habe ein tiefes Misstrauen gegen psychologische 31 Prozesse. Man kann nicht alles auf Mama und Papa reduzieren.« Berken- 32 hoff hat zuvor in Hannover Musicals inszeniert. Hiervon und vom Kaba- 33 rett könne man sich für die von ihm gewollte Spielweise inspirieren lassen. 34 Das Theater vor der Vereinnahmung durch den Nationalsozialismus und 35 der Stalin-Ära sei noch interessant gewesen. Danach habe man es nicht 36 geschafft, »die Illusion der Illusionslosigkeit herzustellen, sondern platt 37 Realität abgebildet«. Greenspans Stücke dagegen sind ein Angebot, durch 38

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1 das man sich hindurchbewegt, ohne jemals alles bis ins Letzte mit dem In- 2 tellekt durchdringen zu können. Der Witz und die Ironie in den Stücken 3 mache Mut, unbefangen darin herumzulaufen. Ganz, wie Alexander Kluge 4 es immer wieder gefordert habe: Man muss mit seinem eigenen Leben ins 5 Kino oder ins Theater gehen. 6 7 8 »Der Verstand des konventionellen Theaterpublikums 9 ist hier überfordert«8 10 11 Das als Familiendrama getarnte Stück Tote Mutter oder Shirley nicht alles 12 umsonst in fünf Akten über den Verlust des eigenen Zentrums, den Verlust 13 des Erinnerungsvermögens und der eigenen Identität ist bei Berkenhoff 14 fast filmisch inszeniert und begeistert durch hinreißende Monologe zum 15 Beispiel über die Reinigung von Zähnen bis hin zu aberwitzigen Fantas- 16 tereien in die griechische Mythologie hinein. Da es, wie oben beschrieben, 17 ein so hoffnungsloses Unterfangen ist, den Inhalt der Stücke von David 18 Greenspan wiederzugeben, folgt nun für all diejenigen, die endlich wissen 19 wollen, worum es inhaltlich geht, eine vom Autor persönlich entworfene, 20 hier leicht überarbeitete Kurzfassung der Toten Mutter. 21 Die erste Szene im ersten Akt spielt lange nach der Geschichte, von der 22 das Stück erzählt. Eine Frau steht aus den Reihen der Zuschauer auf und 23 sagt, dass sie dieses Theater liebt, die Arbeit bewundert. Sie sei Abonnentin, 24 aber in letzter Zeit häuften sich ihrer Meinung nach die Stücke, bei denen 25 die Hauptrollen homosexuelle Charaktere waren. Sie möchte, obwohl 26 auch ihr Sohn homosexuell ist, wieder häufiger heterosexuelle Charaktere 27 auf der Bühne sehen. Der Vorhang hebt sich und die Geschichte beginnt. 28 Sylvia und Harold sind verheiratet. Harolds Eltern waren dagegen, aber 29 Harolds Bruder hat die beiden verkuppelt. Um den Vater umzustimmen, 30 hat er eines Nachts seine Mutter in eine hitzige Diskussion verwickelt. 31 Harold hat sich inzwischen als Mutter verkleidet und zum schlafenden 32 Vater ins Bett gelegt. Er weckt ihn, doch der Vater ist müde. Die falsche 33 Mutter (Harold) lässt ihn erst weiterschlafen, als er der Hochzeit müde zu- 34 gestimmt hat. Auch diese Episode ist lange her. – Inzwischen ist Daniel mit 35 Maxine verlobt. Er hat sich nicht getraut, ihr zu gestehen, dass seine Mutter 36 wahnsinnig geworden ist und sich umgebracht hat. Also hat er Lügen über 37 38 8 Aus dem Programmheft von Tote Mutter, D. Berkenhoff, Berlin 1993.

130 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen seine Mutter erzählt. – Maxine wurde von ihrem Großonkel aufgezogen, 1 der inzwischen uralt ist und die Einwilligung in die Hochzeit nur geben 2 will, wenn er die Mutter des Bräutigams kennengelernt hat. Also muss sich 3 Harold wieder verkleiden. Man trifft sich, alles verläuft chaotisch, Harold 4 übertreibt grauen­voll. Er schließt sich ins Bad ein, und als er in den Spiegel 5 schaut, sieht seine Mutter heraus, die ihn beschuldigt, eine Tunte zu sein 6 und mit Männern zu verkehren. Inzwischen erscheint durch ein Versehen 7 der Vater. Als der seiner angeblichen Frau gegenübersteht, verschlägt es ihm 8 die ­Sprache. Aber Maxine spricht für alle anderen. Sie ist die Frau aus der 9 ersten Szene, die Abonnentin, und erzählt wieder vom Theater, das sie so 10 liebt, und nimmt alle mit in eine Vorstellung. 11 Im zweiten Akt erkennt man nach und nach, dass nun das Stück gespielt 12 wird, in das Maxine als begeisterte Theatergängerin alle führt. Die Ebenen 13 verwischen und es wird noch verwirrender, denn die Szene zeigt den grie- 14 chischen Olymp. Zeus tritt auf, seine Frau Hera, Athene und Aphrodite. 15 Paris, der Sohn des trojanischen Königs Priamos und der Königin Hekabe, 16 ist dabei, mit einem Schaf Liebe zu machen, als die Göttinnen erscheinen 17 und die Entscheidung über ihre Schönheit verlangen. Aphrodite verspricht 18 Paris, dass er Helena »ficken, ficken, ficken« darf. Er wendet sich vom 19 Schaf ab und geht zu Helena. Im dritten Akt ist der Onkel allein zu Hause. 20 Er hält einen langen Monolog, der aber zur Hälfte von einer Frauenstimme 21 (vom gleichen Schauspieler) gesprochen wird. Es geht um Zahnbelag und 22 die Viren, die schon immer existierten und auch nach uns bleiben werden – 23 und es geht darum, wie man am besten die Zähne reinigt. Eine ganze Evo- 24 lutionstheorie wird am Beispiel des Zahnbelags dargelegt. Im vierten Akt 25 kommen alle aus dem Theater und unterhalten sich über das Stück – jedoch 26 nicht über das Stück aus dem zweiten Akt mit den Figuren aus der grie- 27 chischen Mythologie, sondern über das Stück, das sie gerade spielen. Über 28 seine Unglaubwürdigkeiten, darüber, dass es zu lang ist und über den blöd- 29 sinnigen Monolog über Zahnbelag. Maxine hat in der Pause ein Chili ge- 30 gessen und ihr Magen macht schreckliche Geräusche. Dem Vater hat man 31 erklärt, dass die Mutter ein Geist ist, aus dem Grab gestiegen, um nach 32 ihrer Familie zu sehen. Er glaubt es und ist sehr unglücklich. Im restlichen 33 Verlauf des Aktes sucht er einen Parkplatz. Diese zweite Hälfte des vierten 34 Aktes wird als Märchen gezeichnet und konzertant gespielt, das heißt, alle 35 Männer sitzen auf der Bühne und lesen den Text aus Manuskripten, die auf 36 Notenständern liegen. Harold ist wieder im Cruising Park, den er schon 37 vorher aufgesucht hatte, und begegnet dort einer Frau, die Alice B. Toklas 38

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1 ist, die aus der Realität bekannte Lebensgefährtin von der legendären Ger- 2 trude Stein aus dem Paris Anfang des 20. Jahrhunderts. Sie erklärt ihm, dass 3 die Hölle das Leben ist, und es nach dem Tod nur den Himmel gibt. Harold 4 fragt, ob seine Homosexualität bestraft wird, was Alice verneint, indem sie 5 erklärt, dass die Bestrafung der Homosexuellen eine Verdrängungsfantasie 6 der Heteros ist. Während die beiden durchs All schweben, kündigt Alice 7 Harold an, dass er seine Mutter sehen wird und ihr drei Fragen stellen darf. 8 Zuvor muss ihn aber der Fährmann ins Totenreich bringen. Der Fährmann 9 ist kein anderer als Harolds Vater und die Fähre das Familienauto, mit dem 10 die beiden über den Zuschauerraum fliegen. Die darauf folgende Begeg- 11 nung mit der Mutter hat das Niveau einer schlechten Quizshow. Harold 12 geht in Flammen auf und muss zurück zur Erde. Im fünften Akt fährt der 13 Vater durch Los Angeles zum Grab der Mutter. Harold, als seine eigene 14 Mutter verkleidet, erzählt seinem alten Onkel die Familiengeschichte, die 15 als Tragödie überliefert wird. Melvin, der Vater, wird kastriert. Harold ver- 16 schwindet. Die Familie streitet sich in bester amerikanischer Manier. Im 17 Epilog stellt sich heraus, dass Sylvia nicht traurig ist, dass Harold sie ver­ 18 lassen hat, da sie ihn selbst verlassen wollte. 19 In dieser Zusammenfassung in der Lesart des Autors David Greenspan 20 selbst erscheint das Stück von wirrer Logik und kaum vorstellbar, ist aber 21 in der Umsetzung der Theatergruppe STÜKKE ein kurzweiliges und vor 22 allen Dingen hervorragend gespieltes Abenteuer. Das Drama – wie auch 23 die Inszenierung selbst – durchbricht ästhetische und inhaltliche Barrieren, 24 es geht zuweilen ins Sinnlose, aber auch in die Freiheit der fantastischen 25 Assoziationen. Teilweise wirkt das Geschehen derartig assoziativ, als würde 26 man sich durch die magischen Kanäle zappen, kurz anhalten, weiterzappen 27 – und am Ende ergibt sich eine ganz eigene Geschichte in einer Art zu­ 28 fälligen Logik, wie das Leben selbst. 29 30 31 »Das Herz liegt bloß und nicht nur das« (Michael Feingold) 32 33 In dem anderen Stück von David Greenspan mit dem Titel Hund in der 34 Tanzstunde ist das Abendland möglicherweise auf den Hund gekommen, 35 sodass der aufgeklärte Mensch sich gezwungen sieht, nun ohne diesen aus 36 der Mythologie bekannten Seelenbegleiter auszukommen. Denn der Hund 37 spielt genau genommen keine Rolle. Was sollte er auch in so einer widerna- 38 türlichen Tanzstunde?

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»Greenspan begibt sich hier noch weiter weg von der Stringenz des Geschich- 1 tenerzählens. Jeder Satz, der in diesem Stück fällt, hat eine doppelte, oft sogar 2 dreifache Bedeutung. Sowohl die Figur kann den bedeutungsvollen Satz 3 sagen, als auch der Schauspieler, der die Figur verkörpert, als auch der Autor, 4 der wohl gerade jetzt, im Moment der Aufführung dieses Stück schreibt. So 5 entwirft er Szenen, verwirft sie wieder, variiert sie. All dies ist auf der Bühne 6 zu sehen und, wesentlicher noch, zu hören. Ähnlich wie bei ›Toter Mutter‹ 7 könnte man von einer Sprechoper reden« (Donald Berkenhoff, 1994). 8 9 Zwei Frauen mit den Namen Y und Z und ein Mann X sind nackt auf die 10 Bühne geworfen. In ihre Körper wird der Kampf des Autors um das Stück 11 verlagert, das vermutlich nie zu Ende geschrieben wird. Die Sprech- und 12 Textversuche des Autors und der Spieler werden ständig unterbrochen 13 durch klingelnde Telefone, durch die Klospülung, durch Hundegebell 14 und andere alltägliche Geräusche. Die reale Geschichte des schreibenden 15 Autors stellt sich in der Inszenierung von Berkenhoff als vermittelte Rea- 16 lität über einen Monitor dar, und die fiktive Geschichte, in der die Figur 17 des Autors versucht zu schreiben, als Realität auf der Bühne. Das Zusam- 18 menspiel der beiden Ebenen wird in der Berliner Hinterhofbühne gekonnt 19 inszeniert, zum Beispiel wenn eine der Figuren auf dem Monitor im realen 20 Bühnenbild sitzt, als sitze sie auf der Toilette, ihre Zigarette wegwirft und 21 diese dann im Fernsehbild des besagten Monitors in eine Kloschüssel fällt. 22 Donald Berkenhoffs Zusammenfassung des Stückes liest sich im Auszug 23 wie folgt9: Im ersten Bild steht eine nackte Frau auf der Bühne und mono- 24 logisiert einen Text, der scheinbar noch nicht fertig ist. Der Autor spricht 25 aus ihr heraus, verwirft Textzeilen, verlangt sich selbst größte Deutlich- 26 keit ab. Die Schauspielerin beginnt neu. Auch sie ringt um Deutlichkeit, 27 Deutlichkeit in der Spielweise. Die Figur, man muss es kaum erwähnen, 28 versucht, Deutlichkeit in ihr Leben und ihre Beziehungen zu bringen. Das 29 Telefon klingelt. Ihr Freund ist im Bad. Er schreit, sie soll ans Telefon gehen. 30 Aber die zu erreichende Deutlichkeit des Monologes ist ihr wichtig. Also 31 blendet sie das Telefonklingeln kurzerhand aus. Denn wir befinden uns ja 32 auf der Bühne, in einem Kunstraum, wo alles möglich ist. Wahrscheinlich 33 ruft eine Elsa an. Für den Mann hat sie eine Bedeutung, für die Frau nicht. 34 Wir vermuten zum ersten Mal an diesem Abend, dass es sich um die Ge- 35 schichte eines erotischen Dreiecks handelt. Die Szene wiederholt sich in 36 37 9 Aus dem Programmheft Es gibt keinen Hund, STÜKKE, Berlin 1994. 38

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1 Variationen. Mal geht der Mann ans Telefon. Mal hört es auf zu klingeln. 2 Die Frau ist immer noch um Klarheit bemüht. In der Nachbarschaft be- 3 ginnt ein Hund zu bellen. Hund, Telefon, Freund werden weggeblendet. 4 Aber sie kommen wieder. Eine Symphonie für eine Frauenstimme, männli- 5 che Einwürfe, Hundegebell und Telefonklingeln, rhythmisiert durch Black- 6 outs. Das Licht spielt ebenso eigenwillig eine Rolle wie die Requisiten, die 7 ein starkes Eigenleben haben. In fünf weiteren Episoden kämpfen die Figu- 8 ren um das Stück und um ihr Glück; gegeneinander, gegen den Autor, um 9 das Theater. Bekannte Momente Greenspans tauchen wieder auf, die Ver- 10 quickung mit der Mythologie. Am Ende des Stückes geht ein Gott (Seth, 11 der Bruder von Isis und Osiris aus der ägyptischen Mythologie) durch eine 12 Landschaft. Fast Versöhnliches kommt zur Sprache. Vielleicht sehen wir 13 hier das erste Bild eines gerade entstandenen Stückes. Doch der Autor 14 treibt seine Verweigerung fort – denn es ist das letzte Bild des Abends. 15 16 »Was ich richtig schön fand, war, dass man beim Lesen des Stückes so einen 17 bestimmten Verdacht auf einen Lösungsweg bekommt. Und als erstes habe 18 ich gedacht, es ist Algebra. Und es ist tatsächlich Algebra. Die Konstante 1 19 kann in die anderen Rollen einsteigen, kann sie übernehmen. Man kann es 20 über Algebra lösen. Ähnlich wie bei Beckett« (Berkenhoff, 1994). 21 22 Da ist ein Autor, der sagt, ich schreibe eine ganz konventionelle Dreier­ 23 geschichte. X, Y und Z. Die Figuren beginnen ihr eigenes Spiel, verweigern 24 sich, gehen noch nicht einmal an das Kommunikationsmedium schlecht- 25 hin, an das Telefon. Der Autor überlegt: »Wie komme ich in den Com- 26 puter hinein?« Er gibt die Zahl Eins ein und löst damit alles aus. Nun ist 27 er drin und hat keine Ahnung, wie er je wieder herausfinden soll. Er stellt 28 fest, dass die drei Figuren ihn so hassen, dass sie ihn umbringen wollen. 29 Aber es gibt bei Greenspan immer verschiedene Wahrheiten. Durch Seth, 30 eine alt­ägyptische Gottheit, kommt das Thema Opfer und Wiedergeburt 31 ins Spiel. Seth ist nicht nur der Zerstörer und Zerstückler, sondern schafft 32 durch die Zerstörung auch Neues. »Wenn die Nacht am finstersten ist, 33 kommt Seth, tötet die Schlange, die sich dem Sonnenwagen in den Weg 34 stellt, und es geht weiter, und es wird hell« (Schauspielerin über die Ge- 35 schichte Seths in der ägyptischen Mythologie im Interview). Diese Am- 36 bivalenz in der Doppel­gestalt Seths bringt fast etwas Versöhnliches in die 37 Geschichte. Doch der Autor wird zunächst von seinen Figuren umgebracht 38 und ist wieder ­draußen. Dort denkt er, er hätte sich endlich von seinen

134 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Theater der Irritationen

­Figuren befreit. In dem Moment bringt aber eine Figur eine andere um, 1 die dann in der Realität des Autors wieder auftaucht. Die fiktive Figur wird 2 real und der Autor läuft in Panik davon. Ein anderer schreibt das Stück 3 weiter. Die verschobenen Ebenen, die Realebenen im Fernsehen, die fiktive 4 Welt im realen Nahraum – all das erinnert an Fassbinders Welt am Draht, 5 so Berken­hoff. asD Fernsehbild ist das Weltbild. Hier wird auch die mo- 6 derne Krise beschrieben, dass man das Gefühl hat, vertauscht worden zu 7 sein. Man will etwas ganz eigenes machen und muss immer wieder feststel- 8 len, dass letztendlich alle das Gleiche machen. Die Menschen geben sich 9 Images, um unverwechselbar zu scheinen, und sind doch auswechselbar. 10 Im Berliner Inszenierungskonzept werden die Innen- und Außenräume 11 verkehrt. Der leere Raum ist die Bühne. Dagegen sollen die Zuschauer den 12 Eindruck haben, dass die Räume hinter der Bühne realistisch sind. Die Vor- 13 gänge hinter der Bühne werden zeitgleich über eine Videokamera auf den 14 Bühnenmonitor übertragen. Diese Aktionsräume hinter der Bühne sind zum 15 Beispiel das Bad / die Toilette und das Arbeitszimmer des Autors, wo sich der 16 Aschenbecher langsam füllt. Die Bühne ist dagegen ein abstrakter Raum, ein 17 Skelett, in das die mediale Technik das Leben von außen hineinbringt. Die 18 Aufteilung der Räume ist bei Greenspan nicht genau beschrieben. 19 20 »Wir haben den Autor in einem Hinterzimmer an den Computer gesetzt 21 und die Blackbox, also das Innere des Computers auf die Bühne. Die fiktiven 22 Figuren sind mit ihrer Körperlichkeit mit den Zuschauern in einem Raum 23 verbunden. Was die eigentliche Realität ist, haben wir herausgenommen. Da- 24 durch entsteht Spannung und es wird auf den Kontrapunkt hin konstruiert. Es 25 ist das, was man zurzeit als virtuelle Räume bezeichnet« (Berkenhoff, 1994). 26 27 Zu den Figuren skizziert Berkenhoff sinngemäß: Jede Figur ist zumindest 28 dreigeteilt. Es sind unterschiedliche Haltungen für Schauspieler_innen, 29 Figur und Autor zu entwickeln. Der »Schauspieler« als Schauspieler ist 30 dabei ebenso eine Spielfigur, ist also nicht identisch mit der privaten Person 31 der Akteur_innen. Die Figur »Autor« ist für alle Akteur_innen gleich zu 32 entwickeln und muss in den vier Darsteller_innen wiedererkennbar sein. 33 Außerdem werden während der Vorstellung Rollen gewechselt, wobei die 34 eine Figur die vorhergehende parodiert. Jede_r der Performer_innen muss 35 sich seine/ihre Spielfiguren für den Abend in mehrere Teile zerlegen, die 36 eine völlig unterschiedliche Arbeitsweise verlangen. Realistisches Spiel für 37 die »Schauspieler«, Parodie für die Figuren X, Y und Z, wenn der Autor 38

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1 aus ihnen spricht, ebenfalls Parodie beim Rollenwechsel, verfremdetes Spiel 2 bei den Figuren, die ja keine Menschen sein sollen und so weiter. Der Spiel- 3 stil muss durch Ein-/Aussteigen in und aus den jeweiligen Rollen geprägt 4 sein und das Jonglieren mit den verschiedenen Realitätsebenen verdeutli- 5 chen. Die größtmögliche Ehrlichkeit muss die gelungenste Täuschung, das 6 perfekteste Fake sein. Die Figuren leiden nicht nur am blutleeren Theater- 7 betrieb insgesamt, sondern auch an der eigenen Rolle und an den unaus- 8 gegorenen Fantasien des Autors, der verzweifelt versucht, irgendwelche 9 Gefühle in seinem verwüsteten Inneren zu mobilisieren. Doch er leidet 10 zum Leidwesen aller an seelischer Verstopfung. Die Figuren X, Y, Z und 11 schließlich auch die Figur 1 (der Autor selbst) stehen nackt auf der Bühne 12 und fragen: »Wann hat die Qual ein Ende?« – Nacktheit als Bild für das 13 Ausgeliefertsein in seiner stärksten Realität. Das ersehnte Ende bleibt aber 14 bei David Greenspan qualvoll offen. Es gibt keine Chance auf Heilung. 15 Wir sind alleingelassen. Keine Helden. Kein Gott. 16 17 »›Ich stehe hier. Es ist früher Morgen. Es regnet. Endlich regnet es. Ich stehe 18 immer noch nackt. Mein Körper versenkt sich, die Erde versenkt sich. Gleiche 19 Sache. Ich habe etwas über Seth gehört. Er ist auf der Landschaft erschienen. 20 Jetzt, da der Rest verschwunden ist, erscheint dieser Seth. Eine bärtige Jugend 21 ohne heroische Statur. Beruhige mein Herz. Seth. Wie konnte ich so dumm 22 sein? Deshalb habe ich gewartet. Deshalb regnet es. Weil Seth auf der Land- 23 schaft erschienen ist. Eine bärtige Jugend ohne heroische Statur. Der Rest ist 24 weggespült.‹ Halt. Dann wird das Licht langsam ausgelöscht« (Schlussworte 25 im Originaltext von Ein Hund in der Tanzstunde; Übers. B. B.).10 26 27 War der Hund, der da irgendwann auf die Bühne geschlichen kam und leise, 28 fast versöhnlich eine Taste auf dem Klavier anschlug, Realität? Oder sind wir 29 als Zuschauer in einen anderen Kanal gerutscht. Sei’s drum. Was Greenspan 30 für das Theater so interessant macht, ist, dass er auf unterhaltsame Weise ins 31 32 33 10 Im Original: »›I’m standing here. It is early morning. It is raining. Finally it rains. I still stand 34 nude. My body immersend, the earth immersend. Same thing. I have heard something about Seth. He has appeared on de landscape. Now with all the rest gone this Seth 35 appears. A bearded youth of no heroic stature. Calm my heart. Seth. How could I have 36 been so foolish? This is why I waited. This is why it rains. Because Seth has appeared on 37 the landscape. A bearded youth of no heroic stature. The rest is washes away.‹ Hold. 38 Then light is slowly extinguished« (Dog in a Dancing School).

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Innerste unserer modernen Angst zielt, der Angst vor Realitätsverlust durch 1 Simultaneität und Ästhetisierung des Realen, durch die Vermischung von 2 Schein und Sein, Realem und Imaginärem, durch die grotesken Paradoxien 3 des Alltags. Wenn der Schein zum Wesen geworden ist, wenn das Imagi- 4 näre im Realen symbolische Gewalt und praktische Gestalt angenommen 5 hat und scheinbar ordnende Funktion übernimmt – dann können auch 6 Paradoxien nicht länger nur als Wahnsinn oder Unsinn betrachtet werden. 7 Die philosophische Stärke und kritische Potenz eines Paradoxons ist ja, dass 8 es nach herkömmlicher Logik unlogisch ist und damit paradoxerweise zu 9 einem tieferen Verständnis des untersuchten Gegenstands führt. 10 11 »Denn die Welt ist nicht geschaffen worden, damit man sie versteht. Sie 12 schert sich nicht um Erkenntnis. Vielleicht ist sie sogar geschaffen worden, 13 um nicht verstanden zu werden. Die Erkenntnis ist zwar Teil der Welt, aber 14 nur als totale Illusion« (Jean Baudrillard). 15 16 17 Literatur 18 Baudrillard, J. (1978). Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag. 19 Berkenhoff, D. (1994). Interview von Bettina Brandi mit dem Regisseur und Leiter von 20 STÜKKE Donald Berkenhoff sowie mit Ensemblemitgliedern. [Unveröffentlichtes Gesprächsprotokoll]. Berlin. 21 Feingold, M. (1991). [Titel des Textes unbekannt]. In Village Voice. 22 Krug, H. (1999). Die Pflicht weiterzumachen. taz, 21.10.1999. http://www.taz.de/Archiv- 23 Suche/!1265809/ (17.04.2018). 24 Luzina, S. (1991). Das STÜKKE-Theater muß doch nicht schließen, sondern kann nach Friedrichshain umziehen. Tagesspiegel, 19.10.1999. https://www.tagesspiegel. 25 de/kultur/das-stuekke-theater-muss-doch-nicht-schliessen-sondern-kann-nach- 26 friedrichshain-umziehen/99074.html (17.04.2018). 27 McLuhan, H. M. (1992). Die magischen Kanäle. Düsseldorf: Econ. 28 Nümann, D. (1994). Nachschlag. taz, 09.04.1994. https://www.taz.de/Archiv-Suche/ !1568260/ (17.04.2018). 29 Rich, F. (1991). A Dead Jewish Mother And Layers of Guilt. New York Times, 01.02.1991. 30 https://www.nytimes.com/1991/02/01/theater/review-theater-a-dead-jewish- 31 mother-and-layers-of-guilt.html (17.04.2018). 32 Robinson, M. (Hrsg.). (2012). The Myopia and Other Plays by David Greenspan. Ann Arbor: University of Michigan Press. 33 Shewey, D. (2003). A man plays a woman, without any disguise. New York Times, 34 13.04.2003. https://www.nytimes.com/2003/04/13/theater/theater-a-man-plays- 35 a-woman-without-any-disguise.html (17.04.2018). 36 Spengler, O. (1972). Untergang des Abendlandes. München: dtv. 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 137 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Bettina Brandi

1 Die Autorin 2 Bettina Brandi, Prof., M. A., i. R., geb. 1953, Studium: Theaterwissenschaft, Neuere 3 deutsche Literatur und Italienisch an der Freien Universität Berlin, Zusatzausbildung: 4 Medienpädagog­ ik, Professorin an der Hochschule Merseburg, Lehrgebiet Theater- 5 und Medienpädagogik. Gründungsvorsitzende des Offenen Kanal Merseburg-Quer- furt e. V., Projektleitung des kultur- und theaterpädagogischen Qualifizierungsprojektes: 6 DOMINO-­Zivilcourage im Rampenlicht. Beteiligung am internationalen Festival »Theater 7 der Welt«. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

138 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung 1 von Selbstbestimmung 2 3 Madame X – Eine abolute Herrscherin von Ulrike Ottinger 4 5 Johann Bischoff 6 7 8 9 10 11 Einleitung 12 13 Den Hintergrund für den vorliegenden Beitrag zur Bedeutung von Kunst 14 und Medien für die Förderung von sexueller Selbstbestimmung bilden 15 studentische Projekte. Vorangestellt werden soll daher der Dank an die 16 Studierenden: In der Arbeitsgruppe »Film«, die hier näher betrachtet 17 werden soll, befassten sich die Studierenden Dominique Aschenbrenner, 18 Saskia Burzynski, Hannah Heger, Stefanie Herz und Jan Gabriel mit dem 19 Film Madame X – Eine absolute Herrscherin, produziert von Ulrike ­Ottinger. 20 Aufbauend auf den Detail-Untersuchungen werden verallgemeinerbare 21 Ableitungen zur Bedeutung von Kunst und Medien für die Förderung von 22 geschlechtlicher und sexueller Selbstbestimmung getroffen. 23 24 25 Hintergrund für die Kunst Ulrike Ottingers 26 27 Antizipation der Frauenbewegung für Ottingers Werk 28 29 Um das Gesamtkunstwerk von Ulrike Ottinger zu verstehen, soll ein 30 kurzer Exkurs zu Frauenbewegung und Feminismus erfolgen, da Ulrike 31 Ottinger als Person und Künstlerin davon beeinflusst wurde. Der »na- 32 türliche Geschlechtscharakter« (Vahsen, 2008) der Frau um 1800 be- 33 sagte, dass Frauen nicht als Subjekte gesehen wurden und demnach keine 34 autonomen, mündigen Menschen waren, sondern eine Geschlechtsvor- 35 mundschaft benötigten, die vom Ehemann, dem Bruder oder Vater aus- 36 geübt wurde (ebd.). Dies führte zu einer gesellschaftlichen Trennung, 37 (privilegierte) Frauen wurden dem Haus zugeordnet (verantwortlich für 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 139 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Herd und Kind), Männer der Öffentlichkeit (Arbeit und Geld). Nach der 2 ­Französischen Revolution, die Gleichheit aller Menschen im Sinne der 3 Aufklärung forderte, bildeten sich im 19. Jahrhundert die ersten bürgerli- 4 chen und proletarischen Frauenbewegungen. Dieses Phänomen wird auch 5 als erste Welle der Frauenbewegung bezeichnet. Louise Otto-Peters gilt 6 als Gründerin des ADF (Allgemeiner deutscher Frauenverein) als wesent- 7 liche Wegbereiterin der ersten deutschen, bürgerlichen Frauenbewegung. 8 Der ADF war der erste »deutsche« (im Sinne der damals bestehenden 9 deutschen Länder) Zusammenschluss, in dem sich Frauen für ihre eige- 10 nen Rechte einsetzten (vgl. Wolff, 2008). Schon 1843 konstatierte Louise 11 Otto-Peters: »Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist 12 nicht ein Recht, sondern eine Pflicht« (Nave-Herz, 1997, S. 7). Aus der 13 Arbeiterbewegung ging etwa zur gleichen Zeit die proletarische Frauenbe- 14 wegung hervor, die sich vor allem für verbesserte Löhne, Arbeitszeitver- 15 kürzung, Arbeits- und Mutterschutz einsetzte (vgl. Universität Bielefeld, 16 2011). Eine wichtige Folge des Streitens der ersten Frauenbewegung war 17 das Wahlrecht, das 1918, im Zuge der November­revolution, nun auch für 18 Frauen in Deutschland eingeführt wurde. Damit war auch die Abschaf- 19 fung der Geschlechtsvormundschaft verbunden. Hatten sich die Rechte 20 für Frauen kurzzeitig etwas verbessert, so führten die Weltwirtschaftskrise 21 und der Nationalsozialismus dazu, dass Frauen zunächst wieder aus dem 22 Arbeitsmarkt verdrängt wurden. 23 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstand die zweite Welle der 24 Frauenbewegung (vgl. Universität Bielefeld, 2011). Zentraler Hintergrund 25 war das Erscheinen von Simone de Beauvoirs wichtigem Werk Das andere 26 Geschlecht (1951; frz. 1949: Le deuxième sexe). De Beauvoir identifizierte 27 die Verschiedenheit der Geschlechter als Folge von Erziehung und Kultur 28 und bildete so den Grundstein für den Gleichheitsfeminismus (Berliner 29 Morgenpost, 2011). In der zweiten Welle der Frauenbewegung schritt die 30 Gleichbehandlung der Frauen im Privaten, im Öffentlichen und im Bereich 31 der Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland durch die Gründung auto- 32 nomer Frauengruppen weiter voran (Universität Bielefeld, 2011). In der 33 damaligen DDR ist ein anderer Verlauf festzustellen, der stärkere institu­ 34 tionelle Züge trägt. 35 Die dritte Welle der Frauenbewegung begann etwa in den 1980er 36 Jahren und dauert noch immer an. Die Frauenbewegung hat sich stark 37 ausdifferenziert, es handelt sich hierbei nicht mehr um eine kollektive Be- 38 wegung, wie in der ersten und zweiten Phase (ebd.). Vielmehr wird die

140 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung feministische Diskussion in einem »hohen wissenschaftlichen Diskurs 1 geführt« und es finden »viele dezentral organisierte Aktionen und Ver- 2 anstaltungen« statt (ebd.). 3 4 5 Feministische Theorieansätze 6 7 »Feminismus ist eine geistige Einstellung, die die gleichen Rechte und 8 ­Chancen für alle bzw. beide Geschlechter fordert. Gleichzeitig ist Feminis- 9 mus eine politische Bewegung, die eine gesellschaftliche Veränderung an- 10 strebt um genau jene Rechte und Chancen für alle bzw. beide Geschlechter 11 zu verwirklichen« (Queer-Lexikon, 2015). 12 13 Zielstellung des Feminismus bzw. der Feministinnen ist es, die Männerherr- 14 schaft abzuschaffen. Es handelt sich beim Feminismus allerdings nicht um 15 eine kohärente Theorie, sondern der Feminismus selbst umfasst unterschied- 16 liche Strömungen mit verschiedenen Schwerpunkten (ebd.). Die Vielzahl 17 der feministischen Theorien lässt sich in zwei große Richtungen einteilen: 18 in den »Gleichheitsfeminismus« und den »Differenzfeminismus«. 19 Simone de Beauvoir legte mit ihrem Werk Das andere Geschlecht den 20 Grundstein für den Gleichheitsfeminismus. Sie fasste zusammen: »Als 21 das Wesentliche, das Neutrale, die Norm, gilt der Mann, die Frau dagegen 22 erscheint als das Andere, ihm Zuträgliche, Zugehörige, Unwesentliche« 23 (ebd.). Simone de Beauvoir fordert Frauen auf, in eine Subjektrolle zu 24 treten und sich nicht weiter zu Objekten machen zu lassen bzw. sich selbst 25 zum Objekt zu machen. Ziel einer Frau sollte es sein, die Möglichkeit zu 26 nutzen, frei über sich selbst zu bestimmen (ebd.). Sie geht des Weiteren von 27 einer grundsätzlichen Gleichheit der Geschlechter aus (ebd.). Die Biologie 28 spiele für die Geschlechterhierarchie der Menschen eine untergeordnete 29 Rolle, die Unterschiede zwischen Mann und Frau basierten auf der gesell- 30 schaftlichen (sozialen) Ungleichbehandlung (ebd.). 31 Der Differenzfeminismus baut auf der Philosophie von Luce Irigaray 32 auf. Luce Irigaray fordert, die »körperfeindlichen Anwandlungen des Exis- 33 tentialismus« und »die Gleichmacherei von Mann und Frau« (Holme, 34 2009) zu überwinden. Durch die Verleugnung körperlicher Unterschiede 35 würden Frauen nur wieder auf »Körperlichkeit« und »Natur« reduziert. 36 Allerdings solle »die Frau« »dem Mann« trotz körperlicher Unterschiede 37 gleichgestellt sein (ebd.). 38

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1 Die Theorie Judith Butlers gilt als theoretische Basis für die aktuelle 2 Strömung – die dritte Welle des Feminismus. Neben den Begriffen »sex« 3 (biologisches Geschlecht) und »gender« (soziales Geschlecht) führt 4 Butler den Begriff des »Begehrens« in die feministische Philosophie 5 ein (ebd.). Das Begehren sei gesellschaftlich als heterosexuell bestimmt, 6 es erfordere zwei Geschlechter und ihre strikte Unterscheidung. Butler 7 erläutert, dass es sich bei Geschlecht um eine machtvolle Kategorie han- 8 delt, in der die herrschende geschlechtliche Binarität insbesondere durch 9 stetige Wiederholung von »Zeichen« und »Zuschreibungen« hergestellt 10 werde: 11 »Wenn das Geschlecht nie ist, sondern immer nur wird, durch den 12 ständig wiederholten Akt der Bezeichnung und Bestätigung und sich 13 diesem Ideal immer nur angenähert werden kann, dann können wir diese 14 Kategorien auch unterlaufen« (ebd.). 15 16 17 Feminismus in der Kunst 18 19 Feministische Kunst gilt als Kunst von Frauen, die sich mit Themen der 20 weiblichen Erfahrung und Identität auseinandersetzen und die Vormacht- 21 stellung von Männern in der Kunst, wie auch in anderen gesellschaftlichen 22 Bereichen, thematisieren und kritisieren. 23 Ende der 1960er Jahre wird das »Frau-Sein« künstlerisch angespro- 24 chen (vgl. Schulze, 2015). Frauen beginnen unter anderem Performances 25 zu kreieren, zu fotografieren und zu filmen. Sie werden zugleich zu Sub- 26 jekten und auch Objekten ihrer eigenen Kunst und versuchen, Grenzen 27 zu sprengen (ebd.). »Das auf Kinder und Küche fixierte Frauenbild der 28 patriar ­chalischen Nachkriegsgesellschaft wird gnadenlos gespiegelt und 29 aufgesprengt« (ebd.). Die Künstlerin Birgit Jürgenssen hängt sich beispiels- 30 weise provokativ einen Herd in Form einer Schürze um und konfrontiert 31 auf diese Weise die traditionelle, bürgerliche Rollenverteilung von Frau 32 und Mann (ebd.). 33 In diesem Kontext entstehen auch »Filme von Frauen, die im Kontext 34 einer sich ausbreitenden feministisch geprägten Öffentlichkeit Erfahrun- 35 gen von Frauen in einer patriarchalischen Gesellschaft repräsentieren« 36 (Uka, 2004, S. 201). Zu den feministischen Filmkünstlerinnen zählt 37 Ulrike Ottinger, die einen eigenen experimentellen und surrealen Stil ent- 38 wickelte (ebd.).

142 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung

Ulrike Ottingers Biografie und Werk 1 2 Ulrike Ottinger zählt ohne Frage zu den eigenwilligsten Filmemacherin- 3 nen Deutschlands. Als wichtige Einflussfaktoren für ihr filmisches Werk 4 können einerseits ihr künstlerisch und kulturell affines Elternhaus und -an 5 dererseits ihre Ausbildungsjahre unter anderem im politisch aufgeriebenen 6 Paris der 1960er Jahre angesehen werden. 7 Ulrike Ottinger wurde am 6. Juni 1942 in Konstanz am Bodensee als 8 Tochter der jüdischstämmigen Maria Weinberg und von Ulrich Ottinger 9 geboren. Ihr Elternhaus, in dem zahlreiche Künstlerinnen ein- und aus- 10 gingen, sollte einen nachhaltigen Einfluss auf ihr späteres Schaffen haben. 11 So hat sie die Begegnung mit dem viel gereisten elterlichen Freund Fritz 12 Mühlenweg nach eigenen Aussagen besonders geprägt (vgl. Heise, 2015). 13 Auch die vielseitigen künstlerischen Talente und Interessen der Mutter 14 und des Vaters hatten großen Einfluss auf den ästhetischen Sinn und das 15 Weltbild der Tochter. Besonders gern erinnert sich Ottinger an die Decken 16 und Wände von Kinos, die der Vater mit mythologischen oder abstrakten 17 Motiven schmückte. Ihre Mutter hatte bis ins hohe Alter einen lebhaften 18 Austausch mit Künstlerinnen und Intellektuellen gepflegt. Sie hegte eine 19 große Begeisterung für Musik und Romantik und unternahm, gemeinsam 20 mit ihrer Tochter, zahlreiche Auslandsreisen und Museumsbesuche (vgl. 21 Babias, 2011, S. 15f.). 22 Nach einer Banklehre studierte Ottinger ab 1959 Kunst in München. 23 1962 zog sie nach Paris, fotografierte, malte und ließ sich im Atelier von 24 Johnny Friedlaender in Radiertechniken ausbilden. In den Malereien und 25 Siebdrucken, die in dieser Lebensphase entstanden, sind bereits die Ikonen 26 ihrer frühen Filme angelegt (ebd., S. 8). Weiterhin besuchte sie Vorlesun- 27 gen an der Sorbonne über Kunstgeschichte, Religionswissenschaften und 28 Ethnologie bei Claude Lévi-Strauss, Louis Althusser und Pierre Bourdieu. 29 Ihre Leidenschaft für expressionistisches Kino blühte in der Cinémathèque 30 française auf, die sie bis zu dreimal die Woche besuchte und wo sie unter 31 anderem die Filme von Luis Buñuel und die Nouvelle Vague bestaunte. 32 1966 entstand schließlich ihr erstes eigenes Drehbuch: »Die mongolische 33 Doppelschublade« (vgl. Heise, 2015). 34 Die 1960er Jahre, die gesellschaftspolitisch und künstlerisch für eine 35 ganze Generation einen Neubeginn bedeuteten, stellten insgesamt auch 36 für Ottinger eine Phase des Aufbruchs dar, den sie in aller Radikalität lebte 37 und vor dessen Hintergrund sie eine angenommene gesellschaftliche Iden- 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 143 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 tität infrage stellte. Die Isolation und die innere Krise, die die als bürgerlich 2 kritisierten Künstlerinnen nach der Studentenrevolte vom Mai 1968 in 3 Paris schließlich durchlebten, sollten zu einer konsequenten Entscheidung 4 Ottingers führen: Sie hörte auf zu malen und widmete sich gänzlich der 5 Kunstvermittlung und der Filmproduktion (vgl. Babias, 2011, S. 7). 6 1969 kehrte sie in die Bundesrepublik zurück und gründete in ihrer 7 Heimat ­stadt, in Zusammenarbeit mit dem Filmseminar der Universität Kon- 8 stanz, den »Filmclub Visuell«, den sie bis 1972 leitete. Wolf Vostell hatte 9 sie für die filmische Dokumentation seines Happenings »Berlin Fieber« 10 eingeladen, 1973 verlegte sie ihren Wohnsitz nach Westberlin. Dort stellte 11 Ottinger gemeinsam mit Tabea Blumenschein, die noch an vielen weiteren 12 Produktionen beteiligt sein sollte, ihren ersten Film Laokoon & Söhne – Die 13 Verwandlungsgeschichte der Esmeralda del Rio fertig. Wie bei fast allen ihrer 14 Filme war sie dabei für Regie, Kamera, Drehbuch und Produktion verant- 15 wortlich und bildete auch einen Teil des schauspielerischen Ensembles. 16 Themen ihres Erstlingswerks sind die Latenz des gesellschaftlichen Faschis- 17 mus und der Geschlechterverhältnisse. Auch die Auseinandersetzung mit 18 dem Verhältnis von Mythen und Rollen hat hier ihren Ausgangspunkt. 19 Ulrike Ottingers Wahlheimat Westberlin wurde in den 1970er Jahren 20 zu einer Hochburg der Lesben- und Schwulenszene sowie der Frauenbewe- 21 gung. Doch obwohl sie selbst offen lesbisch lebt und hinter den Forderun- 22 gen der politischen Bewegung steht, beteiligte sich Ottinger nicht an den 23 Demonstrationen der Feministinnen. »Für mich war das nicht so wich- 24 tig, denn ich habe schon immer meinen eigenen Kopf gehabt« (Hillauer, 25 2012), erklärt sie und äußert zudem, dass sie auch wenig mit der Lesben­ 26 bewegung am Hut habe: »Das war für mich etwas sehr Persönliches, und 27 ich habe nicht eingesehen, dass ich dafür in irgendeinen Klub eintreten 28 muss« (ebd.). Bis heute macht sie in der Öffentlichkeit weder Hehl um 29 ihre sexuelle Orientierung noch um ihre jüdische Herkunft: »Ich bin nicht 30 jemand, der so dieses Herzeleid ausbreitet. Das ist mir unangenehm. […] 31 Ich will in keiner Schublade sein – weder in der feministischen, noch der 32 lesbischen, noch der jüdischen« (ebd.). 33 34 35 Stil und Inhalte von Ottingers Werk 36 37 In der internationalen Filmszene nimmt das Werk Ulrike Ottingers einen 38 einzigartigen Platz ein. Neben Ansätzen des Experimentalfilms der 1960er

144 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung

Jahre hat sie vor allem Impulse aus Malerei, Fotografie und Literatur in 1 ihren Filmen verarbeitet und zu einem Werk verwoben. Ihre Ursprünge 2 in den bildenden Künsten werden an den Prinzipien der Collage, die sie 3 auf ihre Filme und bei der Drehbucherarbeitung anwendet, sowie an ihrem 4 geschulten Auge für Kompositionen deutlich. Auch Metamorphose und 5 Allegorien sind kennzeichnend für Ottingers visuelle Sprache (vgl. Teddy 6 Award, 2012). »Damals war der Inhalt alles und die Form war nichts, damit 7 war ich nie einverstanden« (Hillauer, 2012), erklärt sie ihre Entscheidung, 8 ihren Filmen eine markante Bildsprache zu verleihen. 9 Ihre 24 eigenen Produktionen, die in den letzten vier Jahrzehnten ent- 10 standen, sind zudem charakterisiert durch eine Vermischung von fiktiven 11 und dokumentarischen Elementen, gar eine absichtsvolle Verwirrung der 12 Unterschiede zwischen Fakten und Fiktionen. In ihrer Rekombination 13 ergibt das Filme, die durch ungewöhnlich beeindruckende und bemer- 14 kenswerte Verbindungen gekennzeichnet sind. Die Figur der Protagonistin 15 Madame X wird zur Fiktionalisierung eines dokumentarischen Fotos aus 16 den 1930er Jahren, auf dem eine damals berüchtigte chinesische Piratin ab- 17 gebildet ist (vgl. Koch, 2005, S. 238). 18 Insgesamt sind einige von Ottingers Filmen mehr dem Genre der fiktio- 19 nalen Erzählung als der Dokumentation zuzuordnen. Neben Madame X – 20 Eine absolute Herrscherin (1977) zählen dazu unter anderem Johanna d’Arc 21 of Mongolia (1989) oder Zwölf Stühle (2004). Stärker nicht-fiktionale 22 Werke sind zum Beispiel China: Die Künste – Der Alltag (1985), Südost- 23 passage (2002) und Prater (2007) (vgl. Babias, 2011, S. 171). 24 Ottingers Werk zeichnet sich dadurch aus, dass es die Regeln des Main- 25 stream-Kinos missachtet und neue ästhetische Formen ausprobiert, die 26 anders als gewohnt funktionieren und teilweise provozieren. Schon früh in 27 ihrer Karriere äußerte sie ihre Frustration über kommerzielle Filmpraktiken 28 und die beständigen Versuche der Filmindustrie, Filmemacherinnen auf 29 ganz eng gefasste stereotype Genreformen zu beschränken (vgl. Ottinger, 30 1983, S. 18ff.). Um dies offensichtlich zu machen, geht sie in ihren Filmen 31 scheinbar auf Klischees eines bestimmten Genres ein, selbstverständlich 32 die traditionellen Erwartungen des Publikums einkalkulierend, um die Ge- 33 samtsituation dann anders als gewohnt aufzulösen. Ein treffendes Beispiel 34 dafür ist der hier betrachtete Film Madame X – Eine absolute Herrscherin, 35 der bewusst mit den Erwartungen des Genres Piratenfilm arbeitet und 36 radikal über die falschen, weil gewohnten, Erwartungen hinausgeht (vgl. 37 Babias, 2011, S. 171). 38

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1 Indem Madame X – Eine absolute Herrscherin die Sprache der medi- 2 atisierten Öffentlichkeit entschlüsselt und sie mit deren eigener Rhetorik 3 zu entwaffnen versucht, entwickelt der Film eine unverwechselbare Bild­ 4 sprache, die zwar stilistische Einflüsse der Pop-Art aufnimmt, sich aber 5 auch davon abgrenzt. Die dabei entstehende visuelle Differenzerfahrung 6 wurde zu einem bedeutenden Motiv ihrer filmischen Bilder (ebd., S. 183). 7 Insbesondere in ihren frühen Werken zeichnet sich eine Auseinander- 8 setzung Ottingers mit dem dominanten, männerdominierten Kino ab. 9 Ausgangspunkt ist dabei die Annahme, visuelles Vergnügen drehe sich im 10 Gegenwartsfilm um die Repräsentation des weiblichen Körpers, organi- 11 siert und legitimiert durch eine narrative Struktur, die dem männlichen 12 Subjekt (als Regisseur, Protagonist oder Zuschauer) die Kontrolle über 13 das Bild der Frau gibt (vgl. Niederer & Winter, 2008, S. 68ff.). Dadurch, 14 dass Ottinger in ihren Filmen erotische Randzonen erkundet und sado- 15 masochistische und fetischisierende Tendenzen in den Vordergrund stellt, 16 die man vermeintlich als »natürlich männlich« beurteilen mag, fordert 17 sie genau diese narrativen Strukturen heraus (vgl. Hansen, 1984, S. 98). 18 Ottingers Werk zeichnet sich durch Provokationen aus, zum Beispiel das 19 grelle Make-up, die schrillen Fantasiekostüme sowie die schräge Sprache 20 und der Gestus der Protagonistinnen. Indem der objektophile Charakter 21 der äußeren Erscheinungen der Darstellerinnen in den Vordergrund ge- 22 rückt wird, wird auf überspitzte Weise klar, was sie repräsentieren: Masken 23 und Symbole der Weiblichkeit. Diese Maskerade übertreibt also die tra- 24 dierte Darstellung von Weiblichkeit, distanziert die Protagonistinnen 25 so von einem medial sexualisierten Ideal und erlaubt schließlich einen 26 Kontrollgewinn über die mediale Repräsentation der Frau. Ihrer Wider- 27 sprüchlichkeiten ganz bewusst, bestätigen die Filme Ottingers also nicht 28 nur auf den ersten Blick beliebte Sehgewohnheiten, sondern handeln sie 29 gleichzeitig gezielt neu aus und führen den visuellen Genuss der Filme auf 30 emanzipierte Art und Weise auf das ästhetische Potenzial eines weiblichen 31 Narzissmus zurück (ebd., S. 102ff.). 32 Die problematische Natur des weiblichen Narzissmus erschwert den 33 filmischen Zugang. Zudem sind ihre Filmcharaktere unbequeme Figuren, 34 Freaks, deren Präsenz nicht leicht zu akzeptieren ist. Sie platziert ihre 35 häufig unkonventionellen Protagonistinnen darüber hinaus sorgfältig in 36 Landschaften, in denen sie ganz und gar fehl am Platz scheinen. So werden 37 sie vor Hintergründen gezeigt, vor denen ihre Queerness umso stärker zur 38 Geltung kommt, wie beispielsweise alte Industriebrachen oder unansehn­

146 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung liche Großstadtsiedlungen. Erst in der wechselseitigen Referenz wird dabei 1 deutlich: Auch wenn Ottinger scheinbar die Emanzipation der Frau im 2 Film beabsichtigt, verweigert sie sich gleichzeitig der Reproduktion von 3 Geschlechterverhältnissen. 4 Ein weiteres auffälliges Merkmal der Ottinger-Filme ist, dass sie jeweils 5 im Zeitrahmen einer touristischen Reise ablaufen. Das ist für die »Ent­ 6 deckung« »fremder Länder« eine naheliegende Form, bewegt sich die 7 Filmerin doch selbst als Reisende. Madame X etwa ist eine Geschichte eines 8 Aufbruchs, gespeist von der Verlockung der Reise und den Verheißungen, 9 »Neuland« zu entdecken, im motorischen wie im übertragenen Sinne (vgl. 10 Oppitz, 2005, S. 369). 11 12 13 Filmanalyse zweier Sequenz-Beispiele 14 15 Zum besseren Verständnis ihrer filmischen Intentionen wird folgend eine 16 differenzierte Filmanalyse an zwei ausgewählten Sequenzen durchgeführt, 17 auch wird ein Sequenzprotokoll dieser Szenen realisiert. Wie bereits er- 18 wähnt, bindet Ottinger thematisch immer wieder imaginäre, fantastische 19 und exotische Reisen in ihre Filme ein, so auch bei Madame X – Eine ab­ 20 solute Herrscherin von 1977 (vgl. Nusser, 2002, S. 14). 21 Madame X verkündet den Aufruf »Gold – Liebe – Abenteuer«. Ein 22 Film, der Frauen unterschiedlicher Nationen dazu aufruft, ihren beinahe 23 unerträglich monotonen Alltag gegen eine Welt voller Gefahren, Un- 24 sicherheiten, Liebe und Abenteuer einzutauschen und eine Schiffsreise 25 anzutreten. Bei der Betrachtung des Filmes kann festgestellt werden, dass 26 die Frauen als Mannschaft keineswegs willkürlich, jedoch sehr bunt zu- 27 sammengesetzt sind. Sie bedienen eine große Bandbreite menschlichen 28 Lebens. Vom Naturzustand bis zur modernen Flugtechnik, von der Busch- 29 pilotin über die amerikanische Hausfrau hinweg bis zur Diplom-Psycho- 30 login und dem amerikanischen Fotomodel, ist auch eine »Eingeborene« 31 der Insel Tai-Pi mit an Bord sowie eine internationale Künstlerin. Eine 32 Gesamtheit des weiblichen Teils der Welt geht an Bord. Dieser Piratinnen- 33 film wurde jedoch nicht aus dem Leben gegriffen, sondern entstand aus 34 einer Fantasievorstellung. Des Weiteren beinhaltet der Film Anspielun- 35 gen auf die Absichten und Vorstellungen der damaligen Frauenbewegung 36 (vgl. Schock & Kay, 2003, S. 232). Die reisenden Frauen sind von Beginn 37 an von Metaphern umgeben, die sich um den eigenen Körper ranken, bis 38

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1 sich keine Identität mehr, durch Dezentralisierung des Körpers, behaupten 2 kann (vgl. Nusser, 2002, S. 26). 3 4 5 Analyse der Handlung 6 7 Der Film Madame X – Eine Absolute Herrscherin (Ulrike Ottinger, 8 Deutschland 1977) beginnt mit einer kurzen Einführungssequenz. Vor 9 einer Einstellung der Galionsfigur eines (Piraten-)Schiffes mit nach vorne 10 gestrecktem Arm, erscheinen der Titel des Films und die Namen der be- 11 teiligten Darstellerinnen in einem kurzen Vorspann. Eine Stimme aus dem 12 Off ertönt, die Erzählerin beginnt ihre Geschichte: 13 14 »Madame X, eine strenge unerbittliche Schönheit, die ungekrönte und 15 grausame Herrscherin des Chinesischen Meeres richtete einen Appell an alle 16 Frauen, die gewillt waren, ihren zwar bequemen und sicheren, aber fast un- 17 erträglich eintönigen Alltag einzutauschen gegen eine Welt voller Gefahren 18 und Ungewissheit, aber auch voller Liebe und Abenteuer. Diesem Ruf folgten 19 Frauen unterschiedlichster Nationen und aus allen Bereichen des Lebens.« 20 21 Diese Einleitung setzt den Anfang einer langen Einstiegssequenz in die 22 Handlung des Films. Ein Aufruf erreicht Frauen verschiedener Lebensl­agen, 23 die sich auf den Weg ins Ungewisse machen werden. Die erste Szene stellt 24 den Zuschauern Flora Tannenbaum vor. Die Kamera zeigt einen Tannen­ 25 wald, vor dem, an einem alten Holztisch, Flora Tannenbaum, eine deut- 26 sche Försterin aus dem Schwarzwald, ein üppiges Frühstück zu sich nimmt. 27 Vor ihr stehen eine Kanne, Brot und verschiedene Käse- und Wurstsorten. 28 Die Erzählerin stellt die Frau als Goethe-Verehrerin vor. Während sie ihr 29 Frühstücksei mit Salz bestreut und isst, ertönt ein Bellen aus dem Off. 30 Flora Tannenbaum nimmt ein Stück Fleisch in ihre Hand, streckt ihren 31 Arm aus und ein Hund apportiert eine Zeitung (kurz darauf sieht man, 32 dass es sich um die FAZ handelt), er bekommt als Belohnung das Fleisch. 33 Es ertönt eine extradiegetische Stimme, die den Zuschauerinnen vermit- 34 telt, was Flora Tannenbaum scheinbar in der Zeitung liest: 35 36 »Chinese Orlando – Stopp – An alle Frauen – Stopp – biete Welt – Stopp – 37 Full of gold – Stopp – Liebe – Stopp – Abenteuer – Stopp – At Sea – Stopp – 38 Call Chinese Orlando, Call Chinese Orlando – Stopp.«

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Flora Tannenbaum lässt ihre Tasse, aus der sie gerade noch einen Schluck 1 getrunken hatte, sinken und steht hektisch auf. Dazu hört man nun 2 aus dem Off Musik einer Blaskapelle, die als Marschmusik interpretiert 3 werden kann. Sie zieht ihre Jacke an, die in einem Baum hängt, schnürt 4 ihre Schuhe, greift nach ihrem Gewehr und lädt es, setzt ihren Hut auf und 5 nimmt eine Hundeleine zur Hand. Diese befestigt sie am Halsband ihres 6 Hundes, geht dann zielstrebig auf die Kamera zu und verschwindet rechts 7 aus dem Bild. 8 Die Zuschauer sehen sie über Waldwege und Straßen laufen. Zum Ende 9 ihrer Einleitungsszene kämpft sie sich durch hohes Schilf am Rande eines 10 Gewässers, das schon das Meer sein könnte, in dem sich das Schiff Chinese 11 Orlando befindet. 12 Betonbauten, ein modernes Haus, davor Treppen aus Stein. Wir be- 13 finden uns in der zweiten Einleitungsszene in einer Stadt, im direkten 14 Kontrast zur natürlichen Umgebung des Schwarzwaldes. Die Treppen des 15 Gebäudes steigt Josephine de Collage herunter, eine internationale Künst- 16 lerin, tödlich gelangweilt vom akademischen Kulturbetrieb und fährt, be- 17 gleitet von einem Kameraschwenk, mit Rollschuhen durch das Bild. Vor 18 einem weiteren Gebäude dreht sie Runden, als Flugblätter von oben ins 19 Bild fallen. Sie fängt eines auf und liest es – eine Stimme aus dem Off liest 20 das Telegramm der Madame X vor. Josephine wirft die Arme vor Freude 21 in die Luft und macht sich auf den Weg. Sie rollt mit ihren Schuhen auf 22 einer Landstraße an einem See, plötzlich hält auf der gegenüberliegen- 23 den Seite der Straße ein weißes Auto. Sie rollt auf dieses zu und man hört 24 eine Männer­stimme, die aus dem Auto zu kommen scheint: »Wir haben 25 gehört, sie fahren zu Madame X. Warum tun sie das?«, »Verstehen sie 26 english?«, »Yes«. 27 Sie holt ein Buch aus ihrer Tasche, liest eine Textstelle vor, bricht ab, da 28 es scheinbar die falsche war, und beginnt erneut mit einem Plädoyer gegen 29 die moderne Welt der Kunst und die Erwartungen an eine Künstlerin 30 oder eine Kulturschaffende in diesem Milieu. Ihrer Meinung nach geht es 31 in dieser Welt darum, durch Druck Kunst zu schaffen, die Kunst gehe da- 32 durch zugrunde. In ihrem Monolog findet sich ein Auszug ausSentimental 33 Education von Gustave Flaubert, in dem es um die Macht des und die Ab- 34 hängigkeit vom Geld und die daraus entstehenden Probleme für die Kunst 35 geht. Zurück zu ihrem eigenen Text, setzt Josephine de Collage den Akzent 36 auf die Flucht vor dem Zwang und der Langeweile: »So fliehe ich vor allem 37 davon: von den Pflichten eines Berufs, der mich nicht mehr interessiert, 38

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1 von einer Leidenschaft, die mich nicht verzehren könnte, und von meiner 2 eigenen Leere. Es ist mir egal, wohin das Schiff fährt.«1 3 Sie schließt das Buch, fragt den Interviewer, ob er zufrieden sei, dieser 4 bedankt sich und sie verabschieden sich. Sie fährt daraufhin auf ihren Roll- 5 schuhen auf der Landstraße davon. 6 »Hello, I am Betty Brillo.« 7 Eine blonde Hausfrau steht in der Küche vor ihren Einkäufen, die auf 8 der Küchenzeile liegen. Das Bild bleibt stehen und nur noch ihre Stimme 9 ist zu hören. Alle Vokale zieht sie in die Länge, als würde sie das Gesagte 10 Ironisieren und selber nicht erst nehmen. 11 12 »Ich habe das College nicht beendet, weil ich ihn liebte. Und verehrte ihn 13 und wollte nichts anderes als seine Frau und Mutter seiner Kinder zu sein. So 14 brachte ich vier von ihnen zur Welt: drei Töchter und einen Sohn, der später 15 natürlich homosexuell wurde.«2 16 17 Der Text scheint den Traum amerikanischer Hausfrauen zu ironisieren und 18 zu zeigen, wie die Hausfrau ihre Welt neu und anders wahrnimmt. Sie ver- 19 sucht aus den klassischen Rollen auszubrechen, ohne sich davon komplett 20 lösen zu können. Auch neue Männer oder eine neue Liebe führten immer 21 wieder zum gleichen alten Schema. 22 Plötzlich läuft der Film wieder an und Betty Brillo liest einen Zettel mit 23 dem Aufruf der Chinese Orlando. Sie schaut erst schockiert und verwirrt 24 auf den Zettel in ihren Händen, faltet ihn dann zusammen, räumt kurz 25 einige Haushaltsgegenstände und Lebensmittel in einen Korb, zieht eine 26 Schirmmütze auf den Kopf und fährt mit ihrem Fahrrad davon. Man hört 27 sie murmeln: »Das ist etwas! Das ist extrem! Das ist der Gesetzlose, die 28 Außen ­seiter. Das habe ich gesucht!«3 Sie fährt gehetzt mit ihrem voll bela- 29 denen Fahrrad den Berg vor ihrem Haus hinab. Die Zuschauerinnen stehen 30 nun in einem weißen, spartanisch eingerichteten Raum mit einem weiß 31 32 1 »So I am fleeing from all of this: from the obligations of a profession that no longer inter- 33 ests me, from a passion that could not consume me, and from my own emptiness. I don’t 34 care where the ship goes.« 2 »I didn’t finish college because I loved him. And adored him and wanted nothing else 35 than being his wife and mother of his children. So I gave birth to four of them: three 36 daughters and one son, who became a homosexual later, of course.« 37 3 »This is something! This is extreme! This is the outlaw, the misfits. This is what I was look- 38 ing for!«

150 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung

­bezogenen Bett in der Mitte. Dahinter befindet sich ein Waschbecken. Der 1 Ort könnte alles sein, bis eine Frau im weißen Kittel hereintritt und eine 2 Patientin auf das Bett legt, die Ärztin beginnt eine psychologische Analyse. 3 Ihre Stimme hört man aus dem Off, es kann nicht zugeordnet werden, ob 4 die Ärztin das Gehörte in der Diegese ausspricht oder ob ihre Gedanken 5 extradiegetisch eingespielt werden. 6 7 »Herzschlag. Analyse. Psychosoziale Barrieren. Unterdrückte Sinnlichkeit. 8 Triebregungen. Korsett der Zivilisation. Schwerste psychische Konflikte. 9 Schwaches Ich. Jahrhundertelange Unterdrückung der Frau. Passivität und 10 Abhängigkeit. Charakterstruktur. Narzisstisch gestörte Persönlichkeit. 11 Krankhafter Machthunger. Isolation auf engstem Raum. Frühkindliche Zer- 12 störungsorgien. Überdimensionale Reaktivierung. Moderne Sozialwissen- 13 schaften. Schematische Begrenzung. Analyse. Psychosoziale Barrieren. Unter­ 14 drückte Sinnlichkeit. Triebregungen. Korsett der Zivilisation. Schwerste 15 psychische Konflikte. Charakterstruktur. Narzisstisch gestörte Persönlich- 16 keit. Krankhafter Machthunger. Isolation auf engstem Raum. Frühkindliche 17 Zerstörungsorgien. Überdimensionale Reaktivierung.« 18 19 Schnell merken die Zuschauer, dass es hier nicht nur um die Analyse einer 20 einzelnen Patientin geht, sondern vielmehr der Status der Frau in der Ge- 21 sellschaft und ihre Unterdrückung (der Triebe) im Zentrum stehen. 22 Die Patientin reicht der Ärztin nach dem Monolog einen Zettel. Die 23 Ärztin setzt sich und liest. Zeitgleich ertönt eine Erzählerinnenstimme, die 24 die Ärztin vorstellt: »Und hier die Diplom-Psychologin Karla Freud-Gold- 25 mund.« Eine weitere Stimme aus dem Off liest das bekannte Telegramm 26 vor, währen die Psychologin auf den Zettel starrt. Sie packt daraufhin einige 27 Objekte in einen kleinen Reisekoffer, zieht ihre Krankenhausbluse aus, 28 packt sie ebenfalls ein. Die Patientin steht vom Bett auf und geht. Karla 29 Freud-Goldmund folgt ihr aus dem Bild. 30 Plötzlich ist man im Grünen. Die Psychologin steigt auf eine Rikscha, 31 die von der Patientin gezogen wird. Der Herzschlag, der die gesamte Se- 32 quenz untermalt, wirkt nun wie der Hufschlag eines rennenden Pferdes vor 33 einem Gespann. Sie fahren bis zu einer Bootsanlegestelle an einem großen 34 Gewässer. 35 Eine stark geschminkte Frau mit langen, gelockten, blonden Haaren sitzt 36 auf der Rückbank eines alten Kabrioletts. Sie ist schick und modern ge- 37 kleidet und hat einen Telefonhörer in der Hand. Die Erzählerinnenstimme 38

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1 stellt sie vor: »Und hier das gefeierte italienische Fotomodell Blow-Up«. 2 Während sie telefoniert und das Auto durch die Straßen gleitet, ertönt 3 Saties La Diva de l’Empire (vgl. White, 1987, S. 82). Nach einem länge- 4 ren Gespräch, legt sie den Hörer ab und genießt den Fahrtwind. Plötz- 5 lich scheint aber das Telefon zu klingeln, denn sie greift erneut nach dem 6 Hörer und es ertönt das Telegramm der Chinese Orlando. Sie schaut erst 7 skeptisch und überlegt, bittet dann aber ihren Chauffeur durch ein Hand­ 8 zeichen zu wenden und sie in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Der 9 Kamera ­ausschnitt zeigt nun das Cockpit eines Flugzeugs. Eine in einem 10 rosa Fluganzug gekleidete Frau sitzt vor der Konsole und lenkt. Eine Erklä- 11 rung ertönt: 12 13 »Omega Centauri ist eine australische Buschpilotin. Ihre alte DC-3, mit der 14 sie täglich ebenso voyeuristische wie unsinnliche Touristen über die land- 15 schaftliche attraktive Ost-West-Route flog, war ihr so vertraut wie anderen 16 Frauen die Spül- oder Waschautomaten. Ihr Fliegeralltag, für Hausfrauen 17 wie Betty Brillo ein Traumberuf, erschien ihr grau und eintönig. Abenteuer 18 im All, das war es, was sie suchte. Sie hatte auch bereits ein Telegramm an 19 die NASA geschickt, in dem sie sich eindeutig als qualifizierte Raumfahre- 20 rin bewarb, aber nie Antwort erhalten. Women for space-clipper, war ihre 21 Forderung.« 22 23 Omega Centauri nimmt das Mikrofon der Funkanlage in die Hand: 24 »Mr. Brown, Hello Houston Tower. Omega Centauri calling.« Aber 25 keiner scheint sie zu hören. Dann ertönt das für die Zuschauer altbekannte 26 Telegramm. Woher es kommt, kann schwer zugeordnet werden. Mögli- 27 cherweise kommt es aus ihrer Funkapparatur. Erstaunt von der Nachricht 28 und scheinbar hingerissen von der Idee versucht sie, mit der Chinese Or- 29 lando Kontakt aufzunehmen: »Omega Centauri calls Chinese Orlando.« 30 Auf allen Kanälen ertönt das Telegramm: »An alle Frauen!« – »Heilige 31 ­Galaxis, höre ich richtig? A cosmic trip at sea, lauter heiße Bräute, on a 32 big ship. It’s not bad.« Sie nickt, wiederholt und ruft dann aus: »Alright, 33 baby!« Sie fliegt mit ihrem Flugzeug eine Kurve und ruft nach hinten: 34 »Hey, alle in die Schleudersitze!« Sie landet auf einem Gewässer und ver- 35 abschiedet sich von ihrem Flugzeug. 36 Es ertönt ruhige Gitarrenmusik mit leichtem Gesang. Im Wasser sieht 37 man die Spiegelung einer Frau in einem Boot, bis die Kamera nach oben 38 schwenkt und man sie jetzt in ihrem Kanu und ihrem weißen Kleid wahr-

152 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung nimmt. Sie räumt ihr Paddel in das Boot und hantiert dann mit einem aus 1 verschiedenen Hölzern zusammengebundenen Gestell. Dies scheint eine 2 rituelle Bedeutung zu haben oder einen spirituellen Zweck zu erfüllen, den 3 die Zuschauer auf den ersten Blick nicht begreifen können. Dann geht die 4 Kamera in eine Halbtotale über und das Gestell im Ganzen lässt die Assozi- 5 ation eines Fisches zu. Die Erzählerinnenstimme erklingt: »Hier Noa-Noa, 6 eine Eingeborene der Insel Tai-Pi, die von ihrem Ehemann wegen einer 7 Tabu ­verletzung verstoßen worden war.« 8 Noa-Noa rudert über das Wasser und findet eine Blechbüchse, die als 9 Flaschenpost fungiert und in der sich das Telegramm der Chinese Orlando 10 befindet. Sie ergreift das Holzgestell und den Zuschauern wird klar, dass 11 sie es zum Navigieren nutzt. Zu schneller und rhythmischer Musik be- 12 schleunigt sie ihr Paddeln in Richtung Schiff. Die Zuschauer befinden sich 13 nun auf dem Ufer eines Gewässers, vor ihnen im Schilf die rekrutierten 14 Frauen des Schiffes Orlando. Sie beobachten gespannt, wie Noa-Noa sich 15 dem Piraten­schiff nähert. 16 Sieben Frauen sind nun kurz davor auf das Deck der Orlando zu stei- 17 gen und ins Ungewisse zu segeln. Das »Es ist mir egal, wohin das Schiff 18 fährt«4 von Josephine de Collage trifft auf alle diese aus der Gesellschaft 19 und vor den normativen Rollenbildern geflüchteten Frauen zu. 20 21 22 Interpretation der analysierten Anfangsszene 23 24 Offensichtlich ist die Geschichte eine intensive Auseinandersetzung mit 25 feministischen Perspektiven und Ansätzen, die im Folgenden tiefgründiger 26 erläutert werden. 27 28 »Der Feminismus hat nicht nur neue Strategien erfundener neuer Texte er- 29 funden, sondern, was noch wichtiger ist, er hat ein neues soziales Subjekt 30 erfunden, Frauen: als Sprecher, Zuschauer, Zuschauer, Nutzer und Schöpfer 31 kultureller Formen, Gestalter kultureller Prozesse«5 (De Lauretis, 1985, 32 S. 163, zit. n. White, 1987, S. 81; Übers. J. B.). 33 34

4 »I don’t care where the ship goes.« 35 5 »Feminism has not only invented new strategies of created new texts, but more impor- 36 tantly it has conceived a new social subject, women: as speakers, readers, spectators, 37 users and makers of cultural forms, shapers of cultural processes.« 38

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1 Es seien also nicht nur neue Texte und neue Ideen, die im Film zum Tragen 2 kommen, sondern auch die neuen erzählenden und rezipierenden Subjekte 3 des Films. Madame X wurde innerhalb und Bezug nehmend auf eine frühe 4 Welle des Feminismus gedreht. Frauen und ihre Beziehungen unterein- 5 ander werden zum Hauptobjekt des Films und ihre Rollen werden durch 6 kinematografische Elemente infrage gestellt und neu definiert (ebd.). 7 8 »Die Themen, die Frauen behandeln, haben durchweg zu tun mit dem An- 9 derssein der Frau und mit ihrer Machtlosigkeit. Sie stellen patriarchalische 10 Mythen in Frage und suchen eine weibliche Identität. Manche bedienen sich 11 des Traums oder der Erinnerung. Manche sind satirisch. Immer entwerfen 12 sie ein Gegenbild zum konventionellen Erzählkino. Alle sind subversiv« 13 ( ­Fischetti, 1992, S. 23). 14 15 In den 1970er Jahren fangen Frauen an, das Metier der Regisseurin langsam 16 für sich zu entdecken – und was Renate Fischetti hier aufführt, ist genau 17 das, was Ulrike Ottinger damals mit ihrem Meisterwerk machte und heute 18 noch macht. Der Traum von der Flucht, der Traum vom Entdecken neuer 19 Welten, vom Abenteuer und von der Liebe (siehe auch das Telegramm der 20 Chinese Orlando) dient der Regisseurin als Weg, den Zuschauerinnen neue 21 Ideen und Impulse zu geben und ihnen subtil zu zeigen, welche Kräfte in 22 der Gesellschaft wirken und welche hegemonialen Strukturen die Gesell- 23 schaft dominieren. 24 Das Hauptziel des Films ist wohl die Bewusstmachung dieser Zustände 25 und die Befreiung von festgeschriebenen Rollen und Geschlechterbildern. 26 Sei es die internationale Künstlerin Josephine de Collage, die gegen die 27 Zwänge eines bestimmten Milieus aufbegehrt (in diesem Fall dem der 28 Künste), Betty Brillo, die Hausfrau, die aus der Monotonie und dem 29 ­Schrecken einer monogamen Beziehung, in der sie kontrolliert wird und 30 Hausfrau spielt, ausbrechen möchte, oder sei es Belcampo, ein Wesen ohne 31 eindeutiges heteronormatives Geschlecht, das später im Film zum Schiff 32 dazu stößt. Diese Protagonistinnen, wie alle anderen fünf Frauen kommen 33 aus unterschiedlichen Lebenslagen, in denen Zwänge wirken, die sie be- 34 gonnen haben wahrzunehmen und von denen sie sich jetzt verabschieden: 35 Sie fliehen ins Ungewisse, ins Abenteuer und in die Freiheit. Wichtig er- 36 scheint noch hinzuzufügen, dass bei jeder dieser sieben Frauen ein anderes 37 (aufgezwungenes) Verständnis von Sexualität und Lust vorhanden ist. Die 38 Bilder vermitteln eine relative Befreiung der Frau, die freie Wahl des Sexual­

154 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung partners und von dessen Geschlecht bis hin zur monogamen heterosexu- 1 ellen Beziehung und zum Einsiedlerleben im Wald. Diese Bilder werden 2 durch die Konstruktion der Einstellungen, die Kommentare der Erzählerin 3 und besonders durch die weiteren Vorstellungsszenen der anderen Frauen 4 relativiert und dekonstruiert. 5 6 7 Interpretation der analysierten Schlussszene 8 9 Kurz vor Ende des Films schreibt die Diplom-Psychologin in einem Brief 10 an die Weltbevölkerung über die Ereignisse der letzten Wochen auf See, 11 analysiert diese und fasst Schlussfolgerungen für die Zuschauer zusammen. 12 Der Name der Diplom-Psychologin lässt bereits die erste Schlussfolgerung 13 zu: Karla Freud-Goldmund spricht von unterdrückter Liebe und schafft 14 damit die erste Verbindung zu Sigmund Freud. In der Schrift Das Unbeha- 15 gen in der Kultur verweist Freud auf die Befreiung der sexuellen und aggres- 16 siven Triebe (vgl. Freud, 1930, S. 32). Beides, die sexuellen und aggressiven 17 Triebe, beschreibt auch die Diplom-Psychologin Karla Freud-Goldmund: 18 »Nachdem die Frauen alle psychosozialen Barrieren des Alltags hinter 19 sich gelassen haben, brach die unterdrückte Sinnlichkeit auf ungeahnter 20 Macht hervor.« Des Weiteren thematisiert sie die vielen Jahrhunderte der 21 Unterdrückung der Frauen, deren Gewohnheiten von Passivität und von 22 Abhängigkeit sich in ihren Charakterstrukturen wiederfinden lassen. Sie 23 übt damit Kritik an der Gesellschaft der 1970er Jahre und dem bis dahin 24 bestehenden Bild der Frau. Die Befreiung aus diesen Denkmustern finden 25 die Frauen in der »narzisstisch gestörten Madame X«, aber auch in dem 26 totalen Widerspruch der Isolation auf engstem Raum und der Weite, die 27 sich die Frauen mithilfe ihrer Fantasie erschließen konnten. 28 Zur hier erörterten Szene neigt sich der Film bereits dem Ende entgegen. 29 Die Frauen streifen ihre alten Rollen, die sie zu Beginn des Films verkör- 30 perten, ab und erhalten erst durch ein Ritual ihre neuen Identitäten. Das 31 Ritual ist der symbolische Durchgang durch den Tod und die Rückkehr an 32 Bord, wobei die alte soziale Rolle der jeweiligen Frau vernichtet wird. Vor 33 allem durch die Abgeschiedenheit von den allgemeinen Lebenszusammen- 34 hängen können schließlich die Wiedergeburt und ein Rollenwandel statt- 35 finden (vgl. Steinwachs, 1978, S. 11). Im Film werden die Frauen am Ende 36 für eine neue Kaperfahrt angeheuert, womit das Ende zum neuen Beginn 37 stilisiert wird. 38

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1 Die Rezeption des Films Madame X 2 3 Es ist unverkennbar, dass sich Ulrike Ottingers Filme, und Madame X 4 von 1977 im Besonderen, nur schwer in ein kinematografisches Genre ein­ 5 ordnen lassen. Der experimentelle und teils stark mit surrealistischen Ele- 6 menten spielende Film kam vermutlich genauso divers in der Zuschauerin- 7 nenschaft an. Leider gibt es wenig auffindbare Positionen aus der Zeit der 8 Veröffentlichung. Allerdings deutet genau dieser Aspekt auch darauf hin, in 9 welcher Nische der Filmlandschaft dieser Film entstanden ist. 10 Madame X war kein neuer Titel in der Filmgeschichte, vier frühere US- 11 amerikanische Werke trugen schon diesen Haupttitel. Zwar behandeln auch 12 diese vier Filme das Problem der Weiblichkeit, allerdings erfüllt scheinbar 13 Ottingers Spielfilmdebüt nicht die durch die anderen Filme entstandenen 14 Assoziationen von Erotik (vgl. Witte, 1978; Hake, 1993, S. 179). 15 Nicht nur in diesem Punkt überraschte Madame X die Cineastinnen: 16 Im Kontext des Neuen Deutschen Films gehörte Ottinger zu einer Reihe 17 avantgardistischer Regisseurinnen des feministischen Films. Zu den etwas 18 bekannteren Frauen des Neuen Deutschen Films gehörten in den 1960er 19 Jahren unter anderem Danièle Huillet, May Spils und Ula Stöckl. Alle be- 20 schäftigten sich mit dem Leben von Frauen, wobei vor allem Stückl mit 21 ihren Werken in die feministische Richtung der folgenden 1970er Jahre 22 verwies (vgl. Knight, 1995, S. 15), die im Westdeutschland der 1960er und 23 1970er Jahre einen enormen Aufschwung erfuhr. Stets waren Frauen in der 24 internationalen Filmbranche unterrepräsentiert und marginalisiert (ebd.). 25 1977, als Madame X herauskam, veröffentlichten neben Ottinger auch 26 Helma Sanders-Brahms, Helke Sander, Heidi Genée und Marga­rethe von 27 Trotta erste Spielfilme. Alle waren keine Anfängerinnen, sondern studier- 28 ten teils sogar an Filmhochschulen und waren auf der »Suche nach alter- 29 nativen Bildern und Gegenentwürfen« (ebd., S. 11). 1980 gehört O­ ttinger 30 zu den 14 wichtigsten Filmemacherinnen Westdeutschlands, in der inter- 31 nationalen Presse rezensierte man aber stets nur die männlichen Regisseure, 32 Frauen wurden nur in einzelnen Fachzeitschriften besprochen (vgl. ebd., 33 S. 20). Selbst spezielle Filmzeitschriften wie Quarterly Review of Film ­Studies 34 oder New German Critique erwähnten deutsche Regisseurinnen eher nur 35 am Rande, aber hier war zumindest Ottinger darunter. Frauen erhielten 36 meist auch wesentlich geringere finanzielle Förderung (vgl. ebd., S. 126). 37 Ottingers Filme gehören eher zum experimentellen Underground 38 Cinema und erlangten dadurch keinen großen Bekanntheitsgrad (vgl.

156 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung

Frieden, 1993). Selbst in der Kunstszene wurden Ottingers Filme, so auch 1 Madame X, kaum diskutiert. Laurence A. Rickels begründet dies damit, 2 dass viele ihre Filme nicht verstanden bzw. missverstanden haben; außer- 3 dem habe es derzeit andere »Künstlerinnengrößen« gegeben, über die man 4 sprach (vgl. Rickels, 2008, S. 3). Wenn Madame X in der feministischen 5 Filmszene rezipiert wurde, dann stieß er auf Unmut: »Der Film provozierte 6 in der feministischen Filmgesellschaft überwiegend feindselige Reaktionen 7 und wurde in ›Frauen und Film‹ erst nach einer kurzfristigen Änderung 8 der dortigen Redaktionspolitik rezensiert«6 (zit. n. Hansen, 1984, S. 98). 9 Aber natürlich gab es auch Begeisterte, so fand zum Beispiel Ginka Stein- 10 wachs den Film überaus gelungen und kommentiert 1978: 11 12 »Madame X von Ulrike Ottinger und Tabea Blumenschein ist der erste 13 deutsche Film seit vielen Jahren, der dieser Definition auf dem kinematogra- 14 fischen Sektor ohne Abstrich genügt, weil er, darum in den surrealistischen 15 Grund und Nährboden zu loben, ganz Bild, ganz Ton, unzweideutig die 16 Farbe der Leidenschaft bekennt« (Steinwachs, 1978, S. 21). 17 18 Sie bezieht sich bei der »Definition« auf ein Zitat über Schönheit von 19 André Breton von 1937, welches folgendermaßen lautet: »die konvulsivi- 20 sche Schönheit wird erotisch-verhüllt, berstend-starr, magisch-umstands- 21 bedingt sein oder sie wird nicht sein« (Breton, 1937, zit. n. Steinwachs, 22 1978, S. 21). 23 Im Gegensatz zu den anderen fiktionalen Regisseurinnen der damali- 24 gen Zeit hatte Ottinger nicht dasselbe »Engagement für Wahrheitsnähe 25 und narrative Transparenz«7 (Rickels, 2008, S. 3), ihre experimentelle 26 und nicht immer verständliche grenzüberschreitende Arbeitsweise war 27 bemerkenswert, kommentierte Annette Kuhn (1987). Auch Andrea Weiss 28 bezeichnete Ottingers Filmwerk als unklassisch, als Parodie und als »Trans- 29 gressive Cinema« (Weiss, 1992, zit. n. Rickels, 2008, S. 1). 30 Roy Grundmann und Judith Shulevitz zählen Madame X zu den »cult 31 hits« Ottingers und schreiben: »Ottinger stellt den düsteren Stil in den 32 Dienst einer hochgradig ironischen lesbischen Kritik«8 (Grundmann & 33 34

6 »The film provoked predominantly hostile reactions in the feminist film community and 35 did not even get reviewed in Frauen und Film until a recent shift in editorial policy.« 36 7 »commitment to verisimilitude and narrative transparency«. 37 8 »Ottinger places drop-dead style in service of a highly ironic lesbian critique.« 38

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1 Shulevitz, 1991, S. 40). Die britische Kulturwissenschaftlerin und Femi- 2 nistin Angela McRobbie lobt 1982 Ottingers Filme als »Meilenstein[e] 3 in der Entwicklung eines erotischen Frauenfilms«9 (McRobbie, 1982, zit. 4 n. Hake, 1993, S. 187), allerdings unterschlägt sie dabei, laut der Profes- 5 sorin für deutsche Literatur und Kultur Sabine Hake, den Beitrag, den 6 der Film zur Diskussion über Postmoderne und feministische Avantgarde 7 leistete. Hakes Meinung nach schafft es Madame X, konventionellen 8 Rollen b­ ildern und Konnotationen zu widerstehen und verzichtet auf die 9 Reproduktion von patriarchalen Strukturen (ebd., S. 188). Es sei weder 10 ein typischer Erotikfilm noch ein Angriff auf die Männerwelt, sondern 11 eher eine kritische Auseinandersetzung mit der medialen Repräsen- 12 tation von Frauen (ebd., S. 179ff.). Sie konstatiert, dass es vielmehr um 13 die Langeweile der Frauen angesichts der starren Rollen und Kategorien 14 gehe als um eine Kritik am Patriarchat (ebd., S. 181). Außerdem sei es 15 eine Auseinandersetzung mit weiblicher Homosexualität, die durch eine 16 gewisse Art von Voyeurismus und Perversion stattfinde. Gerade die Kos- 17 tüme karikierten erotische Bilder (ebd., S. 182f.). Damit biete Ottinger 18 einen erfrischenden Umgang mit der ermüdenden Realität. Hake beur- 19 teilt Madame X als »eine sehr erfreuliche Dekonstruktion des narrativen 20 Realismus und insbesondere eine Dekonstruktion der Repräsentation der 21 Weiblichkeit«10, vor allem den humoristischen Umgang durch die Ein- 22 bettung in eine Piraten­geschichte lobt sie. 23 Rickels arbeitet Ottingers sensible Art, sich Minderheiten zu nähern, 24 heraus: »Ottinger konnte […] Zutritt und Repräsentationen von Min- 25 derheiten erreichen, ohne sie […] erst notgedrungenermaßen als Teil einer 26 identifizierbaren Minderheitserfahrung darzustellen«11 (Rickels, 2008, 27 S. 30). Er führt weiter aus, dass in ihren Filmen die Perspektive der Außen- 28 seiter stets stark dargestellt werde und man so neue Sichtweisen kennen- 29 lerne. Das Medium Film ermögliche eine Reise in das Innere vernachlässig- 30 ter gesellschaftlicher Diskussion (ebd., 1993, S. 184). Laut Hake geht es in 31 dem Film um eine enorme Spannung zwischen Inklusion und Exklusion, 32 33 34 9 »landmark[s] in the development of an erotic women’s cinema« 10 »as a very pleasurable deconstruction of narrative realism – and more specifically a de- 35 construction of the representation of femininity.« 36 11 »Ottinger has been able […] to gain admission and representation of minorities with- 37 out first setting them up […] as representing themselves by necessity as part of an 38 identifiable minority experience.«

158 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung die sich in einer Choreografie einer permanenten Nicht-Identität auflöst 1 (vgl. Hake, 1993, S. 184). 2 »Der Film machte Ottinger zu einer sensationellen Kontroverse«12 3 ( Rick­ els, 2008, S. 24), der damalige Diskurs drehte sich unter anderem 4 um die Frage, ob es eine weibliche Ästhetik gibt. Dieser These verweigert 5 sich Ottinger selbst allerdings stark. Im Gegensatz zu vielen anderen Re- 6 gisseurinnen, die krampfhaft versuchen zu zeigen, wie Dinge sind und wie 7 ungerecht die Welt ist, konzentriert sich Ottinger darauf, was passiert, 8 und setzt sich mit den Wirkungsweisen von Strukturen konkret auseinan- 9 der (vgl. Knight, 1995, S. 123). Im Interview mit Roswitha Mueller über 10 Madame X erklärt Ottinger: »Das durchgehende Leitmotiv des Films 11 handelt von dem Verbot, das Frauen auferlegt ist, nämlich ihre eigenen Er- 12 fahrungen zu machen.« Ihre Position ist, dass gleiche Rechte und gleiche 13 Handlungsmöglichkeiten für Frauen wenig bringen, wenn Frauen nicht 14 ihre Bedürfnisse formulieren (können). Damit hinterfragt sie die weibliche 15 Identität an sich (vgl. ebd., S. 135). 16 Im Jahr der Erscheinung des Films hat der Kulturjournalist Hansjörg 17 Spies ihn in der österreichischen Tageszeitung Kleine Zeitung folgender- 18 maßen besprochen: »Ottinger […] gelingt es, die Bedingungen der ersten 19 Generation der Frauenbewegung zu kritisieren«13 (Spies, 1977, zit. n. 20 ­Rickels, 2008, S. 24).Nachdem der Film im ZDF-Fernsehen lief, kommen- 21 tierte der Filmwissenschaftler Karsten Witte 1978 in derZeit unter dem 22 Titel »Weiblicher Piratenakt«: »Wenn dieser Planet, im phantastischen 23 Diskurs dieses Films, nicht herrschaftsfrei zu denken ist, dann wäre die 24 Herrschaft der Frauen noch die beste der Männermöglichkeiten, sich un- 25 terdrücken zu lassen« (Witte, 1978). 26 Er formuliert eine positive Kritik für Madame X. Der Film sei schroff 27 statt sanft, zeige keine Spur von Angst, und vor allem die Asynchroni- 28 tät des Films – er bezieht sich auf die teils verschobene Audio- und Bild- 29 spur – gefalle ihm. Die Filmwissenschaftlerin Patricia White setzt sich 30 insbesondere mit feministischen Filmen auseinander und behandelt den 31 Film unter filmanalytischen und filmgeschichtlichen Gesichtspunkten. 32 Sie stellt heraus, dass Madame X innerhalb einer neuen Frauen-Film- 33 szene und auch als Antwort auf vorangegangene Werke von Frauen zu 34 35 12 »The movie made Ottinger a sensational figure of controversy.« 36 13 »succeeds in criticizing the conditions of the first generation of the women’s move- 37 ment.« 38

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1 ver ­stehen ist. Mit Bezug auf Teresa de Lauretis erläutert sie, dass Ottin- 2 gers Film als Piratinnenfilm ein Statement für Frauen im Filmbusiness 3 darstellt. Frauen werden im Film sowie in der realen Filmlandschaft zu 4 Subjekten mit Stimme, Meinung und zu Macherinnen (vgl. White, 1987, 5 S. 81). In den Charakteren und dem Filmsetting lassen sich lesbische 6 Utopien sowie Forderungen und Wünsche der damaligen Frauenbewe- 7 gung erkennen. Kino allgemein lebe vor allem von Widersprüchen, meint 8 Lauretis. Gerade Madame X sei, so White, eine klare Reaktion im Sinne 9 einer Repräsentation der feministischen Filmszene und auf Hollywood. 10 Sie schreibt: »Madame X kann als eine Synekdoche für den kritischen 11 Vorschlag der Abwesenheit der Frau aus der Geschichte angesehen 12 werden, während sie auf ihrer (fast unheimlichen) Rückkehr besteht«14 13 (White, 1987, S. 84). Für sie ist Madame X der Inbegriff von Transforma- 14 tion, der öffentliche Diskurs der damaligen Zeit über Feminismus findet 15 sich in der Machart des Films wieder. Dinge werden verkehrt, übertrieben 16 und zur Schau gestellt. Außerdem fällt Ottingers Erstlingswerk aus den 17 bis dato feministischen Werken heraus (ebd., S. 86ff.). 18 19 20 Resümee zur Produktion 21 22 Ulrike Ottingers Werk anhand von einem Film zu beleuchten ist wohl alles 23 andere als umfassend, wenn man die Relationen ihres Schaffens betrach- 24 tet. Dennoch stellt Madame X einen wertvollen Einblick in die Gedanken, 25 Ideen und Arbeitsweisen der Künstlerin dar. 26 In diesem Film steckt, wie deutlich wurde, enorm viel Symbolkraft und 27 kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Verhältnissen, wobei 28 die Perspektive der Frau natürlich immer im Mittelpunkt steht. Doch im 29 Gegensatz zu anderen feministischen Denkerinnen und Filmemacherin- 30 nen sieht Ottinger das Problem nicht nur in der patriarchalen Struktur der 31 Gesellschaft, sondern vor allem in der Identität der Frauen selbst. In ihrer 32 Figur der Madame X auf dem Schiff Orlando räumt sie nicht mit Herr- 33 schaftsstrukturen auf, sondern präsentiert sie in umgekehrter Weise auf 34 dem sogenannten Silbertablett. Sie beschäftigt sich, wie vorab erwähnt, 35 mit dem »Was« der gesellschaftlichen Umstände. Damit möchte sie ein 36 37 14 »Madame-X can be seen as a synecdoche for the critical proposition of woman’s ab- 38 sence from history, while insisting on her (almost uncanny) return.«

160 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung

Bewusstsein schaffen, das Frauen ermutigt, auf ihre Bedürfnisse und Ge- 1 fühle zu hören und sie zu vertreten. 2 Die Analyse der zwei Sequenzen verdeutlichte, mit welcher Experimen- 3 tierlust und welchen grenzüberschreitenden und fantasievollen Bildern sie 4 arbeitet. Durch diese teils übertrieben wirkende und ins absurde führende 5 Filmästhetik schafft sie eine spezielle Stimmung für emotionale sowie ge- 6 dankliche Anstöße. Madame X sowie die darauf folgenden Spielfilme 7 Ottingers gehören zu den Kultfilmen in der feministischen und queeren 8 Szene, gleichwohl kann über die gegenwärtige Bedeutung der Filme keine 9 Aussage getroffen werden. 10 11 12 Was können Kunst und Medien in Bezug auf 13 geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung leisten? 14 15 Diese Frage soll hier zunächst nicht in generalisierter Form beantwortet 16 werden, sondern bezogen auf das Jahr 1977 und damit auf gesellschafts- 17 politische Repressionen, die zu der Zeit anderen Formen der Sexualität 18 entgegengebracht wurden. Ottinger hatte sich schon frühzeitig zur Homo- 19 sexualität bekannt; sie fand über Kunst und Medien einen Weg, die sexu- 20 elle Selbstbestimmung zur Diskussion zu stellen und Frauen zu ermuntern, 21 einen Weg zu beschreiten, der abenteuerlich und gefahrvoll, aber auch be- 22 glückend sein kann. 23 Ihr Film Madame X – eine absolute Herrscherin war im Kontext der 24 sogenannten zweiten Welle der Frauenbewegung entstanden. Sie thema- 25 tisierte Macht, Unterordnung, Erotik und Sexualität. Die göttlich schöne 26 Madame X verspricht den sieben Frauen, die aus aller Welt kommen, Gold, 27 Liebe und Abenteuer. Dafür müssen sie ihren bequemen, sicheren Weg und 28 ihren eintönigen Alltag aber eintauschen. Ihre »Reise« wird voller Gefah- 29 ren und Ungewissheit sein, doch dafür stehen ihnen Liebe und Abenteuer 30 in Aussicht. In einer machtdominierten Welt – immer geht es um Vorherr- 31 schaft (auch sexueller Natur) – tötet die schöne Madame X fast alle Frauen; 32 diese kommen aber in unterschiedlicher Gestalt wieder zurück. 33 Wie in der indischen Philosophie sind diese Tode als Durchgangsstadien 34 zu sehen. Ottinger fasst es wie folgt zusammen: »Das ist ein Bild für eine 35 Durchgangsstation zwischen Leben und Tod. […] Für das Reflektierende, 36 das Fließende und das sich Auflösende habe ich versucht, Bilder zu finden« 37 (Ottinger, 1983). 38

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1 Ottingers Filme wurden, wie erwähnt, zunächst mit Skepsis aufgenom- 2 men, es gab Schwierigkeiten bei der Dekodierung der Aussagen. Ihre Pro- 3 duktionen widersetzten sich den linearen Lesarten, sie waren vollgepackt 4 mit literarischen, mythologischen und historischen Bezügen, voller Brüche 5 und Widersprüche. Der Einsatz der von ihr gewählten filmischen Mittel 6 war in den 1970er Jahren noch zu ungewohnt, feministische Gruppen er- 7 kannten zwar die Aufbruchstimmung und Wege, repressive Strukturen zu 8 verlassen, waren aber schockiert, dass Ottinger die Frauen wieder in diese 9 Strukturen »reinstolpern« ließ. Im Interview fasste Ottinger nochmals 10 die Intentionen ihrer Filme zusammen: »Inquisition, Faschismus, Zwangs­ 11 psychiatrie. Was immer an Unterdrückungsmethoden möglich ist, unter- 12 scheidet sich nach der Zeit. Aber die Strukturen bleiben in der Tat erschre- 13 ckend gleich« (ebd.). 14 Mittlerweile haben Ottingers Filme Kultstatus. Ihre Geschichten er- 15 zählen von Liebe und Sexualität, nicht aber von Heteronormalität, son- 16 dern von der Normalität anderer Geschlechterdefinitionen und sexueller 17 Praktiken. Sie erzählen von Schönheit und von der Schönheit dessen, was 18 oft als hässlich bezeichnet wird, den körperlich oder sozial Ausgegrenz- 19 ten, Vergessenen, den Zwergen, Gauklern und Transvestiten (vgl. Amans­ 20 hauser, 2007, S. 30f.). 21 Es stellt sich die Frage, ob diese Produktionen heute noch einen emanzi- 22 patorischen Charakter haben oder lediglich als Kultfilme der 1970er Jahre zu 23 werten sind? Und wie wird die Thematik aktuell in den Medien dargestellt? 24 Historisch betrachtet wurden den Frauen innerhalb des öffentlichen 25 Szenarios unterschiedliche Freiheiten gestattet bzw. nicht erlaubt. Diese 26 Plätze innerhalb der Öffentlichkeit, ja sogar innerhalb der privaten Räume, 27 wurden selten von den Frauen selber bestimmt, eher wurden diese ihnen 28 von Männern aufoktroyiert. Ursachen für die Unterdrückung von Frauen 29 sind keinesfalls geschlechtsbiologische Unterschiede zwischen Männern 30 und Frauen, sondern die Herausbildung einer sozialen Kategorie und die 31 damit verbundene Zuschreibung durch eine patriarchale autoritäre Ge­ 32 sellschaft. 33 Strukturelle Möglichkeiten und Hindernisse, Familie und Beruf, werden 34 häufig von Männern geschaffen, konstituiert. Die Definitionsmacht und 35 Entscheidungsgewalt in gesellschaftlichen Belangen sind ebenso aufgrund 36 der herrschenden Arbeits- und Funktionsteilung häufig noch getrennt, 37 trotz der historischen Innovationen und Errungenschaften der Frauenbe- 38 wegung. Immer noch ist eine Ausgrenzung von Frauen zu konstatieren, die

162 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung durch die gesellschaftliche Definition ihrer Geschlechterrolle charakteri- 1 siert ist. Ausgrenzung kann verstanden werden als eine Trivialisierung der 2 Frau durch Nichtbeachtung, normative Abwertung und die Objektivierung 3 der Frau als Sexsymbol. 4 Wie diese Ausgrenzungsstrategien in den Medien durch Bild und Text 5 dargestellt werden und wie heute die Arbeitssituation insbesondere von 6 »Medienmacherinnen« selbst eine Form der Ausgrenzung beinhalten, soll 7 nun kurz skizziert werden. 8 In ihrer Ausprägung pendeln Geschlechterrollenorientierungen zwi- 9 schen den Extremen Traditionalität und Modernität. Unter Traditionalität 10 kann eine strenge genderspezifische Arbeitsaufteilung verstanden werden, 11 wie sie sich in der Form von häuslich-privater Arbeit der Frau und der öf- 12 fentlich-kulturellen Arbeit durch den Mann äußert. Modernität und damit 13 eine modernere Arbeitsteilung kann beschrieben werden als die Ablehnung 14 traditioneller Sichtweisen und die politische Gleichstellung der Subjekte 15 in allen Bereichen. Hinzu kommt bei der Ausprägung der Geschlechtsrol- 16 len, dass Medieninhalte bei der Behandlung von Frauenthemen stark an 17 medien- und marktspezifische Selektionsstrategien gebunden sind und 18 somit wieder von Strategien der Annullierung, Trivialisierung und Ob- 19 jektivierung untermauert sind. Vor diesem Hintergrund können folgende 20 Aspekte beachtet werden: 21 Erstens kann thematisiert werden, dass eine »Modernisierung« des 22 Frauenbildes in den Medien, eine Anpassung des Frauenbildes an den 23 faktisch sich vollziehenden Wandel der Rolle und Funktion von Gender, 24 aus strukturellen Gründen der Gesellschaft hinterherhinkt. Denn im ins- 25 titutionellen Rahmen der Medienbetriebe können Veränderungen nur mit 26 Verzögerungseffekten wirksam werden, da diese Institutionen mit hoher 27 Öffentlichkeitsrelevanz immer noch Männerdomänen sind. 28 Zweitens ist Gender an spezifische Traditions- und Rollenorientierun- 29 gen geknüpft und daher nur äußerst langsam einem Wandel zugänglich, 30 das Individuum ist auch ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. 31 Daraus resultiert, dass das Subjekt kein Ding ist, keinen festen Kern hat 32 und keine fixe Identität, es ist keine Substanz. Es ist eine Form – diese kann 33 nicht vorausgesetzt werden, sondern muss erst geformt werden. 34 Drittens ist zu wenig darüber bekannt, wie genderbezogene mediale 35 Angebote von Rezipienten und Rezipientinnen interpretiert und gedeutet 36 werden. Es kann deshalb nicht auf eine direkte Handlung oder Verhaltens- 37 weise in der Realität geschlossen werden. 38

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1 Gesamteinschätzung 2 3 Eine Modernisierung des Frauenbildes seit den 1970er Jahren hat stattge- 4 funden. Frauen können ihre geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung 5 in den Medien häufiger offenlegen, als dies noch in den 1970er Jahren 6 möglich war. Aber nach wie vor hat die Frau mit Stereotypisierung und 7 Klischees zu kämpfen. Ein öffentliches Randgruppendasein bestimmter 8 sexueller Präferenzen (thematisiert beispielsweise in Filmen von Praunheim 9 oder Ottinger) ist weiterhin zu konstatieren; es ist festzuhalten, dass die 10 öffentliche Präsenz der sexuellen Selbstbestimmung weiterhin ein Schatten­ 11 dasein führt. 12 Der RLP-Online-Dienst für Sexualerziehung/Bildung für sexuelle 13 Selbstbestimmung betont die außerordentliche Bedeutung der Thematik 14 für den Erziehungsauftrag der Schule: »Sexualerziehung fördert selbstbe- 15 stimmtes und verantwortungsvolles Verhalten. Dies soll zu einem selbst- 16 bewussten Umgang mit dem eigenen Körper und der eigenen Sexualität 17 befähigen, bei der Entwicklung der eigenen sexuellen und geschlechtlichen 18 Identität hilfreich sein und auch für partnerschaftliches Leben sensibili- 19 sieren« (RLP-Online Berlin-Brandenburg, o. J.). 20 Insbesondere engagierte Filmproduktionen ohne linearen Erzählstil 21 eignen sich besonders gut, fachübergreifend eine Diskussion in der Sekun- 22 darstufe II ohne pädagogischen Zeigefinger anzuregen. Das kann beispiels- 23 weise in sogenannten Projektwochen zur schulischen Filmbildung realisiert 24 werden, wo die Thematik sexuelle Selbstbestimmung unbedingt verortet 25 werden sollte. 26 27 28 Literatur 29 Amanshauser, H. (2007). »The true mystery of the world is the visible, not the invisible«: 30 On the Work of Ulrike Ottinger. Afterall, 16, 29–36. 31 Amanshauser, H. (2008). »Das Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsicht- bare« Zum Oeuvre von Ulrike Ottinger. http://www.amanshauser.net/Ottinger.pdf 32 (10.04.2018). 33 Arsenal – Institut für Film und Videokunst e. V. (1978). Madame X – eine absolute Herr- 34 scherin. http://www.arsenal-berlin.de/nc/berlinale-forum/archiv/katalogblaetter/ 35 action/open-download/download/madame-x-eine-absolute-herrscherin.html (28.03.2016). 36 Babias, M. (Hrsg.). (2011). Ulrike Ottinger, Paris Pop. Köln: Walther König. 37 Berliner Morgenpost (2011). Geschichte des Feminismus. http://www.morgenpost.de/ 38 printarchiv/biz/article104996974/Geschichte-des-Feminismus.html (17.03.2016).

164 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Kunst und Medien zur Förderung von Selbstbestimmung

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https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 165 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

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166 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen 1 2 Eine Untersuchung am Beispiel des Horrorfilms 3 Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre 4 5 Johann Bischoff 6 7 8 9 10 11 Gewalt im Fernsehen aus pädagogischer Perspektive 12 13 Film, Fernsehen und Internet sind die populärsten Medien zur Freizeitge- 14 staltung von Kindern und Jugendlichen. Unterschiedliche Untersuchungen 15 gehen von einer täglich ca. dreistündigen Nutzungsdauer des Fernsehens 16 aus, wobei häufig schichtenspezifische Schwerpunkte der Fernsehnutzung 17 herausgestellt werden (Kinder aus der »Unterschicht« sehen deutlich 18 mehr fern; Vergleichbares gilt schichtunabhängig für Kinder aus konser­ 19 vativeren Elternhäusern). Differenziertere Betrachtungen belegen ferner 20 die Vorbildfunktion der Eltern hinsichtlich Fernsehzeiten, Sender- und 21 Programmvorlieben. Eltern vermitteln den Kindern ihr eigenes Nutzungs- 22 verhalten, das mit ihrer Schichtzugehörigkeit korreliert. Somit werden 23 gewisse Unterschiede im Fernsehverhalten von einer Generation an die 24 nächste weitergegeben. Vorlieben für bestimmte Genres sind nicht elter- 25 nunabhängig (vgl. Kuchenbuch, 2003, S. 2–11). 26 27 28 Gewaltbegriff 29 30 Gewalt ist in Film und Fernsehen aktuell und übt einen hohen Reiz auf 31 alle Altersgruppen aus. Obwohl Gewalt ein häufig verwendeter Begriff 32 ist, gibt es keine generell akzeptierte Definition; verschiedene Verhaltens­ 33 weisen werden als Gewalt bezeichnet. Diese Differenzen sind auf die unter- 34 schiedlichen individuellen Wahrnehmungen und Einschätzungen zurück- 35 zuführen. Eine objektive, entemotionalisierte Beschreibung von Gewalt ist 36 nur ansatzweise möglich. Gewaltkategorien werden unterschiedlich stark 37 empfunden bzw. gewertet. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 167 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Vorläufig kann festgehalten werden, dass als Gewalt jede ausgeführte 2 oder angedrohte Handlung (einschließlich der Duldung oder Unterlas- 3 sung) bezeichnet werden kann, die geeignet ist, eine andere Person seelisch 4 oder körperlich zu schädigen. Gewalt manifestiert sich in verschiedenen 5 Formen, die nicht isoliert betrachtet werden können, da sie in engem wech- 6 selseitigen Zusammenhang stehen und sich gegenseitig beeinflussen. 7 Theunert (1996) beschreibt drei Dimensionen von Gewalt – struktu- 8 relle, physische und psychische Gewalt –, die nachfolgend genauer betrach- 9 tet werden sollen. 10 11 Strukturelle Gewalt 12 13 Kein Individuum kann sich dieser Gewalt entziehen. Sie wirkt auf alle, wird 14 jedoch von jedem unterschiedlich wahrgenommen und beurteilt. Gesell- 15 schaftliche Rahmenbedingungen benachteiligen ganze Menschengruppen; 16 diese strukturelle Gewalt ist unpersönlich und nur in ihren Folgen sichtbar. 17 So kann sie physische, psychische und sozial-interaktive Schädigungen oder 18 Kombinationen dieser hervorrufen. Die beobachtbaren Folgen sind nicht 19 unmittelbar mit den auslösenden Bedingungen verknüpft. Oft müssen 20 diese Zusammenhänge analytisch hergestellt oder historisch rekonstruiert 21 werden. So zeigen beispielsweise die durch andauernde Umweltverschmut- 22 zung und Umweltzerstörung ausgelösten Schäden bzw. Folgen ihre Wir- 23 kung insbesondere auf unterprivilegierte Gegenden und Länder mitunter 24 erst Jahre später. 25 Strukturelle Gewalt ist in den gesellschaftlichen Verhältnissen verankert 26 und tritt in entpersonalisierter Form auf oder wird durch Repräsentan- 27 ten (gesellschaftliche Machtgruppen, Institutionen, Organisationen) ver­ 28 körpert. Die Repräsentanten sind dabei als Personen beliebig austauschbar. 29 Die Gewalt kennzeichnet gesellschaftliche Zustände (Herrschaft, Werte, 30 Mittel der Aufrechterhaltung von Macht), die zu Schädigungen führen. 31 Die Ausprägungsformen struktureller Gewalt umfassen den ökono- 32 mischen, politischen, gesundheitlichen sowie den kulturell-normativen 33 ­Bereich. Im ökonomischen Bereich liegt die Gewalt in der ungleichen Ver- 34 teilung von Gütern jeglicher Art (z. B. Kapital, Wohnbedingungen, soziale 35 Absicherung, Besitz an Produktionsmitteln) und Chancen (z. B. Zugang 36 zur Bildung, Art der Beschäftigung und deren soziale Bewertung). 37 Verbote, Unterdrückung durch mangelnde oder einseitige politische 38 und historische Bildung sowie die Undurchschaubarkeit politischer Ent-

168 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen scheidungen und Ereignisse und das Vorenthalten oder Einschränken von 1 politischer Beteiligung sind Ausprägungsformen struktureller Gewalt im 2 politischen Bereich. 3 Gewalt im kulturell-normativen Bereich zeigt sich in der Persönlich- 4 keitseinschränkung durch gesellschaftliche Normen und Moralvorstellun- 5 gen (z. B. Vorurteile gegen Minderheiten). Schorb konstatiert, dass alle 6 Formen von Gewalt in den Strukturen eines gesellschaftlichen Systems 7 selbst liegen und aus ungleichen Herrschafts- und Machtverhältnissen re- 8 sultieren (Schorb & Theunert, 1982, S. 322ff.). 9 10 Psychische Gewalt 11 12 Psychische Gewalt ist personale Gewalt. Sie findet zwischen Menschen 13 statt und umfasst alle Formen der geistigen und seelischen Verletzung 14 oder Beschränkung. Die Ausübung kann in verbaler Form, mittels ag- 15 gressiver Mimik, Gestik oder durch Manipulation erfolgen. Psychische 16 Schädigungen können zu psychischen Krankheiten führen; sie zerstören 17 die Lebensfähigkeit von Menschen, führen zu körperlichen Schädigun- 18 gen (psychosomatische Erkrankungen) und können physisch vernichten 19 (Suizid). Es lassen sich drei Kategorien der psychischen Gewaltanwen- 20 dung unterscheiden: 21 ➣➣ Verletzung, Bedrohung, Demütigung oder Verunsicherung von Men- 22 schen mittels Gewalt gegen Objekte oder Tiere 23 ➣➣ Verletzung durch verbale Gewalt in Form von Beschimpfung, Belei- 24 digung, Drohung, Diskriminierung, Lüge, Verleumdung 25 ➣➣ Schädigung durch Verhaltensweisen und Handlungen wie Unterdrü- 26 ckung, Missachtung, Überheblichkeit, Vorenthaltung von Informati- 27 onen oder sozialen Kontakten 28 29 Häufig nehmen Betroffene ihre psychische Verletzung nicht wahr. Sie sind 30 es gewohnt und halten es für normal, in einer bestimmten Art und Weise 31 behandelt zu werden. Sie leiden, ohne Ursachen erkennen zu können. Eine 32 Schädigung durch psychische Gewalt lässt sich relativ einfach beobachten 33 und zurückverfolgen. Die Handlungs- und Verhaltensweisen der Akteure 34 geben hingegen häufig keine eindeutige Erklärung für den Grund der Ge- 35 walttätigkeit. Strukturelle Gewalt liefert oft erst die Motive und Gründe für 36 die Gewalttätigkeit und somit den Erklärungshintergrund für psychische 37 und physische Gewaltanwendungen. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 169 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Physische Gewalt 2 3 Alle Formen der Gewalt, die körperliche Zerstörung, Verletzung oder 4 Einschränkung zur Folge haben, werden unter dem Begriff der physischen 5 Gewalt zusammengefasst. Sie kann gegen Menschen, Tiere und Gegen- 6 stände gerichtet sein. Unterschieden wird dabei, ob sich die Gewalt direkt 7 gegen Personen richtet oder gegen Tiere und Objekte und damit auch 8 deren Folgen auf diese beschränkt bleiben. Mittel zur physischen Gewalt- 9 ausübung sind unter anderem Kraft, Waffen sowie der Entzug der Freiheit, 10 Nahrung, Luft und Wasser. Physische Gewalt kann zu körperlicher Zerstö- 11 rung (Tod von Mensch und Tier), körperlicher Verletzung (Schmerzen) 12 oder körperlicher Beschränkung (Bewegungsunfähigkeit) und zusätzlich 13 zu psychischer Schädigung (Angst, Unsicherheit) führen (vgl. Theunert, 14 1996, S. 86f.). 15 Gewalt gegen Sachen und Gewalt gegen Personen sind nicht alterna- 16 tiv trennbar. Sie sind vielstufig dialektisch verknüpft. Gewalt gegen Sachen 17 reicht vom personalen »Unbetroffensein« bis hin zur Vernichtung einer 18 Person. 19 20 Resümierend kann festgehalten werden: Gewalt ist die Manifestation von 21 Macht und Herrschaft mit der Folge und/oder dem Ziel der Schädigung 22 von Menschen. Sie kann differenziert werden in direkte (personale) und 23 indirekte (strukturelle) Gewalt. Die strukturelle Gewalt gibt häufig eine 24 Erklärung für die personale Gewalt. Beide Gewaltformen beeinflussen sich 25 und existieren nicht losgelöst voneinander. Die personale Gewalt unterteilt 26 sich in physische und psychische Gewalt. Auch diese Formen können nicht 27 isoliert betrachtet werden, oft zeigt die physische Form auch psychische 28 Wirkungen. Die Folgen von Gewalt sind Schädigung und Leiden physi- 29 scher, psychischer oder sozial-interaktiver Art. 30 31 32 Ergebnisse der etablierten Medienforschung 33 34 Seit dem Schulmassaker von Erfurt (April 2002) ist das Thema Gewalt in 35 den Medien wieder ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit geraten. 36 Das besondere Interesse dabei bezieht sich auf die Rolle der Massenmedien 37 bei der Entstehung von Gewalt. Angesichts der Vielzahl an Studien und 38 Untersuchungen zur Gewalt wäre von der Medienforschung eine sichere

170 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Aussage zum Zusammenhang von Mediengewalt und realer Gewalt zu 1 erwarten gewesen. Doch die Ergebnisse der Medienforschung sind wi- 2 dersprüchlich und inhaltlich oft nicht miteinander vereinbar. Einige der 3 favorisierten Ansätze sollen nachfolgend in aller Kürze erläutert werden, 4 mit dem Versuch eine Einschätzung des Forschungstandes zu geben. Zuvor 5 sollen einige Hinweise zur Wirkungsforschung in Bezug auf Gewalt ge- 6 geben werden. 7 Die Wirkungsforschung wurde unter anderem durch Untersuchungen 8 des Wählerverhaltens in den 1930er Jahren in den USA bekannt, in der 9 Bundesrepublik durch die Untersuchungen des Ehepaares Keilhacker in 10 den 1950er und 1960er Jahren. Keilhacker (1986) ging von der Hypothese 11 aus, dass den psychischen Vorgängen beim Filmerleben entsprechende kör- 12 perliche Reaktionen parallel laufen dürften. 13 Lasswell prägte die Formel, die die wesentlichen Teilgebiete der Wir- 14 kungsforschung benennt: Who (Kommunikator) says what (Aussage) 15 in which channel (Medium) to whom (Rezipient) with what effect 16 ( ­Wirkung) (vgl. Beck, 2010, S. 129f.)? Der letztgenannte Bereich beschäf- 17 tigt sich unter anderem mit einem möglichen Zusammenhang zwischen 18 Mediengewalt und realer Gewalt. Als Wirkung ist eine allgemeine Ein- 19 stellungsänderung zu definieren, eine Änderung in Richtung der Aus­ 20 sagen ­intention. Wirkung ist somit eine Änderung der Einstellungen und 21 Empfindungen in der postkommunikativen Phase. Wirkungen in Form 22 von Erwartungen können aber auch vorher oder während eines Er­eig­nisses 23 auftreten. 24 Als Wirkungsforschungsbereiche etablierten sich: 25 a) Auswirkungen im physischen Bereich: ärztliche Befunde, Beobach- 26 tungen von Eltern 27 b) Auswirkungen im affektiven Bereich: zum Beispiel die Untersuchun- 28 gen von Keilhacker oder Untersuchungen zu Gewaltproduktionen im 29 Film und Fernsehen 30 c) Auswirkungen im kognitiven Bereich: Wählerverhalten, Lernen über 31 Medien 32 d) Auswirkungen im sozialen Bereich: Wirkungen auf Einstellungen, 33 Normen, Werte 34 35 Der Stand der Wirkungsforschung in Bezug auf die »Übertragung« 36 von Gewalt lässt sich spezifisch entlang unterschiedlicher Konzepte dar­ 37 stellen: 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 171 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Lerntheoretische Ansätze gehen davon aus, dass durch Gewalt die Be- 2 reitschaft beim Rezipienten, selbst aggressives Verhalten an den Tag zu 3 legen, erhöht wird. Diese Ansätze unterstellen eine Veränderung im Erle- 4 ben und Verhalten zum Beispiel von Kindern und Jugendlichen, indem sie 5 Modelle beobachten. Die Kinder und Jugendlichen lernen durch Beob- 6 achtung und Nachahmung anderer Personen, die ihnen als Vorbild dienen. 7 Vorbilder können natürliche Modelle sein (Personen, die real anwesend 8 sind) sowie symbolische Modelle (Personen aus Filmen, Fernsehen etc.). 9 Bandura prägte die lerntheoretisch orientierte Wirkungsforschung ent- 10 scheidend. Er bezieht, im Gegensatz zu den behavioristisch orientierten 11 Theorien, Denk- und Wahrnehmungsprozesse in seine Unter­suchungen 12 ein. Danach steuert das Medium Fernsehen in einem erheblichen Maße 13 die Aufmerksamkeit von Menschen, da die dort dargestellten Modelle 14 eine Vielzahl aufmerksamkeitsfördernder Eigenschaften wie Macht, 15 hohes Ansehen und Erfolg besitzen. Seine Experimente zeigen, dass das 16 Verhalten eines Modells eher imitiert wird, wenn das Modell auf eine Be- 17 lohnung positiv reagiert, also Freude zeigt. Auch wird ein erfolgreiches 18 aggressives Modell eher imitiert als ein nicht erfolgreiches Modell (vgl. 19 Bandura, 1979). Modelle können der Untersuchung folgend hemmend 20 oder enthemmend wirken. Bestraftes Modellverhalten zeigt eine eher 21 hemmende Wirkung, belohntes Modellverhalten eine eher enthemmende 22 Wirkung. 23 Psychoanalytisch orientierte Ansätze kommen zu einem anderen Schluss 24 als die genannten lerntheoretischen Ansätze. Sie implizieren, dass das 25 Bedürfnis, aggressiv zu handeln, zum Abbau eines Spannungszustandes 26 führen kann (vgl. Bandura, 1979). Die Katharsisthese postuliert, dass die 27 Ausführung einer aggressiven Handlung eine reinigende Wirkung haben 28 kann. Durch das Erleben von Gewaltdarstellungen im Fernsehen voll­ 29 ziehen sich beim Zuschauer psychische Entladungen. Das Ausleben einer 30 Aggression wird dadurch für den Rezipienten überflüssig. Allein die Be­ 31 obachtung bewirkt demnach die Fantasie des Zuschauers, selbst gehandelt 32 zu haben. An die Katharsisthese angelehnt sind die Inhibitionsthese und 33 die kognitive Unterstützerthese. 34 Die Inhibitionsthese behauptet, dass das Erleben von Gewalt auf dem 35 Bildschirm, vor allem, wenn dieses im Laufe der Filmhandlung negativ be- 36 wertet wird, den Zuschauer bei der Äußerung eigener Aggressionen hemmt. 37 Beim Zuschauer werden Schuldgefühle oder Aggressionsängste hervorge- 38 rufen. Somit werden eigene Aggressionen unterdrückt. Das ist besonders

172 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen dann der Fall, wenn negative Konsequenzen aggressiver Handlungen, zum 1 Beispiel Schmerz oder Verletzungen, deutlich dargestellt werden. 2 Die kognitive Unterstützungsthese unterstellt, dass Individuen mit 3 geringer Intelligenz sowie Fantasietätigkeit eine äußere Unterstützung 4 (z. B. Fernsehen) benötigen, um ihre Fantasie anzuregen. Durch die Ver- 5 arbeitung der wahrgenommenen Gewaltdarstellungen sind die genannten 6 Rezipienten dann in der Lage, ihre aggressive Erregung besser kontrollieren 7 zu können. Dadurch kann es langfristig zu einer Abnahme manifest aggres- 8 siven Verhaltens kommen. 9 Der Nutzenansatz versucht, bestimmte Schwächen der traditionel- 10 len Wirkungsforschung auszuräumen, indem unterstellt wird, dass der 11 Wirkungs ­prozess zwischen Medium und Individuum soziales Handeln 12 ist. Der Zuschauer wird somit selbst aktiv im Kommunikationsprozess, 13 da er soziale Rollen übernimmt. So verhält er sich zu dem Medium, als sei 14 dieses eine Person, zu der ein persönlicher Kontakt besteht. Demzufolge 15 haben Medien keine einfache Wirkung mehr, sondern werden vielmehr 16 dazu benutzt, um Interessen und Bedürfnisse zu befriedigen und zu Lö- 17 sungen beizutragen. Die Mediennutzung wird dabei als ein selbstbewusstes, 18 zielorientiertes Handeln des Rezipienten gesehen, was bedeutet, dass der 19 Zuschauer zu keiner Betrachtung einer Sendung motiviert wird, sondern 20 sich frei entscheiden kann. Die Medien haben hier primär die Funktion der 21 Bedürfnisbefriedigung (vgl. Teichert, 1975, S. 271). 22 Zur Einschätzung der unterschiedlichen Ansätze können beispielsweise 23 Metaanalysen herangezogen werden (Andison, 1977: Auswertung von 67 24 spezifischen Untersuchungen). Danach konstatieren 20 % der Forschungs- 25 arbeiten keinen Zusammenhang zwischen Fernsehgewalt und faktischer 26 Gewalt, 37 % einen schwachen Zusammenhang, 34 % einen mäßigen 27 Zusammenhang und nur 6 % der Untersuchungen einen starken Zusam- 28 menhang. Psychoanalytisch orientierte Untersuchungsergebnisse weisen 29 nur einen Anteil von 3 % für einen starken Zusammenhang auf. Insgesamt 30 lassen sich bei fast allen Untersuchungen methodische Schwierigkeiten 31 konstatieren, bei den Bandura-Experimenten beispielsweise eine nicht 32 repräsentative Stichprobe und Filmauswahl sowie eine Künstlichkeit des 33 Arrangements. Eine zusammenfassende Interpretation der Ergebnisse lässt 34 dennoch, zumindest zur Diskussion, folgende Aspekte zur Beurteilung des 35 Themenfeldes zu: 36 Ein aggressives Folgeverhalten nach Konsum von aggressiven Medien­ 37 inhalten über einen längeren Zeitraum ist durchaus unter anderem bei 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 173 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 ­Kindern und Jugendlichen möglich, wenn bestimmte Bedingungen ge- 2 geben sind und zusammenwirken: 3 ➣➣ starke Identifikation mit einer Gestalt des Filmes 4 ➣➣ wahrgenommene Zusammenhänge zwischen der im Film gezeigten 5 Situationen und konkreten Lebenssituationen des Jugendlichen 6 ➣➣ hohes Aggressionspotenzial des Jugendlichen, geringe Selbstkontrolle 7 ➣➣ Gewalterfahrung in der eigenen Umwelt (z. B. innerhalb der Familie) 8 ➣➣ eine verhaltensgestörte Disposition des Jugendlichen 9 10 11 Gewaltproduktionen in Film und Fernsehen 12 13 Das Interesse der Wirkungsforschung konzentriert sich immer noch stär- 14 ker auf die Suche nach Zusammenhängen zwischen Mediengewalt und 15 faktischer Gewalt statt auf die Klärung von Ursachen der Faszination ge- 16 walttätiger Inhalte in Film und Fernsehen. Es wird offenkundig, dass ge- 17 walthaltige Medienprodukte auf einem nahezu unerschöpflichen Potenzial 18 an Wünschen nach diesen Darstellungen beruhen. So scheint es sinnvoller 19 zu sein, die Frage zu stellen, wodurch aggressive Medieninhalte ihre An- 20 ziehungskraft beim Publikum ausüben. Diese Frage ist, verglichen mit der 21 »Gewaltforschung« innerhalb der Wirkungsforschung, vernachlässigt 22 worden. Im Rahmen eines Seminars im Masterstudiengang »Angewandte 23 Medien- und Kulturwissenschaft« haben wir uns mit Filmproduktionen 24 unterschiedlicher Genre auseinandergesetzt, um etwas über die ästhetische, 25 inhaltliche und dramaturgische Beschaffenheit spezifischer Produktionen 26 zu erfahren (Arbeitsergebnisse von Masterstudierenden im Studienjahr 27 2013/14, verantwortlich: J. Bischoff ). Im Folgenden soll näher auf das 28 Genre Horrorfilm eingegangen werden, das auf Jugendliche einen beson- 29 ders starken Reiz auszuüben scheint. 30 31 Horrorfilm: die Faszination an der Angst 32 33 Die Medienwirkungsforschung zeigt: Die Folgen des Konsums gewalt­ 34 tätiger Medieninhalte, können nicht mit Sicherheit bestimmt werden. Im 35 Filmgenre Horror scheint die Wirkung eindeutig: Horrorfilme erzeugen 36 unangenehme Gefühle wie Angst, Furcht oder Schrecken. Eigentlich ist 37 es eine ganz »natürliche« Reaktion, diese zu vermeiden; trotzdem be- 38 geben sich Kinobesucher und Fernsehzuschauer aktiv in eine Situation,

174 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen die es ihnen ermöglicht, diese Emotionen in einem sicheren Umfeld zu 1 erleben. Doch werden die Bilder zu intensiv, die Spannung unerträglich, 2 wird Schutz in bestimmten Gesten gesucht. Die Ambivalenz zwischen 3 der Furcht einerseits und der unbändigen Neugier auf die grauenvol- 4 len Ereignisse der Horror­geschichten andererseits hat ihren Ursprung in 5 der Literatur. Von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 6 gehörte die Gothic Novel (Schauerroman) besonders in England zu einer 7 der populärsten Literaturformen, die durch preiswerte Buchausgaben alle 8 Leserschichten erreichten. Die Wurzeln des Horrorfilms liegen aber nicht 9 nur in der Litera­tur, sondern auch in Bühnenstücken, die sich an den 10 Schauer ­romanen orientierten und deren frühe Verfilmungen um 1900 den 11 Ursprung belegen. Somit reicht die Geschichte des Horrorfilms fast so 12 weit zurück wie die der Filmkunst selbst (vgl. Meteling, 2006, S. 37f.). 13 14 Sigmund Freud und »das Unheimliche« 15 16 Als erster Wissenschaftler nahm sich Sigmund Freud der Ambivalenz des 17 Unheimlichen aus psychoanalytischer Sicht an. Freud definiert das Un- 18 heimliche als »jene Art des Schreckhaften, welche[s] auf das Altbekannte, 19 längst Vertraute zurückgeht« (Freud, 1919, S. 244). Das Heimliche oder 20 Heimelige ist Bestandteil des Unheimlichen, auch wenn diese Verbindung 21 erst auf den zweiten Blick plausibel erscheint. »Heimlich« meint einer- 22 seits etwas zum Haus Dazugehörendes oder Vertrautes, andererseits be­ 23 inhaltet es auch die Konnotation mit etwas Verstecktem, Verborgenem 24 oder Geheimem. »Unheimlich« wiederum ist nicht bloß der einfache 25 Gegensatz dazu, weshalb Freud auch versucht, über die Gleichung »Un- 26 heimlich gleich nicht vertraut« hinauszugehen. Das Unheimliche ist 27 nichts wirklich Neues oder Fremdes, sondern etwas, dass dem Seelenle- 28 ben vertraut und ihm durch Verdrängungsprozesse entfremdet worden 29 ist, dann aber wieder an die Oberfläche zurückkehrt (ebd., S. 244f.). 30 Diese Überlegungen gliedern sich auch in die Forschungsergebnisse der 31 Psychoanalyse ein, die die Verdrängung als fundamentales Ereignis vor- 32 weisen kann. Auch das Unheimliche wird durch das Heimlich-Verdrängte 33 erzeugt. Denn das Heimliche, oder auch Vertraute, kann dann zum Un- 34 heimlichen werden, wenn das Verdrängte zurückkehrt und als etwas 35 Fremdes empfunden wird. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass 36 das Unheimliche beides gleichzeitig ist: heimlich und unheimlich. Daraus 37 geht eine Sehnsucht nach dem hervor, was nicht mehr dazugehört, was 38

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1 durch die zivilisatorische Entwicklung auf kultureller und individual­ 2 psychologischer Ebene verdrängt worden ist (vgl. Greb, 2011, S. 61ff.). 3 Der Horrorfilm ist möglicherweise in der Lage, diese Sehnsucht zu befrie- 4 digen, indem er den Rezipienten vorführt, was in das Unterbewusstsein ver- 5 drängt wurde. Somit ergeben sich auch heute noch Deutungsmöglich­keiten 6 aus Freuds Analyse ästhetischer Formen. Heimliche, im Unterbewussten 7 verborgene Wünsche und Fantasien eines Horrorfilm-Schöpfers, aber auch 8 die der Zuschauer, können auf der Leinwand auf verschiedenste Weise ihren 9 Ausdruck finden, verdichtet, verschoben oder symbolisiert werden. 10 Die verschiedenen Möglichkeiten, die den Regisseuren zur Verfügung 11 stehen, um diese verdrängten Fantasien darzustellen, sollen folgend über 12 die Strategien der Angsterzeugung und die Wirkelemente des Horrorfilms 13 vorgestellt werden. 14 15 16 Strategien der Angsterzeugung und Wirkelemente des Horrorfilms 17 18 Baumann definiert Horror als »eine Gattung der Phantastik, in deren 19 Fiktionen das Unmögliche in einer Welt möglich und real wird, die der 20 un ­seren weitgehend gleicht, und wo Menschen, die uns ebenfalls gleichen, 21 auf diese Anzeichen der Brüchigkeit ihrer Welt mit Grauen reagieren« 22 (Baumann, 1989, S. 109). Auch wenn sich Filme dem Genre Horror zu- 23 ordnen lassen, ist es nur eingeschränkt möglich und sinnvoll, Horrorfilme 24 weiter in Subkategorien aufzuteilen. Auch Baumann lehnt es daher ab, 25 Horrorfilm-Typen aufzulisten, da diese »jederzeit durch die Kreativität 26 einfallsreicher Produzenten zur Ergänzung verdammt sind« (ebd.). Somit 27 könnte auch niemals ein Anspruch auf Vollständigkeit einer solchen Liste 28 erhoben werden. Im Folgenden werden einige in Bezug auf Horrorfilme 29 relevante Charakteristika zusammengestellt: 30 Strategien der Angsterzeugung: Strategien der Angsterzeugung ziehen 31 sich durch den gesamten Horrorfilm und beeinflussen diesen nachhaltig 32 im Handlungsablauf. 33 Durchbrechen der Normalität: Bei dieser Strategie wird davon ausge- 34 gangen, dass das Modell von Welt, das im Horrorfilm konstruiert wird, in 35 seinen Eigenschaften an die Wirklichkeit angelehnt ist und dass dieselben 36 Gesetze wie in der Realität gelten. Doch die vorgeführte Normalität, die 37 Alltagswelt der Protagonisten wird durchbrochen. Das kann durch überna- 38 türliche Kräfte, aber auch durch ganz reale oder zumindest in der Realität

176 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen vorstellbare Objekte verursacht werden. Jedenfalls sind die Verursacher, die 1 die etablierte Ordnung stören, meistens identifizierbar. Das können, wie in 2 Poltergeist, die Geister von Verstorbenen sein, die in ihrer Totenruhe gestört 3 wurden, aber auch ein Kettensägen-Mörder mit einer Maske aus mensch- 4 licher Haut, wie in Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre, der nichts mit 5 übernatürlichen Mächten zu tun hat. Im Gegensatz dazu wird beispielsweise 6 in Märchen und Fantasy-Filmen eine andere, alternative Welt erschaffen, in 7 der Übernatürliches (z. B. sprechende Tiere) als normal vorausgesetzt wird 8 und aus diesem Grund auch nicht unheimlich wirkt (ebd., S. 101ff.). 9 Das Übernatürliche: Das Übernatürliche meint grundsätzlich Objekte 10 oder Strukturen, die nicht Teil der physikalisch erklärbaren Welt sind, also 11 all das, was sich über den rationalen menschlichen Verstand hinwegsetzt. 12 Viele Horrorfilme beschreiben den möglichen Einbruch des Übernatür- 13 lichen in die Erfahrungswelt, wobei es auch oft schon ausreicht, den Zu- 14 schauer nur die Möglichkeit seines Wirkens annehmen zu lassen, ohne alle 15 anderen Erklärungen auszuschließen. Denn wenn es nicht auf geheimnis- 16 volle Weise möglich wäre, könnte es nicht das Grauen hervorrufen. Das 17 Übernatürliche ist im Horrorfilm nicht wissenschaftlich erklärbar, denn 18 das würde bedeuten, neue Erscheinungen auf bekannte Tatsachen zurück- 19 zuführen. Hier zeigt sich auch der Unterschied von Horror- und Science- 20 Fiction-Filmen: Beim Horror handelt es sich um Übernatürliches und 21 bei Science-Fiction um etwas noch nicht Bekanntes, das es zu erforschen 22 gilt. Allerdings verschaffen gewisse fiktionale Traditionen den Rezipien- 23 ten Orientierungsmöglichkeiten, die das Zurechtfinden im Horrorgenre 24 erleichtern. So sind beispielsweise die Eigenschaften von Vampiren, den 25 blutsaugenden Untoten, die mit einem Holzpflock ins Herz getötet werden 26 können, gemeinhin bekannt. Der Horrorfilm ist aber auch auf diese kol- 27 lektive Sozialisation angewiesen, um nicht immer alles neu herleiten zu 28 müssen. Allerdings können auch bewusst Verwirrungen erzielt werden, 29 indem diese Erwartungshaltungen nicht erfüllt werden. Gleichwohl ist es 30 nicht einfach für den anspruchsvollen Horrorfilm-Produzenten, die Rezi- 31 pienten von der Existenz des Übernatürlichen zu überzeugen, doch er muss 32 es zumindest schaffen, das Unglaubhafte glaubhaft erscheinen zu lassen. 33 Der Rezipient hingegen muss sich seinerseits auch darauf einlassen und das 34 Übernatürliche zumindest probeweise zulassen (ebd., S. 182ff.). 35 Grundängste bzw. existenzieller Horror: Schauder, Horror und Spuk sind 36 schon seit Jahrhunderten in Kunst und Kultur verwurzelt. Dabei können 37 vor allem in der Literatur häufig wiederkehrende Muster beobachtet 38

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1 werden, die sich im Horrorfilm-Genre fortsetzen. Grundsätzlich ist zwar 2 ein Absterben der Angst im Laufe der Kulturgeschichte zu beobachten, ob 3 durch Domestizierung der Natur, durch Technik oder den Sieg des ratio- 4 nalen Weltbildes, trotzdem sind gewisse Grund- oder auch Kinderängste 5 nach wie vor existent. 6 Dazu gehört die Furcht vor der Dunkelheit, die mit der Nachtangst ein- 7 hergeht. Sie ist ein Synonym für alles, was durch seine völlige Unbestimmt- 8 heit und Konturlosigkeit Angst erzeugt. Allerdings wäre es möglich, hier 9 zu argumentieren, dass die Angst nicht der Dunkelheit selbst gilt, sondern 10 dem, was in ihr lauert. Hinzu kommt eine völlige Bezugs- und Orientie- 11 rungslosigkeit, die es verhindert, den eigenen Standort zu bestimmen oder 12 die Richtung, aus der die Gefahr drohen könnte. Dehnt sich das visuelle 13 Nichts auf alle Sinne aus, wenn also auch nichts mehr gehört, gerochen, 14 nicht einmal der Boden unter den Füßen mehr gespürt wird, entspricht das 15 der totalen sensorischen Deprivation und somit der Leere. Sie ist überhaupt 16 nicht mehr fassbar und weder zu beschreiben noch visuell darzu­stellen 17 (ebd., S. 296ff.). Das Alte birgt auch häufig etwas Mysteriöses und Un- 18 heimliches in sich. Unheimlich kann diesbezüglich auch wieder in seiner 19 ambivalenten Bedeutung verstanden werden: das Alte als etwas, was früher 20 vertraut war, es heute aber nicht mehr ist und durch den zeitlichen Abstand 21 aus heutiger Sicht Geheimnisse in sich birgt. Im Horrorfilm werden alte 22 bzw. vergessene Objekte durch den Verweis auf das Versunkene alter Kul- 23 turen in Verbindung mit der Vergangenheit gebracht. Diese werden an die 24 Oberfläche geholt und können dort ein neues, bösartiges Leben entfalten. 25 Somit bedroht das Alte das Gegenwärtige (ebd., S. 292ff.). 26 Xenophobie meint die Angst vor dem Fremden und ist ein weiterer der 27 grundlegenden Archetypen des Horrors. »Das Fremde ist das, mit dem 28 wir nichts gemeinsam haben und mit dem etwas zu teilen wir uns nicht 29 vorstellen können und wollen« (ebd., S. 294). Dass das Fremde oder Un- 30 bekannte Angst macht, scheint zunächst eine logische Gleichung zu sein, 31 doch muss dazu auch das Element des Bedrohlichen hinzukommen, um 32 es Unheimlich zu machen. Denn solange eine Gefahr nicht auszumachen 33 ist, gibt es auch keine Möglichkeit, darauf zu reagieren. In der Begegnung 34 mit dem Fremden helfen keine eingeübten Verhaltensweisen und dieser Zu- 35 stand erzeugt quälende Spannung und Nervosität (ebd., S. 295). Das Böse 36 ist wohl die archaischste Form der Grundangst, die sich in völlig verschie- 37 denen Erscheinungen zeigen kann. Das Böse trägt das moralisch Negative 38 in sich und wird auch visuell oftmals als Hässliches dargestellt. Aus dem

178 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Alten Testament ist das Böse in der Form des Teufels bekannt, der sich mit 1 der Zeit zum Prinzip des absolut Negativen und Hässlichen entwickelt hat. 2 In Horrorfilmen wird dieses Thema dankbar aufgegriffen und in Szene 3 gesetzt, beispielsweise in Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre, wo sich 4 Leatherface die Maske aus menschlicher Haut überstreift und seinen 5 Opfern mit der Kettensäge hinterherjagt (ebd., S. 298f.). 6 Der Mensch wird in der Regel nicht mit diesen Ängsten konfrontiert, was 7 dazu führt, dass die Abstoßung in Anziehung und Faszination umschlägt, 8 was sich in verschiedenen sprachlichen Oxymora manifestiert, wie zum 9 Beispiel »schaurig-schön«. Diese kennzeichnen eine Zone der seelischen 10 Ambivalenz, die sich zwischen das Zeitalter mit und ohne Angst lagert. 11 12 13 Wirkelemente des Horrorfilms 14 15 Mit den Wirkelementen des Horrors sind einzelne Motive gemeint, die 16 sich selten durch die gesamte Handlung ziehen, sondern eher vereinzelt 17 eingestreut werden, um Schrecken und Grauen zu erzeugen. 18 Ekel und Abscheu: Ekel und Abscheu sowie Angst und Furcht will man 19 grundsätzlich meiden. Ein Unterschied liegt in der Bedrohlichkeit des 20 Objektes. Das Furchtauslösende wird zugleich als gefährlich wahrgenom- 21 men, während dies beim Ekelhaften oder Abscheulichen nicht unbedingt 22 der Fall sein muss, auch wenn es gleichermaßen unangenehm ist. Darüber 23 hinaus sind Angst und Furcht überwiegend Antworten unseres Geistes auf 24 Bedrohliches, Ekel und Abscheu dagegen eher körperbezogene Reaktio- 25 nen. Allerdings ist der Ekel keine ausschließlich natürliche Antwort auf das 26 Gesehene, sondern vielmehr das Resultat eines kulturspezifischen Sozialisa- 27 tionsprozesses. Der deutsche Philosoph Karl Rosenkranz hat sich in seinem 28 Werk Ästhetik des Hässlichen mit dem Ekel beschäftigt: 29 30 »Könnte man eine große Stadt, wie Paris, einmal umkehren, so dass das Un- 31 terste zuoberst käme und nun nicht bloß die Jauche der Kloaken, sondern 32 auch die lichtscheuen Tiere zum Vorschein gebracht würden, die Mäuse, 33 Ratten, Kröten, Würmer, die von der Verwesung leben, so würde das ein ent- 34 setzlich ekelhaftes Bild sein« (Rosenkranz, 2007 [1989], S. 241). 35 36 Metaphorisch tut der Horror dasselbe, indem er das Unterste nach oben 37 kehrt und die ekelerregende Kehrseite des Vertrauten vor den Augen der 38

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1 Rezipienten ausbreitet. Auch im Ekel ist eine Ambivalenz verhaftet, die so 2 häufig in diesem Genre vorkommt: Auf der einen Seite werden der Zer- 3 fall, die Verwesung und Fäulnis gezeigt, die zum Formlosen mit unklarem 4 Lebensstatus tendieren und sich daher so gut dazu eignen, das objektlose 5 Grauen zu erzeugen; andererseits eignet es sich auch, um eine faszinierte 6 Hinwendung der Zuschauer zu gewährleisten (Baumann, 1989, S. 239ff.). 7 Wahnsinn und Traum: Wahnsinn und Traum stellen die Einheit der 8 Psyche infrage, bringen das Selbstbild zum Wanken und lassen den, der sie 9 erlebt an der Gültigkeit der empirischen Kausalität zweifeln. Der Horror- 10 film beharrt auf der Realität des Übernatürlichen als Störung und postuliert 11 dabei die gemeinsame Welt von Protagonisten und Rezipienten, indem er 12 deren Alltagswelt zugrunde legt. Es liegt somit nahe, die Verwandtschaft 13 mit anderen Bereichen aufzuzeigen, in denen sich das Alltägliche mit dem 14 Unerklärlichen mischt. Grundsätzlich besteht die Verwirrung des Wahnsin- 15 nigen darin, nicht mehr zwischen den Reizen der Außenwelt und denen des 16 eigenen Gehirns unterscheiden zu können. Doch gibt es vielfältige Formen 17 des Wahns. Ein wichtiges Motiv ist die Persönlichkeitsspaltung, die aus dem 18 Schauermotiv des Doppelgängers hergeleitet wird. Sie zeigt die Spaltung 19 des Selbst in das, was akzeptiert wird, als zum Bestand der Persönlichkeit 20 gehörend, und gleichzeitig das, was ihr als Fremdes gegenübertritt. Ein gutes 21 Beispiel für die Persönlichkeitsspaltung ist Dr. Jekyll und Mr. Hyde, die No- 22 velle des schottischen Autors Stevenson, die vielfach verfilmt wurde. Der 23 kühle, gut angepasste Arzt Dr. Jekyll verschafft seinem Es durch eine Droge 24 die ersehnte und verdrängte Betätigungsmöglichkeit, indem er es abspaltet 25 und ohne die lästige Kontrolle des Über-Ichs agieren lässt (ebd., S. 246ff.). 26 Das entspricht Freuds Modell des Persönlichkeitsaufbaus. Die klassische 27 Psychoanalyse unterscheidet drei Qualitäten des Psychischen: vorbewusst 28 und bewusst, die als grundsätzlich zum Bewusstsein zugehörige Qualitäten 29 gelten, sowie unbewusst. Das Vorbewusste ist das Bewusstseinsfähige, das 30 aktuell nicht im Bewusstsein vorhanden, jedoch als Erinnerung reprodu- 31 zierbar ist (die Erinnerung gilt als Hauptbestandteil des Vorbewussten). 32 Das Bewusste ist das aktuelle Bewusstsein und das Unbewusste schließlich 33 nimmt (wie bei Mr. Hyde) keine Rücksicht auf die Realität und handelt 34 nach dem Lustprinzip (Greb, 2011, S. 61f.). 35 Im Traum können Menschen wenigstens vorübergehend und ohne 36 Gefahr für die geistige Integrität »verrückte« Verschiebungen der Welt- 37 sicht zulassen. Während in Tagträumen unerfüllten Fantasien Gestalt ver- 38 liehen wird, findet der Horrorfilm seine Entsprechung in den Alpträumen.

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Die für den Rezipienten enttäuschende Lösung, die durch banales Auf­ 1 wachen alles wegerklärt, kommt heute kaum noch vor. Das bekannteste 2 Beispiel, das von dem Alptraumkonzept lebt, ist die Filmreihe A Nightmare 3 on Elm Street von Wes Craven, wo die Taten des Mörders Freddy Krueger 4 ihre Konsequenzen in der Wirklichkeit der Protagonisten haben, sich also 5 aus der Traumwelt in die Wachwelt fortsetzen (Baumann, 1989, S. 251f.). 6 Krankheit und Schmerz: Krankheit, Schmerz und Tod lösen Ängste aus, 7 die die Beschädigung des Körpers und das damit verbundene Leiden betref- 8 fen. Krankheiten eignen sich besonders als Gegenstand des Horrors, weil 9 sie die mittelbare Betroffenheit und daraus folgende Angst der Rezipienten 10 mit Ekelempfindungen verbinden kann. Dabei äußern sie sich als Verfall des 11 Körpers, als Absterben des Details beim Fortleben des Ganzen. Sie sind ver- 12 bunden mit dem Austritt von Körperflüssigkeiten, wie Blut oder Schleim 13 und lassen Teile besonders ins Bewusstsein treten, die dadurch fremdartig 14 werden. Trotzdem sind Krankheiten natürlichen Ursprungs als eigenständi- 15 ges Wirkelement in Horrorfilmen eher selten, denn eine wesentlich größere 16 Rolle spielt der von fremder Hand zugefügte Schmerz, wobei es sich um 17 aggressive Angriffe oder auch um Folter handeln kann. Allerdings betrach- 18 ten die Rezipienten solche Darstellungen aus einer bestimmten Distanz und 19 sind selten so masochistisch veranlagt, dass sie die Möglichkeit des eigenen 20 Schmerzes zu dicht an sich herankommen lassen (ebd., S. 253ff.). 21 Nahaufnahmen von Akten verheerender Körperzerstörung appellieren 22 auch an eine morbide Neugier auf das Innere eines fremden Körpers. Doch 23 auch hier ist die Voraussetzung zur Wahrnehmung des Körpers als etwas 24 Fremdes und Ausgegrenztes ein Distanzierungsmechanismus, der den Re- 25 zipienten vor dem Mitleiden schützt. Neben der Neugier auf das Innere des 26 Anderen tritt eine fast kindliche Zerstörungslust ein, die mit der Freude 27 an der willkürlichen und gewaltsamen Demontage verbunden ist und sich 28 schließlich in der ultimativen Macht über Leben und Tod manifestiert. 29 Hinzu kommt die Dominanz über das Fremde, die der banalen Selbster- 30 höhung des Rezipienten durch die projizierte, also simulierte Darstellung 31 eines zuvor wehrlos gemachten Wesens. Im Horrorfilm können die gewalt- 32 tätigen Szenen von den reflexionsfähigen Rezipienten auch als surrealisti- 33 sche Darstellungsform gedeutet werden, deren Drastik für das Publikum 34 die Begegnung mit den grausamen Tiefen des Unterbewussten bereithält 35 (Stiglegger, 2005, S. 127–138). 36 Tod : Das letzte Stadium von Krankheit und Verletzung ist der Tod, dem 37 letztlich die größte Angst gilt. Denn vonseiten des Lebens ist der Tod zwar 38

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1 ein eindeutiges Ereignis und dementsprechend ein Objekt der Furcht; er 2 ist allerdings gleichzeitig das absolut Objektlose, weil niemand weiß, was 3 auf ihn folgt und vom Unbestimmten oder Fremden geht hier die größte 4 Angst aus. Normalerweise wird der Tod im Alltag verdrängt, doch Horror­ 5 filme holen dieses Tabuthema an die Oberfläche und konfrontieren den Re- 6 zipienten damit (Baumann, 1989, S. 253ff.). Diese Konfrontation erfolgt 7 allerdings selten mit dem einfachen Zeigen eines Sterbeprozesses, denn 8 im Horrorfilm gelten häufig andere Naturgesetze, die es den Charakteren 9 erlauben, den Tod zu überlisten und als Halbwesen weiter zu existieren, 10 wenn auch auf eine unheimliche, oft abstoßende Weise. Denn der Preis für 11 das ewige Leben ist hoch, wenn man dafür menschliches Blut trinken, in 12 Särgen schlafen oder Leichen fressen muss. Insofern legitimiert der Horror- 13 film das Sterben (Müller & Schlemmer, 1990, S. 10–29). 14 Ungewöhnliche Fähigkeiten: Ungewöhnliche Fähigkeiten äußern sich in 15 Horrorfilmen meist als eng umgrenzte parapsychologische Fähigkeiten in 16 Form von Telepathie, Telekinese oder Präkognition, wobei die Betroffe- 17 nen selten über ihre neuen Fähigkeiten glücklich sind, denn sie haben sich 18 ihre Gabe nicht gewünscht, sondern werden davon überfallen. Dass häufig 19 Kinder oder Jugendliche davon betroffen sind, spricht für die zielgruppen- 20 gerechte Umsetzung von Allmachtsfantasien und verweist auf die Werte- 21 verschiebung im Prozess des Erwachsenwerdens. Die außergewöhnlichen 22 Fähigkeiten lösen in zweifacher Weise Angst aus: Einerseits wird sie bei 23 den Betroffenen ausgelöst, die lernen müssen damit umzugehen und ande- 24 rerseits wird sie im sozialen Umfeld erzeugt, das auf die Manifestation des 25 Übernatürlichen und Übermächtigen mit Schrecken und Zurückweisung 26 reagiert (Baumann, 1989, S. 265ff.). 27 Sexualität: Sexualität im Horrorfilm wird meist mit dem Bösen konno- 28 tiert, was in der christlichen Tradition der Körperfeindlichkeit begründet 29 ist, die die innige Verbindung zwischen Sexualität und dem Bösen gefestigt 30 hat. Diese Verbindung wird nun von Horror-Produzenten aufgegriffen, 31 wobei selbstverständlich nicht der biologische Aspekt der Vermehrung, 32 sondern der Aspekt der Lust im Mittelpunkt steht. In der psychoanalyti- 33 schen Symbollehre werden Gegenstände mit länglicher Form als phalli- 34 sches Gleichnis gesehen, allerdings wird die Interpretation solcher Zeichen 35 schnell beliebig und sollte nicht als allgemeingültig verstanden werden. 36 Manchmal ist ein Messer auch einfach nur ein Messer. Darüber hinaus 37 spielt die Sexualität als zentrales Thema im Horrorfilm keine heraus­ 38 ragende Rolle, doch wenn sie vorkommt, ist sie meist als Normverletzung

182 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen gekennzeichnet und wird gleich im Anschluss sanktioniert. Symbolisch 1 wird damit auch der Rezipient bestraft, der sich auf die sexuellen Motive 2 einlässt (ebd., S. 270ff.). 3 Schuld, Strafe, Bedrohung: Normalerweise wird vom Gesetzgeber defi- 4 niert, was als strafbar gilt, doch der Horrorfilm befasst sich nur selten mit 5 dem gesetzlich vorgegebenen Ablauf der Strafverfolgung, denn die mo- 6 ralische Basis sind hier die subjektiven Empfindungen der Protagonisten 7 bezüglich des Guten, Gerechten und Wünschenswerten. Rachsüchtige 8 Kräfte können dabei im übertragenen Sinne, aber auch gegenständlich ge- 9 meint sein. Da in Horrorfilmen aber die Möglichkeit des Übernatürlichen 10 besteht, ist zwischen den beiden keine Unterscheidung möglich. Das Ziel 11 ist in jedem Fall die Wiederherstellung des Ausgleichs im Sinne des Auge- 12 um-Auge-Prinzips. Die ausgleichende Rache kann spät kommen, aber sie 13 kommt. Die Bedrohung ist ebenfalls ein sehr wichtiges Motiv in Horror­ 14 filmen, vor allem die gegenstandslose Bedrohung, von der die größte Angst 15 erzeugt wird. Wenn sich der Rezipient zusammen mit dem Protagonisten 16 einer verschlossenen Tür nähert, ist das der größte Angstmoment, bevor 17 der Protagonist die Tür aufstößt und das Monster dahinter zum Vorschein 18 kommt. Der Zuschauer erschrickt, schreit vielleicht sogar auf, doch zumin- 19 dest sieht er sich jetzt einem Konkretum gegenüber, das bekämpft werden 20 kann, und die Angst vor dem Unbekannten wandelt sich in die Furcht vor 21 dem Monster. Somit ist das, was hinter der Tür lauert, niemals so bedroh- 22 lich und angsteinflößend wie die Tür selbst (ebd., S. 276ff.). 23 Unheimliche Wesen: Im Horrorfilm manifestiert sich das Unheimliche 24 auf unterschiedliche Weise. Eine ganze Bandbreite an übernatürlichen 25 Wesen steht den Autoren und Produzenten zur Verfügung, deren Lebens- 26 oder auch Todes-Status nicht klar zuzuordnen ist. In den lebenden Toten 27 vereint sich der wohl archaischste Gegensatz: der von Leben und Tod. 28 Doch hat das Genre auch noch andere furchteinflößende Halbwesen zu 29 bieten, die ambivalente Ausprägungen in sich vereinen. 30 Tote und Untote: 31 32 »Der Endgültigkeit des Todes setzt der Horror die beklemmende Synthese 33 von Leben und Nicht-Leben entgegen, zwar angelehnt an das christliche 34 Konzept der Auferstehung, aber in weniger friedlicher und ästhetischer 35 Erscheinungsform – die Auferstehung ist die des verrotteten Leibes. Das 36 widernatürliche Leben der Toten ist eine Parodie des wirklichen Lebens« 37 (Baumann, 1989, S. 303ff.). 38

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1 Wenn die Toten im Horrorfilm zurückkehren, dann meist mit allen Er- 2 scheinungen ihrer Verletzungen und in den jeweiligen Verwesungszustän- 3 den. Die Wiederkehr von Toten steht häufig im Zusammenhang mit Rache, 4 was ebenfalls in der christlichen Tradition verwurzelt liegt. Die häufigsten 5 Untoten sind im Horrorfilm Vampire, Zombies und Mumien, wobei Letz- 6 teren heute kaum noch eine Rolle spielen und eher in Abenteuerfilmen zu 7 finden sind. Vampire sind die wohl bekanntesten Untoten und heute nicht 8 mehr nur Gegenstand von Horrorfilmen. 9 Schließlich gehören zu diesem Repertoire auch noch Gespenster, die 10 substanzlosen Erscheinungen, die trotzdem Macht auf Materielles ausüben 11 können. Oft ist ihre Erscheinung mit dem Motiv der Rache oder Sühne 12 verbunden. Der Auftritt erfolgt im Haus, ist meistens auf dem Dachboden 13 oder im Keller verortet »die psychoanalytische Deutung mit ihrem Ver- 14 ständnis des Hauses als Symbol für die ›Seele‹ sieht darin Ansprüche aus 15 den Bereichen des ›Es‹ (Keller) wie auch des ›Über-Ichs‹ (Dachboden)« 16 (vgl. Mayer, 2007, S. 10f.). 17 Monster: Ausgehend von der lateinischen Bedeutung des Wortes 18 »Monstrum« lässt sich der Begriff sehr allumfassend einsetzen, denn er 19 »steht nicht nur für das Ungeheuer und Ungetüm, sondern auch für das 20 Ungeheuerliche insgesamt […]« (Baumann, 1989, S. 308). Hier findet 21 das Konzept des Halbwesens seine Anwendung, weil Monster das Mensch- 22 liche und das Nichtmenschliche in sich vereinen. Besonders häufig tritt 23 dabei die Mischung aus Mensch und Tier auf. »Psychoanalytisch gesehen 24 sind diese Mischwesen Manifestationen archaischer Triebe, die meist im 25 Unbewussten bleiben und nur in spezifischen, meist emotional stark auf­ 26 geladenen Situationen […] die Schicht des Zivilisierten durchbrechen und 27 an die Oberfläche stoßen« (Mayer, 2007, S. 11). 28 Doch zu den Naturwesen, die das Innerste des Menschen unverzerrt 29 und ohne falsche Moral widerspiegeln kommen noch die künstlich, oft 30 von Menschenhand geschaffenen Monster, die als Verbildlichung des 31 menschlichen Gotteskomplexes fungieren (ebd.). Das eigentlich Grauen­ 32 erregende an den Halbwesen ist ihre gescheiterte Entwicklung, denn sie 33 können nicht sterben, haben aber auch keine Chance zu etwas Anderem 34 zu werden. Sie sind gefangen in diesem Halbzustand zwischen menschli- 35 cher und tierischer oder künstlicher Natur und sind geplagt von der Sehn- 36 sucht nach Ganzheit, nach einem klar definierten Zustand. Wie schon 37 Baumann konstatiert, ist das schrecklichste aller Monster der Mensch 38 selbst. Dies findet besonderen Ausdruck in der modernen archetypischen

184 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Figur des Psycho-Killers, der den »Einbruch des Irrationalen und des 1 ›Dämonischen‹ in eine an der rationalen Vernunft orientierten offizi- 2 ell vertretenen Geisteshaltung oder Weltsicht in den modernen Gesell­ 3 schaften [verkörpert]« (Baumann, 1989, S. 13). Durch diese Figur, die 4 nichts mehr mit der tierischen oder künstlich-technischen Hälfte zu tun 5 hat, wird die Distanz des Dargestellten zum Rezipienten verringert, denn 6 das Böse hat nun noch mehr mit dem Alltäglichen, mit dem Normalen zu 7 tun (ebd., S. 12f.). 8 9 Zwischenbilanz 10 11 Baumann führte den Vergleich der Horrorfilm-Rezeption mit einer Achter­ 12 bahnfahrt ein. Tatsächlich finden sich hier einige Eigenschaften, die die 13 Wirkungsmechanismen in Horrorfilmen zu verstehen helfen, denn damit 14 das Gefühl der Angst genossen werden kann, muss diese in einem be- 15 stimmten Sicherheitsrahmen eingebunden sein. Eine Achterbahnfahrt ist 16 im Grunde nicht wirklich gefährlich, aber trotzdem wird laut gekreischt, 17 wenn der Wagen in den Abgrund hinunterrast. Das Kribbeln und der 18 Nervenkitzel ergeben sich – wie im Horrorfilm – aus der Mischung eines 19 grundsätzlichen Sicherheitsgefühls und dem bewussten Erzeugen von 20 Angst. Hinterher ist man nur froh und gelegentlich auch stolz, das Ganze 21 überstanden zu haben. Auch einen Horrorfilm schaut man sich an, um sich 22 zu gruseln, ohne sich einer wirklichen Gefahr auszusetzen – schließlich 23 werden die fleischfressenden Zombies nicht plötzlich aus der Leinwand 24 steigen. Doch je besser der Horrorfilm, desto mehr entfernt er den Rezipi- 25 enten aus dem Kinosessel und zieht ihn in das Leinwandgeschehen hinein 26 (vgl. Müller & Schlemmer, 1990, S. 15). Hier zeigt sich eine erneute Am- 27 bivalenz, die der Horrorfilm mit sich bringt: Einerseits hat der Zuschauer 28 das Wissen, dass ihm beim Anschauen eines Horrorfilms nichts Schlimmes 29 geschehen wird, andererseits die Erwartung, dass der Film Angst­gefühle 30 erzeugen kann. 31 Wie Horrorfilme letztlich wirken, ist von dem individuellen Zustand 32 jedes Rezipienten abhängig. Deshalb wird es auch unmöglich sein, eine 33 allgemeingültige Antwort auf die Frage zu finden, die Baumann treffend 34 formuliert: »Woher stammt die Faszination an der Darstellung von Grauen- 35 erregendem und Ekelhaftem?« (Baumann, 1989, S. 15) Es sind die indi- 36 viduellen Vorlieben und Abneigungen, die bei der Antwort auf diese Frage 37 eine große Rolle spielen. Wichtige Grundvoraussetzung scheint jedoch, 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 185 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 dass sich der Rezipient sicher und geborgen vor dem Bildschirm fühlt, 2 bevor er sich auf die grauenerregenden und furchteinflößenden Bilder ein- 3 lässt. Vielleicht sind in einer Zeit, in der die Menschen (zumindest jene, 4 die in modernen Gesellschaften leben) keinen existenziellen Ängsten in der 5 Realität mehr ausgesetzt sind, Horrorfilme die letzte verbliebene Möglich- 6 keit, solche Gefühle zu erleben. 7 8 »In der Filmrezeption werden einige dunkle und aggressive Seiten ausge- 9 lebt, die im realen Alltagsleben keinen Platz finden und unerwünscht sind. 10 Die Rezeption von Horrorfilmen bietet ungefährlichen Nervenkitzel; 11 man kann sich dabei selbst in seinen Körper- und emotionalen Reaktio- 12 nen spüren; einige intensive (auch prinzipiell unangenehme) Emotionen 13 können kennen­gelernt und ein kontrollierter Umgang mit ihnen kann 14 geübt werden« (vgl. Mayer, 2007, S. 20ff.). 15 16 Ein Punkt jedoch ist auffällig, weil er sich durch die gesamten vorange- 17 gangenen Betrachtungen zieht: die Ambivalenz, die Horrorfilmen selbst, 18 deren Rezeption, aber auch generell dem Unheimlichen zuzuschreiben ist. 19 Angefangen bei der Doppeldeutigkeit des »Unheimlichen«, das einerseits 20 das Bekannte und Heimelige, andererseits das Fremde und somit Furcht­ 21 erregende in sich birgt, scheint sich diese Gegensätzlichkeit als ein ver- 22 einnahmendes Merkmal durch das gesamte Horrorfilm-Genre zu ziehen. 23 Denn auch die Horrorfilm-Rezeption ist von dieser Gespaltenheit betrof- 24 fen. Um das positive Gefühl der Lust zu erzeugen, setzt sich der Rezipient 25 zunächst den grauenerregenden Bildern des Horrors aus. 26 27 28 Der Film Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre 29 30 Die Geschichte des Remakes von Blutgericht in Texas steht in seinem 31 Grundkonstrukt mehr in der Tradition von Filmen wie Freitag der 13. oder 32 Halloween – Die Nach des Grauens als in der des Originals. Norbert S­ tresau 33 (1995) unterscheidet den reaktionären und dem apokalyptischen Splatter- 34 film danach, ob die gezeigte Gewalt in einem moralischen Kontext steht. 35 Stark vereinfacht meint er, der reaktionäre Splatterfilm bestrafe Verstöße 36 gegen die Norm einer puritanischen Gesellschaft. Vorehelicher Geschlechts- 37 verkehr, Ehebruch, Masturbation und Drogen leiteten spannungsdrama- 38 turgisch meist das Auftauchen des Monsters oder Slashers ein und wirk-

186 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen ten so als Handlungsmotiv für dessen Schreckenstaten. Dieser Definition 1 zufolge gehört das Remake von Blutgericht in Texas eindeutig der Gruppe 2 des re­aktionären Splatterfilms an. Einerseits weidet sich die Kamera an den 3 ­Körpern der gut gebauten Protagonisten, schiebt dann aber eine Bestrafung 4 als moralische Rechtfertigung nach. 5 Betrachtet man die Gruppe als Ganzes, dann fällt auf, dass bei der Be­ 6 setzung wenig Wert auf Authentizität gelegt wurde. Eigentlich sieht keiner 7 der drei Männer oder der zwei Frauen aus, als lebe er im Jahr 1973.; viel- 8 mehr sind sie genau nach dem Schönheitsideal des Jahres 2003 besetzt. 9 Studierende des Merseburger Masterstudienganges »Angewandte 10 Medien- und Kulturwissenschaft« haben sich im Rahmen ihres Studiums 11 differenzierter mit dem FilmMichael Bay’s Texas Chainsaw Massacre be- 12 fasst (Arbeitsergebnisse von Masterstudierenden im Studienjahr 2013/14, 13 verantwortlich: J. Bischoff.). 14 Folgend werden die Arbeitsergebnisse vorgestellt: Als Untersuchungs- 15 gegenstand wurde diese Filmproduktion von Michael Bay ausgewählt. 16 Es handelt sich hierbei um das 2003 erschienene Remake des Originals 17 The Texas Chain Saw Massacre, das 1974 in den USA veröffentlicht 18 wurde. In Westdeutschland startete der Horrorfilm erst 1978 in einer 19 stark gek­ürzten Fassung mit dem Titel Blutgericht in Texas. Die Pro- 20 duktion erlangte durch seine jahrzehntelange Indizierung bis hin zur 21 Beschlagnahmung eine zweifelhafte »Berühmtheit«. Der Film zählt 22 mittlerweile zu den Klassikern des Horrorgenres und gilt als Begründer 23 des sogenannten Terror­kinos. Blutgericht in Texas wurde von dem US- 24 amerikanischen Regisseur Tobe Hooper geschrieben, gedreht und für 25 ungefähr 60.000 Dollar produziert. Reaktionen auf den Film waren kri- 26 tisch, dazu der Kritiker Rex Reeds: »Der erschreckendste Film, den ich 27 jemals gesehen habe«1 (Texas C­ hainsaw ­Massacre: The Shocking Truth 28 auf der 2008 erschienenen ­Blu-ray des Films Dark Sky Films, USA 2008, 29 Second Sight, Großb­ritannien 2009). Roger Ebert, der einflussreich 30 Filmkritiker schrieb: 31 32 »Ich kann mir nicht vorstellen, warum jemand einen solchen Film 33 machen wollen würde und jetzt ist er gut gemacht, gut gespielt und 34 alles sehr effektvoll. Das Texas Chainsaw Massacre gehört in eine ausge­ 35 wählte Gruppe von Filmen, die wirklich viel besser sind, als dieses Genre 36 37 1 »The most horrifying motion picture I have ever seen.« 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 187 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 es verlangt. Nicht jedoch, dass Sie sich unbedingt daran erfreuen werden, 2 diesen Film zu sehen.«2 3 4 Der Film gilt als kompromisslos und nervenaufreibend. Dabei ist seine 5 Wirkung nicht nur auf die drastische Gewaltdarstellung zurückzuführen; 6 die körperliche Gewalt spielt sich zum größten Teil außerhalb des Bildes ab. 7 Die Kameraarbeit, die Akustik und die Geschichte mit ihren wahnsinnigen 8 Antagonisten visualisieren eine morbide, kranke Atmosphäre, die dem Film 9 ihre Wirkungskraft verleiht. Die oben zitierten Reaktionen lassen sich aus 10 heutiger Sicht wahrscheinlich nicht mehr ganz nachvollziehen, da sich die 11 Sehgewohnheiten in den letzten Jahren stark geändert haben. 12 Über die Motivation, ein Remake des Klassikers zu drehen, lässt sich nur 13 spekulieren. Bei dem Status und der Geschichte des Originals dürfte eine 14 Neuinterpretation des Stoffes für den Filmmarkt sicherlich ein finanziell 15 aussichtsreiches Projekt dargestellt haben. Produziert wurde der Film von 16 dem Regisseur und Produzenten Michael Bay, Regie führte der Deutsche 17 Marcus Nispel. Die Handlung ist sehr nah am Original angelegt und weicht 18 nur ge­legentlich durch andere Schaustätten oder leicht veränderte Personen- 19 konstellationen ab. Das Grundgerüst des Films bleibt bestehen, visuell ist 20 der Film zeitgemäß gestaltet. Wie bereits nach der ersten Sichtung des Films 21 deutlich wird, misst das Remake den Schauwerten (Körper und Gewalt) 22 deutlich mehr Bedeutung bei. So liegt ein großer Unterschied zum Original 23 in der ausdrücklichen Darstellung von körperlicher Gewalt. Die übertriebene 24 Brutalität und damit einhergehende Plakativität der Produktion sind auch 25 Hauptkritikpunkte. Trotz der teilweise vernichtenden Reaktionen, konnte 26 The Texas Chainsaw Massacre über ein zehnfaches seiner Produktionskosten 27 einspielen und gilt als Anstoß für eine Welle von Horrorfilm-Remakes und 28 als Begründer eines neuen Subgenres im Horrorfilm, den Torture-Porn. 29 Wie weiter oben beschrieben, kann der fast identische Inhalt der 30 Produktion durch Darstellung und Form unterschiedlich transportiert 31 werden, eine andere Bedeutung produzieren und somit auch verschie- 32 dene Aus­sagen hervorbringen. Dabei stehen die beiden Filme (Original 33 und Remake) exemplarisch für verschiedene Arten von Horrorfilmen und 34

35 2 »I can’t imagine why anyone would want to make a movie like this, and yet it’s well- 36 made, well-acted, and all too effective. […] The Texas Chainsaw Massacre belongs in a 37 select company […] of films that are really a lot better than the genre requires. Not, how- 38 ever, that you’d necessarily enjoy seeing it.«

188 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Herangehensweisen. Ein Horrorfilm zeichnet sich nicht nur durch seine 1 konkrete Handlung aus, sondern auch durch ästhetische und dramaturgi- 2 sche Stilmittel. Sie verstärken, unterstreichen oder schaffen eine bestimmte 3 Aussage und prägen deutlich die Wahrnehmung eines Films. 4 5 6 Untersuchungen zu Gewalt in 7 Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre 8 9 Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre aus dem Genre des Horrorfilmes 10 soll mithilfe eines Sequenzprotokolls und der zu erstellenden Analyse­matrix 11 genauer betrachtet werden. Die Gewaltarten werden wie oben beschrieben 12 definiert und mithilfe dieser Definitionen können ein Teil der Kategorien 13 für die Analysematrix festgelegt und deren ethisch-/moralisches Verständ- 14 nis und ihre Legitimität bewertet werden. Des Weiteren werden die Täter 15 und Opfer gegenübergestellt und ein Verhältnis zwischen männlichen/ 16 weiblichen Tätern und männlichen/weiblichen Opfern abgebildet. 17 Die anschließende Betrachtung der drei Hauptfiguren wirft einen Blick 18 auf die Gewaltinitiatoren und bezieht sich auf die Figuren Leatherface, 19 Sheriff Hoyt und Erin, da diese drei als Hauptakteure der Gewalt identifi- 20 ziert werden können. 21 Im abschließenden Fazit sollen folgende Thesen für den FilmMichael 22 Bay’s Texas Chainsaw Massacre betrachtet und überprüft werden: 23 1. Gewalt wird in Horrorfilmen meist in Form von physischer und psy- 24 chischer Gewalt dargestellt; strukturelle Gewalt wird kaum themati- 25 siert, obwohl sie in der Realität viel häufiger vorkommt. 26 2. Personale Gewalt wird zwischen fremden Personen ausgeübt, 27 obwohl sie in der Realität viel häufiger zwischen Bekannten erfolgt. 28 Hierbei wird die personale Gewalt meist von männlichen Akteuren 29 ausgeübt, wobei es männliche und weibliche Gewaltempfänger gibt. 30 Die gewalttätigen Protagonisten sind unverheiratete Männer mitt- 31 leren Alters. Daher wird Gewalt als typisch mit maskulinen Rollen 32 verknüpft gezeigt. Weibliche Protagonisten sind im Vergleich zu 33 männlichen Akteuren deutlich unterrepräsentiert. In der Regel sind 34 30- bis 40-jährige aggressive, dynamische Männer von schönen, pas- 35 siven 20- bis 30-jährigen Frauen umgeben. Des Weiteren nimmt im 36 Horrorfilm das Final Girl eine Sonderform ein, das vom Gewalt­ 37 empfänger zum Gewaltakteur wird. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 189 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Rahmenanalyse 2 3 Die Überprüfung der Untersuchungsobjekte erfordert die Erstellung eines 4 differenzierten Sequenzprotokolls, das einerseits als Basis der durchzufüh- 5 renden Analyse herangezogen werden soll, andererseits die Möglichkeit 6 bietet, Inhalt und Ablauf des Filmes Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre 7 zu analysieren. Die Untersuchung befasst sich mit den ästhetischen bzw. 8 dramaturgischen und inhaltlichen Aspekten sowie mit formalen Gegeben- 9 heiten des gewaltbetonten Films. 10 Die zentrale Frage »Wer übt wem gegenüber Gewalt aus?« soll durch 11 eine Rahmenanalyse (die den gesamten Filmbetrag erfasst) beantwortet 12 werden. Anhand der Gegenüberstellung der einzelnen Figuren soll fest- 13 gehalten werden, wer als Gewaltinitiator in Erscheinung tritt und wer 14 als Gewalt­empfänger identifiziert werden kann. Relevanz haben die drei 15 Gewalt ­arten, also physische, psychische und strukturelle Gewalt. 16 Integrativer Bestandteil dieser Untersuchung stellt die rechtliche und 17 moralische Bewertung der Gewaltausübung- bzw. darstellung dar, die in 18 folgende Kategorien eingeteilt und bewertet wird: legal, illegal, legitim, il- 19 legitim. In der Analysematrix werden Täter und Opfer gegenübergestellt 20 sowie die Gewaltart des Täters gekennzeichnet. Zudem wird das Verhältnis 21 zwischen »männlicher Täter gegen männliches Opfer« sowie »weibliches 22 Opfer und weiblicher Täter gegen männliches Opfer« dargestellt. Es ist 23 zu konstatieren, dass es insgesamt acht Opfer (fünf Jugendliche, die Anhal- 24 terin und zwei Tatortanwesende) gibt und drei Täter. 25 Im Folgenden werden die drei Hauptcharaktere der Gewaltakteure skiz- 26 ziert, um deren Handlungen und die dahinterliegenden Motivationen ab- 27 zubilden. Des Weiteren soll herausgearbeitet werden, mit welcher Gewalt­ 28 art, welchem Gewaltmittel und gegen welches Opfer sie agieren. 29 Leatherface: Die Figur des Leatherface übt ausschließlich physische 30 Gewalt aus. Er tötet Kemper (Axt), Morgan (Kronleuchter), Andy (Ketten­ 31 säge), Pepper (Kettensäge) sowie den Kameramann und den Polizisten 32 (nicht eindeutig zu erkennen). Als Einzige entkommt ihm Erin. Wie im 33 Original, so sägt sich Leatherface auch im Remake in Sequenz 36 selbst 34 ins Bein. Auffällig sind die körperlichen Merkmale von Leatherface mit 35 seinem ballonhaften Oberkörper, er ähnelt einem mutierten Bodybuilder. 36 Beim Remake Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre trägt er, anders als 37 sein Vorgänger im Original, die Hautmaske, um die Identität seiner Opfer 38 anzunehmen. Er will damit sein scheußliches Gesicht verbergen, eine von

190 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen einer Hautkrankheit zerfressene Fratze, unverhüllt zu sehen in einer kurzen 1 Einstellung; auffällig ist hierbei das Fehlen der Nase. Durch das Nähen 2 eines Gesichtes und durch das Sammeln von menschlichen Teilen soll eine 3 Art der selbstempfundenen Unvollkommenheit kompensiert werden. Eng 4 mit seinem Aussehen verknüpft ist auch das Tatmotiv von Leatherface. Wie 5 seine Mutter in Sequenz 32 erzählt, wurde er wegen seiner Krankheit als 6 Kind gehänselt und nimmt nun Rache für diese Schmach. Während sie das 7 erzählt, kauert Leatherface im Nebenzimmer an der Wand und hält sich 8 die Ohren zu, als könne er die Erinnerung an seine Schande nicht ertragen. 9 Das Motiv des Identitätswechsels taucht nur einmal auf: als Leatherface 10 mit dem Gesicht von Kemper vor Erin auftaucht. 11 Sheriff Hoyt: Die Filmfigur des Sheriff Hoyt übt physische und psychi- 12 sche Gewalt gegenüber Erin, Morgan, Andy und Pepper aus. Er schießt in 13 Sequenz 23 auf Erin, Pepper und Morgan und zwingt sie im Dreck liegen zu 14 bleiben, wobei er physische und strukturelle Gewalt ausübt. In Sequenz 25 15 zwingt er Morgan den Selbstmord der Anhalterin nachzuspielen. Sheriff 16 Hoyt ist die Figur, die am häufigsten psychische Gewalt ausübt. 17 Sheriff Hoyt nimmt durch sein Amt und die damit verbundene 18 Machtausübung eine Sonderrolle ein. Denn obwohl er in seinem Ver­ 19 halten den Jugendlichen gegenüber sehr weit geht, überschreitet er den- 20 noch nie die Grenze gesellschaftlicher Konvention. Als Gesetzesvertreter 21 verkörpert er »staatliche Autorität«, die ihm das Vertrauen der Jugend- 22 lichen sichert. Weder sein zynischer Ton noch seine Pietätlosigkeit im 23 Umgang mit der Leiche oder seine Brutalität bewirken eine Auflehnung 24 der Jugendlichen. Letztlich ist er eine Personifikation der Staatsgewalt in 25 einer extremen, aber denkbaren Ausformung, eine Karikatur unkontrol- 26 lierbarer Staatsgewalt. 27 Erin: Erin nimmt eine Sonderstellung ein, da sie vom Opfer zum Täter 28 wird und dadurch sowie durch ihre Haltung am Anfang als Final Girl er- 29 kennbar ist. Vergleichbar mit Halloween stellt bei Michael Bay’s Texas 30 Chainsaw Massacre eine junge, bedächtige, fast verklemmte Frau dar, die 31 an der Grenze zum Erwachsensein steht, die Hauptfigur dar. Dies ist der 32 Grundtyp des »Final Girl«, das von nun an in jedem Slasher am Ende den 33 Kampf gegen den Mörder antreten wird. Diese Frau überlebt als Einzige, 34 weil sie zu den Waffen greift, die auch der Mörder benutzt (vgl. Hausman- 35 ninger, 2002, S. 85). In der zweiten Sequenz ist Erin sehr moralisch ge- 36 festigt und lobt das asketische Leben; dieses ist ein weiterer Beleg dafür, 37 dass Erin das »Final Girl« ist, ebenso der Wandel vom Opfer zum Täter. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 191 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Einerseits ist sie Opfer der physischen und psychischen Gewalt des Sheriffs, 2 wobei sie bei den Tötungsversuchen von Leatherface mehrere Male ent- 3 kommt, andererseits praktiziert sie mehrfach Gewalt aus unterschiedlichen 4 Motiven heraus. Sie tötet Andy mit einem Messer im Keller des Hauses 5 von Leatherface, da sie erkennt, dass ihr Freund keine Chance mehr hat, zu 6 überleben (Sequenz 33). In Sequenz 37 übt Erin physische Gewalt gegen 7 eine fremde Person aus, indem sie Leatherface den Arm mit einem Beil ab- 8 hackt. Zum Ende des Filmes rettet sie das Kind der Anhalterin, das sie im 9 Wohnwagen sieht (Sequenz 31), sie flieht mit dem Auto des Sheriffs. Erin 10 überrollt den Sheriff und auch Leatherface kann sie nicht mehr aufhalten. 11 Sie entkommt als Einzige ihrer Reisegruppe. 12 13 Auswertung 14 15 Am stärksten sind im Film Michael Bay’s Texas Chainsaw Massacre physi- 16 sche und die psychische Gewalt ausgeprägt. Die strukturelle Gewalt wird 17 durch den Sheriff repräsentiert, der seine Machtstellung ausnutzt. Als Ge- 18 waltinitiatoren können Leatherface, Sheriff Hoyt und Erin beschrieben 19 werden. Die dominierende physische Gewalt richtet sich gegen die Jugend- 20 lichen, den Kameramann und die Polizisten. Die Gewalt an der Anhalterin 21 kann durch ihre Verstörtheit und ihren Suizid erahnt werden. Visualisiert 22 wird meistens physische Gewalt in Form von Verstümmelungs- und Folter- 23 szenen sowie herkömmlichen Gewaltformen. Das Handeln der Gewaltin- 24 itiatoren ist illegal und illegitim. Auch als Erin ihren Freund von »seinem 25 Leid erlöst«, stellt das einen ethischen und moralischen Konflikt dar. Wie 26 oben beschrieben, nimmt Erin als »Final Girl« und durch die Tötung 27 einer ihr bekannten Person eine Sonderrolle ein. 28 Betrachtet man die Relation der Geschlechterverteilung zwischen Täter 29 und Opfer, so wird deutlich, dass im Film Michael Bay’s Texas Chainsaw 30 Massacre eine höhere Aktionsfrequenz zwischen männlichem Täter und 31 männlichem Opfer (Leatherface: fünf männliche Opfer; Sheriff Hoyt: zwei 32 männliche Opfer) stattfindet als zwischen männlichem Täter und weib- 33 lichem Opfer (Leatherface: Pepper und Sheriff; Hoyt: Pepper und Erin). 34 Der relative Anteil von männlichen und weiblichen Opfern zeigt, dass 35 bei acht Gewaltempfängern ein höherer Anteil von männlichen (62,5 %) 36 gegen ­über weiblichen (37,5 %) Gewaltempfängern zu konstatieren ist. 37 Bei den drei Gewaltinitiatoren ist ein Anteil von zwei Drittel männlichen 38 und einem Drittel weiblichen Initiatoren zu beobachten.

192 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Detailliertere Analyse 1 2 Basierend auf dem Sequenzprotokoll werden aus dem Film Michael Bay’s 3 Texas Chainsaw Massacre Sequenzen ausgewählt, um ein Einstellungs­ 4 protokoll anzufertigen. Die Einstellung ist die kleinste Einheit des Filmes. 5 Sie ist eine ohne Schnitt gefilmte Aufnahme (Kurowski, 1972, S. 27f.). Das 6 bestimmende Kriterium für die Auswahl ist der gewalttätige Inhalt einer 7 Sequenz, sodass zwei sogenannte »Gewaltszenen« ausgewählt werden: 8 Sequenz 22 und Sequenz 25. 9 Die formalästhetische Analyse konzentriert sich auf die Länge der Ein- 10 stellungen, Einstellungsgrößen, Schnittrhythmus und die Perspektive. Als 11 Resultat kann festgehalten werden: Die Inszenierung Michael Bay’s Texas 12 Chainsaw Massacre ist eine konventionelle, moderne, kommerzielle Film- 13 produktion. Einstellungsgrößen, Kamerabewegungen und Perspektiven 14 werden als formalästhetische Gestaltungsmittel verwendet. Sie nehmen 15 den Zuschauer »an die Hand«, führen ihn ein, steuern seine Aufmerk- 16 samkeit und erzeugen Wirkungen beim Rezipienten. Die Orientierung 17 wird gewahrt und die Zusammenhänge scheinen auf der formalen Ebene 18 nachvollziehbar inszeniert zu sein. Der Film macht hinsichtlich der formal­ 19 ästhetischen Aufbereitung einen konventionellen Eindruck. Er setzt den 20 Zuschauer nicht allzu großen Ansprüchen durch Stil und Inszenierungsart 21 aus, sodass er sich unterhalten lassen kann, ohne große kognitive Leistungen 22 vollbringen zu müssen. Hinsichtlich der zu analysierenden Aspekte kann 23 die Produktion als Unterhaltungsfilm für ein breites Publikum eingestuft 24 werden, sofern Interesse am Genre vorliegt. In Bezug auf die Darstellung 25 von Gewalt kann festgehalten werden, dass diese fast ausschließlich durch 26 Nahaufnahmen inszeniert wird. Es ist nachvollziehbar, dass psychische und 27 physische Gewalt erst dann eine intensive Wirkung auf den Rezipienten 28 ausüben können, wenn dieser seine Beobachterrolle verlässt und nah am 29 Geschehen ist. Die Intensität wird außerdem durch eine hohe Schnittfre- 30 quenz verstärkt. Jedoch ist die Ausgestaltung des Films mit dem filmischen 31 Gestaltungsmittel »Kamerabewegung« aufgefallen. Während die Darstel- 32 lung von psychisch und strukturell gewalthaften Inhalten mit wenig Bewe- 33 gung auskommt, manchmal auch Übersicht mit wenig Abstand verschafft, 34 scheint die Kamera in den von physischer Gewalt geprägten Einstellungen 35 dynamisch zu wirken. Physische Gewalt ist ja per se mit mehr Bewegungen 36 und Raumeinnahme verbunden, als man es allgemein für die psychische 37 Gewalt annehmen würde. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 193 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Inhaltliche Analyse: Eine Analyse der Darstellung von Gewalt in Horror­ 2 filmen lässt sich weder auf ausschließlich formalästhetischer noch auf nur 3 inhaltlicher Ebene zufriedenstellend durchführen. Gewalt wird auf beiden 4 Ebenen inszeniert. Die Gewaltarten, die Gewalt ausübenden sowie auch 5 empfangenden Personen werden benannt. Methodisch wird eine Vor­ 6 gehens w­ eise benötigt, die im Kontext der quantitativen und qualitativen 7 Aussagenanalyse einzubetten ist, sich aber trotzdem auch von ihr unter- 8 scheidet. Unter Rückgriff auf die angefertigten Einstellungsprotokolle soll 9 den Einstellungen mit gewalttätigem Inhalt die entsprechende Gewaltart 10 auf visueller oder akustischer Ebene zugeschrieben werden. 11 12 Untersuchungsfragen 13 14 ➣➣ Werden die dargestellten Gewaltarten im Film Texas Chainsaw Mas- 15 sacre primär mit Nahaufnahmen inszeniert? 16 ➣➣ Wird psychische Gewalt primär verbal ausgeübt? 17 ➣➣ Gibt es in spezifischen Horrorfilmen nur einen Gewaltinitiator oder 18 mehrere? 19 20 Skizzierung markanter Ergebnisse einer ausgewählten 21 Sequenz (Sequenz 22) 22 23 Die Auswertung der Untersuchung ergibt, dass alle Gewaltdarstellungen 24 in den Einstellungen der physischen Gewalt zuzurechnen sind. In 25 von 25 27 Einstellungen bildet sich Gewalt ab, also in ungefähr 93 Prozent der 26 Einstellungen. Wird zusätzlich in Betracht gezogen, dass die beiden gewalt- 27 freien Einstellungen mit der Totalen und Detailaufnahme in die Situation 28 ein ­führen, somit eine Verständnisgrundlage bieten, kann von einer sehr 29 gewalt ­behafteten Sequenz gesprochen werden. Hier werden auch Einstel- 30 lungen als von Gewalt geprägt benannt, in denen Andy von Leatherface 31 aufgehoben, getragen und hochgestemmt wird. Diese Einschätzung resul- 32 tiert aus der Annahme, dass dieser Vorgang gegen seinen Willen ausgeführt 33 wird, es handelt sich um eine physische Verfügungsgewalt. Festzuhalten ist, 34 dass jede Feststellung von Gewalt sich auch auf der Ton-Ebene widerspie- 35 gelt. Die Einwirkung von physischer Gewalt auf den Körper des Empfän- 36 gers, der daraus entstandene Schaden und Schmerz lässt einen akustischen 37 Ausdruck folgen. Wenn nun die Bildebene einbezogen wird, kann er­kannt 38 werden, dass nicht alle Gewaltdarstellungen visuell zu vernehmen sind.

194 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Es ­handelt sich um Einstellungen, wobei die die Gewalt ausübende Person 1 mit der Kamera bei bestimmten Handlungen begleitet wird. Dabei wird 2 deutlich, dass die Wirkung der Gewalt über die konkrete Einwirkung 3 hinaus stattfindet. Ein Akt der physischen Gewalt endet nicht mit der 4 Handlung des Täters, sondern erst dann, wenn die Gewalterfahrung des 5 Opfers abgeschlossen ist. Weiterhin ist die konkrete Gewalteinwirkung in 6 der Sequenz und in den benannten Einstellungen ein besonders zu beach- 7 tender Fall: Andy wird an einen Fleischerhaken gehängt. Diese physische 8 Gewalt ist die unfreiwillige Überschreitung der Körpergrenzen und bleibt 9 auch auf der Ebene der Ausführung bestehen, da die andauernde Penetra- 10 tion des Körpers bei der Handlungsausführung bewusst gewesen sein muss. 11 In den Großeinstellungen gibt es einen Unterschied auf den beiden Ebenen. 12 Das lässt sich mit der Verwendung der Großaufnahmen zur Abbildung der 13 Handlungen des Täters, die durch die Einstellungsgröße besondere Auf- 14 merksamkeit erhalten, erklären. Auf der Bildebene werden konkrete Vorbe- 15 reitungen zur weiteren Folterung mit dem Körper des Opfers getroffen. Für 16 die auf der Bildebene dargestellte Gewalt ist noch zu bemerken, dass der 17 Großteil in den nahen Einstellungsgrößen mit einer recht hohen Schnitt- 18 frequenz inszeniert wird. Die Abbildung in der »Halbtotalen« ist dabei 19 zu vernachlässigen, da sie wie bereits erwähnt in die Situation einführen 20 soll und deswegen auch die Gewaltinitiierung zeigt. Anders wäre der Über- 21 blick nicht gewahrt. In der nahen Darstellung der Gewalt ergeben Bild und 22 Ton zu großen Teilen eine Kongruenz. Andys Körper und sein Gesicht 23 werden immer wieder gezeigt und an ihnen lassen sich Schmerz und Leid 24 ablesen, während der Eindruck auf der Ton-Ebene bestätigt wird. Somit 25 werden Körper, Gesicht und Geräusche von Andy zum Messinstrument 26 der physischen Gewalt. Die Geräusche durch Ketten und das Aufhängen 27 von Andy bilden sich ebenfalls nachvollziehbar im Ton ab. Die dynamische 28 Darstellung der physischen Gewalt wird noch durch die häufige Verwen- 29 dung des Kameraschwenks unterstützt. Erwähnenswert sind außerdem die 30 Einstellungen, in denen der geschundene Körper Andys gezeigt wird. In der 31 einführenden »Halbtotalen« sieht man Andy am Boden sitzen, sein Bein- 32 stumpf ragt in die Bildmitte. Dann wird er von Leatherface vom Boden auf- 33 gehoben und mit einer kurz eingefügten Einstellung wird das Ablösen des 34 Beinstumpfes vom Boden im Detail gezeigt, es ziehen sich Fäden aus Blut 35 und den Muskelfasern des Beines. Auf der Ton-Ebene ist ein glitschiges Ge- 36 räusch zu hören, somit wird die Einstellung akustisch aufbereitet. Dabei hat 37 die Einstellung keine Relevanz für den Handlungsverlauf, das Aufliegen des 38

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1 Beines auf den Boden macht dramaturgisch keinen Sinn. Hier lässt sich 2 eine bewusste Zurschaustellung des verletzten Körperteils unterstellen. Ein 3 ähnlicher Eindruck wird in der 17. Einstellung vermittelt. Diese ist zwar als 4 Nahaufnahme angelegt, aber trotzdem ist das amputierte Bein noch so gut 5 zu erkennen, dass Fleisch und Knochen wahrgenommen werden. Das in der 6 gleichen Einstellung vorgenommene Auftragen von Salz ist ebenso gut zu 7 sehen, sodass die Darstellung noch drastischer wird. 8 Die einzig vorkommende Gewaltform in dieser Sequenz ist die phy- 9 sische und Leatherface ist die ausübende Person. Die Ton-Ebene scheint 10 bei physischer Gewalt permanenter Unterstützer des Leides zu sein, wobei 11 auf der Bildebene der Körper und das Gesicht die Einwirkung der Folte- 12 rung abbilden. In der Perspektivenwahl können ebenfalls Auffälligkeiten 13 festgestellt werden, die den Gebrauch von extremen Perspektiven zur Ver- 14 mittlung von sadistischen Situationen anzeigen. Die intendierte deutliche 15 Zurschaustellung der offenen Wunden am Körper scheint einen Zweck 16 hinsichtlich einer beabsichtigten Wirkung auf den Zuschauer zu erfüllen. 17 Das wird durch die für die Handlung nicht relevanten Einstellungen deut- 18 lich. Hierbei muss die Detailaufnahme hervorgehoben werden, da diese 19 scheinbar, trotz entstehender Anschlussfehler auf visueller Ebene, im Film 20 enthalten ist. Die Gegenstände als Waffen gegen Andys Körper, in Form 21 des Hakens und des Salzes, werden stilisiert und gegen Andy verwendet, 22 ohne dass sie ihn kurzfristig umbringen würden. Der Zugang über die Bild- 23 ebene schafft zumindest eine Annäherung. Durch teilweise sehr subjektive 24 Einstellungen über die Schulter von Leatherface und das Beobachten seiner 25 ohne Hadern durchgeführten Abläufe machen auf der Ebene der Handlung 26 eine Art Arbeitsprozess deutlich, dessen Zweck die Zurichtung von Andys 27 Körper ist. Die Waffen können mit einem Schlachtbetrieb in Verbindung 28 gebracht werden, sodass Leatherface über seine Optik und die Wahl der 29 Waffen sowie den Vollzug den Eindruck einer Durchführung der Schlach- 30 tung erzeugt. Die als Kreuzigungsanspielung zu deutenden Einstellungen 31 können aus nachvollziehbaren Gründen als Voraussage eines Leidenswegs 32 interpretiert werden, sodass weitere versteckte Symboliken in dem Film, 33 besonders in Bezug zur Gewalt, zu erwarten sind. 34 Die Untersuchungsfragen lassen sich im Hinblick auf die Analyse 35 weitestgehend für den Untersuchungsgegenstand belegen. So wird zum 36 Beispiel die Visualisierung von physischer Gewalt häufig in nahen Auf- 37 nahmen ausgeführt, die Darstellung psychischer Gewalt zu großen Teilen 38 durch Sprache erzeugt. Es wird aber auch deutlich, dass situativ struktu-

196 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen relle Gewalt durch Gestik und Mimik psychische Gewalt erzeugen kann. 1 Hinsichtlich des hohen Anteils an Einstellungen, die Gewalt abbilden, sind 2 bestimmte A­ uffälligkeiten deutlich geworden. Physische Gewalt kann auch 3 ohne direkte körperliche Einwirkung zum Ausdruck kommen, eine körper- 4 lich gewalt­tätige Situation kennt nur wenig Fluchtwege, insbesondere im 5 Horrorfilm, wo kaum Schlägereien gezeigt werden, sondern der Tod die 6 allgegen ­wärtige Bedrohung ist. Die Annahme, dass Horrorfilme für die 7 Sequenzen primär nur einen Gewaltinitiator aufweisen, kann ebenfalls be- 8 stätigt werden. 9 Inhaltliche und dramaturgische Aspekte der Gewaltinszenierung: Fol- 10 gend sollen unter Zuhilfenahme der Protokollierung der Bild- und Ton- 11 Ebene zusammenfassend die analysierten Sequenzen betrachtet werden. Es 12 ist davon auszugehen, dass bestimmte Gestaltungsmittel des Horrorfilms 13 die Gewaltarten prägen und auf inhaltlicher Ebene konstituierend für die 14 Inszenierung von Gewalt sind. Unter Betrachtung der Beschreibung der 15 Bilder und der akustischen Ebene sollen ausgewählte Aspekte untersucht 16 werden. Außerdem soll eine Kontextualisierung der Sequenzen innerhalb 17 des Films vorgenommen werden. Durch die Analyse der Antagonisten und 18 der Inszenierung der Orte sollen Kenntnisse gewonnen und der Kontext 19 des Genres verdeutlicht werden. Die auszuwertenden Daten werden so 20 objektiv wie möglich beschrieben, in diesem Beitrag erfolgt lediglich eine 21 zusammenfassende Interpretation der Aussagen. 22 Den Sequenzen des Films sind nach Untersuchung der inhaltlichen, 23 dramaturgischen und inszenatorischen Aspekte Gemeinsamkeiten zu- 24 zusprechen. Mit violentem Inhalt identifiziert verdeutlichen sie die Aus- 25 weglosigkeit aus der akuten Problemlage und erhöhen das Maß und die 26 Häufigkeit von Gewaltausübungen. Die Handlungsorte bilden entweder 27 die Gewalt ab oder wirken als wichtiger Einfluss auf die Gewaltsituationen 28 ein und bestimmen den Rahmen der Inszenierung. Darüber hinaus sind 29 der Sheriff und Leatherface als die beiden Antagonisten auszumachen. 30 Sie unterscheiden sich zunächst anhand der Art der verwendeten Gewalt. 31 Während der Sheriff mit struktureller und psychischer Gewalt eine Art 32 »Spiel« bereitstellt und scheinbar Lust und Befriedigung daraus zieht, 33 führt Leatherface physische Gewalt in scheinbar eingeübten Abläufen 34 durch. Da er Andy nicht tötet, sondern ihn wie Fleisch behandelt und sein 35 Leiden ohne wirklich erkennbaren Grund weiterführt, kann auch hier eine 36 Art »Spiel« mit dem Opfer festgestellt werden. Während der Sheriff op- 37 tisch nicht gerade einen physisch starken Eindruck macht, demonstriert 38

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1 Leatherface durch sein physisches Erscheinungsbild unglaubliche Kraft. 2 Die Kleidung, die er trägt, spiegelt sein Vorgehen mit Andy wieder und 3 stellt eine Verbindung zwischen dem Raum und dem Akt der Gewalt her. 4 Dabei scheint die Kleid­ ung neben dem Darstellungswert auch als Verhül- 5 lung zu dienen. In Verbindung mit der Maske wird alles versteckt, was an 6 Leatherface menschlich sein könnte, nur der Eindruck eines mutierten 7 Körpers wird zugelassen. Die Maske unterstützt durch das groteske Aus- 8 sehen und die Entpersonalisierung den Eindruck einer Monsterhaftigkeit. 9 Die Aura der Außerweltlichkeit wird weiterhin durch die niemals statt- 10 findende Kommunikation und das scheinbare Befolgen von Befehlen, 11 Trieben und Abläufen gestützt. Der Sheriff personifiziert hingegen die 12 befehlsgebende Seite durch strukturelle und psychische Mittel. Auch an 13 ihm bildet sich äußerlich eine Überlegenheit ab. Die psychische Aggres- 14 sivität scheint in seiner Mimik, Gestik und Karikaturhaftigkeit ablesbar. 15 Es werden somit unterschiedliche Gewaltarten dargestellt, die jeweils an 16 einen Protagonisten geknüpft sind. 17 18 19 Pädagogische Handlungsräume 20 21 Gewalt kann, das hat auch die vorgestellte empirisch orientierte Untersu- 22 chung gezeigt, subjektiv unterschiedlich empfunden werden. Die Ergeb- 23 nisse ermöglichen zumindest einen Einblick in ein Genre, das sich mit 24 Gewalt befasst. Die Frage nach der Anziehungskraft spezifischer Filme ist 25 aber interessanter als die Gewaltfrage und sollte zur Diskussion wieder auf- 26 gegriffen werden. 27 Gesicherte und verallgemeinerungsfähige Aussagen über aggressionsbil- 28 dende Auswirkungen der Rezeption von Fernsehgewalt sind meines Erach- 29 tens nicht möglich. Resümierend soll dennoch festgehalten werden, dass 30 brutale Medieninhalte kurzfristig aggressives Verhalten bei Kindern und 31 Jugendlichen hervorrufen können, wenn 32 ➣➣ diese häufig und aufmerksam Gewaltdarstellungen im Fernsehen oder 33 Internet anschauen, 34 ➣➣ sie aufgrund ihrer Lebensumstände, etwa häufiger Versagungen oder 35 Aggressionserfahrungen in der Familie, zu aggressiven Verhaltenswei- 36 sen tendieren, 37 ➣➣ in der sozialen Umgebung der Jugendlichen aggressive Verhaltenswei- 38 sen akzeptiert werden und diese üblich sind.

198 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Gewalt in Film und Fernsehen

Bergler und Six halten in diesem Zusammenhang fest: Je realistischer eine 1 Gewaltdarstellung sei, desto stärker fördere sie aggressives Verhalten (vgl. 2 Bergler & Six, 1979, S. 221ff.). 3 Kulturpädagogen können beispielsweise in der medienpädagogischen 4 Arbeit mit den beschriebenen Zielgruppen folgende Ziele verfolgen: 5 ➣➣ Diskussion und Erproben anderer Konfliktlösungsmöglichkeiten als 6 die in den untersuchten Filmen üblichen, zum Beispiel mithilfe des 7 Rollenspiels, durch Vergleich mit alltäglichen Situationen etc. 8 ➣➣ Anleiten zum Durchschauen der Realitätsverzerrungen, Klischees 9 und Stereotypen, auf denen die Handlungsabläufe in den speziellen 10 Filmen meist beruhen 11 ➣➣ Aufdecken der Absichten des Kommunikators und der Rezipienten­ 12 bedürfnisse, soweit der Entwicklungsstand der Zielgruppe dies erlaubt 13 14 15 Literatur 16 Albrecht, G., Allwardt, U., Uhlig, P. & Weinreuter, E. (Hrsg.). (1981). Handbuch Medien­ 17 arbeit. Opladen: Leske + Budrich. 18 Andison, F. S. (1977). TV Violence and Viewer Aggression. A Cumulation of Study Results 19 1956–1976. The Public Opinion Quarterly, 41(3),314–331. Bandura, A. (1979). Sozial-kognitive Lerntheorie. Stuttgart: Klett. 20 Beck, K. (2010). Kommunikationswissenschaft. Konstanz: UVK. 21 Bergler, R. & Six, U. (1979). Psychologie des Fernsehens. Wirkungsmodelle und Wirkungs- 22 effekte unter besonderer Berücksichtigung der Wirkung auf Kinder und Jugendliche. 23 Bern, Stuttgart, Wien: Huber. Baumann, H. D. (1989). Horror. Die Lust am Grauen. Weinheim, Basel: Beltz. 24 Freud, S. (1970) [1919]. Das Unheimliche. In A. Mitscherlich, J. Strachey & A. Richards 25 (Hrsg.), Studienausgabe Bd. VI, Psychologische Schriften (S. 241–274). 26 Greb, M. (2011). Numen und Macht. Die Bedeutung des Heiligen und des Unheimlichen in 27 Religion und Kunst heute. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Groebel, J. & Gleich, U. (1993). Gewaltprofil des deutschen Fernsehprogramms – eine 28 Analyse des Angebots privater und öffentlich-rechtlicher Sender. Opladen: Leske + 29 Buderich. 30 Hausmanninger, T. (2002). Mediale Gewalt. München: Wilhelm Fink. 31 Kandorfer, P. (2003). Lehrbuch der Filmgestaltung. Theoretisch-technische Grundlagen der Filmkunde. 6. Aufl. Gau-Heppenheim: Mediabook-Verlag Reil. 32 Keilhacker, M. (1968). Pädagogische Psychologie. Regensburg: Verlag Josef Habel. 33 Kuchenbuch, K. (2003). Die Fernsehnutzung von Kindern aus verschiedenen Herkunfts- 34 milieus. Media Perspektiven, 2003/1, 2–11. 35 Kurowski, U. (1972). Lexikon Film. Hundert × Geschichte. Technik. Theorie. Namen. Daten. Fakten. München: Hanser. 36 Mayer, G. (2007). Die Faszination Jugendlicher an Horrorfilmen. http://www.igpp.de/ 37 german/eks/faszination.pdf (07.03.2013). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 199 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Johann Bischoff

1 Meteling, A. (2006). Monster. Zur Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm. 2 Bielefeld: transcript Verlag. Müller, J. & Schlemmer, K. (1990). Die Lust an der Angst. In D. Manthey & J. Altendorf 3 (Hrsg.), Der Horrorfilm. Hamburg. 4 Rosenkranz, K. (2007) [1989]. Ästhetik des Hässlichen. Leipzig: Reclam. 5 Schorb, B. & Theunert, H. (1982). Gewalt im Fernsehen. In welchen Formen tritt sie auf? 6 Wie gehen Jugendliche damit um? Medien und Erziehung, 6, 322–331. Stiglegger, M. (2005). Einblicke. Neugier auf das »Innere des Anderen«. In J. Köhne, 7 R. Kuschke & A. Meteling (Hrsg.), Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm. 8 Berlin: Bertz und Fischer. 9 Stresau, N. (1995). Der Horror-Film. Von Dracula zum Zombie-Schocker. München: Heyne. 10 Teichert, W. (1975). Bedürfnisstruktur und Mediennutzung. Rundfunk und Fernsehen, 23. Theunert, H. (1996). Gewalt in den Medien – Gewalt in der Realität. München: Institut 11 Jugend Film Fernsehen. 12 13 14 Der Autor 15 Johann Bischoff, Prof. Dr. phil., geb. 1951, i. R. seit 1.10.2016. Kaufmann IHK gepr., staatl. 16 gepr. Kommunikationswirt, Diplom-Designer, Diplom-Pädagoge. WM an der Carl von 17 Ossietzky Universität Oldenburg, Gastprofessor für Visuelle Kommunikation an der 18 Hochschule für Bildende Künste in Dresden. Professor für Medienwissenschaft und angewandte Ästhetik an der Hochschule Merseburg. 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

200 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen 1 auf Gewalt und Sexualität 2 3 Elisabeth Tuider 4 5 6 7 8 9 10 11 Jugend und Digitalität 12 13 Bereits ein kurzer Blick in die (deutschsprachige) Medienlandschaft zeigt 14 deutlich, dass neue Stichwörter die Verbindung von Jugend und Medien- 15 nutzung charakterisieren. Auf der einen Seite wird vor den Gefahren des 16 Internets gewarnt, die in »Sexting«, »Cybermobbing«, »Pornografisie- 17 rung« und »Internetsucht« gesehen werden. Diesen Gefahren vorzu- 18 beugen und im erzieherischen Eltern- und Schulhandeln zu begegnen, 19 ist Intention von Ratgebern wie zum Beispiel Digital Junkies (Te Wildt, 20 2015) oder Legt doch mal das Ding weg! (Brandt & Fuchs, 2017) sowie 21 von Präventionsworkshops und Elternabenden. Unterstellt wird, dass 22 ­heutige Jugend­liche und junge Erwachsene keinen »verantwortungsvollen 23 Umgang mit Smartphone & Co« (ebd.) hätten. 24 Auf der anderen Seite und zugleich finden sich in der Sozialisations- 25 und Jugendforschung Analysen von sich weitreichend verändernden 26 gesellschaftlichen Bedingungen. Denn Digitalisierung hat auf sozialer, 27 politischer und wirtschaftlicher Ebene das Leben verändert; Arbeit, Zu- 28 sammenleben und insbesondere Kommunikation, Wissens- und Informa- 29 tionsmöglichkeiten sind von der Allpräsenz der Medien gekennzeichnet. 30 Das Aufwachsen und die Kindheitserfahrungen heutiger junger Erwach- 31 sener, der sogenannten Generation Y oder der Millenials, sind von dieser 32 selbstverständlichen Präsenz und Handhabung neuer Technologien durch- 33 zogen. In diesem Zusammenhang wird von digital natives gesprochen.­ 34 Marc Prensky (2001) grenzte digital natives von digital immigrants ab, und 35 wies dabei auf die neuen Aufwachsens- und Lernvoraussetzungen in einer 36 digitalisierten Welt hin. Digital natives würden »grundlegend anders 37 denken und Informationen verarbeiten« (ebd.). Gerade diese suggerierte 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 201 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Elisabeth Tuider

1 Andersartigkeit bot und bietet Anlass für Ängste, Untergangszenarien und 2 Schutzforderungen in der Gesellschaft, deren Entscheidungsträger_innen 3 in aller Regel nicht den digital natives angehören. Auch Befragungen 4 der Praxis zeigen, dass pädagogisch Tätige in Jugendeinrichtungen – die 5 ebenfalls meist zu den digital immigrants zählen – die sich im Digitalen 6 abspielende Alltagswelt der Jugendlichen als für sie verschlossen und un- 7 zugänglich wahrnehmen (vgl. Wolff & Norys, 2016). Peer Violence, so 8 ­diskutieren Mechthild Wolff und Tobias Norys weiter, fordert pädago- 9 gisch Tätige insbesondere dann heraus, wenn sie in den sozialen Meiden 10 vonstatten geht. 11 Doch was schätzen Jugendliche als sexualisierte Grenzüberschreitung 12 und Gewalt ein? Und wie hängen diese Sichtweisen mit ihrer geschlecht- 13 lichen Selbstpositionierung zusammen? Diese Fragen wurden in dem vom 14 Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Ver- 15 bundprojekt »Safer Places«1 bearbeitet, auf dessen Erkenntnisse sich der 16 folgende Beitrag bezieht (vgl. Domann & Rusack, 2016; Busche et al., 2016). 17 18 1 Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Förderlinie 19 » ­Sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in pädagogischen Kontexten« geför- 20 derte Verbundforschungsvorhaben »Safer Places« der Hochschulen Kassel, Hildesheim 21 und Landshut erhob Daten in non-formellen und eher weniger pädagogisch strukturier- 22 ten Räumen der offenen Jugendarbeit, der Jugendverbandsarbeit und beim Sport. Im Fokus der qualitativen Interviews und der quantitativen Onlinebefragung standen dabei 23 nicht die persönlichen Erfahrungen der Jugendlichen, sondern die Sichtweisen sowohl 24 von Jugendlichen als auch von den Mitarbeitenden der Jugend(verbands-)arbeit auf 25 sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen. Das Verbundvorhaben verstand sich als parti- 26 zipativ angelegte Forschung, die auf die Sicht der Jugendlichen als Expert_innen ihrer 27 Lebenswelt fokussiert. Im gesamten deutschen Bundesgebiet wurden über 3.000 Ein- 28 richtungen aus der Jugend(verbands-)arbeit und dem Sport angeschrieben, über das Projekt informiert und zur Teilnahme eingeladen. An der Onlinebefragung von »Safer 29 Places« (die von Mai bis Dezember 2014 stattfand) nahmen insgesamt 1.167 Jugend­ 30 liche zwischen 12 und 25 Jahren aus allen Bereichen der Jugendarbeit teil, wovon nach 31 Datenbereinigung 364 in die Analyse eingingen. Parallel zur Onlinebefragung wurden 32 erzählgenerierende Leitfadeninterviews (mit 39 Jugendlichen, 5 Doppelinterviews 33 und 29 Einzelinterviews) mit Jugendlichen zwischen 12 und 20 Jahren geführt, wobei 34 ein Großteil der Interviews im Kontext der offenen Jugendarbeit stattfand. Um auch die Sicht der pädagogisch Tätigen auf Peer Violence einzufangen, wurden 30 Exper- 35 ten_innen- ­Interviews mit haupt- und ehrenamtlichen Betreuenden geführt. Als letzter 36 Schritt wurden die Ergebnisse sowie die Entwicklung von Handlungsansätzen in Ein­ 37 richtungen der Jugend(verbands-)arbeit und dem Sport mit Jugendlichen sowie päda- 38 gogisch Tätigen selbst diskutiert und reflektiert.

202 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität

Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist die These, dass jugend- 1 lichen Erfahrungswelten nicht (mehr) eine Unterscheidung zwischen di- 2 gitaler und analoger Welt zugrunde liegt. Am Beispiel der quantitativen 3 Online ­befragung des Projekts »Safer Places« diskutiere ich zum einen 4 einige Ergebnisse der Studie und frage zum anderen grundsätzlich nach den 5 empirischen Möglichkeiten zur Erfassung und Analyse von Geschlechter- 6 vielfalt. Anhand ausgewählter quantitativer Daten aus der Onlinebefragung 7 wird empirisch der These nachgegangen, dass Jugendliche abhängig von der 8 eigenen geschlechtlichen Selbstpositionierung Situationen unterschiedlich 9 als sexualisierte Gewalt oder sexualisierte Grenzüberschreitung einschätzen. 10 Fokussiert wird dabei auf jene Jugendlichen, die sich selbst nicht als »typi- 11 scher Junge« oder »typisches Mädchen« geschlechtlich einordnen. 12 13 14 Geschlecht empirisch erheben 15 16 Während in den sozialen Medien, insbesondere bei Facebook, eine Viel- 17 falt von Geschlechterkategorien zur Verfügung gestellt wird, um sich selbst 18 zu positionieren und geschlechtlich zu bezeichnen (vgl. Abb. 1), ist dieses 19 Geschlechterverständnis in sozialwissenschaftlich-quantitativen Unter- 20 suchungen bislang nicht umgesetzt worden, vielmehr wird Geschlecht 21 meist weiterhin binär (männlich/weiblich, Junge/Mädchen, Mann/Frau) 22 erhoben. In der qualitativen Forschung (wie z. B. Interviews, Ethnografien, 23 Diskursanalysen) finden sich mittlerweile zahlreiche intersektionale Ana- 24 lysen, die das Zusammenwirken von zum Beispiel Geschlecht und Klasse, 25 Migration und Gender untersuchen (einschlägig: Lutz et al., 2010) und 26 dabei zum Teil einer anti-kategorialen Grundhaltung sowie einer post-­ 27 essenzialistischen Perspektive auf gender aber auch race und class verpflich- 28 tet sind (vgl. dazu die Unterscheidung von McCall, 2005; methodologisch 29 vgl. z. B. Tuider, 2015; empirisch vgl. z. B. Çetin, 2012). Solche anti-katego- 30 rialen und postessenzialistischen geschlechtertheoretischen Überlegungen 31 in quantitative Fragebogen-Untersuchungen und Analysen einfließen zu 32 lassen, ist hingegen bisher kaum gelungen. Als Ausnahmen zu nennen, sind 33 zwei Studien: Zum einen findet sich zum Thema Coming-out (DJI, 2016) 34 eine Beschreibung der Teilnehmenden, die diese in Abhängigkeit von 35 ihren ausformulierten Selbstbeschreibungen in »lesbische«, »schwule«, 36 »bisexuell-weibliche«, »bisexuell-männliche«, »orientierungs*diverse«, 37 »trans*weibliche«, »tans*männliche« und »gender*diverse« Jugendliche 38

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1 untergliedert. Zum anderen hat, mit dem Hinweis »Identität kennt kein 2 entweder-oder«, LesMigras (2010) die bislang einzige Studie in Deutsch- 3 land zum Thema Mehrfachdiskriminierung vorgelegt. In dieser werden die 4 unterschiedlichen Diskriminierungserfahrungen von Cis-Frauen, Trans* 5 und Inter* in Kombination mit Rassismus, Sexismus, Ableismus, Altersdis- 6 kriminierung, Klassismus erfasst und auch Erfahrungen und Einschätzun- 7 gen von zum Beispiel Trans* of color in der Analyse erhoben. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 Abb. 1: Screenshot der geschlechtlichen Positionierungsmöglichkeiten bei 24 Facebook 25 26 Die Debatten von Trans*- und Queer-Aktivismus sowie der Erforschung 27 einer existierenden geschlechtlich-sexuellen Vielfalt in den Gender- und 28 Queer- ­Studies aufgreifend wurde den Jugendlichen im Rahmen der 29 Online ­befragung »Safer Places« eine differenziertere Selbstverortung 30 ­hinsichtlich Geschlecht ermöglicht, die von ihnen auch wahr- und ange- 31 nommen wurde (vgl. Busche et al., 2016). Statt der bei Befragungen zu- 32 meist üblichen binären Kategorien (Junge/Mädchen, weiblich/männlich) 33 wurde den befragten Jugendlichen im Onlinefragebogen die Möglichkeit 34 gegeben, sich auf einem Kontinuum geschlechtlich selbst zu verorten. 35 Auf die Frage »Wie siehst Du Dich?« konnten sie sich selbst auf einer 36 100er Skala zwischen »typisches Mädchen« und »typischer Junge« 37 sowie jenseits des bipolaren Kontinuums (mit den Möglichkeiten: »weder- 38 noch« und »weiß nicht«) positionieren. Erhoben wurde dabei weder das

204 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität

»­biologische« noch das »soziale« Geschlecht der Jugendlichen, son- 1 dern wie sie sich selbst – in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen 2 Zuschreibungen, Erwartungen und Normen – geschlechtlich einordnen. 3 Für die weitere Analyse des Zusammenhangs von geschlechtlicher Selbst- 4 positionierung und den Sichtweisen der Jugendlichen auf sexualisierte 5 Peer- ­Gewalt wurde das 100er Kontinuum in 20er Schritte gesplittet (d. h.: 6 1–20 »typisches Mädchen«, 21–40 »eher typisches Mädchen«, 41–60 7 »zwischen eher ›typischem Mädchen‹ und eher ›typischem Jungen‹«, 8 61–80 »eher typischer Junge«, 81–100 »typischer Junge«). 9 Die folgende Abbildung 2 zeigt, dass 46 % aller befragten Jugendlichen 10 der Onlinebefragung »Safer Places« sich auf dem Geschlechterkontinuum 11 als »geschlechtstypisch«, das heißt als »typischer Junge« oder als »ty- 12 pisches Mädchen«, verorteten; 35 % positionierten sich als »eher« oder 13 »nahe« der Position »typischer Junge«/»typisches Mädchen« und 8 % 14 positionierten sich zwischen den Polen des Kontinuums. Zudem ordneten 15 sich insgesamt 8 % der befragten Jugendlichen jenseits des Geschlechter- 16 kontinuums ein, indem sie »weder noch« oder »weiß nicht« als ihre ge- 17 schlechtliche Positionierung ankreuzten. Bei den Jugendlichen, die sich an 18 den Rändern des Kontinuums positionierten (insgesamt 46 %), verorteten 19 sich insgesamt 24 % der befragten Jugendlichen als »typischer Junge« und 20 22 % als »typisches Mädchen«. In die Kategorie »eher typischer Junge« 21 ordneten sich 13 %, in die Kategorie »eher typisches Mädchen« 22 % der 22 Befragten ein. 23 Die Erhebung von Geschlecht mittels eines Kontinuums ermöglichte 24 es einerseits, ein nicht-binär-geschlechtliches Forschungsherangehen auch 25 in einer quantitativen Untersuchung zu praktizieren. Deutlich wird, dass 26 diese Geschlechtervielfalt den befragten Jugendlichen insoweit vertraut 27 ist, als sie mit den in der Onlinebefragung zur Verfügung gestellten Op- 28 tionen eines Geschlechterkontinuums umgehen konnten. Der Schritt der 29 Clusterung für die empirische Analyse der Daten wurde dabei nicht an den 30 Anfang der Befragung gestellt, indem zwei Kategorien der geschlechtli- 31 chen Einordnung vorab festgelegt und erfasst wurden (Mädchen/Junge), 32 sondern erfolgte als eine mögliche Auswertungsperspektive auf Basis der 33 Selbstpositionierungen der Jugendlichen. Deutlich wird, dass eine anti- 34 kategoriale Forschungshaltung und Methodologie auch in die Konstruk- 35 tion von quantitativen Befragung Eingang finden kann, jedoch sozial­ 36 wissenschaftliche Analysen nicht umhin kommen, Kategorien zu bilden 37 und damit Geschlecht auch zu resignifizieren. 38

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#!" 1 !"# 2 '#" 3 '!" 4 $%# 5 &#" 6 &!"

7 %#" 8 %!" 9 &"# 10 $#"

11 $!" 12 #" 13 '($"!# )*+,-.*#+./0*1.23#4*#5/67.*2# !" # 14 2894:;<.:#=>1;<.*#?# .<./#2894:;<.:# 7A4:;<.*#0*1# 15 2894:;<./#@0*+.# =>1;<.*#?#.<./# B.*:.42:#2894:;<.C# 16 2894:;<./#@0*+.# =>1;<.*#0*1# 2894:;<.C#@0*+.*# 17 18 Abb. 2: Rechnerische Clusterung des Geschlechterkontinuums 19 ! 20 Die Grenzen der quantitativen Clusterung ergeben sich an der Stelle, wo 21 ein intersektionales Vorgehen praktiziert wird und die Verbindung von 22 geschlechtlicher Selbstpositionierung und dem sexuellen Begehren empi- 23 risch aufbereitet wird. Auf die Frage »Wenn du eine Person sexuell attraktiv 24 findest, ist diese Person: eher weiblich/männlich/egal/weder noch?« sowie 25 die Option »Ich finde andere Personen nicht sexuell attraktiv« fühlte sich 26 ein Großteil der befragten Jugendlichen von »männlichen« Personen 27 sexuell angezogen (vgl. Abb. 3). In trouble gerät die sozialwissenschaftli- 28 che Analyse, wenn nun versucht wird, das Begehren derjenigen typischen 29 Mädchen / typischen Jungen und eher typischen Mädchen / eher typischen 30 Jungen zu benennen, die andere Personen nicht sexuell attraktiv finden, 31 oder die »weder noch« begehren. Denn im deutschsprachigen Kategori- 32 sierungskanon, der von einer medikalisierenden und zum Teil pathologisie- 33 renden Sprache geprägt ist, kann beispielsweise die Position einer Person, 34 die sich geschlechtlich zwischen »typischem Mädchen und typischem 35 Jungen« verortet und sexuell »weder noch« begehrt, nicht erfasst werden. 36 Auch für eine Geschlechterposition jenseits des Geschlechterkontinuums 37 mit einem Begehren, das auf beide Geschlechter gerichtet ist, finden sich – 38 bisher – keine Bezeichnungsmöglichkeiten. Mit Blick auf Abbildung 3 ist

206 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität also die quantitative Erhebung und Analyse von vielfältigen Geschlechter- 1 und Sexualitätspositionen deutlich herausgefordert. 2 3 4 " )(" CGH/<013<"I,8013-"J"" +,--./01" 5 CGH/<013?"K>-53" &$" " &" 23/4./01" 6 " $" 7 " " $" 356."743/839" 8 " 9 " &*" -:-;<3=>3.." 313?"CGH/<013<"I,8013-"J"" 10 (#" 313?"CGH/<013?"K>-53" 11 " '" 2383?"-:01" 12 " &" " #" 13 " 14 " F2/<013-">-8"L3-<3/C<"" )*" 15 CGH/<013+"I,8013-"J" !&" 16 CGH/<013+"K>-53-" !$" 17 %" 18 !" @A(%)" B-5643-"53?>-83CD"/-"E?:F3-C" 19 !" #!" $!" %!" &!" '!!" 20 21 Abb. 3: Geschlechtliche Selbstpositionierung und sexuelles Begehren 22 ! 23 24 Gewalt und Sexualität aus Sicht der Jungendlichen 25 26 Die fachlichen Debatten zum Thema sexualisierte Gewalt in pädagogischen 27 Kontexten seit dem Jahr 2010 – dem Jahr der Aufdeckung von sexuellen 28 Übergriffen und Gewalt in pädagogischen Internaten und kirchlichen Ein- 29 richtungen, die über Jahre stattgefunden hatten – sowie die Reflexion von 30 Forschungsdaten zeigen (u. a. Retkowski et al., 2018; Helfferich et al., 2016; 31 Fegert & Wolff, 2015), dass sexualisierte Gewalt keine Einzelerfahrung von 32 bestimmten Kindern und Jugendlichen ist, sondern als organisationales und 33 institutionelles Thema den gesamten Komplex von Erziehung und Bildung 34 durchzieht (vgl. Schröer & Wolff, 2016). Sexualisierte Gewalt wird dabei in 35 Fachdebatten und Forschungen primär in einem intergenerationalen Ver- 36 hältnis zwischen pädagogisch tätigen Erwachsenen und Jugendlichen in den 37 jeweiligen Feldern der schulischen und außerschulischen Arbeit ­betrachtet. 38

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1 Dieses intergenerationale Verhältnis wird als potenziell anfällig für Macht- 2 missbrauch reflektiert und das Austarieren von Nähe und Distanz in Betreu- 3 ungsverhältnissen als die Herausforderung pädagogischer Professionalität 4 ausgemacht (Dörr, 2018). Zugleich richtet sich die Forschungsperspek- 5 tive damit erneut auf den Zusammenhang von expliziten und impliziten 6 Geschlechterkonstruktionen und sexualisierter Gewalt (u. a. Helfferich et 7 al., 2016). Indem auf die symbolische Gewalt als Form und Ausdruck von 8 Herrschaftsverhältnissen hingewiesen wird (vgl. z. B. Retkowski et al., 2018; 9 Tuider, 2017), wird deutlich, dass eine simple geschlechterstereotypisie- 10 rende Sicht auf den Zusammenhang von Gewalt und Geschlecht (im Sinne 11 von: prinzipiell alle Männer als Täter und alle Frauen als Opfer markieren) 12 nicht funktioniert. Vielmehr wird sich von einer solcherart reduktionisti- 13 schen Sicht auf vergeschlechtlichte Täter-/Opfer-Zuschreibungen verab- 14 schiedet und stattdessen die strukturelle Verletzungsoffenheit (Vulnerabili- 15 tät) von Kindern und Jugendlichen in den organisationalen Kontexten von 16 Erziehung und Bildung in den Fokus gerückt. 17 Erst in den jüngsten Fachpublikationen wird das Thema »Sexualisierte 18 Gewalt unter Jugendlichen« (im englischen Sprachraum: peer violence) in 19 größerem Maße erforscht (z. B. Finkelhor, 1984; Allroggen et al., 2011; 20 Jäger et al., 2007; Vobbe, 2018; Rusack, 2018). So schreibt denn auch 21 Tanja Rusack in ihrem Artikel im Handbuch Sexualisierte Gewalt und 22 päda­gogische Kontexte zum Thema Peer Violence: 23 24 »Die neuere Forschung zu Peer Violence und Peerbeziehungen hat durch 25 die Mediatisierung des Alltags der Jugendlichen, also die Durchdringung des 26 Alltags durch Online-Medien, und den vielfältigen digitalen Kommunika­ 27 tionsformen besonders dort einen Schwerpunkt gelegt. […] Sexualisierte Peer 28 Violence [wurde] bisher kaum untersucht […] Und das, obwohl es ein großes 29 Vorkommen gibt und verschiedene Studien davon ausgehen, dass ein Drittel 30 der Fälle sexualisierter Gewalt von Jugendlichen an anderen Jugendlichen 31 ausgeübt werden« (Rusack, 2018, S. 317). 32 33 Das heißt, sowohl zum Vorkommen von sexualisierter Peer-Gewalt als auch 34 zur Einschätzung von Jugendlichen, was denn überhaupt sexualisierte Peer- 35 Gewalt für sie ist, liegen bisher kaum Untersuchungen vor.2 36 37 2 Als Ausnahmen im deutschsprachigen Raum sind folgende Studien zu nennen: Berg- 38 mann (2011), Stecklina (2005) und DJI (2011).

208 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität

Deswegen wurden im Verbundforschungsprojekt »Safer Places« die 1 jugendlichen Teilnehmer_innen der Onlinebefragung um eine Einschät- 2 zung verschiedener Situationen in der Jugendgruppe, den Jugendeinrich- 3 tungen und den Jugendbeziehungen gebeten. Auf die Frage »Wie würdest 4 du es finden, wenn ein_e Jugendliche_r aus Deiner Jugendgruppe …« 5 (z. B. eine_n andere Jugendliche_n ohne Zustimmung auf den Mund küsst), 6 konnten die Jugendlichen diese Situationen von »absolut okay« bis »ab- 7 solut nicht okay« einstufen. Darüber hinaus konnten sie auch angeben, ob 8 dieselbe Situation aus ihrer Sicht eine Verletzung der persönlichen Grenze 9 darstellt. Deutlich zeigt sich dabei, dass an der Schnittstelle zwischen 10 (ver)geschlechtlichten, sexualisierten und körperlichen Alltagshandlungen 11 das Einfallstor für sexualisierte Gewalt liegt. In Abbildung 4 ist der Zusam- 12 menhang der geschlechtlichen Selbstpositionierung und der Einschätzung 13 unterschiedlicher Situationen im Hinblick auf Grenzverletzung und sexu- 14 alisierte Gewalt abgebildet.3 15 Hierbei fällt eine Differenz im Antwortverhalten zwischen den Grup- 16 pen der sich selbst als »typisch« verortenden Jugendlichen und der Gruppe 17 der sich »eher als typischer Junge/Mädchen« verortenden Jugend­lichen 18 auf: Diejenigen Jugendlichen, die sich als »typisches Mädchen/typischer 19 Junge« einordneten, gaben bei allen zur Einschätzung angegebenen Situ- 20 ationen (tendenziell) seltener an, dass diese eine Verletzung ihrer persön- 21 lichen Grenze darstellten.4 Sie schätzten »Gerüchte über das Sexualver- 22 halten anderer zu verbreiten« zu 39 % und »sexuelle Sprüche über den 23 Körper einer_s anderen Jugendlichen zu machen« zu 24 % als sexualisierte 24 Grenzverletzung ein (davon »typische Jungen« mit jeweils 33 % und 25 18 %). Die sich als »eher typische Jungen« und »eher typische Mädchen« 26 positionierenden Jugendlichen sahen »Gerüchte verbreiten« hingegen zu 27 52 % und vor allem »Sprüche über den Körper anderer machen« zu 40 % 28 als Überschreitung ihrer persönlichen Grenze. Auch jene Jugendlichen, die 29 30 3 Die folgenden Darstellungen gehen auf einen Aufsatz (»Sichtweisen auf sexualisierte Ge- 31 walt und sexualisierte Grenzüberschreitungen von Jugendlichen«) im Dritten Deutschen 32 Männergesundheitsbericht – Sexualität von Männern zurück (Stiftung Männergesundheit, 33 2017), in dem die vorliegenden Daten auf Sichtweisen von Jungen hin ausgewertet wur- 34 den, sprich von Jugendlichen, die sich als »typischer Junge«, »eher typischer Junge« und »zwischen typischem Jungen und typischem Mädchen« positionieren (vgl. Tuider, 2017). 35 4 Die Gruppe der sich selbst als »typische Jungen« verortenden Jugendlichen gibt in al- 36 len Situationen am seltensten an, etwas als Verletzung der persönlichen Grenzen einzu- 37 schätzen (vgl. dazu weiter: Tuider, 2017). 38

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1 sich »dazwischen« (also im Mittelfeld zwischen »typischer Junge« und 2 »typischem Mädchen«) positionierten, machten häufiger als diejenigen 3 Jugendlichen, die sich als »typische« Jungen und Mädchen positionieren, 4 die Angabe, dass diese beiden Situationen für sie eine Überschreitung ihrer 5 persönlichen Grenze darstellten. 6 Das diffamierende Reden über (ihre) Sexualität sowie das sexualisierte 7 Sprechen über den (immer auch vergeschlechtlichten) Körper nahmen 8 die befragten Jugendlichen in Abhängigkeit von ihrer geschlechtlichen 9 Selbstdefinition wahr. Je mehr sie sich als der Geschlechternorm ent- 10 sprechend einordneten, umso weniger nahmen sie sexualisiertes Reden 11 als Gewalt wahr. Da die Onlinebefragung der Jugendlichen darauf zielte, 12 deren Sichtweise und Einschätzung und nicht deren Erfahrung mit sexua- 13 lisierter Gewalt zu analysieren, kann an dieser Stelle nur vermutet werden, 14 dass die befragten Jugendlichen in Abhängigkeit von ihrer geschlechtlichen 15 Wahrnehmung auch unterschiedliche Erfahrungen mit sexualisiertem An- 16 gesprochenwerden, gegebenenfalls aufgrund von eigenen Normierungs- 17 und Diskriminierungserfahrungen, haben.5 Jene Jugendlichen, die sich als 18 »eher typischer Junge«/»eher typisches Mädchen« sowie als »zwischen 19 ›typischer Junge‹ und ›typischem Mädchen‹« positionierten, zeigten 20 eine größere Sensibilität in der Einschätzung dieser Situationen. Diskri- 21 minierung- und Hate-Speech-Erfahrungen sind, so zeigt zum Beispiel die 22 2013 publizierte Studie »Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen 23 und Transgender-Personen in der Europäischen Union« der Agentur der 24 Europäischen Union für Grundrechte (FRA, 2013), unter LGBTIQ*- 25 Jugendlichen häufig anzutreffen.6 Hingegen scheinen innerhalb der Ge- 26 schlechterposition »typisches Mädchen / typischer Junge« diese Formen 27 von grenzüberschreitenden Sexismen eher zum (unthematisierten und un- 28 reflektierten) Alltag der Jungen dazuzugehören: Insbesondere für sich als 29 »typischer Junge« Positionierende könnte dies selbstverständlicher Teil 30 von Männlichkeitskonstruktionen sein, werden doch diese Variablen von 31 den Jungen nicht als sexualisierte Gewalt verstanden und reflektiert (vgl. 32 hierzu Stiftung Männergesundheit, 2017; weiterführend: Tuider, 2017). 33 34 5 In der Studie »Jugendsexualität« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 35 von 2015 zeigt sich, dass männliche Jugendliche insgesamt deutlich weniger von sexu- 36 alisierten Gewaltwiderfahrnissen berichten als jugendliche Mädchen (4 % zu 21 %). 37 6 LGBTIQ* steht für »Lesbisch Schwul Bi Trans* Inter* Queer« bzw. im Englischen entspre- 38 chend für »Lesbian Gay Bisexual Trans Intersex Queer«.

210 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität

# 1 H28I01+2#IC28#5B/#J2K:BLM281BL+26# !"# +,-./012/#3450126#7# B652828#M28C82.+26" &$# +,-./0128#9:6;2# 2 # %(# 3 # /2K:2LL2#J-8I012#IC28#526#NO8-28# 2128#+,-./012/#3450126#7# 4 $%# 2.628P/#9:;265L.0126#>B0126# 2128#+,-./0128#9:6;2# 5 # %'# # $)# 6 ;2>2.6/B>#>.+#B652826#B:/#528# <=./0126#:65#926/2.+/# 9:;265;8:--2#EF86FQ#F528# "# +,-./012>#3450126#7# 7 R8FSTUL>2#/01B:26" (!# +,-./012>#9:6;26# 8 # *# # 9 .6#2.628#EB8+628/01BV#EF86FQ#F528# &# 10 R8FSTUL>2#/01B:26# $# # 11 $# # .6#2.628#EB8+628/01BV#MF6# 12 .182>P/2.628#W2/+28P6#X82:65P.6#J2K# %# 13 !# >O01+26" ?@!*%# " '# A6;BC26#;28:652+D#.6#E8FG26+# 14 " 15 !" #!" $!" %!" &!" '!!" 16 Abb. 4: Einschätzung sexualisierter Alltagshandlungen als Grenz­verletzung 17 unter Jugendlichen. Quelle: Onlinebefragung »Safer Places« (N=364, An­gaben ! 18 in Prozent) 19 20 Zugleich wird in Abbildung 4 deutlich, dass »Porno- und Erotikfilme 21 schauen«, ob mit anderen gemeinsam in einer Jugendgruppe oder in 22 einer Partnerschaft, sowie »von ihrem_seiner fester_n Freund_in Sex [zu] 23 wollen« insgesamt aus Sicht der Jugendlichen keine Indikatoren für sexu- 24 alisierte Gewalt sind. Diese Alltagssituationen wurden in den gesamten 25 ­Szenarien von den Jugendlichen am wenigsten häufig als Grenzüberschrei- 26 tung ausgewiesen. Es lässt sich daraus schließen, dass Sexualität zu haben 27 und diese auch in Filmen und Clips zu sehen zum Alltag vieler Jugendlicher 28 gehört. Damit knüpfen diese Einschätzungen der »Safer Places«-Studie 29 an die in Deutschland vorliegenden Studien zum Pornografiekonsum von 30 Jugendlichen an: Grimm et al. (2011) zeigen zum Beispiel, dass 45 % der 31 Jugendlichen im Alter von 16 und 19 Jahren mindestens einmal monat- 32 lich in Kontakt mit Pornografie kommen, wobei der Kontakt mit Porno- 33 grafie je nach Geschlecht unterschiedlich gestaltet wird: »Jungen suchen 34 Pornos eher gezielt auf, Mädchen kommen meist zufällig, beiläufig oder 35 nicht-intendiert mit ihnen in Kontakt« (Schmidt & Matthiesen, 2011). 36 Aktuellen Studien zufolge haben 90 % der männlichen und 63 % der weib- 37 lichen Jugendlichen mit 16 Jahren Erfahrungen mit Pornografie, bei den 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 211 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Elisabeth Tuider

1 14-Jährigen sind es 30 % der Mädchen und fast 70 % der Jungen (vgl. ebd.; 2 Matthiesen et al., 2011).7 3 Während der Wunsch nach Sexualität im Rahmen einer Partnerschaft 4 für die befragten Jugendlichen ebenso wenig ein Aufreger ist wie gemein- 5 sam Pornos zu schauen, wird von ihnen das Verhalten im Kontext der sozi- 6 alen Medien in hohem Maße als anfällig für sexualisierte Grenzüberschrei- 7 tungen gesehen (vgl. Abb. 5). Das heimliche Filmen unter der Dusche, 8 auf der Toilette oder in der Umkleidekabine (z. B. des Sports) stellt für 9 75 % aller befragten Jugendlichen eine Überschreitung ihrer persönlichen 10 Grenze dar. Auch das Posten von Filmen und Fotos ohne Zustimmung 11 sowie das Posten von Gerüchten und Geheimnissen im Netz stellt für fast 12 die Hälfte aller befragten Jugendlichen in der Onlinebefragung der Studie 13 »Safer Places« eine grenzüberschreitende Situation dar (48 %). Hierbei 14 zeigt sich wiederum ein Unterschied in der Einschätzung der Jugendlichen 15 je nach geschlechtlicher Selbstpositionierung. 16 Insbesondere das heimliche Filmen zum Beispiel auf der Toilette, aber 17 auch das Verbreiten von Geheimnissen und Gerüchten im Internet sowie 18 das Posten von Videos oder Fotos ohne Zustimmung wird von »zwischen 19 ›typischer Junge‹ und ›typisches Mädchen‹« positionierenden Jugend- 20 lichen am häufigsten sowie von jenen Jugendlichen, die sich als »eher 21 ­typisches Mädchen / eher typischer Junge« positionieren, durchgehend 22 häufiger als sexualisierte Grenzüberschreitung angegeben als von den­ 23 jenigen Jugendlichen, die sich an den Polen des Kontinuums (typischer 24 Junge /typisches Mädchen) verorten. 25 Die Internetwelt ist Teil des jugendlichen Alltags und des jugendlichen 26 Alltagshandelns. Und im Internet wird auch Privates einer digitalen Öf- 27 fentlichkeit zugänglich gemacht. Auch wenn zwischen digitaler und ana- 28 loger Welt im jugendlichen Alltagshandeln kein Unterschied gemacht 29 wird, so markieren die befragten Jugendlichen eine Grenze an der aus 30 dem alltäglichen doing www eine sexualisierte Grenzüberschreitung wird: 31 Diese liegt genau dort, wo Filme, Gerüchte oder Fotos im Netz ohne ihr 32 Einverständnis verbreitet werden. Im Vergleich der unterschiedlichen 33 Situationen­clusterungen (Sexualität, soziale Medien, Zustimmung zu 34 Körperberührungen) stellt der Bereich der sozialen Medien jenen Bereich 35 dar, in dem aus der Sicht der Jugendlichen die wohl größte Anfälligkeit 36 37 7 Die Definition dessen, was Pornografie ist, ist in den verschiedenen Studien unter­ 38 schiedlich.

212 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität

# 1 # !"# )*+,-./0-#123./04#5# 2 0,40G4#A43060G4#789043H,./0G4#/0,?!$# @49AB04#9068430)C#,4#D6EF04)# 15 16 !" #!" $!!" 17 Abb. 5: Einschätzung sexualisierter Alltagshandlungen im Bereich Social 18 Media als Grenzverletzung unter Jugendlichen. Quelle: Onlinebefragung ! 19 »Safer Places« (N=364, Angaben in Prozent) 20 21 für sexualisierte Grenzüberschreitungen, mithin das Einfallstor für sexuali- 22 sierte Gewalt liegt. Die Entgrenzung und Entpersonalisierung im Internet 23 könnte mit der Möglichkeit für sexualisierte Grenzüberschreitungen kor- 24 relieren. Doch bedeutet dies nicht, dass digital natives per se verwahrlost, 25 verroht oder verantwortungslos sind. Ganz im Gegenteil: Die Ergebnisse 26 der »Safer Places«-Studie machen deutlich, dass Jugendliche eine differen- 27 zierte Sicht auf sexualisierte Grenzüberschreitung gerade in den sozialen 28 Medien haben. 29 Auch bei Einschätzungen von Situationen in Jugendgruppen wie Ku- 30 scheln, Berührungen oder Küssen, die explizit ohne Zustimmung erfolgen 31 (vgl. Abb. 6), bleibt diese Tendenz erhalten: Die sich selbst als »typische 32 Jungen / typische Mädchen« positionierenden Jugendlichen gaben deut- 33 lich seltener als die Jugendlichen, die sich als »eher typischer Junge / eher 34 typisches Mädchen« positionierten, an, dass »mit einer_m anderen Ju- 35 gendlichen ohne deren/dessen Zustimmung zu kuscheln« und »eine_n 36 andere_n Jugendliche_n ohne deren/dessen Zustimmung (z. B. am Po, am 37 Oberschenkel, der Brust) zu berühren«, eine Überschreitung der persön- 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 213 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Elisabeth Tuider

1 lichen Grenze ist. Auch »eine_n andere_n Jugendliche_n ohne deren/ 2 dessen Zustimmung auf den Mund küssen« sowie »eine_n andere_n 3 Jugendliche_n beim Sport z. B. am Po, am Oberschenkel, an der Brust 4 berühren, ohne dass es nötig ist«, sehen aus der Gruppe der sich selbst als 5 »typisches Mädchen / typischer Junge« verortenden Jugendlichen weni- 6 gere als eine Verletzung der persönlichen Grenze. 7 8 # !"# 9 2.62H6#B65282H6#9:;265I.012H6#F162#52826J ((# +,-./012/#3450126#7# 52//26#<:/K>>:6;#B:L#526#3:65#MN//26#" )%# +,-./0128#9:6;2# 10 # 11 2.62H6#B652826#9:;265I.012H6#F162#52826J !"# 2128#+,-./012/#3450126#7# 12 52//26#<:/K>>:6;#C28N1826#OGPQP#B>#EFD#B># ()# RC28/0126M2ID#528#Q8:/+S#" (&# 2128#+,-./0128#9:6;2# 13 # 14 >.+#2.628H>#B652826#9:;265I.0126#F162# !$# 52826J52//26#<:/K>>:6;#M:/012I6## )(# <=./0126#:65#926/2.+/# 15 # $*# +,-./012>#3450126#7# # +,-./012>#9:6;26# 16 2.62H6#B65282H6#9:;265I.012H6#C2.>#T-F8+#GPQP# $%# B>#EFD#B>#RC28/0126M2ID#B6#528#Q8:/+# 17 )'# C28N1826D#F162#5B//#2/#6UK;#./+## $%# 18 # 19 26+=2528#3450126#;2>2.6/B>#F528#9:6;26# ;2>2.6/B>D#.6#2.628#TB>>2I5:/012#6B01#52># &'# 20 T-F8V8B.6.6;#5:/0126## &'# %# 21 # /.01#L82.=.II.;#WF8#2.628H>#B652826# 22 9:;265I.0126#+2.I=2./2#F528#;B6G#B:/G.2126# %# "# 23 " ?@$(!# *# A6;BC26#;28:652+D#.6#E8FG26+# 24 25 !" #!" $!!" Abb. 6: Einschätzung sexualisierter Alltagssituationen im Bereich Körper­ 26 ! 27 kontakt als Grenzverletzung unter Jugendlichen. Quelle: Onlinebefragung 28 »Safer Places« (N=364, Angaben in Prozent) 29 30 Für Jugendliche, die sich als »eher typischer Junge / typisches Mädchen« 31 verorteten, sind insbesondere Berührungen ohne Zustimmung am Po, den 32 Oberschenkeln oder der Brust (zu 65 %) sowie ohne Zustimmung auf den 33 Mund geküsst zu werden (zu 66 %) eine sexualisierte Grenzüberschreitung. 34 Diese Situationen weisen deutlicher als die oben dargestellten einen di- 35 rekten Körperbezug auf. Diese verkörperlichten Handlungen erfordern 36 aus Sicht der Jugendlichen das Einverständnis. Ohne die Zustimmung zu 37 diesen Handlungen werden sie von ihnen als grenzüberschreitend ange- 38 sehen – und dies durchgehend häufiger von jenen Jugendlichen, die sich

214 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität weiter weg von »typischer Junge«/»typisches Mädchen« positionierten. 1 Die Jugendlichen, die sich »zwischen den Polen typischer Junge / typisches 2 Mädchen« verorteten, zeigen hier hingegen ambivalente Einschätzungen: 3 Sie weisen zum Teil ähnliche Werte auf wie jene Jugendlichen, die sich als 4 eher typisches Mädchen / eher typischer Junge positionieren. Ihre Einschät- 5 zung einer verkörperlichten Situation als sexualisierte Grenzüberschreitung 6 kann aber auch von jenen Jugendlichen, die sich als eher typischer Junge / 7 eher typisches Mädchen verorten differieren, so zum Beispiel wenn es um 8 die Sichtweise auf nicht-notwendige Berührungen beim Sport und dem 9 Duschen in einer Sammeldusche nach dem Sport geht. Jene Alltagssitua- 10 tionen werden von den Jugendlichen jenseits des Geschlechterkontinuums 11 und zwischen den typischen Geschlechterpolen am wenigsten häufig als 12 Überschreitung einer persönlichen Grenze ausgemacht. 13 14 15 Fazit 16 17 Folgen wir den Ergebnissen der Verbundforschung im BMBF-geförderten 18 Projekt »Safer Places«, so lässt sich daraus schließen, dass die Präsenz und 19 Nutzung digitaler Medien in der Lebenswelt von Jugendlichen in der Form 20 Eingang gefunden hat, dass es zu einer Synchronisierung der digitalen und 21 analogen Lebenswelt gekommen ist. Entgegen der populistisch geführten 22 Debatte zu sexualisierter Gewalt mit Medieneinsatz und der unterstellten 23 Verantwortungslosigkeit der digital natives haben die befragten Jugendli- 24 chen einen differenzierten Blick auf Grenzüberschreitungen und sexuali- 25 sierte Gewalt deutlich gemacht. Nicht die Themen an sich, wie zum Beispiel 26 Pornografie oder Sexualität, sondern der Faktor der Einvernehmlichkeit 27 machen aus Sicht der Jugendlichen die Grenzüberschreitung aus. Sexuali- 28 sierte Gewalt fängt also dort an, wo einem Handeln nicht zugestimmt wird 29 – sei dies in der analogen oder in der digitalen Welt. 30 Darüber hinaus wurde deutlich, dass ein geschlechtervielfältiges em- 31 pirisches Vorgehen interessante Erkenntnisse für sozialwissenschaftliche 32 Analysen bereithält: Anstelle einer stereotypisierenden Sicht auf Täter-/ 33 Opfer-Zuschreibungen entlang von Geschlecht zeigt sich vielmehr, 1) dass 34 die geschlechtlichen Selbstpositionierungen von Jugendlichen Einfluss auf 35 ihre Sichtweisen und Einschätzungen von sexualisierter Gewalt, mithin 36 auch auf ihre Wahrnehmungen von sexueller Normalität und Norm, haben 37 und 2) dass insbesondere jene Jugendlichen, die sich nicht ganz in den 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 215 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Elisabeth Tuider

1 Geschlechterkategorien »typischer Junge«/»typisches Mädchen« aufge- 2 hoben fühlen, einen sensiblen Blick auf Gewalt in Alltagssituationen haben. 3 Auf Basis der Konzipierung von Gender in der quantitativen Online- 4 befragung wurden auch die Möglichkeiten eruiert, die sich im Rahmen 5 quantitativer Jugendforschung zur Erhebung vielfältiger geschlechtlicher 6 und sexueller Positionierungen auftun. Es zeigte sich: Eine intersektional 7 und post-essenzialistisch gedachte Vielfalt fordert empirische Sozial- und 8 Jugendforschung heraus. Gelang es in der Konzipierung von Geschlecht die 9 weitläufige binäre und binarisierende Geschlechterfrage auszuhebeln und 10 ein anti-kategoriales Verständnis von Geschlecht in einen Onlinefrage­ 11 bogen zu überführen, so waren der Analyse insofern Grenzen gesetzt, 12 als darin erneut Kategorien gebildet und diese benannt werden mussten. 13 ­Geschlecht wurde jedoch weder vorab gesetzt noch im Sinne starrer Ka- 14 tegorien verstanden. Die methodologischen Überlegungen zu Dekon­ 15 struktion und anti-kategorialer Intersektionalität müssen also nicht in 16 ein Dilemma für ein quantitatives Forschungsdesign münden, sondern 17 sie können vielmehr als (dekonstruktivistische) Anregung verstanden 18 werden, ein plurales, fluides und post-essenzialistisches Verständnis von 19 Geschlecht einzuholen. 20 21 22 23 Literatur 24 Allroggen, M., Spröber, N., Rau, T. & Fegert, J. M. (2011). Sexuelle Gewalt an Kindern und 25 Jugendlichen. Ursachen und Folgen. Eine Expertise der Klinik für Kinder- und Jugend- 26 psychiatrie/Psychotherapie. 2. erw. Aufl. Ulm: Universitätsklinikum Ulm. 27 Bergmann, Christine (2011). Abschlussbericht der Unabhängigen Beauftragten zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs. https://www.fonds-missbrauch. 28 de/fileadmin/content/Abschlussbericht-der-Unabhaengigen-Beauftragten-zur- 29 Aufarbeitung-des-sexuellen-Kindesmissbrauchs.pdf (20.04.2018). 30 Brandt, E. & Fuchs, K. (2017). Legt doch mal das Ding weg! – Vom Versuch unsere Digital 31 Natives zu einem verantwortungsvollen Umgang mit Smartphone & Co. zu erziehen. München: GU Verlag. 32 Busche, M., Domann, S., Krollpfeiffer, D., Norys, T. & Rusack, T. (2016). Perspektiven auf 33 sexualisierte Gewalt im Kontext der Jugend(verbands)arbeit und des Jugend- 34 sports – Aspekte geschlechtlicher und sexueller Vielfalt. In C. Mahs, B. Rendtorff & 35 T. Rieske (Hrsg.), Erziehung – Gewalt – Sexualität. Zum Verhältnis von Geschlecht und Gewalt in Erziehung und Bildung (S. 147–170). Opladen: Barbara Budrich. 36 BZgA (2015). Jugendsexualität 2015. https://www.forschung.sexualaufklaerung.de/ 37 fileadmin/fileadmin-forschung/pdf/Jugendendbericht%2001022016%20.pdf 38 (20.04.2018).

216 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Digital Natives und ihre Sichtweisen auf Gewalt und Sexualität

Çetin, Z. (2012). Homophobie und Islamophobie. Intersektionale Diskriminierungen am 1 Beispiel binantionaler schwuler Paare in Berlin. Bielefeld: Transkript. 2 DJI (Hrsg.). (2011). Sexuelle Gewalt gegen Mädchen und Jungen in Institutionen. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs/DJIAbschlussbericht_Sexuelle_ 3 Gewalt.pdf (20.04.2018). 4 DJI (Hrsg.). (2016). Coming-Out – und dann …?! Ein DJI-Forschungsprojekt zur Lebens- 5 situation von lesbischen, schwulen, bisexuellen und trans* Jugendlichen und 6 jungen Erwachsenen. https://www.dji.de/fileadmin/user_upload/bibs2015/DJI_ Broschuere_ComingOut.pdf (20.04.2018). 7 Domann, S. & Rusack, T. (2016). »Fast alle sind dann immer gut gelaunt und lachen, 8 erzählen Witze« – Die pädagogische Beziehung zwischen Jugendlichen und Mit- 9 arbeitenden in der Jugendarbeit. Sozialmagazin, Sexualisierte Gewalt und Jugend- 10 arbeit, 41(7/8), 29–36. Dörr, M. (2018). Nähe-Distanzverhältnisse und sexualisierte Gewalt. In A. Retkowski, 11 A. Treibel & E. Tuider (2018). (Hrsg.). Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädago- 12 gische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis (S. 178–186). Weinheim: Beltz Juventa. 13 Fegert, J. M. & Wolff, M. (Hrsg.). (2015). Kompendium »Sexueller Missbrauch in Institu- 14 tionen«. Entstehungsbedingungen, Prävention und Intervention. Weinheim: Beltz 15 Juventa. Finkelhor, D. (1984). Child Sexual Abuse: New Theory and Research. New York: Free Press. 16 FRA (2013). Erhebung unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender-Personen 17 in der Europäischen Union. https://fra.europa.eu/de/publication/2014/lgbt-erhe- 18 bung-der-eu-erhebung-unter-lesben-schwulen-bisexuellen-und-transgender 19 (20.04.2018). Grimm, P., Rhein, S. & Müller, M. (2011). Porno im Web 2.0. Die Bedeutung sexualisierter 20 Web-Inhalte in der Lebenswelt von Jugendlichen. Berlin: Vistas. 21 Helfferich, C., Kavemann, B. & Kindler, H. (Hrsg.). (2016). Forschungsmanual Gewalt. 22 Grundlagen der empirischen Erhebung von Gewalt in Paarbeziehungen und sexuali- 23 sierter Gewalt. Wiesbaden: Springer. Jäger, R., Fischer, U. & Riebel, J. (2007). Mobbing bei Schülerinnen und Schülern der Bun- 24 desrepublik Deutschland. Eine empirische Untersuchung auf der Grundlage einer 25 Onlinebefragung. Zentrum für empirische pädagogische Forschung: Universität 26 Koblenz-Landau. 27 LesMigras (2010). Gewalt- und Mehrfachdiskriminierungserfahrungen von lb_Ft*. Zusammenfassung der Ergebnisse. www.lesmigras.de/tl_files/lesmigras/kampagne/ 28 Studie_Zusammenfassung_LesMigras.pdf (20.04.2018). 29 Lutz, H., Herrera Vivar, M. T. & Supik, L. (Hrsg.). (2010). Fokus Intersektionalität: Bewegun- 30 gen und Verortungen eines vielschichtigen Konzeptes. Wiesbaden: VS Verlag für 31 Sozialwissenschaften. Matthiesen, S., Martyniuk, U. & Dekker, A. (2011). What do girls do with porn? Ergeb- 32 nisse einer Interviewstudie, Teil 1. Zeitschrift für Sexualforschung, 24(4), 326–352. 33 McCall, L. (2005) The Complexity of Intersectionality. Signs. Journal of Women in Cul- 34 ture and Society, 30(3), 1771–1800. http://www.journals.uchicago.edu/cgi-bin/ 35 resolve?id=doi:10.1086/426800 (20.04.2018). Prensky, M. (2001). Digital Natives, Digital Immigrants. http://www.marcprensky.com/ 36 writing/Prensky%20-%20Digital%20Natives,%20Digital%20Immigrants%20-%20 37 Part1.pdf (20.04.2018). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 217 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Elisabeth Tuider

1 Retkowski, A., Treibel, A. & Tuider, E. (2018). (Hrsg.). Handbuch Sexualisierte Gewalt und 2 pädagogische Kontexte. Theorie, Forschung, Praxis. Weinheim: Beltz Juventa. Rusack, T. (2018). Peer Violence. In A. Retkowski, A. Treibel & E. Tuider (Hrsg.), Handbuch 3 Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte (S. 315–324). Weinheim: Beltz 4 Juventa. 5 Schmidt, G. & Matthiesen, S. (2011). What do boys do with porn? Ergebnisse einer Inter- 6 viewstudie, Teil 2. Zeitschrift für Sexualforschung, 24(4), 353–378. Schröer, W. & Wolff, M. (2016). Schutzkonzepte in der Jugendarbeit. Sozialmagazin. 7 Sexualisierte Gewalt und Jugendarbeit, 41(7/8), 84–89. 8 Stecklina, G. (2005). Jungen und Sexualität. Pubertät, Aneignung von Sexualität und 9 sexuelle Gewalt. In H. Funk & K. Lenz (Hrsg.), Sexualitäten: Diskurse und Handlungs- 10 felder im Wandel (S. 195–212). Weinheim und München: Juventa. Stiftung Männergesundheit Berlin/Institut für Angewandte Sexualwissenschaft der 11 Hochschule Merseburg (Hrsg.). (2017). Sexualität des Mannes. 3. Männergesund- 12 heitsbericht. Gießen: Psychosozial-Verlag. 13 Te Wildt, B. (2015). Digital Junkies. München: Droemer. 14 Tuider, E. (2015). Dem Abwesenden, den Löchern und Rissen empirisch nachgehen. 15 Vorschlag zu einer dekonstruktivistisch diskursanalytischen Intersektionalitäts- analyse. In M. Bereswill, F. Degenring & S. Stange (Hrsg.), Intersektionalität und 16 Forschungspraxis: Wechselseitige Herausforderungen (S. 172–191). Münster: West- 17 fälisches Dampfboot. 18 Tuider, E. (2017). Sichtweisen auf sexualisierte Gewalt und sexualisierte Grenzüber- 19 schreitungen unter Jugendlichen. In Stiftung Männergesundheit Berlin/Institut für Angewandte Sexualwissenschaft der Hochschule Merseburg (Hrsg.), Sexua- 20 lität des Mannes. 3. Männergesundheitsbericht (S. 361–374). Gießen: Psychosozial- 21 Verlag. 22 Vobbe, F. (2018). Cyberspace und sexualisierte Gewalt. In A. Retkowski, A. Treibel & 23 E. Tuider (Hrsg.), Handbuch Sexualisierte Gewalt und pädagogische Kontexte (S. 306–314). Weinheim: Beltz Juventa. 24 Wolff, M. & Norys, T. (2016). Perspektiven von Erwachsenen auf den sicheren Ort der 25 Jugendarbeit. Sozialmagazin. Sexualisierte Gewalt und Jugendarbeit, 41(7/8), 26 37–43. 27 28 Die Autorin 29 30 Elisabeth Tuider, Dr. phil. habil., seit 2011 Professur Soziologie der Diversität unter besonderer Berücksichtigung der Dimension Gender am Fachbereich Gesellschafts­ 31 wissenschaften der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Gender Studies und Queer 32 Studies, Migrationsforschung, Rassismusanalyse, Culture und Postcolonial Studies, 33 Sexualwissenschaft, qualitative Methoden (insbesondere Diskurs- und Biografie­ 34 forschung), Jugendforschung, Lateinamerikaforschung. Derzeit Erste Vorsitzende der 35 Fachgesellschaft Geschlechterstudien. Aktuelles Forschungsprojekt: »Schutzkonzepte in der ­Kinder- und Jugendarbeit. Normalitätskonstruktionen von Gewalt und Sexualität 36 unter Jugendlichen« (BMBF-gefördertes Verbundprojekt der Hochschulen Kiel, Hildes- 37 heim, Landshut und Kassel). 38

218 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb 3: Chancen – Selbstbestimmung in Film, Fernsehen und Neuen Medien

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute 1 2 Zwischen Offline- und Online-Welten1 3 4 Nicola Döring 5 6 7 8 9 10 11 Einleitung 12 13 Die Lebenswelten der Jugendlichen in Deutschland sind heutzutage 14 gleichzeitig Medienwelten (vgl. Renner, 2016; mpfs, 2018). Wie ist es 15 unter diesen Bedingungen um die Sexualität der ­Jugendlichen bestellt? 16 Relativ weit verbreitet ist die Sorge, dass eine neue »Generation Porno« 17 (Gernert, 2010) heranwächst, die durch den frühzeitigen, unkon­trol­lierten 18 Zugang zu Online-Pornografie völlig falsche Vorstellungen von Sexualität 19 ent ­wickelt. Eine Generation, die Porno-Vorbilder dann auch unkritisch 20 nachahmt, immer früher Sex praktiziert, sich auf eigenen Fotos und Videos 21 zunehmend selbst sexualisiert darstellt (etwa beim sogenannten Sexting). 22 Eine Generation, die zudem verstärkt Miss­brauchs­tätern ausgeliefert ist, die 23 sich in virtuellen Räumen wie Onlineforen, Chats oder Games Minder­ 24 jährige als Opfer suchen, ihr Vertrauen gewinnen und sich ihnen im 25 Schutz medialer Distanz und Anonymität mit sexuellen Motiven nähern 26 (sog. Cyber-Grooming; Mathiesen, 2014). 27 Eine wachsende Zahl von wissenschaftlichen Studien befasst sich mit 28 derartigen sexualbezogenen Risiken des Internets. Auch politisch stehen 29 sie auf der Agenda. Die Empfehlung für die Praxis lautet dabei überwie- 30 gend, man müsse die Minderjährigen, aber auch die Eltern, viel besser über 31 die ­sexuellen Online-Gefahren aufklären und Jugendliche von riskanten 32 33 34 1 Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen aktualisierten und erweiterten Wieder­abdruck mit Genehmigung des Beltz-Verlages von: Döring, N. (2016). Jugend­ 35 sexu ­alität heute: Zwischen Offline- und Online-Welten. In M. Syring, T. Bohl & R. Trep- 36 tow (Hrsg.), YOLO – Jugendliche und ihre Lebenswelten verstehen. Zugänge für die päda- 37 gogische Praxis (S. 220-237). Weinheim und Basel: Beltz. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 221 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Nicola Döring

1 Online- ­Verhaltensweisen abbringen. Zudem werden Anpassungen des 2 Strafrechts im Sinne einer stärkeren Berücksichtigung von Cyberkrimina- 3 lität sowie die Verantwortung der Plattform-Betreiber für eine Moderation 4 und Kontrolle ihrer Inhalte diskutiert. 5 Diese problemfokussierte Betrachtungsweise ist jedoch zu einseitig 6 und teilweise geradezu irreführend und schädlich – so etwa, wenn der 7 Eindruck vermittelt wird, es sei für Mädchen extrem gefährlich, online 8 öffentlich sichtbar zu sein, da sie damit Missbrauchstäter anlocken könn- 9 ten (Döring, 2015a). Nicht nur wird mit einer solchen Argumentation 10 den potenziellen Opfern selbst die Schuld an ihrer Viktimisierung zuge- 11 schrieben (victim blaming) und die Internet-Öffentlichkeit als männlich 12 dominierter Raum festgeschrieben; auch wird die Realität von sexuellem 13 Missbrauch negiert, der nicht primär durch anonyme Online-Täter began- 14 gen wird, sondern tagtäglich vor allem im sozialen Nahraum stattfindet. 15 Soziale Probleme wie sexualisierte Gewalt einseitig auf das Internet und 16 auf anonyme Online-Täter zu projizieren, anstatt die realen Tätergruppen 17 und Tatsituationen anzuzielen, verhindert eine wirksame Prävention und 18 Intervention. 19 Nachteilig ist es ebenso, wenn neben den oft hervorgehobenen Risiken 20 nicht auch die bestehenden Chancen des Internets für die sexuelle Entwick- 21 lung Jugendlicher erkundet und gefördert werden. Denn in Offline-Welten 22 vielfach für Jugendliche noch bestehende sexuelle Probleme und Heraus- 23 forderungen können mithilfe von Online-Ressourcen teilweise sehr kon­ 24 struktiv bearbeitet werden. Dies gilt insbesondere auch für Jugendliche, die 25 sexuellen Minoritäten angehören. 26 Der vorliegende Beitrag berichtet zunächst Eckdaten zur Jugend­ 27 sexualität und zeigt auf, dass die heutigen Jugendlichen in Deutschland 28 keineswegs als eine sexuell verwahrloste »Generation Porno« zu be- 29 schreiben sind. Daraufhin werden kursorisch die verschiedenen sexu- 30 ellen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters aufgezeigt, mit denen sich 31 Teenager aller Geschlechter in Offline- wie Online-Welten auseinander- 32 setzen müssen. Schließlich geht der Beitrag auf die wichtigsten sexuellen 33 Online-Aktivitäten der Jugendlichen ein und diskutiert deren Risiken, 34 aber auch deren Chancen für das sexuelle Erwachsenwerden. Handlungs­ 35 empfehlungen für die Praxis und ein Fazit für die Forschung runden den 36 Beitrag ab. 37 38

222 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute

Eckdaten zur Jugendsexualität in Deutschland 1 2 »Sie sehen Pornos mit 12, haben Sex mit 13, sind schwanger mit 14« 3 (Süddeutsche Zeitung Magazin, 27.08.2009) oder »Das erste Mal mit 11, 4 Gruppensex mit 14, selbstgedrehte Pornos mit 16: Immer mehr Jugend­ 5 liche betreiben Sex als Leistungsschau« (Stern-TV, 17.09.2008). Ist an sol- 6 chen plakativen Charakterisierungen einer angeblich sexuell verwahrlosten 7 »Generation Porno« etwas dran? Haben Jugendliche (oder gar schon 8 Kinder) – unter dem irreführenden Einfluss der für sie allgegenwärtigen 9 Internet-Pornografie – immer früher, immer bindungsloser, immer verant- 10 wortungsloser Sex? 11 Bevölkerungsrepräsentative Daten zur Jugendsexualität in Deutsch- 12 land liefert die seit 1980 alle fünf Jahre durchgeführte Studie »Jugend- 13 sexualität« der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA). 14 Die aktuelle achte Studie (BZgA, 2015) widerlegt die Befürchtung, dass 15 Jugendliche heute immer früher Sex haben: Bis zum Alter von 17 Jahren 16 hat die Mehrzahl der Jugendlichen noch keinen Geschlechtsverkehr. Wenn 17 Mädchen und Jungen zum ersten Mal Sex haben, dann überwiegend im 18 Rahmen einer festen Beziehung oder Freundschaft, selten mit flüchtigen 19 Bekannten oder Unbekannten. Die Zahl der Sexualpartner von Jugendli- 20 chen ist gering: Sie beschränkt sich mehrheitlich auf eine oder zwei Per- 21 sonen. Verhütet wird sehr sorgfältig: Über 90 Prozent der Jugendlichen 22 nutzen bereits beim ersten Geschlechtsverkehr Verhütungsmittel. Mäd- 23 chen mit Migrationshintergrund werden seltener sexuell aktiv als ihre 24 Altersgenossinnen deutscher Herkunft, denn für sie stellt Sex vor der Ehe 25 teilweise noch ein Tabu dar, und sie unterliegen häufig besonders strenger 26 sozialer Kontrolle durch die Familie; bei Jungen besteht dieser Unterschied 27 nicht (ebd.). 28 Sexual- und Verhütungsaufklärung erhalten Jugendliche im Elternhaus 29 (v. a. durch die Mutter), in der Schule, durch Peers und teilweise durch Ärzte 30 (v. a. die Mädchen). Aber auch Medien – etwa Jugendzeitschriften, Bücher, 31 Broschüren und das Internet – spielen in der Sexualaufklärung eine wich- 32 tige Rolle (Döring, 2015b). Tendenziell fühlen sich die Jugendlichen in 33 Deutschland recht gut über biologische Fakten und Verhütung aufgeklärt. 34 Informationsdefizite nennen vor allem Jugendliche mit Migrationshinter- 35 grund sowie solche mit geringerer formaler Bildung; sie können sexuelle 36 Fragen seltener in der Familie thematisieren (BZgA, 2010). Auch Jugend- 37 liche, deren sexuelle Identitäten und/oder Lebenslagen vom ­Mainstream 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 223 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Nicola Döring

1 abweichen (z. B. homosexuelle Jugendliche, Jugendliche mit unterschied­ 2 lichen Behinderungen), erhalten in Elternhaus und Schule vermutlich 3 ­seltener die für ihre spezifischen Anliegen passende Sexualaufklärung. 4 Im Gesamtbild und im Trend der letzten Jahre zeigt sich laut BZgA-­ 5 Studien in Deutschland eine Jugendsexualität, die als bindungsorientiert 6 und verantwortungsvoll zu kennzeichnen ist. Viele Jugendliche sind über 7 sexuelle Fakten durch Elternhaus, Schule und Medien gut aufgeklärt, 8 können sich problemlos Verhütungsmittel beschaffen, warten mit dem 9 »ersten Mal« auf den oder die »Richtige/n« und dürfen ihren festen 10 Freund, ihre feste Freundin dann auch offiziell zu Hause bei sich über- 11 nachten lassen. Erfahrungen mit Partnersexualität werden somit heute in 12 Deutschland bewusster, geplanter und auch sicherer gesammelt als in frü- 13 heren Jahrzehnten. Demgegenüber führen Verbote und Heimlichkeiten, 14 wie sie zum Beispiel in den USA üblich sind, wo Jugendlichen in Eltern- 15 haus und Schule mehrheitlich sexuelle Abstinenz bis zur Ehe nahegelegt 16 wird, viel häufiger zu ungeschütztem Sex. So werden beispielsweise in den 17 USA von 1.000 Mädchen im Alter zwischen 15 und17 Jahren rund 36 18 schwanger (Curtin et al., 2013), in Deutschland dagegen weniger als acht 19 (Block & Matthiesen, 2007). 20 Drastische Fälle aus sozialen Brennpunkten – »Eltern schauen mit 21 ihren Kindern Hardcore-Filme. 14-Jährige treffen sich zum Gruppensex« 22 (Wüllen ­weber, 2007; Siggelkow & Büscher, 2008) – sind alarmierend und 23 Ausdruck diverser Problemlagen. Allerdings sind sie nicht repräsentativ für 24 die heutige Jugend und belegen auch keinen allgemeinen Trend zu einer 25 angeblichen sexuellen Verwahrlosung (Schetsche & Schmidt, 2010; Mat­ 26 thiesen et al., 2013). 27 Abschließend sei noch darauf hingewiesen, dass in öffentlichen und 28 wissenschaftlichen Debatten über Jugendsexualität die zugrunde gelegten 29 Konzepte von »Sexualität« und »Jugend« hinterfragt werden müssen: 30 Was wird in Debatten über Jugendsexualität unter »Sexualität« ver­ 31 standen? Meist steht die (v. a. heterosexuelle) Partnersexualität mit ihren Ri- 32 siken (sexuell übertragbare Infektionen, ungeplante Schwangerschaften) im 33 Fokus. Solosexualität wird seltener mitgedacht. Dabei ist rein quantitativ die 34 Solosexualität die typische sexuelle Aktivitätsform des Jugendalters. Wenn 35 Jugendliche im Alter von 16 oder 17 Jahren ihren ersten Geschlechtsverkehr 36 erleben, liegen üblicherweise bereits mehrere Jahre Masturbationserfahrung 37 inklusive Orgasmen hinter ihnen. Dies gilt insbesondere für die Jungen, die 38 fast alle mehr oder minder regelmäßig masturbieren (97 ­Prozent), während

224 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute ein deutlich kleinerer Teil der Mädchen (43 Prozent) sich nach eigenen 1 Angaben selbst befriedigt (Aude & Matthiesen, 2012). Diese Geschlechter- 2 kluft im Masturbationsverhalten, die sich auch im Erwachsenenalter zeigt, 3 hat vermutlich teils anatomisch-biologische, teils psychosoziale und teils 4 kulturelle Ursachen. Während in Medizin und Pädagogik im 18., 19. und 5 beginnenden 20. Jahrhundert jugendliche Onanie als gesundheitsschädlich 6 eingestuft und vehement bekämpft wurde, gilt Solosexualität heute offiziell 7 als normaler und gesunder Bestandteil der (Jugend-)Sexualität. Besorgnis 8 erregen heute bei Eltern und pädagogischen Fachkräften nicht mehr die 9 körperlichen Vorgänge bei der Selbstbefriedigung, sondern eher die Inhalte 10 der medialen Masturbationsvorlagen, insbesondere der Online-Pornografie. 11 Unabhängig davon, ob die Solo- oder die Partnersexualität der Jugendli- 12 chen verhandelt wird, ist weiterhin zu beachten, dass es hier nicht um das 13 Ausleben eines rein biologischen »Sexualtriebs« geht, sondern dass sexu- 14 elles Erleben und Verhalten nach heutigem Verständnis immer in einem 15 bio-psycho-sozialen Gesamtmodell zu verstehen ist. So haben zum Beispiel 16 Persönlichkeitseigenschaften (z. B. Aggressivität, Empathie) und kulturell 17 geprägte soziale Geschlechterrollen starken Einfluss auf die Gestaltung von 18 (Jugend-)Sexualität. 19 Was wird in Debatten über Jugendsexualität unter »Jugend« ver­standen? 20 Nach deutschem Recht erfolgt der Übergang von der Kindheit zum Jugend- 21 alter genau am 14. Geburtstag (damit verbunden sind z. B. Strafm­ ündigkeit 22 und sexuelle Mündigkeit). Aus biologischer Sicht wird das Ende der Kind- 23 heit dagegen durch die Geschlechtsreife markiert, das heißt durch die erste 24 Menstruation beim Mädchen und den ersten Samenerguss beim Jungen. 25 Sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen in Deutschland beginnt die 26 Pubertät mit ihren verschiedenen Entwicklungsstufen (z. B. Größen- 27 wachstum, Schambehaarung, Entwicklung der pri­mären und sekundären 28 Geschlechtsorgane) etwa im Alter von zehn Jahren, wobei die Mädchen 29 heute im Schnitt mit knapp 13 Jahren geschlechtsreif werden, die Jungen 30 im Mittel mit 14 Jahren (Kahl & Schaffrath-­Rosario, 2007). Gegenüber 31 früheren Jahrhunderten sowie gegenüber Entwicklungsl­ändern zeichnet 32 sich in den Wohlstandsgesellschaften eine Entwicklungsbeschleunigung 33 (säkulare Akzeleration) ab, die auf die reichhaltige (v. a. eiweißreiche) Er- 34 nährung zurückgeführt wird. Seit den 1970er und 1980er Jahren hat sich 35 in Deutschland das Alter der Geschlechtsreife allerdings nicht generell 36 weiter vorverlegt; allenfalls unter bestimmten Bedingungen (z. B. Adipo- 37 sitas) setzt die Geschlechtsreife früher ein (ebd.). Zu beachten sind jedoch 38

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1 die starken interindividuellen Unterschiede in der körperlichen Reifung 2 wie auch in der psychosozialen Entwicklung rund um das Jugendalter: 3 Das Spektrum reicht von körperlich voll entwickelten, geschlechtsreifen 4 ­13-jährigen »Kindern« mit zuweilen ausgeprägten sexuellen Interessen 5 bis zu 19-jährigen volljährigen »Erwachsenen«, die körperlich noch in der 6 Pubertät (z. B. im Stimmbruch) sind und/oder sich noch gar nicht bereit 7 für Partnersexualität fühlen. Ob sexuelle Erfahrungen bei Jugendlichen 8 zum »richtigen« Zeitpunkt oder »zu früh« bzw. »zu spät« erfolgen, 9 lässt sich also kaum pauschal am kalendarischen Lebensa­ lter festmachen, 10 sondern hängt von weiteren Faktoren ab. 11 12 13 Sexuelle Entwicklungsaufgaben des Jugendalters 14 15 Erste sexuelle Kontakte und Beziehungen aufzunehmen und gelingend 16 gestalten zu können, gilt als zentrale Entwicklungsaufgabe des Jugendalters 17 (Havighurst, 1972 [1948]). Diese zerfällt bei näherer Betrachtung in di- 18 verse Teilaufgaben, die von der herkömmlichen Sexualaufklärung in Eltern- 19 haus und Schule nur partiell behandelt werden: 20 ➣➣ sexuelle Attraktivität und Körperbild: Jugendliche stehen vor der 21 Herausforderung, ein positives Bild ihres geschlechtsreifen Körpers 22 zu entwickeln und sich mit körperbezogenen sexuellen Attraktivitäts­ 23 normen in ihren Peergroups (Figur, Kleidung, Styling, Rasur etc.) 24 auseinanderzusetzen. Entsprechende Aushandlungen erfolgen zum 25 Beispiel offline auf dem Schulhof und im Jugendhaus ebenso wie 26 online auf Social-Networking-, Foto-, und Video-Plattformen 27 (z. B. anhand von Selfies und Styling-Tutorials). 28 ➣➣ sexuelles Begehren: Im Erleben der Jugendlichen nehmen sexuell ex- 29 plizite Gedanken und Fantasien einen zunehmend großen Raum ein. 30 Sie stehen vor der Herausforderung, diese mehr oder minder realitäts- 31 bezogenen und teilweise auch normverletzenden und schambesetzten 32 Vorstellungen einzuordnen, sie mit ihrem Verhalten und Selbstbild 33 zu vereinen. 34 ➣➣ Mediensexualität: Jugendliche werden vor allem über Medien mit 35 diversen sexuellen Darstellungen und Informationen konfrontiert 36 bzw. wenden sich auch oft aktiv sexuellen Mediendarstellungen zu. 37 Sie stehen dann vor der Herausforderung, das Gesehene und Gehörte 38 zu verarbeiten (z. B.: Was ist unrealistisch und was ist realistisch an

226 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute

einem Porno und an einem Liebesfilm?) sowie ihre sexualbezogene 1 Mediennutzung selbst zu regulieren (z. B. ihren Pornografiekonsum 2 zu dosieren) und somit sexualbezogene Medienkompetenz zu ent­ 3 wickeln (Döring, 2011b). 4 ➣➣ Solosexualität: Nahezu alle Jungen und knapp die Hälfte der Mäd- 5 chen haben Erfahrung mit Selbstbefriedigung (siehe oben) und 6 stehen vor der Herausforderung, diese Form der Sexualität lustvoll 7 zu gestalten und in ihr Selbstbild zu integrieren. Sie mögen sich zum 8 Beispiel fragen, ob ihre Masturbationsgewohnheiten »normal« sind. 9 Vor allem für Mädchen ist es oft ein längerer Lernprozess, die indi­ 10 viduell passende Stimulation bis zum Orgasmus zu finden. 11 ➣➣ Partnersexualität: Für Jugendliche ist es ein großes Thema, wann und 12 wie sie »das erste Mal« erleben, ob es schön wird, und ob sie dabei 13 alles »richtig« bzw. sich nicht lächerlich machen. Daneben geht es 14 für Jugendliche auch darum, weitere sexuelle Techniken zu erkunden 15 und zu meistern (z. B. Petting, Oral- und Analverkehr). Während 16 Jugendliche selbst den Fokus eher auf Luststeigerung und sexuelle 17 Performanz legen, sieht die Sexualpädagogik wichtige Entwicklungs- 18 aufgaben im Zusammenhang mit Partnersexualität vor allem bei Si- 19 cherheit (Schwangerschaftsverhütung, Safer Sex) und Einvernehmen 20 (Grenzen setzen und respektieren, Gewaltfreiheit). 21 ➣➣ Liebesbeziehungen: Partnersexualität erleben die meisten Jugendlichen 22 im Rahmen von Liebesbeziehungen und Freundschaften (siehe oben). 23 Wie diese zu gestalten sind und wie Sexualität dabei zu integrieren ist, 24 wirft viele Fragen auf (z. B.: Wie lange sollte man bei einer neuen Be- 25 ziehung mit dem ersten Sex warten? Fängt Untreue beim Küssen an? 26 Sollte man aus Liebe die sexuellen Wünsche des Partners / der Partne- 27 rin erfüllen, auch wenn man eigentlich keine Lust dazu hat?). 28 ➣➣ sexuelle Identität: Auf der Basis ihres sexuellen Begehrens und Verhal- 29 tens entwickeln Jugendliche eine Selbstdefinition ihrer Sexualität und 30 ihrer sexuellen Identität, etwa als »heterosexuell«, »homosexuell«, 31 »bisexuell«, »pansexuell« oder »asexuell«. Obwohl sexuelle Viel- 32 falt gesellschaftlich sichtbarer wird, ist Heterosexualität unter Jugend- 33 lichen die Norm (sog. Heteronormativität), »schwul« ein verbreite- 34 tes Schimpfwort. Insbesondere für nicht-heterosexuelle Jugendliche 35 ist die Entwicklung einer positiven sexuellen Identität einschließlich 36 Coming-out in Familie, Schule und Peergroup somit nach wie vor 37 eine große Herausforderung. 38

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1 ➣➣ Geschlechtsidentität: Im Zuge des Erwachsenwerdens geht es für 2 viele Jugendliche darum, ein »echter« Mann bzw. eine »richtige« 3 Frau zu werden und als solche/r anerkannt zu werden. Dafür ist es 4 in ihren Augen nicht nur notwendig, sexuell attraktiv und aktiv zu 5 sein, sondern auch soziale Rollenerwartungen zu erfüllen. So sollen 6 Jungen gemäß tradierter Geschlechterrollen durch sexuelle »Erobe- 7 rungen« ihre Männlichkeit unter Beweis stellen, während Mädchen 8 darauf achten müssen, dass sie nicht durch sexuelle »Verfügbarkeit« 9 an Ansehen verlieren und als »Schlampen« gelten. Wenngleich Ge- 10 schlechterklischees häufiger kritisiert werden, ist sexuelle Doppel­ 11 moral unter Jugendlichen weit verbreitet, stellt Jugendliche somit vor 12 die Aufgabe, sich mit Rollenerwartungen auseinanderzusetzen. Und 13 obwohl die Vielfalt der Geschlechter und Geschlechtsidentitäten 14 (z. B. weiblich, männlich, divers, androgyn, agender, transgender) 15 gesellschaftlich sichtbarer geworden ist, ist Zweigeschlechtlichkeit 16 nach wie vor die Norm, sodass die Entwicklung einer positiven Ge- 17 schlechtsidentität zum Beispiel für transidente oder anderweitig non- 18 konforme Jugendliche erschwert ist. So gelten zum Beispiel Mädchen, 19 die maskulin konnotierte Hobbys (Skaten, Computertechnik) oder 20 Styles (kurze Haare) bevorzugen, unter Peers schnell als sexuell un­ 21 attraktive »Mannweiber«. 22 23 24 Sexuelle Online-Aktivitäten von Jugendlichen 25 26 Jugendliche wenden sich mit ihrer sexuellen Neugier und ihren Fragen im 27 Zusammenhang mit den verschiedenen sexuellen Entwicklungsaufgaben 28 zum Teil ihren Eltern, Lehrkräften und Peers zu, häufig konsultieren sie 29 aber auch diverse Medienangebote – nicht zuletzt das Internet (Matthie- 30 sen et al., 2013; Döring, 2015b). Dabei erweist es sich für sie als vorteil- 31 haft, dass das Internet eine große Fülle sexueller Informations-, Unterhal- 32 tungs- und Kontaktangebote bietet und dass diese diskret und oft kostenlos 33 sowie orts- und zeitunabhängig erreichbar sind. Das Internet ist dabei für 34 Jugendliche in der Regel kein von der alltäglichen Lebenswelt getrennter 35 virtueller »Cyberspace«. Vielmehr sind »Online-Welten« und »Offline- 36 Welten«, die wir begrifflich-analytisch oft noch voneinander trennen, für 37 sie im Alltagshandeln eng verwoben, insbesondere durch das Smartphone 38 als Alltagsbegleiter, das ständigen Online-Zugang ermöglicht. Im Wesent-

228 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute lichen sind sechs verschiedene Typen von sexuellen Online-Aktivitäten zu 1 unterscheiden, die jeweils mit Risiken und Chancen für die sexuelle Ent- 2 wicklung verbunden sind und im Folgenden kursorisch vorgestellt werden: 3 1. Sexualaufklärung, 2. Erotika und Pornografie, 3. sexuelle Kontakte, 4 4. sexuelle Szenen, 5. sexuelle Produkte und 6. sexuelle Dienstleistungen 5 (Döring, 2012a). All diese sexuellen Aktivitäten im digitalen Kontext sind 6 nicht zuletzt für die Entwicklung der sexuellen und geschlechtlichen Iden- 7 titäten von Jugendlichen von Bedeutung (Döring, 2016). 8 9 10 Sexualaufklärung im Internet 11 12 Das Internet ist für Jugendliche eine wichtige Quelle für sexuelle Informa- 13 tionen, da man hier bei Bedarf jederzeit diskret zu allen erdenklichen se- 14 xualbezogenen Themen und Problemen recherchieren kann. Es ist davon 15 auszugehen, dass die allermeisten Jugendlichen schon mindestens einmal 16 sexuelle Informationen im Internet gesucht haben (Döring, 2012a). Zu den 17 ersten Treffern bei einer entsprechenden Suchmaschinen-Anfrage gehören 18 oft Wikipedia-Einträge, YouTube-Videos, Forenbeiträge und Aufklärungs- 19 seiten (z. B. der BZgA und der AIDS-Hilfen). 20 Die Hauptgefahr wird in Fehlinformationen gesehen. Hier gilt es, auf 21 Anbieterseite qualitativ hochwertige Online-Informationsangebote be- 22 reitzustellen und entsprechend zu kennzeichnen sowie auf Nutzerseite die 23 Internetkompetenz der Jugendlichen zu fördern (z. B. nicht nur den ersten 24 Google-Treffer anschauen, sondern mehrere Online- und Offline-Quellen 25 vergleichen; kritische Prüfung des Impressums einer Website). Eine Dis- 26 kussion der möglichen Gefahren sexueller Fehlinformationen im Internet 27 ist zudem unvollständig, solange nicht auch systematisch analysiert wird, 28 inwiefern im Offline-Leben Informationsmängel oder Fehlinformationen 29 vorherrschen. 30 Die Chance des Internets besteht darin, dass sich Jugendliche offen 31 und diskret auch über solche sexuellen Fragen informieren und austau- 32 schen können, die in der offiziellen Sexualaufklärung nicht ausreichend 33 angesprochen werden. Zu der für Jugendliche sehr wichtigen Frage, ob sie 34 hinsichtlich ihrer körperlichen Entwicklung, ihrer sexuellen Gedanken 35 und Verhaltensweisen »normal« sind, bieten zum Beispiel Onlineforen 36 Gelegenheiten für besonders offenen und ehrlichen Informations- und 37 Erfahrungsaustausch, da man im Schutz der Anonymität weniger angeben 38

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1 und prahlen muss. Dass man online anonym (oder pseudonym) heikle und 2 schambehaftete Themen eher zu offenbaren wagt, erklärt den Erfolg von 3 Online-(Selbsthilfe-)Gruppen (z. B. für Opfer von sexuellem Missbrauch 4 oder für Teenager-Mütter). Auch bei Verhütungspannen oder Angst vor 5 der Ansteckung mit einer sexuell übertragbaren Infektion wird spon- 6 tan oft als erstes im Internet nachgeschaut. Die Chance für Aufklärungs- 7 projekte und Beratungsstellen besteht darin, durch eine gute Web- und 8 Social- ­Media-­Präsenz sowie Suchmaschinenoptimierung unter den ersten 9 Google- ­Treffern aufzutauchen und somit die jeweilige Zielgruppe bedarfs- 10 gerecht zu erreichen (Döring, 2017a, 2017b). 11 12 13 Erotika und Pornografie im Internet 14 15 Erotische und pornografische Geschichten, Zeichnungen, Spiele, Fotos 16 und Videos existieren im Internet in historisch einmaliger Auswahl und 17 sind niedrigschwellig erreichbar. Dabei dominieren auf den populären 18 Pornoplattformen wie YouPorn rein quantitativ die kommerziellen Main- 19 stream-Darstellungen für das heterosexuelle männliche Publikum, die sich 20 meist um die Befriedigung des Mannes durch die Frau drehen. Es finden 21 sich zudem diverse Non-Mainstream-Angebote wie zum Beispiel frauen- 22 orientierte/feministische Pornografie, bei der die Befriedigung der Frau 23 im Fokus steht, Paar-Pornografie, bei der die Befriedigung von Frau und 24 Mann sehr ausgewogen erfolgt, lesbische/schwule/queere Pornografie, die 25 alternative Geschlechterbilder und sexuelle Identitäten zeigt, Pornografie 26 mit diversen Fetisch-Themen sowie authentische Amateurpornografie, die 27 echte Liebespaare zeigt. Durch das Internet hat sich Pornografie nicht nur 28 stärker verbreitet, sondern auch inhaltlich noch viel stärker ausdifferen- 29 ziert, sodass Pauschalaussagen über »die Pornografie« heutzutage kaum 30 noch sinnvoll sind. 31 Pornografie ist seit Dekaden Gegenstand hochkontroverser politischer 32 und ethischer Debatten (Döring, 2011a). Die größten Pornografie-Risi- 33 ken werden auf der Ebene des Mediennutzungsverhaltens (Pornos wirken 34 stimu ­lierend, machen Jugendliche süchtig und führen zu immer mehr 35 Porno ­grafienutzung bei gleichzeitiger Abstumpfung gegenüber realem 36 Partnersex), des sexuellen Erlebens und Verhaltens (Pornos zeigen ris­ 37 kantes unverbindliches Sexualverhalten, das von Jugendlichen positiv 38 bewertet und nachgeahmt wird) sowie der Geschlechterverhältnisse

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(Pornos sind frauenfeindlich und fördern Sexismus und Gewalt gegen 1 Frauen) gesehen (Döring, 2012b; Lim et al., 2016; Peter & Valkenburg, 2 2016). Die bisherige Pornografie-Forschung bestätigt teilweise die vermu- 3 teten Negativwirkungen. Allerdings treten diese meist nur unter bestimm- 4 ten Bedingungen auf (z. B. suchtartige exzessive Pornografienutzung in 5 bestimmten Problemsituationen oder bei spezifischen Prädispositionen 6 wie Depressivität und Angststörung). Teilweise sind die Wirkungen auch 7 reversibel: So gehen die nach einer Phase intensiver masturbatorischer 8 Pornografienutzung auftretenden Erektionsprobleme beim Partnersex 9 nach einer Phase des Pornografieverzichts meist von ganz allein zurück 10 (Park et al., 2016). Desorientierende Wirkungen und negative Nach­ 11 ahmungseffekte können sich weniger entfalten, wenn Jugendliche sexu- 12 ell gut aufgeklärt sind und den geringen Realitätsgrad sowie die Machart 13 der Pornografie als fiktionaler Mediengattung verstehen. Die Frage nach 14 Sexis ­mus und Gewalt im Porno ist besonders komplex. Zum einen ist die 15 Definition und Messung von Gewalt in der Pornografie uneinheitlich und 16 meist nicht theoretisch begründet (z. B. wenn einvernehmliches Spanking 17 als Gewalt codiert wird; Fritz & Paul, 2017; Shor & Seida, 2019). Zum 18 anderen sind empirische Studien rar, die Geschlechterrollen und Macht- 19 verhältnisse in verschiedenen pornografischen Subgattungen erfassen und 20 mit nicht-pornografischen Mediengattungen vergleichen (hier zeigt sich 21 die Pornografie zuweilen als recht geschlechteregalitär einschließlich agen- 22 tischer weiblicher Sexualität; Arakawa et al., 2012; Vannier et al., 2014). 23 Nicht zuletzt sind Verarbeitungsprozesse unklar: So ist zum Beispiel in 24 Rechnung zu stellen, dass Menschen aller Geschlechter fantasierte und 25 ­fiktionale Gewalt erotisieren, ohne damit reale Gewalt zu befür­worten. 26 Hier sind noch viele Forschungsfragen offen. Bei den belegten Zusammen- 27 hängen zwischen Aggressivität und riskantem Sexualverhalten einer­seits 28 und Pornografienutzung andererseits (Peter & Valkenburg, 2016; Wright 29 et al., 2015) ist zu beachten, dass oftmals die Kausalrichtungen und Kausal­ 30 mechanismen unklar sind. 31 Gravierende gesamtgesellschaftliche Negativtrends wie die bereits an- 32 gesprochene »sexuelle Verwahrlosung« der Jugend zeigen sich indessen 33 nicht (siehe oben). Gleichzeitig können eine Reihe von Studien neutrale 34 oder positive Wirkungen von Pornografie belegen (Döring, 2012b; Kohut 35 et al., 2017). Eine Gesamtschau der empirischen Befunde ist komplex 36 und an eine kritische Bewertung der jeweils zugrundeliegenden Wirkungs­ 37 theorien sowie der verwendeten Forschungsmethoden und ihrer Limitati- 38

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1 onen gebunden. Aktuell erfreuen sich neurowissenschaftliche Ansätze großer 2 Beliebtheit. Dass »die Hirnforschung« anhand von »Hirnscans« zeigen 3 könne, dass Pornos das »Suchtzentrum« ansprechen oder dass die Existenz 4 von »Spiegelneuronen« die negative Vorbildwirkung von Pornos belege – 5 solche Vorstellungen sind populär, suggerieren sie doch in einem so kon­ 6 troversen und komplexen Feld wie dem Umgang mit sexuellen (Online-) 7 Darstellungen vermeintliche übergeordnete Objektivität und Eindeu- 8 tigkeit. Entsprechende populistische Vereinfachungen, denen gemäß die 9 Hirnforschung starke und umfassende negative Internet-­Wirkungen ein- 10 deutig belege, werden in Bestsellern und in den Massenmedien, aber auch 11 in pädagogischen Kontexten zuweilen gerne zitiert (z. B. Spitzer, 2012, 12 2015). Die neurowissenschaftliche Fachcommunity selbst warnt inzwi- 13 schen eindringlich vor Simplifizierungen und Überinterpretationen ihrer 14 Forschungsergebnisse (Tretter et al., 2014; Bareither et al., 2015). 15 Während präpubertäre Kinder meist kein besonderes Interesse an sexu- 16 ellen Darstellungen haben und schon Küssen »eklig« finden, steigt bei Ju- 17 gendlichen im Zuge der Geschlechtsreife das Interesse an sexuell expliziten 18 Mediendarstellungen. Sie suchen diese im Internet dementsprechend aktiv 19 auf, tauschen Darstellungen untereinander aus und rezipieren teilweise 20 auch gemeinsam. Im Sinne des deutschen Strafrechts sowie des Jugend- 21 schutzrechts werden drei Gruppen von sexuellen Darstellungen differen- 22 ziert: 1. Erotika bzw. Softcore-Darstellungen (die Geschlechtsverkehr nur 23 andeuten oder simulieren und teilweise auch für Jugendliche freigegeben 24 sind), 2. Pornografie bzw. Hardcore-Darstellungen (die Genitalien und 25 Geschlechtsverkehr detailliert zeigen und Erwachsenen vorbehalten sind) 26 sowie 3. illegale Gewalt-, Tier-, Kinder- und Jugendpornografie (deren 27 ­Produktion, Verbreitung und teilweise auch Besitz grundsätzlich straf- 28 bar sind). Im Bereich der legalen Darstellungen ist die klare Abgrenzung 29 zwischen Softcore- und Hardcore-Darstellungen nicht einfach und wird 30 für Alterseinstufungen von Expertengremien vorgenommen: So kann es 31 zum Beispiel allein von der Tonspur abhängen, ob ein Videoclip oder eine 32 Filmszene als Softcore (mit Musikuntermalung) oder als Hardcore (mit 33 Sex ­geräuschen) eingestuft wird. Im globalen Internet haben Jugendliche 34 ­leichten Zugriff auch auf pornografische Darstellungen, die in Deutsch- 35 land erst ab 18 Jahren freigegeben sind, da internationale Website-Betreiber 36 nicht an das deutsche Recht gebunden sind. 37 Beim jetzigen Forschungsstand ist davon auszugehen, dass die große 38 Mehrzahl der männlichen und weiblichen Jugendlichen Pornografie – vor

232 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute allem Videopornografie – kennt und dass insbesondere Jungen Pornos re- 1 gelmäßig nutzen. Dabei sollte man nicht pauschal mediendeterministisch 2 fragen »Was macht die Pornografie mitden Jugendlichen?«, sondern eher 3 umgekehrt differenziert erkunden: »Was machen verschiedene Gruppen 4 von Jugendlichen mit verschiedenen Arten von Pornografie?« Denn 5 die Aneignungsweisen sind vielschichtig (Döring, 2012b; Matthiesen 6 et al., 2013): 7 ➣➣ Der Porno als schockierendes oder belustigendes Unterhaltungsme- 8 dium: Eine Aneignungsform von Pornografie besteht bei Jugendli- 9 chen darin, sich zu Unterhaltungszwecken »krasse« Inhalte anzu- 10 schauen und gemeinsam mit Peers darüber zu lästern. Dabei lassen 11 sich Neugier und Sensationslust befriedigen. Das gemeinsame An- 12 schauen bizarrer Bilder fungiert zuweilen als Mutprobe. Gerade in 13 der kollektiven Abgrenzung gegenüber seltenen sexuellen Vorlieben 14 versichern sich Jugendliche ihrer eigenen Normalität. Doch Jugend- 15 liche grenzen sich nicht nur von bizarren Pornografie-Subgattungen 16 ab, sondern stehen auch herkömmlicher Mainstream-Pornografie 17 mit ihren unrealistischen sozialen Settings und überspitzten Rollen­ 18 klischees durchaus distanziert gegenüber, erkennen Pornografie als 19 eine fiktionale Mediengattung und belustigen sich gemeinsam über 20 absurde Porno-Begriffe oder Porno-Dialoge. Jugendliche unter­ 21 scheiden zwischen ihrer eigenen sexuellen Realität und Porno­ 22 darstellungen, von denen sie viele ausdrücklich abstoßend oder 23 lachhaft finden. 24 ➣➣ Der Porno als Masturbationsvorlage: Während in der Peergroup über 25 »hirnlose« Pornos gelästert wird, sucht man sich für die solitäre 26 Nutzung zur sexuellen Stimulation zielgerichtet zum eigenen Be- 27 gehren passende Inhalte heraus. Dies sind bei den meisten Jugend- 28 lichen konventionelle Darstellungen von Heterosex. Während für 29 Jungen die Nutzung von Online-Pornografie (v. a. Videopornografie) 30 im Zuge ihrer regelmäßigen Selbstbefriedigung heute normal und 31 selbstverständlich ist (Schmidt & Matthiesen, 2011), ist das Mas- 32 turbationsverhalten von Mädchen geringer ausgeprägt und stärker 33 ausdifferenziert: Stimulation durch Videopornografie spielt eine 34 untergeordnete Rolle (Matthiesen et al., 2011), dafür wird eher auf 35 Fantasien bzw. »Kopfkino«, Comics oder Geschichten zurückge- 36 griffen. Wenn sich männliche und weibliche Jugendliche in einem 37 Onlineforum auf Bravo.de offen darüber austauschen, was sie »geil« 38

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1 macht, dann gehört Video­pornografie dazu, wird aber weder einhel- 2 lig als die einzige noch als die beste Inspirationsquelle beschrieben 3 (Döring, 2013). Ob und unter welchen Bedingungen Pornografie- 4 Nutzung ein »falsches« Sexualitäts- und Frauen- bzw. Männerbild 5 vermittelt, muss vor dem Hintergrund diskutiert werden, um welche 6 Arten von Pornografie es konkret geht, welche fragwürdigen Sexu- 7 alitäts- und Geschlechterbilder in der Medienwelt und Gesellschaft 8 insgesamt kursieren, und inwiefern eine Masturbation ohne Pornos 9 »besser« wäre. In einer Umfrage äußerte ein Junge selbst dazu, er 10 fühle sich moralisch wohler, mit einem Porno zu masturbieren als 11 dabei an seine Mitschülerinnen zu denken (Smith et al., 2014, S. 58). 12 Wenn es um den Porno als Masturbationsvorlage geht und dies päda- 13 gogisch behandelt werden soll, ist fachlich zu fragen, ob und wie weit 14 man sich überhaupt in die Masturbationsfantasien von Jugendlichen 15 einmischen will, darf und kann. 16 ➣➣ Der Porno als Informationsmedium: In ihren sozialen Settings sind 17 die meisten Pornos sehr unrealistisch, da sie eben in der Regel nicht 18 dokumentarisch am sexuellen Alltag anknüpfen, sondern die ohne- 19 hin oft exzessiven sexuellen Fantasien des Menschen aufgreifen und 20 weiter übersteigern (z. B. spontane Gruppensex-Szenarien). Dass 21 der Porno dennoch ein wichtiges Informationsmedium für Jugend- 22 liche darstellt, liegt daran, dass sie oft ein großes Interesse haben zu 23 erfahren, wie einzelne Stellungen oder Sexpraktiken funktionieren 24 (z. B. wie geht »lecken«/»blasen«?) und die Pornografie die ein- 25 zige Mediengattung ist, die dazu detaillierte visuelle Auskunft gibt. 26 Im positiven Fall kann dies mehr Handlungssicherheit beim eigenen 27 Erkunden vermitteln, im negativen Fall können Leistungsdruck oder 28 überhöhte Erwartungen daraus resultieren. Deswegen ist es wichtig, 29 dass Jugendliche Ansprechpersonen haben, mit denen sie im Zuge 30 der Pornorezeption auftretende Fragen klären können (z. B., ob 31 Frauen/Männer wirklich so viel ejakulieren können oder ob das im 32 Porno Fake ist). 33 ➣➣ Der Porno als Medium der Identitätsbestätigung: Insbesondere für se- 34 xuelle und Gender-Minoritäten (oft zusammengefasst als LGBTIQ: 35 lesbian, gay, bisexual, transgender, intersex, queer) haben die entspre- 36 chenden pornografischen Subgattungen (z. B. schwule, lesbische, 37 queere Pornografien) nicht zuletzt eine wichtige Identitätsfunktion: 38 Angesichts gesellschaftlicher Marginalisierung und Stigmatisierung

234 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute

kann es identitätsbestärkend und emanzipatorisch für LGBTIQ- 1 Jugendliche sein, zumindest im Porno beispielsweise zu sehen, dass 2 trans* Körper sexuell attraktiv sind, dass gleichgeschlechtliche kör- 3 perliche Liebe lustvoll und normal ist. Doch Pornos können von 4 Jugendlichen genauso genutzt werden, um zum Beispiel tradierte 5 hierarchische Geschlechtsidentitäten (etwa im Sinne hegemonialer 6 Männlichkeit) zu bestätigen: Anhand von Schwulenpornos können 7 sich heterosexuelle Jungen detailliert darüber auslassen, wie »eklig« 8 Schwule ihrer Auffassung nach sind und Bestätigung für ihre Homo- 9 phobie finden. Hier wie in vielen anderen Zusammenhängen zeigt 10 sich, dass nicht der Medieninhalt (z. B. Schwulenporno), sondern 11 die Aneignungsform und der Kontext die psychosoziale Wirkung 12 (z. B. emanzipatorisch oder diskriminierend) maßgeblich bestimmen 13 (Döring, 2012a). 14 15 16 Sexuelle Kontakte im Internet 17 18 In der Digitalgesellschaft unterliegen alle Lebensbereiche der Mediatisie- 19 rung, so auch sexuelle und romantische Interaktionen und Beziehungen: 20 Flirt, Kennenlernen, Beziehungspflege – all dies ist heute in den jüngeren 21 Generationen ohne WhatsApp- oder Snapchat-Nachrichten, Telefonate, 22 Facebook-Chats, Skype-Konferenzen und dergleichen kaum noch denk- 23 bar. Dabei ersetzt der mediale Kontakt per Internet-Rechner und Handy 24 bzw. Smartphone nicht die persönliche Kommunikation, sondern ergänzt 25 diese. Zwei Konstellationen sind zu unterscheiden, die jeweils mit Chancen 26 und Risiken einhergehen: Zum einen wird im Internet mit Unbekannten 27 kommuniziert und geflirtet, woraus sich teilweise ein Face-to-Face-Kontakt 28 ergibt, zum anderen tauscht man sich mit bestehenden Beziehungspartnern 29 per Smartphone und Internet aus. 30 Der Online-Flirt mit Unbekannten (z. B. in Chatrooms, Online-Games, 31 Onlineforen, Dating-Apps) ist für Jugendliche insofern interessant, als sie 32 sich dabei weniger schüchtern fühlen und sich in der erotischen Kommu- 33 nikation untereinander unverbindlich erproben können, was eine wich- 34 tige sexuelle Entwicklungsaufgabe darstellt. Online-Flirts haben teilweise 35 einen spielerischen, rein virtuellen Charakter, teilweise wird aber auch ein 36 Kennenlernen außerhalb des Netzes angestrebt (Döring, 2012a; Matthie- 37 sen et al., 2013). Der Online-Flirt ist besonders wichtig für J­ugendliche, 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 235 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Nicola Döring

1 die weniger Möglichkeiten zum Offline-Flirt haben (z. B. wegen einer 2 Behinderung oder strenger elterlicher Kontrolle). Als Hauptrisiko wird 3 das sogenannte Cyber-Grooming angesehen, bei dem sich Erwachsene 4 (meist Männer) in Online-Räumen als scheinbar Gleichaltrige das Ver- 5 trauen der Jugendlichen erschleichen, um sexuelle Übergriffe online 6 oder offline vorzubereiten (Mathiesen, 2014). Cyber-Grooming ist bei 7 Kindern unter 14 Jahren in Deutschland strafrechtlich verboten (§ 176 8 StGB, Absatz 4, Nr. 3). Hier sind einerseits die Plattform-Betreiber in 9 der Pflicht, eine sichere Umgebung zu schaffen und zum Beispiel öffent- 10 liche Online-Räume zu moderieren und gegen Fehlverhalten von Usern 11 vorzugehen. Zum anderen sind Jugendliche aufzuklären, dass und wie sie 12 sich gegen virtuelle Übergriffe wehren können, welche Sicherheitsmaß- 13 nahmen beim ersten Face-to-Face-Treffen mit Online-Bekanntschaften 14 zu ergreifen sind, wo man im Falle von Übergriffen Hilfe bekommt. Mit 15 unerwünschter sexueller Annäherung durch Erwachsene werden Jugend- 16 liche online im Übrigen nicht nur konfrontiert, wenn sie selbst aktiv 17 flirten, sondern auch in anderen Situationen (z. B. erhalten Mädchen an- 18 zügliche private Nachrichten als Folge von öffentlichen Forenbeiträgen). 19 Hier spiegelt sich die aus Offline-Räumen bekannte Problematik des 20 Alltagssexismus (z. B. unerwünschte sexuelle Ansprache auf der Straße) 21 in Online-Räumen wider. 22 Wenn Jugendliche eine romantische Beziehung mit einer ihnen be­ 23 kannten Person (z. B. aus der Schule, vom Sportverein, von einer Party) 24 anbahnen oder führen, dann gehört der Austausch per Smartphone und 25 Internet ganz selbstverständlich dazu: Man schickt sich Guten-Morgen- 26 Grüße, Witze und Liebeserklärungen sowie zuweilen auch sexuelle Text- 27 und Bildbotschaften, Letzteres wird als Sexting bezeichnet (Döring, 28 2015c). Offline wie online ist einvernehmliche Intimkommunikation Aus- 29 druck von Nähe, Vertrauen, Lust, Freude an Körperlichkeit und normaler 30 Bestandteil zeitgenössischer romantischer Beziehungen von Erwachsenen; 31 Jugendliche wachsen in diese Verhältnisse hinein. Im Einzelfall kommt es 32 jedoch in romantischen Beziehungen Jugendlicher zu Zwang und Gewalt, 33 dies kann dann offline (z. B. Erzwingen sexueller Handlungen) wie online 34 (z. B. Einfordern sexueller Fotos) erfolgen. Weiterhin können intime In- 35 formationen in der Peergroup genutzt werden, um eine Person zu mobben. 36 Wahre oder unwahre sexuelle Details dienen seit jeher dazu, Mädchen als 37 »Schlampen« zu diskreditieren. Zum bisherigen Klatsch und Tratsch 38 über das sexuelle Vorleben eines Mädchens können heute intime Fotos

236 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute hinzukommen, die absichtlich gegen den Willen des Mädchens (und 1 damit unethisch und illegal) an Dritte und von Dritten weiterverbreitet 2 werden mit dem Ziel, das Mädchen »fertigzumachen«. Anti-Mobbing- 3 Maßnahmen und besserer Opferschutz sind hier notwendig. Schuldzuwei- 4 sungen an das Opfer von Fotomissbrauch (es hätte den Foto-Missbrauch 5 durch Erstellen des intimen Fotos ja selbst erst ermöglicht und provoziert), 6 gleichen dem Vorwurf an ein Vergewaltigungsopfer, es hätte den Übergriff 7 durch sein Erscheinungsbild oder seinen Aufenthaltsort selbst provoziert 8 (Döring, 2014b, 2015c). 9 10 11 Sexuelle Szenen im Internet 12 13 Zu allen erdenklichen sexuellen Präferenzen und Identitäten existieren 14 im Internet entsprechende Szenen, die sich über eigene Community-­ 15 Plattformen, Facebook-Gruppen, YouTube-Kanäle, Onlineforen etc. 16 organisieren. Die Teilnahme an zur sexuellen Identität passenden 17 Online- ­Communitys (z. B. Lesarion, PlanetRomeo) ist oft ein wesent- 18 licher Schritt aus der Isolation, vermittelt Orientierung, Unterstützung, 19 Rollen ­modelle, Freundschaften und oft auch Liebesbeziehungen und 20 hilft bei der Selbstakzeptanz. Der Rückhalt in Online-Communitys kann 21 zum Beispiel bei LGBTIQ-Jugendlichen ein Coming-out außerhalb des 22 Netzes vorbereiten (Döring, 2012a). Deutschsprachige YouTube-Kanäle 23 wie »TheNosyRosie« und »Mr.ThinkQueer« zeigen junge, authenti- 24 sche lesbische, schwule, bisexuelle und trans* Rollenmodelle, die in den 25 klassischen Massenmedien kaum vorkommen (Döring & P­ rinzellner, 26 2016). YouTube als die bei Jugendlichen in Deutschland beliebteste Inter- 27 net-Plattform (mpfs, 2018) hat zudem dafür gesorgt, Homosexualität bei 28 Mainstream-Jugendlichen ins Gespräch zu bringen, indem sich weltweit 29 bekannte und beliebte YouTuberinnen und YouTuber öffentlich als les- 30 bisch oder schwul geoutet haben, ihre Coming-out-Videos haben Abruf­ 31 zahlen in Millionenhöhe. Die Schattenseite der Online-­Sichtbarkeit 32 sexueller Minoritäten kann jedoch darin bestehen, zur Zielscheibe von 33 Online-Hass zu werden. Insgesamt bewertet die Fachliteratur das Inter- 34 net jedoch als eine sehr wichtige Ressource für Jugendliche, die sexuel- 35 len oder Gender-Minoritäten angehören (Döring, 2012a), zumal wenn 36 Offline-Treffpunkte der Lesben-, Schwulen- oder sonstiger Szenen für sie 37 nicht erreichbar sind. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 237 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Nicola Döring

1 Sexuelle Produkte im Internet 2 3 Ob Kondom, Gleitgel, Sexspielzeug oder Dessous – Erotikprodukte aller 4 Art werden heute im Internet vertrieben – jenseits des Schmuddel-Images 5 herkömmlicher Sexshops in Bahnhofsnähe. Für Jugendliche können On- 6 line-Bestellungen noch eine Hürde darstellen, dafür hat die Normalisierung 7 von Sextoys durch Onlineshops dazu geführt, dass diese inzwischen auch 8 in Offline-Drogerien verstärkt offen verkauft werden. Die Kommerzialisie- 9 rung von Sexualität über ein vielfältiges Online- und Offline-Angebot an 10 Sexprodukten ist zwiespältig: Sie kann einerseits einen lustvollen und spie- 11 lerischen Zugang zu Solo- und Partnersexualität unterstützen, andererseits 12 aber auch als Leistungsdruck und Optimierungszwang erzeugend emp­ 13 funden werden. Über die Sichtweisen und Erfahrungen von Jugendlichen 14 in dieser Hinsicht ist wenig bekannt. 15 16 17 Sexuelle Dienstleistungen im Internet 18 19 Das Internet hat mit kommerziellen Strip- und Sexshows per Webcam sexu- 20 elle Dienstleistungen virtualisiert. Gleichzeitig wird das Internet zur Ver- 21 marktung von Offline-Sex-Dienstleistungen genutzt, etwa indem Bordelle 22 oder einzelne weibliche, männliche und trans* Escorts sowie Stricher über 23 Onlineportale für sich werben. Zudem hat sich durch das Internet eine 24 Grauzone semiprofessioneller Dienstleistungen entwickelt, etwa das An- 25 bieten und Anfragen von Sex-Dates gegen »Taschengeld«. 26 Da sexuelle Dienstleistungen nur von einer relativ kleinen, überwiegend 27 männlichen Bevölkerungsgruppe in Anspruch genommen werden, ist diese 28 Form der sexualbezogenen Internetnutzung in der Gesamtbevölkerung mit 29 Abstand am geringsten ausgeprägt. Die verstärkte Sichtbarkeit sexueller 30 Dienstleistungen im Internet wird sehr kontrovers diskutiert: einerseits als 31 Chance zur Entstigmatisierung und Verbesserung der Arbeitsbedingungen 32 der freiwillig in der Branche Tätigen, andererseits als Risiko der Norma- 33 lisierung von sexueller Ausbeutung (Döring, 2014a). Für Jugendliche be- 34 deutet die Online-Sichtbarkeit von Prostitution und anderen Formen der 35 Sexarbeit vermutlich, dass sie aus der Beobachterperspektive häufiger und 36 detaillierter Fragen dazu haben. Unterstützungsmaßnahmen für Beteiligte 37 sind zielgruppenspezifisch heute auch online zu gestalten (z. B. Stricher- 38 projekte im Internet).

238 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute

Handlungsempfehlungen für die Praxis 1 2 Der vorliegende Beitrag plädiert für eine differenzierte und empirisch 3 fundierte Betrachtung und Bewertung der Jugendsexualität im Internet-­ 4 Zeitalter. Empfehlungen für die Praxis richten sich an Eltern und pädago- 5 gische Fachkräfte, aber auch an Politik und Journalismus. 6 1) Rationalität statt Alarmismus: Öffentliche Debatten über Jugendsex­ u­ 7 alität im Allgemeinen und über sexuelle Online-Aktivitäten Jugendlicher 8 im Besonderen werden oft alarmistisch und emotional geführt. Medien­ 9 berichte greifen das Thema dann gern auch voyeuristisch auf: hohe Quoten, 10 Auflagen oder Klickzahlen sind damit sicher. Eltern, Pädagogik und Politik 11 sind gut beraten, auf massenmediale Aufregungswellen mit Besonnenheit 12 und Rationalität zu reagieren. Denn das ist keine »Verharmlosung«, son- 13 dern Voraussetzung dafür, wirksam intervenieren zu können. Empirische 14 Evidenzen und wohlbegründete fachliche Argumente sollten einer Beurtei- 15 lung zugrunde gelegt werden (insbesondere bevor politische Maßnahmen 16 wie Gesetzesänderungen gefordert werden). Je aufgeheizter die Debatte, 17 umso wichtiger der »Faktencheck« (Döring, 2015a). 18 2) Zielgruppenorientierung statt Pauschalisierung: Die Feststellung, dass 19 die meisten Jugendlichen in Deutschland verantwortungsvoll mit Sexuali- 20 tät umgehen und sich das Internet auch überwiegend konstruktiv sexual­ 21 bezogen aneignen (da sie Sozial-, Sexual- und Medienkompetenz bereits 22 mitbringen), entspricht am ehesten dem heutigen Forschungsstand. Doch 23 darf dies nicht zu der Annahme verleiten, es gäbe keine gravierenden Pro- 24 bleme. Gesellschaftliche Phänomene wie sexueller Missbrauch, Kinder­ 25 porno ­grafie, Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung, 26 Sexismus, sexuelle Gewalt unter Jugendlichen etc. machen vor dem Inter- 27 net nicht Halt. Doch sie sollten deswegen nicht auf Online-Phänomene 28 verkürzt werden (auf Kosten des Problembewusstseins in Offline-Welten) 29 und auch nicht als Online-Mainstream verstanden werden. Es geht nicht 30 darum zu entscheiden, ob das Internet per se nützlich oder schädlich und 31 gefährlich ist, sondern darum, welche konkreten Anliegen die jeweilige 32 Zielgruppe einer Maßnahme hat. 33 3) Selbstreflexion statt Projektion:Der Umgang mit Sexualität ist offline 34 wie online auch für Erwachsene (inklusive der Fachkräfte) oft konflikt­ 35 behaftet und ambivalent. Die Klärung des eigenen Standpunktes (ein- 36 schließlich eigener offener Fragen) ist deswegen besonders wichtig. Welche 37 eigenen Ängste und Probleme projizieren wir individuell und kollektiv 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 239 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Nicola Döring

1 möglicherweise auf Jugendliche? Wirkt jugendliche Pornografie-Nutzung 2 vielleicht auch deswegen wie Sprengstoff in der öffentlichen Debatte, 3 weil das Thema in heterosexuellen Erwachsenenbeziehungen oft noch ein 4 Tabu darstellt? Und wenn wir befürchten, dass Jungen im Internetzeitalter 5 »falsch« masturbieren (z. B. mit den falschen medialen Vorlagen), woher 6 wollen wir wissen, wie es »richtig« geht? 7 4) Insider- statt Outsider-Perspektive: Online-Welten sind komplex und 8 dynamisch und können pädagogisch nicht fachlich überzeugend aus einer 9 distanzierten Outsider-Perspektive bearbeitet werden. Wer heute in der 10 Medien- und Sexualpädagogik, in der Mädchen- oder Jungenarbeit tätig ist, 11 muss sich mit den sexualbezogenen Online-Aktivitäten der Jugendlichen 12 auskennen. Eine Insider-Perspektive einzunehmen, heißt dabei nicht auto- 13 matisch, alles für gut zu befinden, sondern versetzt in die Lage, Chancen 14 und Risiken realitätsnäher zu beurteilen und als glaubwürdige Ansprech- 15 person aufzutreten. Insider-Kenntnisse über Online-Welten sind auch 16 notwendig, um mit eigenen Kampagnen, Projekten oder Einrichtungen 17 im Internet Fuß zu fassen und sichtbar zu werden. Online-Maßnahmen 18 (z. B. mehrsprachige Online-Sexualberatung oder aufsuchende Sozialarbeit 19 im Internet) sollen dabei Offline-Projekte nicht ersetzen, sondern sinnvoll 20 ergänzen und Jugendliche unterschiedlicher Zielgruppen dort abholen, wo 21 sie sexuell aktiv sind bzw. nach sexuellen Informationen suchen. 22 5) Förderung der Medien- und Sexualpädagogik: Ein konstruktiver 23 Umgang mit Sexualität im Internet-Zeitalter ist an entsprechende Medien- 24 und Sexualkompetenz gebunden. Der Ruf nach besserer Kompetenzförde- 25 rung ist zwar ein politischer Allgemeinplatz, der Raum, den Medien- und 26 Sexualpädagogik in schulischen Curricula einnehmen, ist jedoch – ge­messen 27 an ihrer Relevanz für jugendliche Lebenswelten – klein. Langfristige und 28 auch außerschulische medien- und sexualpädagogische Projekte (u. a. mit 29 Peer-Education-Ansätzen) werden zwar einhellig als sinnvoll und wichtig 30 erachtet für eine positive Entwicklung bzw. für die Primärprävention von 31 Problemen, aber faktisch kaum finanziert. Hier besteht anhaltender Hand- 32 lungsbedarf. 33 6) Verbesserung des Opferschutzes: Viktimisierung im Internetzeitalter 34 geht oft mit besonderen Belastungen einher, etwa weil im Zuge der ubi- 35 quitären Online-Nutzung Täter und Tatsituationen das Opfer sozusagen 36 überall hin verfolgen können und weil oft besondere Hilflosigkeit erlebt 37 wird (z. B. angesichts anonymer Online-Täter und medientechnischer Be- 38 dingungen: »Das Internet vergisst nichts«). Hier gilt es dem Mythos, das

240 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Jugendsexualität heute

­Internet sei ein »rechtsfreier Raum«, entgegenzutreten und den Opfer­ 1 schutz zu verbessern. Schulen brauchen Anti-Mobbing-Konzepte, um 2 schnell und effizient reagieren zu können, wenn zum Beispiel ein Mäd- 3 chen gemobbt wird, indem man intime Bilder von ihr zirkulieren lässt. 4 Und Plattform-Anbieter wie Facebook, Instagram, Twitter oder YouTube 5 müssen stärker in die Pflicht genommen werden, beleidigende und bloß- 6 stellende Beiträge unbürokratisch zu löschen. Niedrigschwellige Anlauf- 7 stellen für Opfer von Online- und/oder Offline-Übergriffen, die rechtliche 8 und psychologische Beratung und Begleitung bieten, müssen ausgebaut 9 und bekannt gemacht werden. Zum Opferschutz gehört auch eine verbes- 10 serte täterbezogene Sekundär- und Tertiärprävention. 11 12 13 Fazit 14 15 Über das sexuelle Verhalten und Erleben von Jugendlichen in Offline- und 16 Online-Welten wird viel spekuliert, gerade mit Blick auf Risiken und Ge- 17 fahren. Alarmistischen öffentlichen Debatten stehen dabei eher entdra- 18 matisierende Eckdaten zur Jugendsexualität gegenüber. Viele Detailfragen 19 dazu, wie Jugendliche aller Geschlechter in ihren jeweiligen Lebenswelten 20 mit den vielfältigen sexuellen Entwicklungsaufgaben umgehen, und vor 21 allem, welche Bedingungen und Ressourcen (online wie offline) dabei von 22 ihnen als besonders hilfreich und förderlich für ihr sexuelles Wohlbefinden 23 erlebt werden, sind bislang empirisch offen. Wünschenswert ist somit eine 24 größere Zahl an wissenschaftlichen (insbesondere auch interdisziplinären) 25 Studien zur sexuellen Entwicklung Jugendlicher, die Chancen und Risiken 26 bei unterschiedlichen Zielgruppen ausgewogen einbeziehen. Weiterhin 27 sind verstärkte Bemühungen um eine systematische Forschungssynthese 28 notwendig, um eine bessere Gesamtschau der heterogenen Einzelbefunde 29 aus unterschiedlichen Fachdisziplinen zu erlangen. 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 241 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Nicola Döring

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244 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Plurale Medien leisten ein Plädoyer 1 für sexuelle Selbstbestimmung 2 3 Öffentliche Diskurse und die Entwicklung von Ethik 4 5 Joachim von Gottberg 6 7 8 9 10 11 Auch wenn Werte, Normen und Moral oft als Einschränkung der Selbstbe- 12 stimmung empfunden werden, so sind sie doch für das Funktionieren von 13 Gesellschaften eine wichtige Voraussetzung. Allerdings ist es wichtig, die 14 Bedeutung solcher Normen angesichts sich verändernder Rahmenbedin- 15 gungen immer wieder neu zu eruieren. Denn bei Wertvorstellungen und 16 Normen handelt es sich nicht um absolute, unveränderbare Richtlinien, 17 sondern um Sozialkonstrukte, die angesichts veränderter gesellschaftlicher 18 Bedingungen immer wieder neu definiert werden müssen: 19 20 »Die angewandte Ethik oder Moralphilosophie wird als eine Disziplin ver- 21 standen, die sich bei moralischen Entscheidungsproblemen mit Normen, 22 Werten und Grundorientierungen des Menschen auseinandersetzt. Sie fun- 23 giert als Theorie des richtigen Handelns, entwickelt Kriterien, vermittelt eine 24 Handlungsorientierung in moralisch relevanten Entscheidungssituationen 25 und dient letztlich der Handlungskoordination im Umgang mit anderen 26 Menschen« (Schicha & Brosda, 2010, S. 145f.). 27 28 Allerdings ist es mit der reinen Reflexion der daraus entstehenden rationa- 29 len Begründung eines ethischen Systems und den entsprechend resultieren- 30 den Normen und Handlungsanweisungen nicht getan. Vielmehr müssen 31 Wertvorstellungen und Normen verinnerlicht werden, in »Fleisch und 32 Blut« übergehen und damit Teil des Gewissens werden. Damit wird der 33 Versuchung entgegengewirkt, unbequeme und behindernde Normen kurz- 34 fristig zu ändern und an die persönliche Bedürfnislage anzupassen, was eine 35 Beliebigkeit des normativen Konzepts bedeuten würde. 36 Lange Zeit wurden Werte und Normen auf die Gebote und Verbote von 37 Religionen zurückgeführt, die normative Vorgaben aus dem Willen eines all- 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 245 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Joachim von Gottberg

1 mächtigen, unfehlbaren Gottes ableiteten. Die Verankerung des normativen 2 Systems in der Transzendenz bot einen gewissen Schutz vor einer maßgebli- 3 chen Willkür. Religionen erfüllen verschiedene gesellschaftliche Funktionen: 4 5 »Zu den wesentlichen Leistungen von Religion zählen die Linderung und Be- 6 seitigung der Angst vor der Unsicherheit des Daseins. Aber auch Hoffnung 7 über den Tod hinaus. Religion beantwortet auch die großen Fragen des Lebens: 8 nach dem Ursprung, der Geschichte und Zukunft vom Menschen und der 9 Welt. Religion stellt außerdem Regeln für ein glückliches Leben auf. Es ist eine 10 Ordnung des menschlichen Zusammenlebens und manchmal auch eine Kritik 11 an den bestehenden gesellschaftlichen Umständen« (Tworuschka, 2004). 12 13 Psychologisch entsteht dieses Bedürfnis von Menschen nach Sinnerklärung 14 aus dem Bedürfnis, das eigene Schicksal, so gut es geht, planbar und über- 15 schaubar zu machen. Dies ist eine Ureigenschaft des menschlichen Gehirns. 16 Es verfolgt damit nicht zuletzt ökonomische Ziele, da es überfordert damit 17 wäre, in jeder Situation des Lebens abzuwägen und neu zu entscheiden. 18 Treten verschiedene Situationen mehrere Male auf, entwickelt das Gehirn 19 sofort Muster, die uns in Zukunft helfen, ohne langes Nachdenken so zu 20 reagieren, wie es schon mehrere Male erfolgreich war. Dass es bei der Über- 21 tragung dieser Muster zuweilen Fehler macht, nimmt das Gehirn in Kauf. 22 Es wägt das Risiko ab, zu langsam zu reagieren, und die Gefahr, die Muster 23 unpräzise zu vergleichen und damit einen Fehler zu begehen, praktisch 24 gegeneinander ab. So entwickeln sich Vorurteile. Individuelle oder sozial 25 positive bzw. negative Zuschreibungen gegenüber Menschen mit spezi- 26 fischen Merkmalen sind tief im menschlichen Unbewussten – quasi als 27 Auto ­piloten – verankert und steuern beispielsweise das Misstrauen oder 28 Vertrauen gegenüber einer Person mit spezifischen Eigenschaften oder 29 Herkunftsmerkmalen. Untersuchungen zeigen, dass Vorurteile selbst dann 30 menschliche Entscheidungen beeinflussen, wenn sie von ihnen rational 31 vehe ­ment abgelehnt werden (Förster, 2007, S. 72). 32 33 34 Strafe und Belohnung 35 36 Ein Beispiel für die Konditionierung normativen Verhaltens ist das Rau- 37 chen: Durch die Verbannung aus öffentlichen Räumen gehen jetzt auch 38 starke Raucher_innen selbst im Winter auf den Balkon, wenn sie sich eine

246 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Plurale Medien leisten ein Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung

Zigarette anzünden. Das »schlechte Gewissen« bei der Normübertretung 1 wird durch die Kopplung an negative Erinnerungen – beispielsweise Strafe 2 oder Angst – ausgelöst und hemmt das eigene Verhalten selbst in Situati- 3 onen, in denen es von der Umwelt toleriert wird oder gar erwünscht ist. 4 Ein normativ adäquates Verhalten dagegen wird mit Belohnungsgefühlen 5 in Verbindung gebracht, die psychisch als angenehm empfunden werden. 6 Bezüglich des genannten Beispiels bedeutet das also: Sollte sich morgen 7 zuverlässig beweisen lassen, dass Rauchen nicht gesundheitsschädlich, son- 8 dern -förderlich ist, würde es eine Zeitlang dauern, bis das schlechte Gewis- 9 sen beim Rauchen verloren ginge. Das Beispiel zeigt, wie sehr verinnerlichte 10 Normen Ergebnisse von Konditionierungsprozessen sind und sich durch 11 rationale Einsichten nicht kurzfristig verändern lassen. In religiösen Werte- 12 systemen wird dieses Prinzip genutzt und durch die Androhung von Strafe 13 bei Verletzung der Norm bzw. das Versprechen der Liebe und Gnade Gottes 14 beim Befolgen der Gebote für die Verankerung der religiösen Ethik und 15 Moral im tiefen Unbewussten gesorgt. 16 17 18 Die christliche Sexualethik 19 20 Auf der Grundlage der biblischen Schöpfungsgeschichte lassen sich bereits 21 zwei wesentliche Aspekte einer restriktiven Sexualethik ableiten. Danach 22 schuf Gott Adam als den ersten Menschen aus Staub. Anschließend wurde 23 ihm der Lebensatem eingehaucht. Adam gab den Tieren einen Namen, 24 aber es fehlte ihm ein Gegenüber. Daraufhin versetzte Gott Adam in einen 25 tiefen Schlaf, entnahm ihm eine Rippe und schuf daraus Eva. Der Mensch 26 Adam erkennt nun in sich den Mann und in seinem Gegenüber die Frau 27 (Gen 2–5). In einem älteren Schöpfungsbericht heißt es: »Und Gott schuf 28 den Menschen zu seinem Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn, und er 29 schuf sie als Mann und Weib« (Gen 1, 27). 30 Adam und Eva lebten zunächst im Garten Eden, dem Paradies, der 31 ihnen ein Leben in Sicherheit mit unbegrenzter Nahrung ermöglichte. 32 Sie besaßen alle Freiheiten, Gott gab ihnen lediglich eine Einschränkung 33 vor: Sie durften nicht vom »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« 34 essen. Eva, inspiriert durch eine Schlange, die später als der personifizierte 35 Teufel gedeutet wurde, brachte Adam dazu, dieses göttliche Gebot zu bre- 36 chen. Dieser Akt wurde sowohl in der jüdischen als auch in der christli- 37 chen Tradition als »der Sündenfall«, die Abkehr des Menschen von Gott, 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 247 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Joachim von Gottberg

1 aber auch als Rebellion und Ungehorsam angesehen. Als Strafe erkannten 2 Adam und Eva, dass sie nackt waren, und sie versuchten, ihre Nacktheit mit 3 Feigenblättern zu bedecken, um sich vor Gott zu verstecken. Durch diese 4 Verlegenheit und Schuld kam das Schamgefühl in die Welt. Der Sünden- 5 fall hatte weitreichende Folgen: das Ende des Paradieses, die Sterblichkeit 6 des Menschen, Frauen mussten nun (als Sinnbild für Eva) Kinder unter 7 Schmerzen gebären, Adam wurde als Strafe harte und mühsame Arbeit 8 in der Landwirtschaft zum Zwecke der Ernährung aufgebürdet: »Denn 9 Staub bist du und zum Staub zurück kehrst du zurück« (Gen 3, 19). 10 Adam und Eva werden als die Ureltern der Menschheit angesehen 11 und durch den Sündenfall sind die Sünde und das Leid in die Welt ge- 12 kommen (Erbsünde). In der christlichen Tradition wird diese Sünde 13 über den Geschlechtsakt und die Geburt an die Nachkommen weiterge­ 14 geben. Die Sexualität wird somit der zentrale Akt, in dem sich die Sünde 15 symbolisch kristallisiert. Sexualität wird dadurch negativ besetzt und ist 16 dieser Logik nach nur dann zu rechtfertigen, wenn sie dem Zweck dient, 17 Nachwuchs zu zeugen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich auch, dass 18 es sich bei der Geburt Jesu um eine Jungfrauengeburt handelt: Es ging 19 dabei um die Frage, ob der Sohn Gottes, der durch seinen Tod am Kreuz 20 den Menschen von der Erbsünde befreit, selbst mit der Erbsünde belastet 21 sein kann. 22 23 24 Fokussierung auf den Nachwuchs 25 26 In der christlichen Tradition ist Sexualität eng mit Sünde verbunden. 27 Gleichzeitig liegt in der Schöpfungsgeschichte auch die Warnung an den 28 Menschen, die Gebote Gottes bedingungslos einzuhalten, indem ein- 29 drucksvoll gezeigt wird, welche gravierenden Folgen das relativ harmlos 30 erscheinende Naschen vom Baum der Erkenntnis haben kann. Auch die 31 Sexualität verleitet den Menschen leicht dazu, sich sündhaft zu verhalten, 32 indem er der Lust nachgibt, ohne dabei an den Nachwuchs zu denken. 33 So hatte Augustinus von Hippo, einer der vier großen Kirchenlehrer der 34 Spätantike, eine ausgesprochen pessimistische Haltung gegenüber Sexua- 35 lität. Seiner Ansicht nach verführt das sexuelle Begehren den Menschen 36 zur Sünde. Auch für Thomas von Aquin bezweckt die Sexualität im Sinne 37 Gottes allein die Fortpflanzung. Daraus folgt, dass die Befriedigung von 38 Lust aus christlicher Perspektive auf keinen Fall das Ziel der Sexualität

248 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Plurale Medien leisten ein Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung sein darf. Sie ist nur dann statthaft, wenn sie der Fortpflanzung dient. 1 Ehebruch, Prostitution, Selbstbefriedigung, Coitus interruptus oder 2 gleichgeschlechtliche Beziehungen führen nicht zur Fortpflanzung im 3 gewünschten Sinn und wurden daher als Sünde angesehen. 4 In der frühen Neuzeit haben sich dann zum Teil positivere Haltungen 5 zur Sexualität durchgesetzt. Als aber im 17. Jahrhundert die Pest und zahl- 6 reiche Geschlechtskrankheiten wie die Syphilis bedrohliche Ausmaße an- 7 nahmen, änderte sich das wieder. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine 8 männerzentrierte Sexualethik, die eine Unterordnung der Frauen unter 9 die Männer rechtfertigte. Der Mann war auf den Zeugungsakt fokussiert, 10 woraus die Verantwortung entstand, sich um die Erziehung des Kindes 11 zu kümmern. Der Frau hingegen wurde jede sexuelle Lust abgesprochen. 12 Ihre Leidenschaft galt der Fürsorge für den Nachwuchs. 13 14 15 Die Rolle der Medien bei der Wertevermittlung 16 17 Bereits bei der Entstehung und Implementierung der ersten normativen 18 Vorstellungen zur Sexualität spielten Medien eine wichtige Rolle. Die 19 Sprache diente dazu, Normen zu formulieren, zu verbreiten und sie in ein 20 Verhältnis zu Strafe und Belohnung zu bringen. Um die Kommunikations­ 21 möglichkeiten zu erweitern, gab es öffentliche Reden auf Plätzen, in den 22 Tempeln und später in den Kirchen. Während es sich hier um relativ 23 überschaubare Gruppen von Adressat_innen handelte, schuf die römisch-­ 24 katholische Kirche nach dem dritten Jahrhundert n.Chr. das erste Massen- 25 medium, das zumindest den größten Teil des Abendlandes umspannte: 26 den Gottesdienst. In diesem Zeitalter der »primären Medien« wurden für 27 eine mediale Vermittlung weder auf Sender_innen- noch auf Empfänger_ 28 innenseite technische Hilfsmittel benötigt – mit Ausnahme der bunten 29 Kirchenfenster –, um die Botschaften gut nachvollziehbar zu transpor- 30 tierten. Allerdings war die Weitergabe der kirchlichen Botschaften durch 31 den langen Weg und die vielen unterschiedlichen Priester, die die entspre- 32 chenden Nachrichten von Rom aus verbreiten sollten, womöglich etwas 33 ungenau. Auch wenn der Gottesdienst als Massenmedium technisch von 34 der Perfektion moderner Kommunikationsmittel noch weit entfernt war, 35 so besaß er doch lange Zeit effektivitätsbezogene Vorteile: Zunächst war 36 es das einzige Massenmedium, das es gab. Denn die Botschaft wurde über 37 die Organisation der Kirche in einen großen Teil der Welt transportiert, 38

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1 wenn auch ohne technische Mittel. Zudem war er eine Mischung aus reli- 2 giöser Vermittlung, Gemeinschaftserlebnis mit symbolischen Handlungen 3 zur Stärkung der Botschaft (z. B. die Kommunion) und diente nicht zuletzt 4 auch der Unterhaltung. Die Kirche war in Dörfern und Städten der zen- 5 trale Ort und bot die Möglichkeit zur Massenkommunikation. 6 Das weltanschauliche und ethische Monopol des kirchlichen Massen- 7 mediums Gottesdienst bekam Konkurrenz, als Johannes Gutenberg Mitte 8 des 15. Jahrhunderts den Buchdruck erfand (in China war er schon zuvor 9 gebräuchlich) und ihn kommerziell etablierte. Die Kirche nutzte dieses 10 neue Medium zwar auch, aber nicht nur sie: Wer eine gegenteilige oder 11 andere Meinung verbreiten wollte, konnte dies nun im großen Stil reali- 12 sieren. In Bezug auf die Sexualmoral geriet so einiges in Bewegung. Doch 13 die durch die Erbsünde geschaffene starke Verbindung zwischen sexueller 14 Lust und Schuld ließ sich nicht durch die zunehmende Säkularisierung 15 abtun. Immer wieder gab es neue Anlässe, um von einer allzu freizügigen 16 Sexualität abzuraten. 17 18 19 Allmähliche Liberalisierung der Sexualethik 20 21 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten Erkenntnisse der Se- 22 xualforschung und die Triebtheorie von Sigmund Freud und Wilhelm 23 Reich allmählich zu einer Liberalisierung der Sexualmoral. »Sexualität 24 ohne Schuldgefühle, basierend auf einer Konsensmoral, lustvoll für beide 25 Partner und nicht unbedingt produktiv«, so könnte man den Geist der 26 Zeit auf den Punkt bringen. Diese Entwicklung wurde durch die völlig 27 ambivalente und in sich widersprüchliche Sexualethik der Nationalsozi- 28 alist_innen beendet. Aufgrund der Destruktion aller menschlichen und 29 materiellen Wertvorstellungen während der NS-Herrschaft entstand nach 30 ihrem Ende in den 1950er Jahren das Bedürfnis nach einer Restauration 31 der christlich-bürgerlichen, restriktiven Sexualmoral. »Unzüchtige Schrif- 32 ten«, also das, was man heute als Pornografie bezeichnen würde, waren 33 in der BRD und in Westberlin verboten. Gleichgeschlechtliche sexuelle 34 Handlungen unter Männern wurden nach § 175 Strafgesetzbuch gericht- 35 lich verfolgt, in der BRD und in Westberlin bestand der Strafparagraf 36 gegen mann-männliche sexuelle Handlungen bis Ende der 1960er Jahre 37 in der NS-Fassung. In den 1960er Jahren richtete die sich vorrangig im 38 studentischen Milieu entwickelnde Protestbewegung auch gegen diese

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Prüderie. Sie wurde als faschistisch und als Fortführung der NS-Sexual- 1 moral angesehen. Die Kirchen, die ihre sexualfeindliche Haltung mit dem 2 angeblich »gesunden Volksempfinden« begründeten, wurden immer 3 weniger ernst genommen. Die Frauenbewegung forderte darüber hinaus 4 die Selbstbestimmung über die weibliche Sexualität sowie das Recht auf 5 Abtreibung. Dagegen wurden Pornografie und Prostitution als Formen 6 der patriarchalen Unterdrückung bekämpft. Die Pille ermöglichte zudem 7 sexuelle Erfahrungen ohne Angst vor ungewollter Schwangerschaft. Papst 8 Paul VI. positionierte sich 1968 mit seiner Enzyklika »Humanae vitae« 9 gegen Empfängnisverhütung und forderte, dass jeder Geschlechtsakt 10 die Möglichkeit des Entstehens menschlichen Lebens beinhalten müsse. 11 Aller ­dings waren selbst katholische Gläubige nicht mehr bereit, dieser 12 sexu ­alfeindlichen Haltung zu folgen. Das wirkte sich sowohl auf die 13 Sexual ­ethik als auch auf die Gesetzgebung aus. Ende der 1960er Jahre 14 begann die d­ amalige sozialliberale Koalition mit der Reform des Sexual­ 15 strafrechts. Das Verbot der Homosexualität wurde 1969 abgemildert, 16 es galten fortan »nur noch« unterschiedliche Schutzaltersgrenzen für 17 anders- und für gleichgeschlechtlichen Sex. Erst seit 1994 gelten auch im 18 alten Bundesgebiet für gleichgeschlechtliche Handlungen dieselben ge- 19 setzlichen Bestimmungen wie für heterosexuelle Handlungen. Ebenfalls 20 1969 wurde das Verbot detaillierter sexueller Darstellungen (unzüchtige 21 Schriften) aufgehoben, da ein Gerichtsurteil befand, dass die Sexualmoral 22 nicht zu den staatlichen Aufgaben gehöre. Pornografie (übersetzt etwa: 23 »Schreiben über Hurerei«) wurde für Erwachsene erlaubt; es ist aber ver- 24 boten, sie gewerblich Kindern und Jugendlichen zugänglich zu machen. 25 26 27 Die Massenmedien des 20. Jahrhunderts 28 29 Der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommende Kinofilm schaffte bereits 30 1919 seinen ersten Skandal mit einem Plädoyer für die Entkriminalisie- 31 rung der Homosexualität. Anders als die Andern (D 1919, Regie: Richard 32 Oswald) schildert die Geschichte des homosexuellen Musikers Paul Körner, 33 der von seinem bezahlten Liebhaber erpresst wird und sich selbst anzeigt, 34 als er das Geld für die Erpressung nicht mehr aufbringen kann. Es kommt 35 zu einem Prozess, in dem , Gründer des Instituts für 36 Sexualwissenschaft, einen Arzt und damit praktisch sich selbst spielt, der 37 sich als Gutachter vehement für die Abschaffung des §175 Strafgesetzbuch 38

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1 und damit für den homosexuellen Angeklagten ausspricht. Trotz dieses 2 Plädoyers wird Körner schuldig gesprochen und begeht aus Verzweiflung 3 am Ende Suizid. Dieser Film führte bei konservativen Politiker_innen und 4 der konservativen Presse zu äußerster Empörung. Er wurde als unsittlich 5 und moralisch dekadent abgelehnt. Nicht zuletzt aufgrund dieser Empö- 6 rung wurde 1920 das erste Reichslichtspielgesetz, Vorläufer des heutigen 7 Jugendschutzgesetzes, verabschiedet. Kinospielfilme waren nun generell 8 nur für Erwachsene frei zugänglich, sollten sie Kindern und Jugendlichen 9 vorgeführt werden, benötigten sie eine Freigabe der Reichsfilmkammer. 10 Mit diesem Gesetz war auch ein generelles Verbot von Filmen rechtlich 11 möglich. Ausschlaggebend dafür war die Befürchtung konservativer Kreise, 12 manche Filme würden zu einem »Sittenverfall« führen. Nur eine neue 13 Zensur für das Kino könne dies verhindern. Im gleichen Jahr wurde der 14 Film Anders als die Andern verboten, sämtliche Kopien wurden eingezogen 15 und vernichtet. 16 Nach dem Ende der NS-Herrschaft, die auch mithilfe der unter ihrer 17 Kontrolle stehenden Medien sämtliche Werte einer zivilisierten Gesell- 18 schaft auf den Kopf gestellt hatte, gab sich die 1949 gegründete Bundes- 19 republik Deutschland eine liberale Verfassung. An die erste Stelle, in 20 ihren Artikel 1, stellte sie die Würde des Menschen. Artikel 5 garantiert 21 eine weitgehende Meinungs- und Informationsfreiheit, eine Vorzensur 22 wurde verboten. Aber schon bald wurde die Medienfreiheit auf eine 23 ernste Probe gestellt. 1951 erschien der Film Die Sünderin (D 1951, 24 Regie: Willi Forst), der erst im Berufungsausschuss von der Freiwilligen 25 Selbstkon ­trolle der Filmwirtschaft (FSK) eine Freigabe ab 18 Jahren er- 26 hielt. Dass dieser Film überhaupt freigegeben wurde, führte damals zu 27 Protesten der Kirche, die vorübergehend ihre Mitwirkung an den Prüf- 28 ausschüssen der Selbstkontrolle verweigerte. In katholisch geprägten 29 Gegenden Deutschlands hinderten Kirchengemeinden unter Anstiftung 30 ihres Pfarrers Zuschauer_innen mit Gewalt daran, sich den Film im ört- 31 lichen Kino an­zuschauen. Der Film erzählt die Geschichte der Prostitu- 32 ierten Marina, die sich in einen Maler verliebt, für den sie ihre Tätigkeit 33 aufgibt, bis dieser an einem Gehirntumor erkrankt. Um das Geld für eine 34 Operation zu beschaffen, kehrt sie in ihr früheres Tätigkeitsfeld zurück. 35 Die Operation gelingt, dem Paar geht es gut, Marina wirkt als Aktmodell 36 für ihren Lebens­partner. Viele Kritiker_innen behaupten heute, dass eine 37 Szene, in der Marina kurze Zeit (sieben Sekunden) nackt zu sehen ist, das 38 Motiv für die Kritik der Kirchen gewesen sei (vgl. Eisermann, 2001, S. 29).

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Der wichtigere Grund jedoch war, dass der Maler am Ende des Films einen 1 Rückfall erleidet und Marina ihn auf seinen Wunsch hin mit Gift tötet. 2 Anschließend begeht sie Suizid. Solch ein Verhalten war nach den Eu- 3 thanasieerfahrungen zur NS-Zeit nicht akzeptabel. Der damalige Kölner 4 Erzbischof Kardinal Joseph Frings warnte in einem Hirtenbrief vor dem 5 Besuch des Films und Flugblätter wurden verteilt: »›Die Sünderin‹ – 6 Ein Faustschlag ins Gesicht jeder anständigen deutschen Frau! Hurerei 7 und Selbstmord! Sollen das die Ideale eines Volkes sein?« (Bundesarchiv, 8 o. J.). Aufgrund von heftigen Demonstrationen und Ausschreitungen vor 9 mehreren deutschen Kinos kam es zu einem kurzfristigen Aufführungs- 10 verbot des Films. Später wurde Die Sünderin wieder freigegeben. Das Auf- 11 führungsverbot und die Urteile der Landesverwaltungsgerichte wurden 12 1954 vom Bundesverfassungsgericht wieder aufgehoben. Das Gericht er- 13 klärte Filme zu Zeugnissen der Kunst, denen ein weitreichender Freiraum 14 eingeräumt werden müsse. Später gab die FSK dem Film eine Freigabe 15 »ab 12 Jahren«. Im öffentlich-rechtlichen Fernsehen wurdeDie Sün­ 16 derin bereits um 19.30 Uhr ausgestrahlt. Die Empörung über diesen Film 17 kam vorrangig von Menschen mit kirchlichem Hintergrund. Der Film 18 wurde zum Kassenschlager. 19 1963 erregte der Film Das Schweigen (S 1963, Regie: Ingmar Berg- 20 mann) weltweit Aufsehen. In dem emotional distanzierten und dadurch 21 hoffnungslos wirkenden Film geht es um die beiden Schwestern Anna und 22 Ester sowie um Annas zehnjährigen Sohn Johan. Aufgrund Esters Erkran- 23 kung muss die Gruppe bei einer längeren Fahrt in einer Kleinstadt pau­ 24 sieren. Während sich Ester bemüht, im Hotel das Vertrauen des Jungen zu 25 gewinnen, lernt Anna bei einem Streifzug durch die Stadt einen Kellner 26 kennen, mit dem sie schließlich in einer Kirche Geschlechtsverkehr hat. 27 Die ältere Ester wird zwischendurch bei einer Masturbation gezeigt. Die 28 Kommentare zu dem Film schwankten zwischen »Das ist Kunst« und 29 »Das ist Pornographie« (vgl. Ramseger in Die Welt vom 23.11.1963). 30 Der Arbeitsausschuss der FSK bezeichnete den Film als Kunst und gab 31 ihn ohne Schnitte ab 18 Jahren frei. Er habe nichts Aufgesetztes oder 32 ­Spekulatives, selbst die drei Sexszenen seien »von hoher künstlerischer In- 33 tensität und treffender Symbolkraft«, so der Jugendentscheid. Die Film­ 34 bewertungsstelle erteilte dem Film das Prädikat »besonders wertvoll« 35 (vgl. Kniep, 2010, S. 131). 36 Deutschland war damals neben Schweden eines der wenigen Länder, 37 in denen der Film ungeschnitten zu sehen war. In Frankreich war er zu- 38

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1 nächst verboten. Die Skandalisierung des Films bescherte ihm über zehn 2 Millionen Zuschauer_innen in Deutschland, allerdings gingen zahlreiche 3 Strafanzeigen bei der Staatsanwaltschaft ein, die den Film als unzüchtig an- 4 klagten. Zwei Unionspolitiker stellten eine Anfrage an die Bundesregierung, 5 was sie gegen solch unsittliche Filme und die Lockerung der Spruchpraxis 6 der FSK unternehmen wolle. Der damalige CSU-Innenminister Hermann 7 Höcherl wandte sich allerdings gegen solche Zensurforderungen. Statt- 8 dessen wurde von anderen CSU-Politiker_innen, allen voran der Jurist 9 Adolf Süsterhenn, die »Aktion saubere Leinwand« gegründet, die sich 10 gegen »Unmoral unter dem Deckmantel der Kunst« wandten und der 11 FSK vorwarfen, mit derartigen Filmen nicht streng genug umzugehen (vgl. 12 Der Spiegel, Heft 21, 19.05.1965, S. 37) Darüber hinaus wurden strengere 13 Gesetze gefordert, zum Beispiel die Anhebung der obersten Altersgrenze 14 auf 21 Jahre. Süsterhenn initiierte 1965 eine Kampagne, die sich für eine 15 Änderung des Grundgesetzes einsetzte. Ziel war es, auch die Freiheit der 16 Kunst auf den »Rahmen der sittlichen Ordnung« zu begrenzen. Etwa 17 zwei Drittel der Unionsabgeordneten unterstützten die Initiative, aller- 18 dings fehlte es in der Parteispitze an Rückhalt. Außerdem waren SPD und 19 FDP dagegen. 20 Aber nicht nur in Deutschland unterlagen Filme, die sich für sexuelle 21 Freiheit einsetzten, staatlichen Zensurbeschränkungen oder den Freigabe- 22 voraussetzungen der Selbstkontrolle. In den USA verpflichteten sich die 23 Produzent_innen und Filmverleihe zur Einhaltung des Production Codes, 24 der von dem ehemaligen Wahlkampfmanager Will H. Hays 1930 im Auf- 25 trag der Hollywood-Studios entwickelt wurde, um Zensurbestimmungen 26 durch den Staat zu verhindern. Als wichtigste von sieben Regeln wurde 27 Obs ­zönität in allen Formen verboten. Dazu gehörte auch die Darstellung 28 oder gar Rechtfertigung gleichgeschlechtlicher Lebensformen. Da der 29 Anteil an toleranten und auch homosexuellen Menschen unter Künstler_ 30 innen und Filmschaffenden relativ hoch war, gab es zahlreiche heimliche 31 Versuche, sich in Filmen für Toleranz einzusetzen, ohne offen gegen den 32 Hays Code zu verstoßen. Der Spielfilm Celluloid Closet – gefangen in der 33 Traumfabrik (USA 1995, Regie: Rob Epstein und Jeffrey Friedman) stellt 34 diese Ambivalenz Hollywoods eindrücklich dar. 35 Trotz aller Einschränkungen und Zensurbestimmungen wurden jedoch 36 immer weltweit offen oder verdeckt sexuelle Verhaltensweisen dargestellt 37 und thematisiert, die jenseits des gesellschaftlich Akzeptierten lagen (vgl. 38 Wikipedia, o. J., a).

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Nicht der Homosexuelle ist pervers, 1 sondern die Situation, in der er lebt 2 3 1971 veröffentlichte der homosexuelle Regisseur Rosa von Praunheim seinen 4 im Auftrag des WDR produzierten FilmNicht der Homosexuelle ist pervers, 5 sondern die Situation, in der er lebt (D 1971, Regie: Rosa von Praunheim). 6 Dieser Dokumentarfilm führte zur Gründung zahlreicher Homosexuellen- 7 initiativen. Zwar war das Totalverbot der Homosexualität 1969 aufgehoben 8 worden, aber erst 1994 wurde § 175 aus dem Strafgesetzbuch gestrichen. 9 Vom Verzicht des Staates auf Strafverfolgung bis hin zur Akzeptanz gleich- 10 geschlechtlicher Paare in der Öffentlichkeit war es allerdings noch ein weiter 11 Weg. Der 1970 produzierte Film wurde nach vielen Kontroversen 1972 im 12 WDR gesendet. Bei seiner Erstausstrahlung in der ARD 1973 klinkte sich 13 der Bayerische Rundfunk aus dem gemeinsamen Programm aus. 14 Ähnliches spielte sich im Kontext des von Bernd Eichinger produzierten 15 Films Die Konsequenz (D 1977, Regie: Wolfgang Petersen) ab. Die autobio- 16 grafische Geschichte handelt von dem homosexuellen Schauspieler Martin 17 Kurath, der wegen homosexueller Handlungen zu einer Gefängnisstrafe 18 verurteilt wird und sich ausgerechnet in den Sohn des homophoben Ge- 19 fängniswärters verliebt. Nach Kuraths Entlassung versucht der Vater alles, 20 um das Verhältnis der beiden zu unterbinden. Aus Verzweiflung begeht 21 der Sohn Suizid. Die Ausstrahlung des Films am 8. November 1977 in der 22 ARD fand wieder ohne den Bayerischen Rundfunk statt. Dem Sender war 23 der Inhalt des Films zu brisant. Die gesellschaftliche Stimmung bezüglich 24 der Homosexualität hatte sich inzwischen zumindest so weit entspannt, 25 dass der Film 1977 den renommierten Grimme-Preis und 1978 den Deut- 26 schen Kritikerpreis erhalten konnte. 27 Am 10. Dezember 1991 trat Rosa von Praunheim in der RTL-Sendung 28 Der heiße Stuhl auf und outete die Fernsehmoderatoren Alfred Biolek und 29 Hape Kerkeling als homosexuell. Diese Aktion war unter Schwulen äußerst 30 umstritten, denn das Outing geschah gegen den Willen der Betroffenen. 31 Praunheim war der Meinung, die Veröffentlichung fördere die Akzeptanz 32 von Homosexualität. Die Betroffenen würden durch ihre Bekanntheit dazu 33 beitragen, dass auch Schwule in gesellschaftlich herausragenden Positio- 34 nen akzeptiert würden. Auch heute wird noch darüber gestritten, ob diese 35 Aktion gerechtfertigt war, weil sie letztlich die Entscheidung der betroffe- 36 nen Person nicht respektierte. In Hinblick auf die Akzeptanz von Homo­ 37 sexuellen im Showgeschäft war sie sicherlich erfolgreich. 38

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1 »Ich bin schwul – und das auch gut so« 2 3 »Ich sag euch etwas zu meiner Person. Ich weiß ja, ich bin ja schon eine 4 Persönlichkeit des öffentlichen Lebens, und ich weiß auch ganz genau, dass 5 mein Privatleben, jetzt sowieso, nur noch öffentlich sein wird. Aber damit 6 auch keine Irritationen hochkommen, liebe Genossinnen und Genossen; ich 7 sag’s euch auch, und wer’s noch nicht gewusst hat: Ich bin schwul – und das 8 ist auch gut so, liebe Genossinnen und Genossen!« (Klaus Wowereit vor 9 den Delegierten des Nominierungsparteitages der SPD, 10. Juni 2001, zit. 10 n. Kumpfe, 2014). 11 12 Diese Äußerung von Berlins langjährigem Bürgermeister Klaus Wowereit 13 markierte einen Meilenstein in der offiziellen Akzeptanz homosexueller 14 Politiker_innen. Seine sympathische, offensive und amüsante Formulie- 15 rung wurde von den Medien gerne und sehr breit kommuniziert und ist 16 seitdem vielfach wiederholt worden. Dieses Beispiel zeigt, dass nicht nur 17 die Angebote der Medien selbst (Spielfilmen, Serien) zu einer Veränderung 18 der Sexualethik beitragen, sondern auch Personen des öffentlichen Lebens, 19 die über die Medien präsent sind. Jedenfalls ist seit dem Coming-out 20 ­Wowereits ein homosexueller Bürgermeister oder Bundesminister nichts 21 Außergewöhnliches mehr. 22 23 24 Conchita Wurst 25 26 Der Österreicher Tom Neuwirth kämpft dafür, dass »es Jugendliche leich- 27 ter haben – und zwar egal, aus welchem Grund sie anders als die anderen 28 sind« (Großschopf, 2013). Der Travestiekünstler hat sich als Sänger einen 29 Namen gemacht, sein Kennzeichen besteht darin, ein weibliches Aussehen 30 mit einem gepflegten Vollbart zu verbinden. Den Namen »Conchita« 31 hat er aus Südamerika, wo er geboren wurde, entlehnt, den Nachnamen 32 »Wurst« wählte er als Ausdruck dafür, dass es eben »Wurst« ist, welche 33 sexuelle Orientierung man hat. Er wurde vom ORF in einer internen Aus- 34 wahl als österreichischer Kandidat für den Eurovision Song Contest 2014 35 nach Kopenhagen gesandt und gewann überraschend. In Österreich stieß 36 seine Kandidatur auf sehr viel Kritik. Sein Song Rise Like a Phoenix wollte 37 von keiner Plattenfirma herausgebracht werden. Auf Facebook wurde eine 38 Gruppe mit dem Titel »Nein zu Conchita Wurst beim Song Contest«

256 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Plurale Medien leisten ein Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung

­gegründet. In Weißrussland rief man mit der Begründung, »der popu- 1 läre internationale Wettbewerb sei mithilfe der europäischen Liberalen 2 zu einem Brutherd der Unzucht verkommen« (Wikipedia, o. J., b) zum 3 ­Boykott des Song Contests auf. Für Jaroslaw Kaczynski in Polen war Con- 4 chita Wurst ein Symbol für den »Verfall des modernen Europas« (ebd.). 5 Ein türkischer Parlamentarier war froh, dass sein Land nicht mehr am 6 Euro ­vision Song Contest teilnehme und in Russland forderte der Politiker 7 Witali Milonow ebenfalls einen Boykott des Song Contests. Er hatte in 8 Sankt Petersburg ein Gesetz gegen Propaganda von Homosexualität und 9 Pädophilie initiiert, das landesweit durchgesetzt werden sollte (ebd.). 10 Eine derartig massive Beschimpfung traf den Nerv der Zuschauer_innen 11 jedoch nicht. Im Gegenteil: Sie verstärkte die Empathie und die Solida- 12 rität mit dem Sänger. Seine Inszenierung war sympathisch, der Song und 13 seine Stimme gut und alles in allem war sein Sieg ein Beweis dafür, dass 14 der Mensch mit seinen Leistungen in den meisten Ländern Europas un- 15 abhängig von seiner sexuellen Orientierung akzeptiert wird. Die Sendung 16 wurde von 180 Millionen Menschen gesehen, es war das viertbeste Ergeb- 17 nis in der Geschichte des europäischen Song Contests. Diese Akzeptanz 18 ging schließlich auch auf seine ehemaligen Kritiker_innen über, was der 19 begeisterte Empfang in Österreich nach seiner Rückkehr aus Kopenhagen 20 demonstrierte. 21 22 23 Mediale Tabubrüche motivieren den ethischen Diskurs 24 25 Das Beispiel des oben genannten Films Anders als die Andern, der im Jahre 26 1919 als ein Plädoyer gegen die gesellschaftliche Ablehnung der Homo­ 27 sexualität startete, zeigt, dass ein Angriff den angegriffenen Wert auch stärken 28 kann. Dies hängt zum einen mit der Situation der Medien zur damaligen 29 Zeit zusammen, die sich größtenteils zusammen mit konservativen Politi- 30 ker_innen über den Tabubruch empörten. Zum anderen war die angegrif- 31 fene Norm aber auch sehr tief im Unbewussten der Menschen verhaftet. 32 Die durch den Film geforderte Veränderung der gesellschaftlichen Werte- 33 haltung erschien abwegig. Sie schien eine Abkehr von der Moral zu sein, 34 die zur Aufrechterhaltung einer gesellschaftlichen Ordnung wichtig schien. 35 Dabei darf nicht vergessen werden, dass ethische Normen nicht immer als 36 Einschränkungen gesehen werden, sondern auch Lebenssinn, Struktur und 37 Orientierung geben können. Veränderungen von Genderzuschreibungen 38

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1 werden von vielen auch als Verunsicherung bestehender Lebensmuster 2 empfunden und führen dadurch unabhängig von der intellektuellen Beur- 3 teilung zu einer emotionalen Ablehnung. Dennoch sind solche medialen 4 Tabubrüche immer wieder notwendig, um über den Sinn der Normen zu 5 diskutieren. In einer Gesellschaft wie der des beginnenden 20. Jahrhunderts 6 allerdings, in der die Befolgung gesellschaftlich vorgegebener Normen ge- 7 fordert war, folgt auf einen Angriff auf die Norm unmittelbar die Strafe – 8 im Falle des Films Anders als die Andern das Verbot des Films und rechtli- 9 che Beschränkungen der Filmfreigabe. Die Zeit für eine Liberalisierung der 10 Norm war noch nicht reif. Allerdings war der Film eine Ermutigung für 11 viele, in der Kunst und auch im Film für die Abschaffung der dargestellten 12 Diskriminierung zu werben, was inzwischen tatsächlich zu einer rechtli- 13 chen und gesellschaftlichen Liberalisierung beigetragen hat. 14 15 16 Medien als Werteinstanz? 17 18 Der Kommunikationswissenschaftler Jo Reichertz vertritt die Auffassung, 19 dass die mediale Toleranz vor allem durch das private Fernsehen gewachsen 20 ist, weil die Sender aus kommerziellem Interesse heraus keine Zuschauer_ 21 innen aufgrund ihrer religiösen Überzeugung oder sexuellen Orientierung 22 als potenzielle Konsument_innen verlieren wollen: 23 24 »Die privaten Rundfunkanbieter mussten während ihres Aufbaus Mitte 25 der 1980er-Jahre daran interessiert sein, möglichst viele Zuschauer an sich 26 zu binden oder möglichst viele Zielgruppen anzusprechen, um eine öko- 27 nomische Selbstständigkeit gegenüber den längst etablierten öffentlich- 28 rechtlichen Sendern zu erreichen. Sie mussten und müssen für jeden etwas 29 bieten und können niemanden verprellen. Deshalb liefern sie für fast jede 30 (noch so kleine) Zielgruppe ein passendes Programm – wenn auch nicht zur 31 besten Sendezeit – und haben kein Interesse daran, jemanden richtig fertigzu­ 32 machen oder auszugrenzen. Das Fernsehen ist meiner Ansicht nach eine der 33 wenigen Institutionen, die sich auch die kleinsten Welten ansehen und diese 34 nicht diffamieren oder denunzieren, sondern immer ein gewisses Maß an Ver- 35 ständnis zeigen. Dadurch, dass die Medien in den letzten Jahrzehnten auch 36 in die kleinsten Winkel der geografischen und sozialen Welt gesehen haben 37 (anders als die Soziologie, die sich vor allem um die Mittelschicht kümmert), 38 ist unser Erfahrungskreis so groß geworden, dass wir allein schon aufgrund

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der Vielfalt erkennen können, wie ›klein‹ und begrenzt wir sind und wie 1 vielfältig die Welt ist. Das Fernsehen ist somit tatsächlich eine Quelle für 2 mehr Toleranz« (Reichertz in Gottberg, 2015b, S. 40). 3 4 Nach Reichertz sind die Medien in Hinblick auf den Wertewandel keine 5 selbstständigen Akteur_innen. Sie bieten aber eine breite Plattform für 6 unterschiedlichste Wertvorstellungen, die letztlich von denen angeboten 7 werden, die den medialen Kommunikationsprozess nutzen: 8 9 »Gerade die Medien stellen uns die gesamten Werte aller Kulturen dieser 10 Welt zur Verfügung. Sie machen uns damit bekannt, ohne sie uns aufzu- 11 drängen. Jeder kann selbst entscheiden, ob er ihnen nachgehen oder ihnen 12 anhängen will. Jeder Einzelne ist genötigt, sich dazu zu verhalten und für 13 sich die geeigneten Werte zu finden. Das funktioniert allerdings nicht so, 14 wie man sich im Supermarkt für ein Waschpulver entscheidet, sondern 15 man muss von einem Ziel oder einem Wert wirklich ergriffen sein, damit 16 es für einen selbst zum Wert wird, an dem man sein Handeln ausrichtet« 17 ( ­Reichertz, 2007, S. 50). 18 19 20 Medien als Fenster zur Erwachsenenwelt 21 22 Medien bieten also die Möglichkeit des Perspektivwechsels. Jede_r Dreh- 23 buchautor_in und Regisseur_in kennt die Mittel, mit deren Hilfe sich 24 Sympathien für Filmfiguren erzeugen lassen. Diese schaffen Verständnis 25 und bauen Vorurteile ab, weil die Zuschauer_innen das Leben des ande- 26 ren zwar nicht real, aber zumindest symbolisch erfahren hat. Viele Serien 27 bieten zudem die Möglichkeit der parasozialen Interaktion, womit ge- 28 meint ist, dass eine beliebige Figur aus einer Fernsehserie zu einer Bezugs- 29 person wird, mit der man Gedanken kommuniziert wie mit einer_m 30 guten Bekannten. Einige solcher Serien richten sich direkt an Kinder 31 und Jugend­liche. So ist beispielsweise die RTL-Erfolgsserie Gute Zeiten, 32 schlechte Zeiten inzwischen für mehrere Generationen zu einer regel­ 33 mäßigen Begleiterin geworden. Hier erfährt das Kind oder der_die jüngere 34 Jugendliche, was von der späteren Rolle als Erwachsene_r zu erwarten ist: 35 die erste Liebe, Liebeskummer, soziale Konflikte, Arbeitslosigkeit, Liebes­ 36 beziehungen mit verschiedenen religiösen Hintergründen. All diese Kon- 37 flikte werden nicht belehrend, sondern diskursiv dargestellt. »Wir ver- 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 259 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Joachim von Gottberg

1 suchen eben, keine Meinungen vorzugeben, wir beleuchten die Themen 2 prinzipiell von mehreren Seiten. Dabei immer bewusst Denkanstöße bie- 3 tend und eine Meinungsvielfalt abbildend. Dadurch werden die Serien- 4 inhalte doch erst abwechslungsreich und vermeiden Klischeehaftigkeit« 5 (Gosh in Gottberg, 2012, S. 56). 6 Auch in der Kommunikationswissenschaft wird inzwischen darüber 7 geforscht, inwieweit Informationen, aber auch Lebensstile und Wertvor- 8 stellungen durch Unterhaltungssendungen vermittelt werden können. An 9 der Universität Wien wurde systematisch untersucht, welche Darstellungs- 10 formen dafür geeignet sind, dass sich die Zuschauer_innen von Arztserien 11 beispielsweise medizinisches Wissen optimal merken. Gleiches gilt für die 12 Vermittlung von Verhaltensweisen, die als »richtig« oder als »falsch« 13 beim Publikum in Erinnerung bleiben. Die Ergebnisse lassen sich wie folgt 14 zusammenfassen: 15 16 »Die erzieherische Absicht darf erst zum Tragen kommen, wenn das Publi- 17 kum bereits an der Telenovela interessiert und in die Handlung involviert ist. 18 Wenn die Zuschauer von Anfang an merken, dass die Sendung eine erziehe- 19 rische Absicht hat, wenden sie sich ab, dann funktioniert das nicht mehr« 20 (Rosenzweig in Gottberg, 2015a, S. 75). 21 22 23 Die Medien nutzen 24 25 Besonders kommerzielle Medien leben von Aufmerksamkeit. Um sich zu 26 refinanzieren, müssen sie Aufmerksamkeit generieren und diese lässt sich 27 leicht durch Angriffe auf gesellschaftliche Grenzen und Tabus erzeugen. 28 Dadurch motivieren sie die Gesellschaft, über den Sinn des Fortbestan- 29 des beispielsweise einer restriktiven Sexualmoral zu diskutieren. Vor allem 30 Unter ­haltungsmedien bieten unterschiedliche Perspektiven an und schaf- 31 fen so Empathie und Verständnis für Menschen, die eine andere sexuelle 32 Orientierung als die Zuschauer_innen besitzen. All dies ist eine wichtige 33 Voraussetzung, um die Akzeptanz für sexuelle Vielfalt in der Gesellschaft 34 zu etablieren. Dabei ist es durchaus sinnvoll, gezielt auf Produzent_innen 35 und Sender_innen zuzugehen und für Engagement hinsichtlich sexueller 36 Vielfalt zu werben. Die Medien bieten in ihrer Gesamtheit kein einheit- 37 liches, sondern ein sehr diverses Werteangebot, was die Zuschauer_innen 38 letztlich zwingt, sich zu entscheiden.

260 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Plurale Medien leisten ein Plädoyer für sexuelle Selbstbestimmung

Allerdings darf die Wirkungsmacht der Medien auch nicht überschätzt 1 werden. Die negative, restriktive Sichtweise auf die Sexualität als Faktor der 2 Lust und die einseitige Orientierung auf die Zeugung von Nachkommen ist 3 immer noch in den Köpfen verankert. Der Weg zu mehr Toleranz und Ak- 4 zeptanz anderer wird vermutlich nicht linear, sondern zuweilen mit Rück- 5 schritten verlaufen. Ein wichtiger Faktor innerhalb der Wertebildung durch 6 Medien ist ihre Pluralität. Im Bereich des Rundfunks war diese relativ groß, 7 weil selbst die kleineren privaten Sender zumindest ansatzweise über Nach- 8 richten verfügten, in denen unterschiedliche wichtige Positionen zu politi- 9 schen, gesellschaftlichen oder ethischen Themen aufgezeigt wurden. 10 In den letzten Jahren hat sich das Medienverhalten von Kindern und 11 Jugendlichen grundlegend geändert. Fernsehserien werden fast ausschließ- 12 lich über Internetplattformen konsumiert. Soziale Netzwerke wie Face- 13 book gewinnen auch in Hinblick auf die Informationsbeschaffung eine 14 immer ­größere Bedeutung. Gleichzeitig besteht die Tendenz, die sicher- 15 lich weiterhin vorhandene Breite des Angebots individuell zu selektieren, 16 indem Informationsangebote einer bestimmten Richtung mit einem Like 17 versehen und dadurch mittelfristig ausschließlich Informationen aus dieser 18 Richtung erhalten werden. Auch die Möglichkeit der Manipulation durch 19 sogenannte Fake News (von Robotern automatisch generierte Fehlinfor- 20 mationen) oder die angebliche Zustimmung zu bestimmten Wahlpro- 21 grammen schafft neue Formen individueller Inseln in einem immer größer 22 werdenden pluralistischen Informationsangebot. Dies wird vor allem von 23 demokratieskeptischen Gruppierungen genutzt, die eigene Informations- 24 blasen schaffen und klassische Medien als »Lügenpresse« abwerten. Es ist 25 zu hoffen, dass der liberale, von Respekt gegenüber Andersdenkenden und 26 Andersfühlenden getragene Wertekodex bereits so verinnerlicht ist, dass es 27 durch diese Entwicklung in Zukunft keine Rückschritte geben wird. 28 29 30 31 Literatur 32 Bundesarchiv (o. J.). https://www.bundesarchiv.de/oeffentlichkeitsarbeit/bilder_doku 33 mente/04842/index-13.html.de (28.02.2017). 34 Eisermann, J. (2001). Mediengewalt. Die gesellschaftliche Kontrolle von Gewaltdarstellun- 35 gen im Fernsehen. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaft. Förster, J. (2007). Kleine Einführung in das Schubladendenken. München: DVA. 36 Gottberg, J. v. (2012). Christine Gosh im Gespräch mit Joachim von Gottberg: Ein Fens- 37 ter zum Leben in der modernen Großstadt. tv diskurs, 62 (4/2012), 56–58. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 261 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Joachim von Gottberg

1 Gottberg, J. v. (2015a). Maria Emilia Rosenzweig im Gespräch mit Joachim von Gott- 2 berg: Erziehung undercover – Unterhaltungssendungssendungen mit Informa­ tionswert. tv diskurs, 67 (1/2015), 74–81. 3 Gottberg, J. v. (2015b). Jo Reichertz im Gespräch mit Joachim von Gottberg: Toleranz 4 liegt im ökonomischen Interesse der Medien. tv diskurs, 72 (2/2015), 40–45. 5 Großschopf, I. (2013). »Conchita Wurst spricht über ihre schwierige Jugend.« 6 (24.07.2013). Seitenblicke. http://www.seitenblicke.at/top-stories/conchita-wurst- spricht-ueber-ihre-schwierige-jugend (28.2.2017). 7 Kniep, J. (2010). »Keine Jugendfreigabe«. Filmzensur in Westdeutschland 1949–1990. 8 Göttingen: Wallstein Verlag. 9 Kumpfe, W. (2014). Die besten Zitate. Arm, sexy, schwul, mutig – dit is Berlin (26.08.2014). 10 Der Tagespiegel. http://www.tagesspiegel.de/berlin/klaus-wowereit-die-besten- zitate-arm-sexy-schwul-mutig-dit-is-berlin/10610608.html (28.02.2017). 11 Reichertz, J. (2007). Vermitteln ohne selbst zu produzieren. Medien als Werteagenturen. 12 tv diskurs, 39 (1/2007), 50–55. 13 Schicha, C. & Brosda, C. (Hrsg.). (2010). Handbuch Medienethik. Wiesbaden: VS Verlag für 14 Sozialwissenschaften. 15 Tworuschka, U. (2004). Das Bedürfnis zu glauben. http://www.dober.de/religionskritik/ bpb04.html (21.01.2019). 16 Wikipedia (o. J., a). Liste von Filmen mit homosexuellem Inhalt. http://de.wikipedia.org/ 17 wiki/Liste_von_Filmen_mit_homosexuellem_Inhalt (28.02.2017). 18 Wikipedia (o. J., b). Conchita Wurst. https://de.wikipedia.org/wiki/Conchita_Wurst 19 (28.02.2017). 20 21 Der Autor 22 Joachim von Gottberg wurde 1952 in Düsseldorf geboren. Er studierte Germanistik 23 und Evangelische Theologie in Bonn. 1978 wurde er Leiter der Landesstelle Jugend- 24 schutz in Hannover, 1985 ständiger Vertreter der Obersten Landesjugendbehörden 25 bei der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK). Von 1994 bis 2018 war er 26 Geschäftsführer der Freiwilligen Selbstkontrolle Fernsehen (FSF). Seit 1998 ist er Chef- redakteur der Fachzeitschrift TV Diskurs. 2008 wurde er zum Honorarprofessor in der 27 Filmuniversität Potsdam/Babelsberg ernannt, seit 2015 arbeitet er als Vertretungspro- 28 fessor für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Martin-Luther-Universität 29 in Halle. Sein Forschungsschwerpunkt ist neben Themen des Jugendschutzes und der 30 Medienwirkung die Interaktion von gesellschaftlichen Prozessen und Medien. 31 32 33 34 35 36 37 38

262 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf 1 die Förderung der geschlechtlichen 2 3 und sexuellen Selbstbestimmung 4 5 Egalitäre Geschlechterdarstellungen in den Medien 6 7 Astrid Nelke 8 9 10 Einleitung 11 12 Die Vermischung medialer und sozialer Kommunikation als wichtige Kom- 13 ponente der Identitätsentwicklung und -sicherung gilt heute als unumstrit- 14 ten. Damit kommt den Medien die Rolle als »Mitgestalter« der Gesell- 15 schaft zu (Jäckel et al., 2009, S. 7). Hier lässt sich auch die Kommunikation 16 durch Kunst subsumieren. Kunst und Medien haben damit einen großen 17 Einfluss auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und damit 18 auch auf ihre geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung und die Ausge- 19 staltung des Lebens der Individuen (Hoppe-Graff & Kim, 2002, S. 910ff.). 20 Zunächst wird im vorliegenden Beitrag erläutert, was unter Identität und 21 geschlechtlicher Selbstbestimmung verstanden wird, wie Medien auf die 22 Identitätsbildung von (jungen) Individuen wirken und welchen Einfluss sie 23 auf deren Selbstbild und die Möglichkeit für die Ausbildung einer subjektiv 24 befriedigenden Sexualität haben. Anschließend soll untersucht werden, wie 25 Geschlechterrollen in den Medien dargestellt werden und welche Verände- 26 rungen hier in den vergangenen Jahrzehnten festzustellen sind. 27 28 29 Identität, geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung 30 31 Abels (2006, S. 254) versteht unter Identität das Bewusstsein, ein unver- 32 wechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein. 33 Dazu gehört für ihn, dass das Individuum in der Auseinandersetzung mit 34 anderen eine Balance zwischen individuellen Ansprüchen und sozialen Er- 35 wartungen gefunden hat. Die Geschlechtsidentität, also die individuelle 36 geschlechtliche Selbstverortung eines Menschen vor dem Hintergrund 37 gesellschaftlich sehr weitreichender Anforderungen, die an »Frauen« und 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 263 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Astrid Nelke

1 »Männer« bestehen, wird in der Literatur als individueller Anspruch auf 2 Selbstverwirklichung angesehen. 3 Für Ortland (2017, S. 10) ist sexuelle Selbstbestimmung grundlegend 4 mit dem eigenen Verständnis von Sexualität verbunden. Das von der Au- 5 torin vertretene Verständnis von Sexualität setzt bei der für alle Menschen 6 angenommenen Möglichkeit der individuellen Realisierung von Sexuali- 7 tät an, das heißt, jedem Menschen wird die Ausbildung einer subjektiv be- 8 friedigenden Sexualität und die für deren Umsetzung notwendige innere 9 Freiheit zugetraut und auch zugemutet. Damit hat jeder Mensch prinzipiell 10 sexuelle Selbstbestimmung als eine Entwicklungsoption und -ressource. 11 12 13 Medien und ihre Inhalte 14 15 Wenn Geschlechterrollen in den Medien sowie deren Auswirkung auf die 16 geschlechtliche Selbstbestimmung von Individuen analysiert werden sollen, 17 ist es wichtig, sich darüber klar zu werden, was »die Medien« überhaupt 18 sind und welche Wirkungen sie auf das reale Leben der Individuen in der 19 Gesellschaft haben. Medien werden in die Gruppen Printmedien, Fern­sehen, 20 Hörfunk und Onlinemedien eingeteilt. Allerdings lässt sich auch Kunst 21 bei einer sehr weiten Definition unter dem Begriff Medien einordnen. Ein 22 wichtiges Feld in diesem Zusammenhang ist die Werbung, da sie Indivi- 23 duen an vielen Stellen erreicht und somit zur Sozialisation beiträgt (Rode, 24 1994, S. 211). Sie wird über alle vorgestellten Mediengattungen verbreitet. 25 Im nächsten Schritt sind die Medieninhalte zu kategorisieren: Zu unter- 26 scheiden sind fiktionale, also erdachte, Inhalte, und nonfiktionale Inhalte, 27 also die durch das Medium abgebildete Realität. Beispiele für fiktionale 28 Inhalte in den Mediengattungen Printmedien und Fernsehen sind unter 29 anderem Werbung, TV-Serien und Fernsehfilme. Unter dem Oberbegriff 30 nonfiktionale Inhalte lassen sich Nachrichtensendungen, Berichte, Porträts 31 und Reportagen zusammenfassen. 32 Die beiden Mediengattungen Hörfunk und Onlinemedien sind bezüg- 33 lich ihrer Darstellung der Geschlechterrollen noch wenig analysierte Felder. 34 Aus diesem Grund wird im Folgenden auf die Darstellung der Geschlech- 35 terrollen in der Werbung und im TV sowie auf die mediale Darstellung von 36 Männern und Frauen in den verschiedenen Tätigkeitsbereichen Politik, 37 Wissenschaft und Wirtschaft eingegangen. 38

264 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf die Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung

Geschlechterrollen in der Gesellschaft 1 und ihre Darstellung in den Medien 2 3 Nach Goffman (2001, S. 105) ist das Geschlecht in den modernen Indus- 4 triegesellschaften eine zentrale Basis, nach der soziale Interaktionen und 5 Strukturen aufgebaut sind. Die Einordnung der Geschlechter liefert dem- 6 nach einen Prototyp der sozialen Klassifikation. Seiner Ansicht nach er- 7 wachsen aus geringen biologischen Unterschieden, ohne wirklich stichhal- 8 tige Erklärung, deutliche soziale Konsequenzen (ebd., S. 106ff.). Durch die 9 Ausdifferenzierung der sozialen Rollen von Frauen und Männern in mo- 10 dernen Gesellschaften erhalten Frauen einen niedrigeren Rang und damit 11 einhergehend weniger Macht. Auf dieser Einteilung beruhen die vorhan- 12 denen Geschlechterstereotype, unter denen Eckes (2010, S. 178) kognitive 13 Strukturen versteht, die sozial geteiltes Wissen über die charakterlichen 14 Merkmale von Frauen und Männern enthalten und eine zentrale Kompo- 15 nente impliziter Geschlechtertheorien (gender status beliefs) bilden. Nach 16 Mühlen Achs (2004, S. 201ff.) wird stereotypes Wissen bereits im frühen 17 Kindesalter erworben. Der Lernprozess setzt sich im Erwachsenenalter fort 18 und wird in Interaktionen mit anderen Personen das gesamte Leben eines 19 Individuums lang immer wieder hergestellt. Nach Eckes (2010, S. 179) 20 werden Frauen vor allem Merkmale zugeschrieben, die mit den Konzepten 21 »Wärme« und »Expressivität« umschrieben werden können, während 22 Männern die Konzepte »Kompetenz« und »Selbstbehauptung« zuge- 23 sprochen werden. 24 Fiske et al. (2002) stellen in ihrem Stereotypeninhaltsmodell verschie- 25 dene Geschlechterstereotype wie folgt dar: 26 27 Kompetenz: Kompetenz: 28 niedrig hoch 29 30 Wärme: paternalistische Stereotype, niedriger bewundernde Stereotype, hoher Status, 31 hoch Status, kooperative Interdependenz kooperative Interdependenz (z. B. Hausfrau und Softie) (z. B. Selbstbewusste, Professor) 32 33 Wärme: verachtende Stereotype, niedriger neidvolle Stereotype, hoher Status, 34 niedrig Status, kompetitive Interdependenz kompetitive Interdependenz (z. B. Spießerin, Prolet) (z. B. Karrierefrau, Yuppie) 35 36 Tab. 1: Taxonomie von Geschlechterstereotypen (nach Fiske et al., 2002) 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 265 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Astrid Nelke

1 Goffman sieht ein Bündel an Arrangements, das im Ergebnis Frauen den 2 Zugang zum öffentlichen Raum erschwert und sie stärker an Aufgaben 3 im Haushalt bindet. Er analysiert als einen Grund für die beschriebenen 4 Arrangements ihre politische Wirkung: Sie ersparen männlichen Perso- 5 nen die Hälfte der Konkurrenz im Wettstreit um Positionen außerhalb des 6 Hauses (Goffmann, 2001, S. 150). Als Ausgleich dafür bekommen Frauen 7 ideelle Anerkennung für ihre Weiblichkeit und können somit bestimmte 8 »Höflichkeiten« von männlichen Personen erwarten. In der Praxis han- 9 delt es sich dabei quasi um einen Tausch – »Wäsche waschen gegen Tür­ 10 aufhalten«. Diese »Höflichkeiten« laufen nach Goffman (1981, S. 15) in 11 einem typischen Prozess der Ritualisierung ab. Unter einem Ritual versteht 12 er eine Folge von gewohnheitsmäßigen, konventionellen Handlungen, 13 mithilfe derer der_die eine dem_der anderen Achtung erweist (ebd., S. 8). 14 Nach Gildemeister (2004, S. 133) geschieht die Zuordnung von Men- 15 schen »auf den ersten Blick«. Grundlage dieser Klassifizierung sind 16 die oben beschriebenen Stereotype, die unsere Wahrnehmung steuern. 17 ­Alfermann (1996, S. 9) geht davon aus, dass wir eine Person aufgrund der 18 erlernten Stereot­ype als männlich oder weiblich erkennen, anschließend 19 werden Annahmen über relevante Eigenschaften der jeweiligen Perso- 20 nengruppe aktiviert. Frauen schreiben wir auf Basis des gesellschaftlich 21 erlernten Geschlechter­wissens Eigen­schaften wie Passivität, Soziabilität 22 und Emotionalität zu, Männer halten wir dagegen eher für aktiv, durchset- 23 zungsfähig und nach Leistung strebend (ebd., S. 14). Diese unterstellten 24 Persönlichkeitsmerkmale führen zu entsprechenden Verhaltenserwartun- 25 gen. Deshalb nehmen wir Männer generell als aktiver und stärker wahr als 26 Frauen (ebd., S. 12). 27 Geschlechterstereotype sind damit Bestandteile unseres Alltagswissens, 28 sie werden, wie bereits dargestellt, in der frühkindlichen Sozialisation er- 29 worben. Die wichtige Rolle der Sozialisationsagenten kommt dabei Eltern, 30 Lehrerinnen und Lehrern sowie den Medien zu (ebd., S. 24ff.). Der Ein- 31 fluss der Massenmedien auf die Sozialisation wurde schon 1988 von Saxer 32 beschrieben. Eine seiner sechs Dimensionen der Sozialisation durch die 33 Massen ­medien ist das Modelllernen von sozialen Rollen. Es ist davon aus- 34 zugehen, dass das Modelllernen von sozialen Rollen nicht nur anhand realer 35 Personen, sondern auch anhand medial vermittelter Personen stattfindet 36 (Kudrna, 2008, S. 37). Viele Autorinnen und Autoren gehen davon aus, 37 dass die Darstellung der Geschlechter in den Medien einen deutlichen Ein- 38 fluss auf die (Geschlechts-)Identitätsentwicklung von Jugendlichen ausübt,

266 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf die Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung da sie geschlechtsspezifisches Rollenverhalten zeigen, das Heranwachsen- 1 den Sicherheit in ihrer sexuellen Orientierung und in ihrem Verhalten gibt 2 (Mikos et al., 2007, S. 11ff.). Somit wird das Interesse der Genderfo­ rschung 3 an der Vermittlung von Geschlechterrollen durch die Medien deutlich, 4 denn die mediale Darstellung von Rollenbildern wirkt sich direkt auf die 5 sexuelle und geschlechtliche Identitätsbildung und -sicherung von Bürge- 6 rinnen und Bürgern aus. 7 8 9 Geschlechterrollen in der fiktionalen Darstellung 10 am Beispiel der Werbung 11 12 Im Folgenden werfen wir einen Blick auf die Veränderungen bei der Dar- 13 stellung von Geschlechterrollen in der Werbung von 1950 bis heute. Dies 14 ist insofern interessant, als man daraus ablesen kann, welche tradierten 15 Geschlechterrollen in der Gesellschaft dominant waren und mit welchen 16 Geschlechterrollen sich Individuen dementsprechend auseinandersetzen 17 mussten und müssen. Zunächst einmal soll aber definiert werden, was unter 18 Werbung zu verstehen ist und wie und warum Werbung die bereits ange- 19 sprochenen Geschlechterstereotypen verwendet. 20 Schmidt (2000, S. 235) definiert Werbung als Information, die nur zur 21 Herausbildung »folgenreicher Aufmerksamkeit« präsentiert wird. Diese 22 »folgenreiche Aufmerksamkeit« lässt sich einfacher als Kauf eines Pro- 23 duktes oder als Nutzung einer Dienstleistung interpretieren. Nach Borstnar 24 (2002, S. 30) ist das Ziel von Werbebildern ein möglichst störungsfreier 25 Transport klar definierter Signifikate, mit deren Hilfe bei den Rezipien- 26 tinnen und Rezipienten eine spezielle Bedeutung generiert werden soll. Zu 27 diesen Zwecken greift Werbung nach Wilk (2002, S. 79) auf vorhandene 28 Zeicheninventare und Codes zurück. Die Darstellung der Geschlechter 29 gilt als eine geeignete Quelle für solche Zeicheninventare und Codes. Aus 30 der Psychologie ist bekannt, dass zu Stereotypen passende Informationen 31 besonders schnell wahrgenommen und besonders gut erinnert werden. 32 Um sich dies für die Kommunikation der Markenbotschaften zunutze zu 33 machen, verbreitet Werbung ganz klar definierte Geschlechterstereotype. 34 Für Goffman (1981, S. 327) stellen die in der Werbung (Reklame) abge- 35 bildeten Szenen eine »Hyper-Ritualisierung« von Szenen aus dem wirkli- 36 chen Leben dar. Standardisierung, Übertreibung und Vereinfachung finden 37 sich hier in erhöhtem Maße. Goffman kategorisiert dabei verschiedene 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 267 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Astrid Nelke

1 Stilmittel (z. B. relative Größe der Personen, Rangordnung nach Funktion 2 und Rolle der Person und Rituale der Unterordnung), durch die die Hyper- 3 Ritualisierung und Festschreibung der Geschlechterrollen und ihrer struk- 4 turellen Beziehungen unterstützt werden. 5 Zurstiege (1998) untersuchte die Darstellung von Männern in der Wer- 6 bung seit den 1950er Jahren. Hierbei wurde deutlich, dass in der Bundes- 7 republik der 1950er Jahre die mit der industriellen Revolution begonnene 8 stereotype Zuschreibung »Frau im Haushalt« gegenüber »Mann bei 9 der Arbeit« ihren Höhepunkt erreichte. In der Werbung wurden dem­ 10 entsprechend Hausfrauentugenden bei Frauen und Berufserfolge und 11 Fleiß bei Männern bewundert. Es ist davon auszugehen, dass Werbung 12 damals einen großen Einfluss auf die geschlechtliche Selbstbestimmung 13 der Individuen hatte und ihnen klar aufzeigte, wie eine Geschlechterrolle 14 erfüllt werden sollte. 15 In den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gewann die Frauen­ 16 bewegung an Einfluss, was sich auch in der Werbung widerspiegelte. Die 17 weibliche Erwerbstätigkeit war nun kein exotisches Phänomen mehr, 18 wurde allerdings von den Männern immer noch an die dritte Stelle der 19 Aufgaben der Frau gesetzt, nach ihren Aufgaben als Mutter und Hausfrau. 20 Das ambivalente Verhältnis von traditionellen Werten und neuer Auf- 21 fassung der Rollen von Frauen und Männern wurde zu dieser Zeit in der 22 ­Werbung deutlich (ebd.). 23 Nach Hollstein (1990) steckte das Männerbild in der Werbung in den 24 1980er und -90er Jahren weiterhin in dem beschriebenen Zwiespalt der 25 veränderten Gesellschaftsstrukturen fest. Aber auch Frauen standen in 26 dieser Zeit im Spannungsverhältnis zwischen einer von Männern domi- 27 nierten Berufswelt und dem Haushalt, für den sie immer noch zum größten 28 Teil alleine verantwortlich waren. 29 Eck und Jäckel (2009) analysierten 2005 mittels Inhaltsanalyse 553 30 Werbe ­anzeigen aus 18 deutschen Publikumszeitschriften. Es wurde deut- 31 lich, dass Frauen und Männer äußerlich eindeutig mittels der Darstellung 32 der Frisur, der Kleidung und durch die Größenverhältnisse als Angehö- 33 rige ihres Geschlechts gekennzeichnet wurden. Dabei sprach die Wer- 34 bung Männer und Frauen hauptsächlich mit Personen ihres Geschlechts 35 an. Die Inhaltsanalyse hat gezeigt, dass sich das traditionelle Männerbild 36 in der Werbung stillschweigend gewandelt hat: Werbemachos und Aben- 37 teurer sind verschwunden und wurden von einem Mann ersetzt, in dessen 38 Leben Sport und Beruf zwar eine bedeutendere Rolle spielen als bei den

268 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf die Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung dargestellten Frauen, bei dem aber auch eindeutig ein Rückzug ins Privat- 1 leben zu erkennen ist. Das Körperbewusstsein spielt bei den dargestellten 2 Männern eine deutlich größere Rolle als früher, der nackte männliche 3 Körper wird mittlerweile ähnlich wie der weibliche in Szene gesetzt und 4 damit ausgestellt. Auch die Kosmetikindustrie hat den Mann als Kunden 5 entdeckt und bietet ihm diverse Produkte für seine Schönheit an. Damit 6 ist der Werbemann in ehemals weibliche Gefilde eingedrungen, ohne 7 dabei die Glaubwürdigkeit des Männlichen verloren zu haben (Derra & 8 Jäckel, 2009). 9 Im Gegensatz dazu werden Frauen häufiger als Männer von einer realen 10 Umgebung losgelöst dargestellt, sodass ein uniformes, willkürlich aus- 11 tauschbares Abbild des weiblichen Geschlechts entsteht. In der genannten 12 Inhaltsanalyse wird aber auch der Trend zur natürlichen, selbstbewussten 13 Darstellung der Frau aufgezeigt. Als Fazit lässt sich konstatieren, dass statt 14 der alten stereotypen Reklame heute die Anzeigenlandschaft ausdifferen- 15 zierte Geschlechterbilder darstellt und damit den verschiedenen aktuellen 16 Bedürfnissen der Rezipientinnen und Rezipienten nach geschlechtlicher 17 Selbstbestimmung und verschiedenen Möglichkeiten, das Leben zu gestal- 18 ten, entgegenkommt (ebd.). 19 Eine weitere wichtige Fragestellung lautet, wer eigentlich die Werbung 20 macht. Schmerl (1994) nahm an, dass geschlechterstereotyp verzerrte 21 Frauenbilder in der Werbung vor allem damit zusammenhängen, dass die 22 Kreativen in der Werbung hauptsächlich männlich sind. Fröhlich (2008) 23 kann das nicht bestätigen: Der Frauenanteil ist heute gerade im Kreativ- 24 bereich und im Bereich Kundenkontakt hoch, trotzdem ist der Anteil der 25 genderstereotypen Darstellungen der Geschlechterrollen nicht deutlich 26 zurückgegangen. Zusammenfassend lässt sich somit sagen, dass ein steigen- 27 der Frauenanteil in der Werbung nicht automatisch mit einer egalitäreren 28 Darstellung der Geschlechterrollen in diesem Feld einhergeht. 29 30 31 Geschlechterrollen in der nonfiktionalen Darstellung 32 33 In Zusammenhang mit nonfiktionalen Darstellungen von Geschlechter­ 34 rollen geht es immer um Abbildungen der Realität durch das entsprechende 35 Medium. Nach Corner und Pels (2003) konstituiert die Presse, besonders 36 das Fernsehen, den realen öffentlichen Raum, den Bürgerinnen und Bürger 37 als »Politik« ansehen. Da es noch in vielen europäischen Ländern einen 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 269 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Astrid Nelke

1 sehr niedrigen Anteil von Frauen in den Parlamenten gibt,1 ist es kein 2 Wunder, dass sie auch in der politischen Medienberichterstattung keine 3 gleichberechtigte Rolle spielen. Wie verschiedene US-amerikanische Stu- 4 dien gezeigt haben (z. B. vgl. Kahn, 1994), hat die von den Medien ver- 5 breitete einseitige Geschlechterdarstellung deutliche Auswirkungen auf das 6 Verhalten der Wählerinnen und Wähler. Die Wahrnehmung weiblicher 7 und männlicher Kandidaten war durch ihre unterschiedliche mediale Dar- 8 stellung derart beeinflusst, dass sich signifikante Nachteile für die Kandi- 9 datinnen ergaben. Kahn stellte 1994 fest, dass jene Kandidat_innen erfolg- 10 reicher waren, die eine Berichterstattung erhalten hatten, die üblicherweise 11 männlichen Kandidaten gewährt wird (z. B. harte, männliche Standpunkte 12 zu Verbrechensbekämpfung oder Landesverteidigung). 13 Eine europäische Vergleichsstudie aus den Jahren 1997 und 1998 (Pantii, 14 2007, S. 24) über Frauen und Männer in Fernsehprogrammen in Däne- 15 mark, Finnland, Deutschland, den Niederlanden, Norwegen und Schweden 16 zeigte klare Hinweise auf eine ungleiche und stereotype Geschlechter- 17 darstellung. Männer waren durchweg häufiger vertreten als Frauen. Der 18 höchste Frauenanteil wurde in Programmen gefunden, in denen »weiche 19 Themen« wie Beziehungen, Familie und Gesundheit behandelt wurden. 20 Außerdem wurden Frauen deutlich öfter in Rollen mit niedrigem Status 21 gezeigt als Männer. In den untersuchten Programmen waren sowohl die 22 Mehrzahl der dargestellten Politiker (72 Prozent) als auch die Mehrzahl 23 der dargestellten Experten (80 Prozent) Männer. Besonders interessant ist 24 die Aussage der Studie, dass Politiker zuerst einmal nur als Politiker wahr- 25 genommen wurden, Politikerinnen allerdings zuerst als Frau, Ehefrau und 26 Mutter – und erst dann als Politikerin. 27 In der Studie »Spitzenfrauen im Fokus der Medien« der Freien Universi- 28 tät Berlin und der Leuphana Universität Lüneburg, deren erste Ergebnisse im 29 Sommer 2010 veröffentlicht wurden, werden deutliche Unterschiede in der 30 Mediendarstellung von Frauen und Männern aus Wirtschaft, Wissenschaft 31 und Politik deutlich. Dieser Untersuchung liegt eine Vollerhebung von 23 32 Medienformaten (Tageszeitungen, Zeitschriften, Fernseh­nachrichten und 33 Magazinsendungen) aus dem Zeitraum April bis September 2008 zugrunde. 34 Das mediale Bild der Wirtschaft wird danach zu 95 Prozent von Männern 35 dominiert, eine Unternehmerin hat im Abendkleid immer noch bessere 36 37 1 Europäischer Durchschnitt: 22 Prozent im Jahr 2005 (European Commission, 2005), in 38 Deutschland: 30,7 Prozent nach der Bundestagswahl 2017.

270 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf die Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung

Chancen auf eine Erwähnung als im Hosenanzug bei der Arbeit. In der Wirt- 1 schaftsberichterstattung werden Frauen als »listige Witwe« und »femme 2 fatale« beschrieben, Männer sind dagegen »Leitwölfe«, »Gebieter« und 3 »Managerdenkmale«. In der Wissenschaft wird nur zu 13 Prozent über 4 Frauen berichtet – inhaltlich dann auch anders als über ihre Kollegen: Er hat 5 Visionen und erklärt die Welt, sie ist freundlich und sehr fleißig. In der Poli- 6 tik werden Frauen immerhin zu 20 Prozent erwähnt, allerdings erklären die 7 Wissenschaftlerinnen diese recht hohe Zahl mit dem »Merkel-Faktor« – 8 eine Bundeskanzlerin können Medien nicht übersehen. Über die amtieren- 9 den Ministerinnen wird durchweg weniger berichtet als über ihre Kollegen. 10 Politikerinnen werden in vielen Zeitungen und Magazinen als »Powerfrau« 11 und »Mutti« tituliert, Politiker dagegen als »Kämpfer« und »Alphatier« 12 dargestellt. An dieser Stelle machen die sprachlichen Unterschiede die ver- 13 schiedenen Darstellungen von Frauen und Männern deutlich. 14 Auch eine aktuelle Studie von Prommer und Linke (2017) zeigt klar, 15 dass Frauen im deutschen Fernsehen und Kino deutlich unterrepräsen- 16 tiert sind. Demnach sind zwei Drittel aller zentralen Personen auf den 17 Fernsehbildschirmen und Kinoleinwänden Männer. Einzig Telenovelas 18 und Daily Soaps sind repräsentativ für die tatsächliche Geschlechterver- 19 teilung in Deutschland. Bei den Fernsehvollprogrammen findet ein Drittel 20 der Programme ganz ohne Frauen statt – im Vergleich dazu kommen nur 21 15 Prozent der Programme ganz ohne männliche Protagonisten aus. Wenn 22 Frauen gezeigt werden, kommen sie häufiger im Kontext von Beziehun- 23 gen und Partnerschaften vor. Darüber hinaus zeigt die Studie eine Alters­ 24 lücke auf: Wenn Frauen vorkommen, dann als junge Frauen. Bis Mitte 30 25 kommen Frauen und Männer ungefähr gleich oft vor, danach kommen auf 26 eine Frau zwei Männer. Ab Mitte 50 verändert sich das Verhältnis sogar 27 auf 1:3. Dieser »Frauenschwund« findet in allen Sendern über alle For- 28 mate und Genres hinweg statt und gilt ebenso für den Kinofilm. 29 Ein weiterer interessanter Aspekt: Männer erklären die Welt. In den 30 Informationssendungen sind nur ein Drittel der Hauptakteure weiblich, 31 Männer dominieren vor allem als Moderatoren, Journalisten, Experten 32 (69:31 m:w) und Sprecher (96:4 m:w). Auch im Kinderfernsehen setzt 33 sich nach der Studie dieser Trend fort. Egal, ob im Lizenz- oder Eigen­ 34 programm: Die absolute Zahl der männlichen Figuren ist deutlich höher – 35 Insgesamt gilt: Nur eine von vier Figuren ist weiblich. Auch die Modera- 36 tor_innen sind im Kinderprogramm zu zwei Dritteln männlich. Im imagi- 37 nären Bereich kommen auf eine weibliche Tierfigur sogar neun männliche. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 271 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Astrid Nelke

1 EU-weit sprechen die Zahlen zur Darstellung der Geschlechter in den 2 Nachrichten eine ebenso deutliche Sprache: Insgesamt kommen Frauen nur 3 zu einem Viertel in den Nachrichten vor, drei Viertel der Zeit wird über 4 Männer berichtet. Mit der Zahl der als Nachrichtensprecherinnen und 5 Reporterinnen tätigen Frauen kann dieses Ungleichgewicht nicht erklärt 6 werden: Mehr als 40 Prozent der in diesem Berufsfeld Tätigen sind weiblich 7 (GMMP, 2010). Für Deutschland geben Weischenberg et al. (2006) einen 8 Frauenanteil im Journalismus von rund 36 Prozent an, also annähernd so 9 viel wie in Europa. An diesen Zahlen wird deutlich, dass, genau wie in der 10 Werbung, auch in der nonfiktionalen Darstellung der Geschlechterrollen 11 ein steigender Frauenanteil in den letzten Jahren nichts an der asymmetri- 12 schen Darstellung von Männern und Frauen geändert hat. 13 Damit lässt sich konstatieren, dass neben der Werbung auch die nonfikti- 14 onale Darstellung von Geschlechterrollen in Fernsehen und Kino kein ega- 15 litäres Bild von Frauen und Männern zeigt und damit nicht durchgehend 16 zur Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung von 17 Individuen beiträgt. Um hier wirkliche Verbesserungen zu implementieren, 18 müssen in Zukunft noch dicke Bretter gebohrt werden. 19 20 21 Fazit und Ausblick 22 23 Hier soll die Frage aufgeworfen werden, wie mittel- und langfristig er- 24 reicht werden kann, dass Geschlechterrollen egalitärer dargestellt werden. 25 Anscheinend reicht es nicht aus, darauf zu warten, dass sich der Frauen- 26 anteil in den jeweiligen Berufsfeldern mit der Zeit erhöht. Auch ein per- 27 manentes Analysieren der vorhandenen Geschlechterrollen wird nicht 28 wirklich den erhofften Umschwung bringen – nach dem Motto: »Das 29 Gras wächst nicht schneller, nur weil man dran zieht«. Im Gegenteil, 30 wirksame Änderungen müssen her: Es gilt, die Problematik permanent zu 31 thematisieren und so immer wieder auf die öffentliche Agenda zu setzen. 32 Positive Anreizsysteme (möglicherweise auch negative), wie Journalismus­ 33 preise für symmetrische Genderdarstellungen in fiktionalen und non­ 34 fiktionalen Formaten, können in der Praxis helfen, das gesteckte Ziel zu 35 erreichen. Das Gleiche gilt für einen Egalitätswerbepreis für fortschritt- 36 liche Werbedarstellungen von Geschlechterrollen. Nur so kann sexuelle 37 und geschlechtliche Selbstbestimmung als Ziel gesamtgesellschaftlich 38 unterstützt werden.

272 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf die Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung

Es ist an der Politik, Ziele festzulegen und gegebenenfalls Preise auszu- 1 schreiben, an der Wirtschaft, die Ziele zu unterstützen und zu guter Letzt 2 an der Wissenschaft, die dann hoffentlich sichtbaren Änderungen hin zu 3 einer egalisierten Darstellung von Geschlechterrollen in den Medien zu 4 messen. 5 6 7 Literatur 8 9 Abels, H. (2006). Identität. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 10 Alfermann, D. (1996). Geschlechterrollen und geschlechtstypisches Verhalten. Stuttgart, 11 Berlin u. Köln: Kohlhammer. Borstnar, N. (2002). Männlichkeit und Werbung. Inszenierung – Typologie – Bedeutung. 12 Kiel: Ludwig. 13 Corner, J. & Pels, D. (Hrsg.). (2003). Media and the restyling of politics. London: Sage. 14 Derra, J. & Jäckel, M. (2009). Darf ich auch einmal irgendwo nicht reinpassen? Darstel- 15 lung und Wahrnehmung von Frauen in Werbeanzeigen. In H. Willems (Hrsg.), Theatralisierung der Gesellschaft. Band 2. Medientheatralität und Medientheatrali- 16 sierung. (S. 223–244). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. 17 Eck, C. & Jäckel, M. (2009). Werbung mit dem kleinen Unterschied. In H. Willems (Hrsg.), 18 Theatralisierung der Gesellschaft. Band 2. Medientheatralität und Medientheatrali- 19 sierung (S. 171–186). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Eckes, T. (2010). Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen. In 20 R. Becker & B. Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung 21 (S. 178–189). Wiesbaden: Springer-Verlag. 22 European Commission (2005). Database on women and men in decision-making. 23 Fiske, S. T., Cuddy, A. J. C., Glick, P. & Xu, J. (2002). A Model of (often Mixed) Stereotype Content: Competence and Warmth Respectively Follow from Perceived Status 24 and Competition. Journal of Personality and Social Psychology, 82, 878–902. 25 Freie Universität Berlin & Leuphana Universität Lüneburg (2010). »Spitzenfrauen im Fokus 26 der Medien«. Berlin u. Lüneburg. https://www.leuphana.de/fileadmin/user_upload/ 27 newspool/meldungen/files/0_Pressemappe-Spitzenfrauen_01.pdf (10.01.2019). Fröhlich, R. (2008). Werbung in Deutschland. Auf dem Weg zu einem Frauenberuf? In 28 C. Holtz-Bacha (Hrsg.), Stereotype? Frauen und Männer in der Werbung (S. 14–39). 29 Wiesbaden: GWV Fachverlage. 30 Gildemeister, R. (2004). Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterschei- 31 dung. In R. Becker. & B. Kortendiek (Hrsg.), Handbuch Frauen- und Geschlechterfor- schung. Theorie, Methoden, Empirie (S. 137–145). Wiesbaden: VS Verlag für Sozial- 32 wissenschaften. 33 GMMP – Global Media Monitoring Project (2010). http://whomakesthenews.org/ 34 gmmp/gmmp-reports/gmmp-2010-reports (10.01.2019). 35 Goffman, E. (1981). Geschlecht und Werbung. Frankfurt a. M.: Suhrkamp Verlag. Goffman, E. (2001). Interaktion und Geschlecht. Frankfurt a. M.: Campus Verlag. 36 Hollstein, W. (1990). Die Männer – vorwärts oder rückwärts? Stuttgart: Deutsche Verlags- 37 anstalt DVA. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 273 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Astrid Nelke

1 Hoppe-Graff, S. & Kim, H.-O. (2002). Die Bedeutung der Medien für die Entwicklung von 2 Kindern und Jugendlichen. In R. Oerter & L. Montada (Hrsg.), Entwicklungspsycho- logie (S. 907–922). Weinheim: Beltz. 3 Jäckel, M., Derra, J. & Eck, C. (2009). SchönheitsAnsichten. Geschlechterbilder in Werbe­ 4 anzeigen und ihre Bewertung. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft. 5 Kahn, K. (1992). Does being male help? An investigation of the effects of candidate 6 gender and campaign coverage on evaluations of U. S. Senate candidates. The journal of politics, 54, 497–517. 7 Kahn, K. (1994). The distorted mirror: Press coverage of women candidates for state- 8 wide office. Journal of politics, 56, 154–173. 9 Kudrna, K. (2008). Analyse von Genderrollen in TV-Unterhaltungsserien. Stereotypisierung 10 und die Rolle des Fernsehens. Saarbrücken: VDM Verlag. Mikos, L., Hoffmann, D. & Winter, R. (Hrsg.). (2007). Mediennutzung, Identität und Iden- 11 tifikationen. Die Sozialisationsrelevanz der Medien im Selbstfindungsprozess von 12 Jugendlichen. Weinheim: Beltz Juventa. 13 Mühlen Achs, G. (2004). Die Ordnung der Geschlechter als heterosexuelle Romanze: 14 Foto-Lovestories in Jugendzeitschriften. In B. Hipfl (Hrsg.), Identitätsräume. Nation, 15 Körper und Geschlecht in den Medien (S. 201–221). Bielefeld: transcript Verlag. Ortland, B. (2017). Sexuelle Selbstbestimmung im Spannungsfeld innerer und äuße- 16 rer Möglichkeitsräume. In M. Wazlawik & S. Freck (Hrsg.), Sexualisierte Gewalt an 17 erwachsenen Schutz- und Hilfebedürftigen (S. 9–21). Wiesbaden: Springer Fach- 18 medien. 19 Pantii, M. (2007). Portraying Politics: Gender, Politik und Medien. In C. Holtz-Bacha & N. König-Reiling (Hrsg.), Warum nicht gleich? Wie die Medien mit Frauen in der 20 Politik­ umgehen (S. 17–51). Wiesbaden: GWV Fachverlage. 21 Prommer, E. & Linke, C. (2017). Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in 22 Film und Fernsehen in Deutschland. Institut für Medienforschung, Philosophische 23 Fakultät, Universität Rostock. Rode, F. A. (1994). Sozialisation durch Werbung? Die Vernachlässigung der soziolo- 24 gischen Aspekte in der Werbewirkungsforschung; Überblick und Analyse von 25 empirischen Forschungsergebnissen. Frankfurt a. M.: Johann Wolfgang Goethe- 26 Universität zu Frankfurt am Main. 27 Saxer, U. (1988). Zur Sozialisationsperspektive in der Publizistik- und Kommunikations- wissenschaft. Publizistik, 33(2–3), 197–222. 28 Schmerl, C. (1994). Die schönen Leichen aus Chromdioxid und aus Papier: Frauenbilder 29 in der Werbung. In M.-L. Angerer & J. Dorer (Hrsg.), Gender und Medien. Theoreti- 30 sche Ansätze, empirische Befunde und Praxis der Massenkommunikation: Ein Text- 31 buch zur Einführung (S. 134–151). Wien: Braumüller. Schmidt, S. (2000). Kalte Faszination. Medien, Kultur, Wissenschaft in der Mediengesell- 32 schaft. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. 33 Weischenberg, S., Malik, M. & Scholl, A. (2006). Die Souffleure der Mediengesellschaft. 34 Report über die Journalisten in Deutschland. Konstanz: UVK. 35 Wilk, N. (2002). Körpercodes. Die vielen Gesichter der Weiblichkeit in der Werbung. Frankfurt a. M.: Campus-Verlag. 36 Zurstiege, G. (1998). Mannsbilder – Männlichkeit in der Werbung. Zur Darstellung von 37 Männern in der Anzeigenwerbung der 50er, 70er und 90er Jahre. Opladen: West- 38 deutscher Verlag.

274 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Einfluss von Medien auf die Förderung der geschlechtlichen und sexuellen Selbstbestimmung

Die Autorin 1 Astrid Nelke, Prof. Dr., studierte Publizistik und Kommunikationswissenschaft an der 2 FU Berlin, wo sie 2008 auch promovierte. Nach Stationen in der Konzernpolitik eines 3 DAX-Unternehmens, in der bundesdeutschen Politik und in der Berliner Verbandsland- 4 schaft ist sie seit 2014 als Hochschullehrerin für Unternehmenskommunikation und 5 Innovationsmanagement an der FOM Hochschule für Oekonomie und Management in Berlin tätig. Ihre Schwerpunkte in der Forschung spannen sich zwischen interner und 6 externer sowie Online-Kommunikation, Employer Branding und Diversity Management 7 auf. Daneben berät sie mit ihrem Team von [know:bodies] Unternehmen und Organi- 8 sationen. www.knowbodies.de 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 275 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen 1 und Wespentaillen 2 3 Geschlechterinszenierung im Kinderfernsehen 4 5 Maya Götz 6 7 8 9 10 11 Spätestens beim Gang in die großen Bekleidungs- oder Spielzeugkaufhäuser 12 wird klar: Mädchen und Jungen sind ganz und gar unterschiedlich. Rosa, 13 Plüsch und Glitzer auf der einen Seite und Grün, Schwarz und viel Action 14 auf der anderen Seite der Abteilung. Nicht selten gibt es hier Bezüge zu 15 Film und Fernsehen für Kinder: Lillifee, Bibi & Tina und die Eisprinzessin 16 auf der einen, und Ninjago, Legofiguren und Star Wars auf der anderen 17 Seite. Der Markt hat sich gut mit der Bipolarität der Geschlechterkonst- 18 ruktion eingerichtet – und ebenso das Kinderfernsehen. Insofern lohnt sich 19 ein Blick ins Detail, wie heute Geschlechterstereotype medial konstruiert 20 werden. 21 Wenn Kinder fernsehen – was sehen sie dann? Welche Identitätsent- 22 würfe bekommen sie vorgelegt? 23 24 25 Jungen sind normal – Mädchen stets besonders 26 27 Der Schlumpf an sich ist männlich, doch gibt es zwei Ausnahmen: 28 Schlump ­fine, die schöne Blondine, und Sassette, das freche Mädchen mit 29 den rotbraunen Zöpfen. Im einfachen Zahlenvergleich kommen also 102 30 Schlümpfe männlicher Natur auf zwei weibliche. Frauen sind hier nicht als 31 die 51 Prozent der Bevölkerung symbolisiert, die sie sind, sondern als die 32 wenigen Abweichungen vom Normalfall – und dieser ist selbstverständ- 33 lich männlich. Nicht selten werden weibliche Figuren äußerlich durch 34 Besonderheiten gekennzeichnet, als eine Abweichung vom »männlichen 35 Normalfall«, zum Beispiel durch Wimpern, Schleifen oder Röcke. Diese 36 Kennzeichnung entgleitet dabei oftmals in die Sexualisierung. So bekommt 37 der weibliche Schneemann (unter zwölf männlichen) eben zwei Kugeln 38

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1 vor die Brust. Ein entsprechendes Pendant beim männlichen Schneemann, 2 zum Beispiel Knoten zwischen den Beinen, lässt sich nicht finden. 3 Viele der klassischen Kinderstoffe, die für das Kinderfernsehen insze- 4 niert wurden, haben vor allem Jungenfiguren im Fokus, und inWinnie 5 Puuh, Bugs Bunny oder Donald Duck sind fast alle handlungstragenden 6 Figuren selbstverständlich männlich. Jim Knopf hat seinen Lukas, den Lo- 7 komotivführer, und auch Urmel hat fast nur männliche Freunde. Es gibt 8 sie, die klassischen Serien wie Biene Maja, Pippi Langstrumpf und Heidi, 9 die gezielt eine Mädchenfigur in den Mittelpunkt der Handlung stellen. 10 Faktisch machen sie jedoch eine deutlich kleinere Anzahl aus. Die Analyse 11 von rund 26.500 Hauptfiguren weltweit zeigt, dass 68 Prozent aller Haupt- 12 figuren männlich und nur 32 Prozent weiblich sind. Das heißt: Auf eine 13 Mädchen- oder Frauenfigur kommen zwei Männer- oder Jungenfiguren 14 (Götz, 2013). In der Analyse des deutschen Kinderfernsehens 2016 kommt 15 die Forschungsgruppe um Elizabeth Prommer zu dem Ergebnis, dass auf 16 eine weibliche Hauptfigur drei männliche kommen (Prommer et al., 2017). 17 Die Analyse der 101 Filme mit höchsten Einspielergebnissen in den 18 USA zwischen 1990 und 2005 zeigt: Nur 28 Prozent der Charaktere sind 19 Mädchen- oder Frauenfiguren. Bei der Auszählung von Szenen verschärft 20 sich dies noch einmal, denn hier sind nur in 17 Prozent der Szenen Mäd- 21 chen- oder Frauenfiguren beteiligt. Es gibt also nicht nur deutlich mehr 22 Jungen- und Männerfiguren, sie sind zudem viel häufiger zu sehen (Smith & 23 Cook, 2008). 24 Noch einmal eine deutliche Steigerung erhält das Geschlechterverhält- 25 nis, wenn es sich um nicht-menschliche Wesen handelt. Bei Fantasiewesen 26 kommen auf eine weibliche Figur neun männliche (ebd.). Das Erstaun­ 27 liche: Die Genitalien bei einem Tier werden im Kinderfernsehen nicht 28 abgebildet und auch die geschlechtsspezifischen Ausprägungen bei einem 29 Busch (Charakter »Briegel, der Busch«) sind nicht naturgegeben sicht- 30 bar bzw. bei einem Brot (Bernd, das Brot) nicht vorhanden. Dies sind also 31 absolut imaginierte Geschlechterzuweisungen, bei denen die Tendenz ist: 32 Je konstruierter desto männlicher (Götz & Lemish, 2012). 33 Leider wird die Geschlechtertendenz bei den nonfiktionalen Pro- 34 grammen, zum Beispiel den Wissenssendungen, nicht besser. Ob Armin, 35 Christoph, Ralph oder Johannes (Die Sendung mit der Maus), Willi (Willi 36 wills wissen), Eric (Pur +), Peter Lustig bzw. Fritz Fuchs (Löwenzahn) 37 oder C­ hecker Tobi: Es sind vor allem Männer, die im deutschen Kinder­ 38 fernsehen (wie auch weltweit) Kindern die Welt erklären. Es gibt sie, die

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Co-Moderatorinnen wie Shary zu Ralph (Wissen macht Ah!) oder Malin 1 neben vier Männern (Die Sendung mit der Maus); in einigen Sendungen 2 gibt es neben Männern auch sehr kompetente Frauen wie bei Neuneinhalb. 3 Von einer gleichberechtigten Repräsentation sind sie jedoch weit entfernt. 4 Was Mädchen und Jungen also zunächst sehen, ist, dass Mädchen oft- 5 mals die Besonderheit oder die Ausnahme sind. Der Normallfall hingegen 6 ist der Mann. 7 8 9 Sie ist sexy! – Schlumpfine ist es, der Schlumpf nicht: 10 erotisch hochgradig attraktiv 11 12 Die Kamera schwenkt sanft am Bein entlang, verweilt kurz an den Hot- 13 pants, gleitet über die sich lasziv bewegende Wespentaille hinauf zum 14 Oberkörper und den hüftlangen Haaren. Die Musik geht rhythmisch und 15 ein »Uhgh!« ist zu hören. Das junge Mädchen wird von ihren zwei Zu- 16 schauerinnen bejubelt und zwinkert ihnen zu. Sie imaginiert die jubelnden 17 jungen Soldaten, die »Jungs von der Roten Fontäne«, die ihrem heißen 18 Tanz enthusiastisch zujubeln. 19 Diese Szene entstammt nicht etwa einem Softporno – sie ist Teil der 20 Kinderzeichentrickserie Winx Club, die auf dem Sender Nickelodeon mit 21 der Hauptzielgruppe sechs- bis neunjährige Mädchen ausgestrahlt wird. 22 Das auf den ersten Blick Auffälligste der Serie: Die Protagonistinnen mit 23 ihren ausgesprochen aufreizenden Kleidern, die viel Haut zeigen, ihre sehr 24 langen, wallenden Haare und die sehr, sehr schlanken Hüften. Die Figur ist 25 hypersexualisiert, denn so langbeinig und wespentailliert mit sexualisierter 26 Kleidung spärlich bedeckt, kommt ein Körper in der Realität von Kindern 27 nicht vor. Die Analyse von 4.000 Figuren in 400 erfolgreichen Kinder- 28 und Familienfilmen zeigt allerdings, dass extreme Dünnheit und erotisch 29 aufreizende Kleidung bei den weiblichen Filmfiguren fünfmal häufiger als 30 bei männlichen Figuren vorkommt. Im Zeichentrick liegt diese Zahl noch 31 höher, insbesondere was die Hypersexualisierung des Körpers und der 32 Wespen ­taille betrifft (Smith & Cook, 2008). 33 Die Hypersexualisierung lässt sich sogar nachmessen. In der Attrak- 34 tivitätsforschung gibt es einen gut eingeführten Wert, die Waist-to-Hip- 35 Ratio (WHR), die das Verhältnis von Taille zu Hüfte misst. Eine gesunde 36 schlanke Frau hat einen WHR von etwa 0,8; die als »Idealmaße« verkauf- 37 ten 90-60-90 liegen bei einem Verhältnis von 0,7. Ausgesprochen schlanke 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 279 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Maya Götz

1 und taillierte Frauenkörper können in Ausnahmefällen einen Wert von 2 0,68 erreichen. In einer weltweiten Stichprobe untersuchte das IZI 102 3 Mädchen- und junge Frauenfiguren, die in mindestens drei Ländern gesen- 4 det werden, hinsichtlich ihrer Körpermaße und es zeigte sich: Zwei von 5 drei Zeichentrickmädchen haben eine Wespentaille, die auf natürlichem 6 Weg nicht zu erreichen ist. Jedes zweite Zeichentrickmädchen unterschrei- 7 tet sogar den Wert von Barbie (0,6), ein Maß, welches sich nur durch das 8 ­Herausoperieren der unteren Rippe erreichen ließe (Götz & Herche, 2012). 9 Die Forschungsgruppe um Elizabeth Prommer untersuchte 2016 das deut- 10 sche Kinderfernsehen und konnte nachweisen, dass jede zweite Mädchen- 11 bzw. Frauenfigur eine hypersexualisierte Taille hat (Linke et al., 2017). 12 13 14 Sie ist einfach perfekt! 15 16 In der Geschichte werden Mädchen- und Frauenfiguren häufig bestimmte 17 Charaktereigenschaften und Handlungsmuster zugeschrieben. Quantitativ, 18 das heißt im Querschnitt, zeigen sich dabei stets ähnliche Tendenzen: Weib- 19 liche Figuren sind im Vergleich zu männlichen weniger aktiv, weniger laut, 20 weniger in verantwortungsvollen Positionen anzutreffen und verhalten sich 21 eher kindisch. Sie zeigen mehr Emotionen, werden mehr im Kontext von 22 Beziehungen gezeigt, sind hilfsbereiter und fragen häufiger nach Hilfe und 23 danach, beschützt zu werden (vgl. u. a. Streicher & Bonney, 1974; Thomp- 24 son & Zerbios, 1995; Sternglanz & Serbin, 1974; Aubrey & Harrison, 2004; 25 Baker & Raney, 2004). Mädchen- und Frauenfiguren zeigen durchaus auch 26 Aggression. Während es bei den Jungen- und Männerfiguren eher körper­ 27 liche Aggression ist, zeigen weibliche Figuren dreimal so viel soziale Aggres- 28 sion (Lästern, Ausgrenzen etc.) (Luther & Legg, 2010). Haben die Haupt- 29 figuren besondere Kräfte, liegen sie bei den Mädchen- und Frauenfiguren 30 vor allem im magischen Bereich, sind also körpergebunden, und sie nutzen 31 so gut wie nie Technik. Dafür konsumieren sie mehr und kaufen sechsmal 32 mehr Kleidung ein als die männlichen Figuren (Chan, 2012, S. 174). 33 Es gibt sie, die Mädchen- und Frauenfiguren, die im Mittelpunkt stehen, 34 kraftvoll-aktiv sind, eine Mission erfüllen, ihre Ziele mit Durchsetzungs- 35 kraft verfolgen und hierfür spezielle Kräfte haben, zum Beispiel die Super­ 36 heldinnen in Zeichentricksendungen wie Kim Possible, Totally Spies! oder 37 die Power Puff Girls. Im Vergleich zu männlichen Superhelden treten sie 38 meist im Team auf, stellen eher Fragen als zu bedrohen und reagieren

280 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen

­deutlich häufiger überemotional, besonders in Krisensituationen. Zudem 1 brauchen sie doppelt so häufig einen Mentor, der fast immer ein Mann ist. 2 Fernsehsuperheldinnen haben dafür mehr kommunikative Fähigkeiten 3 (vgl. Baker & Raney, 2007). 4 Insgesamt, so lässt sich qualitativ analysieren, sind erfolgreiche Mäd- 5 chenfiguren im Fernsehen heute vor allem in (fast) allem herausragend 6 gut. Wie Prinzessin Lillifee oder Barbie in diversen Filmen organisieren 7 sie kompetent ihr Königreich, helfen Freunden aus jeder Not und mit 8 jedem Problem. Figuren wie Biene Maja, Mia, Heidi oder Bibi und Tina 9 sind bei (fast) allen anderen Figuren beliebt, da sie (fast) immer freundlich 10 und zugewandt sind und in Krisen zupacken. Manchmal sind sie, wie Eis­ 11 königin Elsa, kurzzeitig von ihren inneren Kräften überwältigt und leiden 12 an den Fehlentscheidungen der Eltern. Manchmal wehren sie sich auch 13 wie ­Disneys Merida oder Arielle, die Meerjungfrau, und gehen ihren ganz 14 ­eigenen Weg, doch immer sind sie stereotyp schön, ausgesprochen schlank 15 und meist mit langem, wallendem Haar. Damit geben sie Mädchen schon 16 früh mit, was das neue Ideal der Frau ist: Sie ist stark, selbstlos, handlungs- 17 kompetent, fürsorglich und stets eine sexy Augenweide. 18 19 20 Er ist vor allem eins: cool – egal ob erfolgreich oder nicht 21 22 Bart Simpson leistet eigentlich wenig und ist trotzdem 2016 die bei Jungen 23 von sechs bis 13 Jahren beliebteste Fernsehfigur. 24 Im Vergleich zu den Mädchen- und Frauenfiguren im Kinderfernsehen 25 sind Jungen erst einmal einfach mehr und vielfältiger. Muss Schlumpfine 26 alle Eigenschaften einer Frau in einer Figur vereinen, haben die (männli- 27 chen) Schlümpfe 102 Möglichkeiten Typisches darzustellen. 28 Neben der Anzahl lassen sich aber auch sehr eindeutige Charaktereigen- 29 schaften im Geschlechtervergleich festmachen. Männerfiguren sind aktiver, 30 dominanter, fähiger und in verantwortungsvolleren Positionen, sie verhal- 31 ten sich aggressiver, lauter, lachen, beleidigen und bedrohen mehr und 32 werden innerhalb der Handlung häufiger belohnt (u. a. Aubrey & Harrison, 33 2004; Baker & Raney, 2004; Hentges & Case, 2013). In kritischen Situa- 34 tionen sind sie stets in der Lage, mit ihren besonderen Kräften umzugehen 35 und in größerem Stil die Welt zu retten (Baker & Raney, 2007, S. 38ff.). 36 Dabei haben sich im Markt des Kinderfernsehens zwei Typen von Figuren 37 herauskristallisiert (vgl. Götz et al., 2012): erstens der »Obendrüber­held«, 38

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1 der wie Batman oder Luke Skywalker allen Herausforderungen gewachsen 2 ist. Meist entspricht der Superheld traditioneller dominanter Männlich- 3 keit, mit Härte und Status ausgestattet, selbstverständlich heterosexuell, 4 körperlich fähig und ausgesprochen kompetitiv angelegt. Als Jungen­figur 5 sind sie – wie etwa Robin Hood, Peter Pan oder Nils Holgersson – clever, 6 setzen sich gegen ihre bösen Feinde mit Intelligenz und Pfiffigkeit durch 7 und sind dabei selbstverständlich – nach ein bis zwei Rückschlägen – 8 immer erfolgreich. 9 Der zweite Typus ist der »coole Loser«, der sozusagen unter den He- 10 rausforderungen des Lebens »untendurchschlüpft«. Bei den für Jungen 11 oftmals hochgradig attraktiven »Untendurchtypen« wie Bart und Homer 12 Simpson oder SpongeBob wird das Umgehen von Autoritäten kultiviert 13 und durch Umdefinieren aus der Abwertung ein Statusgewinn gemacht. 14 Es sind Ausformungen »populärer Männlichkeiten«, wie es Frosh und 15 Mitforschende nennen, die dichter an den eigentlichen Welten und Aus- 16 drucksformen von Jungen sind und sich gegen schulisches Lernen, Sport- 17 lichkeit und Markenkleidung positionieren (Frosh et al., 2002, S. 77). 18 19 20 Wie kommt es zu diesen Konstruktionen 21 im Kinderfernsehen? 22 23 Die Tendenzen der Geschlechterkonstruktion im Kinderfernsehen sind im 24 Sinne des internationalen Forschungsstandes eindeutig: Jungen- und Män- 25 nerfiguren kommen deutlich häufiger vor als Mädchen- und Frauenfiguren. 26 Geschlechterstereotype werden bipolar auf der Ebene der Figurenkon­ 27 struktion, ihrer Körperlichkeit, ihrer Charaktereigenschaften und Hand- 28 lungsmuster konstruiert. Wenn starke Mädchen inszeniert werden, dann 29 als Add-on-Figuren, die neben hoher Intelligenz, Organisationstalent, sozi- 30 aler Verantwortung etc. immer auch ein stereotyp schönes Gesicht und fast 31 immer Körperproportionen, die durch keine Schönheitsoperation zu errei- 32 chen sind, besitzen. Wie kommt es, dass die Geschlechterkonstruk­tionen 33 nach wie vor so bipolar und stereotyp angelegt sind? Zum einen liegt es 34 an der personellen Besetzung der Fernsehproduktion. Eine Auszählung der 35 verantwortlichen Autoren und Autorinnen der international vermarkteten 36 Kinderfernsehsendungen1 ergibt ein Verhältnis von 69 Prozent Autoren zu 37 38 1 Datengrundlage war der Katalog der MIPJunior-Programmmesse (Götz & Mlapa, 2018).

282 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen

31 Prozent Autorinnen. Bei der verantwortlichen Regie wird diese Misslage 1 noch einmal gesteigert. Hier kommen auf 86 Prozent Regisseure gerade mal 2 14 Prozent Regisseurinnen. Nach wie vor sind die entscheidungstragenden 3 Positionen im Produktionsprozess überproportional häufig mit Männern 4 besetzt. Kinderfernsehen ist also in vielen Fällen das Bild von Männern auf 5 Mädchen und Frauen, wodurch Frauen »vorgeführt« werden. Dies hat in- 6 haltliche Konsequenzen. Frauen werden im Sinne von Simone de Beauvoir 7 (1968) als »die anderen« konstruiert. Sie sind die Abweichung von der 8 Norm, die selbstverständlich männlich ist. Damit kommen sie zum einen 9 weniger häufig vor und vor allem in den Rollen, die »nicht männlich« sind. 10 Dies ist nicht unbedingt als Abwertung gedacht, sondern kann durchaus 11 wertschätzend und bewundernd gemeint sein und im Sinne einer Inszenie- 12 rung des Ideals – und das ist dann oftmals hypersexualisiert. Laura Mulvey 13 fasste dies in der Formulierung des dreifachen »männlichen Blicks« zu- 14 sammen: Der meist männliche Regisseur inszeniert die Figuren, der (männ- 15 liche) Kameramann wählt Perspektive und Bildausschnitt und der (meist 16 männliche) Protagonist, der im Mittelpunkt der Handlung steht, blickt auf 17 die Frauenfiguren und macht sie so auf dreifache Weise zum Objekt seiner 18 Begierde (Mulvey, 1975). Diese für den Hollywoodfilm der ersten Film- 19 jahrzehnte formulierte Feststellung gilt gewissermaßen (auch) für das heu- 20 tige Kinderfernsehen. Es steht nicht unbedingt eine abwertende Absicht 21 hinter der Selbstverständlichkeit von Schönheit, der Hypersexualisierung 22 oder Begrenzung der Figuren auf Attraktivität für das andere Geschlecht. 23 Es sind nur kreative, zum Objekt gemachte Fantasien (Objektivationen) 24 einer bestimmten dominanten Perspektive – und diese ist durch Männer 25 und ihr Aufwachsen als Jungen und Männer geprägt. Entsprechend sind 26 die Konstruktionen von Weiblichkeit ein »Blick von außen«, das heißt, 27 sie beruhen meist nicht auf all den Erfahrungen, von anderen als Mädchen 28 oder Frau wahrgenommen zu werden und sein Selbstbild als Mädchen oder 29 Frau aufzubauen und zu erhalten (Götz, 2013). 30 31 32 Konsequenzen für Jungen: Von Superman zu Bart Simpson 33 34 Für Jungen und ihre Identitätsentwicklung bietet die Vielfalt viele An- 35 schlussmöglichkeiten und Räume für Größenfantasien. Gleichzeitig tragen 36 sie Problembereiche in sich. Jungen wachsen mit Bildern dominanter 37 Männlichkeit auf, in der Männer in vielen Dimensionen überlegen sind. 38

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1 In ihrem Alltag erleben sie aber vor allem viele machtvolle Frauen und 2 ­Mädchen, die ihnen meist nicht unterlegen sind. Zudem müssen sie so 3 ­manches Mal mit widersprüchlichen Rückmeldungen von Betreuenden, 4 zum Beispiel Erzieherinnen, umgehen, die in ihrer wohlwollenden Förde- 5 rung der Individualität, dann an Grenzen kommen, wenn sie den eigenen 6 Geschlechterkonstruktionen entgegenläuft. Verhalten sich Jungen nicht wie 7 »richtige Jungen« und ziehen zum Beispiel gerne ein rosa Röckchen an 8 oder stören bewegungsaktive Jungen die Alltagsabläufe, die sich mit einer 9 ruhig zuhörenden Gruppe einfacher organisieren lassen, werden sie häufig 10 von den Erzieherinnen ermahnt (Neubauer & Winter, 2013). Um sich vor 11 Verletzungen unter anderem durch diese machtvollen Frauen zu schützen 12 und so zumindest so weit wie möglich den Anforderungen zu genügen, 13 suchen sich Jungen symbolisches Material, zum Beispiel Fernsehfiguren, die 14 für Macht und Schutz stehen, zum Beispiel Darth Vader oder Spiderman. 15 Hinzu kommt das Grundthema Aggression, denn schon früh sind Jungen 16 mit den eigenen aggressiven Impulsen konfrontiert bzw. der Aggressivität 17 anderer Jungen und Männer (oder Mädchen und Frauen) ausgesetzt (ebd.). 18 Durch inszenierte Geschlechterstereotype sind so viele Dinge, die 19 Jungen bewegen und ihre Erlebniswelt prägen, außen vor bzw. werden 20 auf eine Weise erzählt, die immer darauf hinausläuft: »Hauptsache du 21 bist cool und kommst mit einem guten Spruch aus der Situation heraus.« 22 Dass vielen Jungen dies eben nicht gelingt und sie sich mit realitätsfernen 23 Superhelden und ihrer Körperlichkeit konfrontiert sehen, ist wichtig fest- 24 zustellen. Durch den »Untendurchtypen« hilft das symbolische Material 25 der Medien aber gleichzeitig, sich auch bei Versagen zumindest als cool zu 26 empfinden und damit letztendlich sein Selbstwertgefühl zu stärken. Der 27 mitgelieferte Subtext, dass Versagen unproblematisch ist, und es wie bei 28 Homer Simpson möglich wäre, sich völlig verantwortungslos und grenz- 29 überschreitend unsozial zu verhalten und trotzdem ein Mittelstandshaus, 30 einen Mittelklassewagen und eine funktionierende Familie zu haben, trägt 31 vermutlich nicht immer zur Leistungsbereitschaft bei. In vielen Fällen ist 32 es aber vielleicht auch gerade dieser Mut zum Versagen und zur Grenz­ 33 überschreitung, der Männer letztendlich beruflich erfolgreicher macht. 34 Die Hypersexualisierung der Mädchen- und Frauenfiguren ist ihnen in 35 jüngerem Alter vermutlich eher unangenehm, geht dann aber später wie 36 selbstverständlich in ihre Idealvorstellungen einer Partnerin ein (Götz & 37 Eckhardt Rodriguez, 2017). Aufgewachsen oft ohne fundierte Auseinan- 38 dersetzung mit Geschlechterkonstruktionen und der Frage, wie sehr sie

284 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen

Mädchen, aber auch Jungen in ihrer Entfaltung begrenzen, bestärkt durch 1 Medien, die in einem System dominiert von hegemonialer Männlichkeits- 2 norm entstehen, gleichzeitig aber die Geschlechtergerechtigkeit verkünden, 3 bestärkt auch das Kinderfernsehen das, was kritische Männerforschung 4 schon seit Jahrzehnten herausarbeitet: die hegemoniale Männlichkeit, bei 5 der es um Einordnung, Unterdrückung eigener Anteile und Abwertung 6 ­jeglicher Varianten von Mann-Sein geht (Connell, 2000). 7 8 9 Konsequenzen für Mädchen: von Prinzessin Lillifee 10 über Bibi und Tina zu ’s Next Topmodel 11 12 Der Prototyp der rosa Prinzessin in Deutschland ist zurzeit Prinzessin Lilli- 13 fee. Zunächst war es ein Buch der Autorin Monika Finsterbusch, das dann 14 vor allem über die Lizenzangebote seinen Weg in den Kinderalltag fand. 15 Hinzu kommen unter anderem zwei Kinofilme zu dieser Figur sowie eine 16 Zeichentrickserie, die im KiKA um das Sandmännchen herum ausgestrahlt 17 wurde. Worum es inhaltlich geht, wird schon in den ersten Sätzen des ersten 18 Buches prägnant umrissen: »Prinzessin Lillifee lebte in einem märchen- 19 haften Blütenschloss mitten in einem wunderschönen Garten. Von mor- 20 gens bis abends kümmerte sie sich um all die Tiere und Pflanzen, die dort 21 lebten« (Finsterbusch, 2004). In lieblichen Bildern wird gezeigt, was alles 22 in ihrem Aufgabenbereich liegt: »Sie half verlorengegangenen und kranken 23 Tieren […], sie übte mit den Vögeln zwitschern […], sie küsste vorsichtig 24 die Blumen wach […] und zündete am Abend die Sterne an« (ebd.). 25 Lillifee hat Verantwortung, ist Herrin, aber auch Sorgetragende in ihrem 26 Land. Beruflich ist sie quasi Lehrerin, Krankenpflegerin, Sozialarbeiterin 27 und Landschaftspflegerin. Sie sorgt durch ihr Tun für ihr Reich und organi- 28 siert durch ihr Handeln die inneren sozialen Details, aber auch die äußeren 29 Bedingungen wie das Aufgehen der Sterne. Ohne Frage ist Lillifee macht- 30 voll in ihrem Reich und hat diverse Aufgabenfelder. Gleichzeitig werden 31 bestimmte Bereiche wie Technik, Mechanik und Handwerk selbstverständ- 32 lich ausgespart. 33 In einer Befragung von Mädchen, die Lillifee mögen, und ihren Müt- 34 tern, gingen wir der Faszination des »rosa Medienarrangements« nach 35 (Götz & Cada, 2013). In der qualitativen Befragung zeigt sich zunächst, 36 dass die Nutzung von Lillifee etwas ist, das von Müttern und Töchtern ge- 37 meinsam getragen wird. Für die Mädchen sind die rosa glitzernden Welten 38

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1 ein ästhetisches Erlebnis und die Deutung des Inhalts ist geprägt von der 2 Bewunderung der eigenen Mutter. Dies genießen wiederum die Mütter und 3 stören sich nur geringfügig in ästhetischer Hinsicht an der kleinen pinken 4 Prinzessin. Zum Teil gestehen sie ihren Mädchen diese Leidenschaft sogar 5 bewusst zu. Zitat einer Mutter: »Sie [die Tochter] lebt vielleicht etwas aus, 6 was ich nicht durfte.« Ihre Mutter ließ sie damals nicht mit Barbie spielen. 7 Der Tochter die »rosa Phase« zuzugestehen, hat in diesem Sinne auch Ele- 8 mente einer biografischen Heilung. Der Mutter von der Mutter, so entsteht 9 für uns heute der Eindruck, tut es mittlerweile fast leid, dass sie seinerzeit 10 mit dem Thema eher rigide umgegangen ist. Nun, mit Stolz für ihre Tochter 11 erfüllt, die Beruf und Familie so gut in Einklang bringt, kann sie die posi- 12 tive Einstellung der Enkeltochter zum Mädchensein genießen und kauft ihr 13 auch so manches Lillifee-Produkt. 14 Inhaltlich ist das Verhalten der Großmutter seinerzeit gut nachvollzieh- 15 bar: Vor 30 bis 40 Jahren bedeutete, ein Mädchen mädchenhaft zu erziehen, 16 es zu beschränken. Heute sind die Grundbedingungen für Mädchen anders 17 und ein Mädchen heute mädchenhaft zu erziehen, heißt, sie durch Anerken- 18 nung zu stärken und gut für Kindergarten und Schule zu sozialisieren. Die 19 gesellschaftliche Grundstimmung hat sich gewandelt. Mit Jungen als der 20 neuen identifizierten Problemgruppe geht eine Wertschätzung von Weib- 21 lichkeit einher, die auch mit dem entsprechenden symbolischen Material 22 ausgelebt wird: Prinzessin Lillifee und Barbie. Eine Defizitperspektive liegt 23 dabei fern, Mädchen steht scheinbar alles offen. Dass viele Dinge in unserer 24 Gesellschaft nicht geschlechtergerecht sind und wir von einer wirklichen 25 Gleichstellung von Mann und Frau weit entfernt sind, gerät aus dem Blick. 26 Werden dann Mädchen zwischen sechs und 12 Jahren repräsentativ nach 27 ihrer Lieblingsfigur gefragt, steht bei den Jungen SpongeBob seit Jahren 28 ganz oben. Er ist der »Untendurch-Typ« (Neubauer & Winter, 2013), der 29 unter den Anforderungen des Lebens quasi durchschlüpft, so wie auch Bart 30 und Homer Simpson oder Charlie Sheen (Two and a Half Men). Hinzu 31 kommen die »Obendrüber-Typen«, die aufgrund ihrer besonderen Kraft 32 oder besonderer Technik allen Anforderungen begegnen können. 33 Bei den Mädchen stehen seit mehreren Jahren Violetta, die wunder- 34 schön tanzen und singen kann, und Hannah Montana ganz oben auf der 35 Beliebtheitsliste, gefolgt von Mädchenfiguren wie Barbie, Elsa, der Eis­ 36 königin, oder Kim Possible und nicht zu vergessen Bibi und Tina. 37 Zunächst als Hörspiel, später als Zeichentrickserie umgesetzt, eroberte 38 zunächst Bibi Blocksberg die Mädchenzimmer der Drei- bis Sechsjährigen.

286 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen

Mit dem Spin-offBibi & Tina gelang die Erweiterung bis zu den Neunjäh- 1 rigen, was dann durch die Kinoverfilmungen in besonderer Weise vorange- 2 trieben wurde. Den Film Mädchen gegen Jungs sahen 2016 fast 2 Millionen 3 Menschen im Kino. In den Filmen wird abermals Mädchensein zelebriert, 4 jetzt aber in einer erlebnisorientierten und abgrenzenden Variante. In der 5 Handlung konkurrieren Bibi und ihre Freundin Tina gegen die Gruppe 6 ihrer Freunde. Dies findet seinen Höhepunkt in dem Lied Jungs gegen 7 ­Mädchen, nein Mädchen gegen Jungs: 8 9 Jungs gegen Mädchen! 10 Mädchen gegen Jungs! 11 Mädchen in der Herde sind wie Schafe, 12 lieben Pferde, keine Action, One Direction, oh, Augen zu, ich sterbe. 13 Aufs Klo rennen sie zusammen, weil ein Mädchen nie allein sein kann. 14 Jungs gegen Mädchen! 15 Mädchen gegen Jungs! 16 Jungs sind wie Wasser, keine Farbe, kein Geschmack. 17 Wie ’n Witz ohne Lacher, denk ich richtig drüber nach. 18 Auf ihren Schultern sitzt ein Kopf, keiner weiß wieso. 19 Mädchen gegen Jungs – Come on girls, let’s go! 20 21 Was hier zelebriert wird, ist die Bipolarität der Geschlechterkonstruktion. 22 Dabei werden Mädchen als ausgesprochen handlungskompetent und aktiv 23 dargestellt. Was der Film zeigt: Ein Mädchen kann Cheerleaderin und 24 Rugbyspielerin sein, tierlieb, wild, ehrgeizig, zielorientiert, nur nicht zu- 25 geschminkt und »tussenhaft« sein, aber auch kein Pfadfindermädchen. 26 Selbstverständlich sieht ein Mädchen dabei stets bestens aus, ist schlank, in 27 brillanten Farben, und kann stets auf ihre beste Freundin zählen. 28 Was Mädchen daran fasziniert, ist leicht nachzuvollziehen: ­attraktive 29 Fantasien von Leistungsorientierung und einem erlebnisreichen, mit 30 Freundschaft und Abenteuer erfüllten Leben. Das hier ein Überflieger­ 31 mädchen gezeigt wird, bei dem sich alle Idealeigenschaften kombinieren 32 (Add-on-Figuren), bleibt verborgen. 33 In Fallstudien begleitete Rebecca Hains Mädchen über längere Zeit und 34 konnte zeigen, wie sie eine sehr schlanke Figur, ein stereotyp schönes Ge- 35 sicht und langes Haar als Voraussetzung für Erfolg und Anerkennung im 36 Leben wahrnehmen (Hains, 2012). Das IZI bat im Rahmen einer qualita- 37 tiven Studie Acht- bis Elfjährige, auf einem Arbeitsblatt eine in der Mitte 38

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1 nicht ausdefinierte Figur so zu bemalen, wie sie sich heute, vor zwei Jahren 2 und in zwei Jahren sehen. Dabei zeigte sich bei den befragten Mädchen 3 nahezu durchgehend eine deutliche Tendenz: Sie nehmen sich in der Ent- 4 wicklung von einem kleinen Mädchen aktuell in einem Zwischenstadium 5 wahr und gehen davon aus, dass sie in zwei Jahren bereits sexy Kleidung 6 tragen und deutlich weibliche Formen haben. Mädchen hypersexualisie- 7 ren sich in ihrer Zukunftsfantasie sozusagen selbst. Derartige Phänomene 8 finden sich bei den Jungen nicht einmal im Ansatz. 9 Welche Hoffnung mit dieser Hypersexualisierung einhergeht, wird 10 zudem aus Aufklebern deutlich, die sich die Mädchen in der Studie als 11 Eigen ­schaften selbst zuwiesen. Die zehnjährige Aisha klebte einen »Ich 12 mag mich, wie ich bin«-Aufkleber zu ihrem heutigen Ich. In zwei Jahren, 13 wenn sie deutlich hypersexualisierter ist, so hofft sie, kommt es sogar dazu, 14 dass sie von sich sagen kann: »Ich mag, wie ich aussehe« (Unterstell & 15 Götz, 2013). Durch das stete überstilisierte Schönheitsideal, das mit 16 Hyperu ­sex ­ali­sierung einhergeht, erscheint das eigene Aussehen minder- 17 wertig. Als Kinder haben sie aber noch die Hoffnung, dass sich dies in den 18 nächsten zwei Jahren sozusagen »zurechtwächst« und sie dann endlich 19 der Norm genügen – leider ein Trugschluss, denn in der Pubertät wird sich 20 ihr Körpergefühl nicht verbessern. 21 In der repräsentativen Dr.-Sommer-Studie ist nur jedes zweite Mädchen 22 mit seinem Gewicht zufrieden (Bauer Media Group, 2016). Eine Ver- 23 gleichsstudie der WHO in 39 Ländern ergab, dass sich über 50 Prozent der 24 11- bzw. 15-jährigen Mädchen in Deutschland für »zu fett« halten. Damit 25 liegt Deutschland an der Spitze der Vergleichsländer. Dies ist nicht etwa 26 dem real existierenden übermäßigen Leibesumfang von Jugendlichen in der 27 Bundesrepublik geschuldet, denn gemessen am BMI-Wert liegt Deutsch- 28 land in dieser Studie mit zehn Prozent deutlich übergewichtigen Jugend- 29 lichen im Mittelfeld. Mädchen in Deutschland sind nicht dick, sie halten 30 sich aber dafür. Anders verhält es sich zum Beispiel in den USA: Dort ist 31 jedes dritte Mädchen deutlich übergewichtig, es halten sich aber nur 35 32 Prozent für »zu fett« (bei einem deutlich größeren Anteil von Überge- 33 wichtigen) (WHO, 2012). 34 Die Hintergründe, warum ausgerechnet deutsche Mädchen ein über­ 35 kritisches Verhältnis zum eigenen Körper haben, sind vielfältig. Die Bilder, 36 mit denen Mädchen in Deutschland aufwachsen, gehören aber sicherlich 37 dazu. Hier setzen die Zeichentrickmädchen sozusagen die Grundlage für 38 noch unbemerkt wirksamere Vorbilder, denn spätestens ab einem Alter von

288 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen zwölf Jahren sieht ein Großteil der Mädchen dann im ersten Halbjahr eine 1 Sendung: Germany’s Next Topmodel (GNTM). Das Format mit Quoten 2 bei den 12- bis 22-Jährigen von über 50 Prozent Marktanteil2 gehört zum 3 festen Teil des Schulhofgesprächs am Freitagmorgen. 4 In einer Fanbefragung (Götz & Gather, 2013)3 zeigte sich: Viele Mäd- 5 chen sehen über Jahre hinweg Germany’s Next Topmodel (GNTM), manch- 6 mal gemeinsam mit der Mutter, oft auch nur nebenbei, während sie in 7 sozialen Netzwerken kommunizieren. Sie genießen die Sendung, bei der 8 junge Frauen endlich einmal nicht nach dem idealen Partner schmachten, 9 sondern sich für ihre selbstgesetzten Ziele einsetzen, sich ehrgeizig ihren 10 Weg bahnen und versuchen zu geben, was sie können. 11 Schon während der Sendung überlegen die Fans, wie sie bei bestimm- 12 ten Herausforderungen, wie dem Fotoshooting mit Haien, reagiert hätten, 13 oder wie sie mit der Kritik der JurorInnen umgegangen wären. Dabei be- 14 wundern sie die Kandidatinnen, genießen es aber gleichzeitig, sich auch ein 15 bisschen überlegen zu fühlen, sie zu bewerten und über sie zu tratschen. 16 Zentral ist dabei im Schulhofgespräch das Lästern über verpatzte Catwalks 17 und all das, was an den Mädchen nicht ideal ist. So werden in der Peer- 18 group gemeinsame Werte und Normen verhandelt. GNTM zu sehen ist in 19 diesem Sinne auch Teil der Identitätsarbeit. Dabei nehmen Mädchen sich 20 auch diverse Werte aus der Sendung mit. Es verändert sich nachweislich 21 das Schönheitsbild, indem ein professionellerer Blick auf den weiblichen 22 Körper geschult wird (vgl. Götz & Gather, 2013). Es zeigt sich eine hohe 23 Korrelation zwischen dem Sehen von GNTM und dem Gedanken, zu dick 24 zu sein (Götz & Mendel, 2015). In einer Befragung von Menschen mit 25 Essstörungen (zumeist Frauen mit Anorexie) stellt ein Drittel der Patien- 26 tinnen für sich einen großen Einfluss der Sendung auf ihre Krankwerdung 27 fest, ein weiteres Drittel sieht einen leichten Einfluss. Im Detail können sie 28 dann beschreiben, wie sie die Sendung regelmäßig sahen, die Chancen für 29 die Identitätsarbeit nutzten und völlig selbstverständlich das dort gesetzte 30 Körperbild als Schönheitsideal der Gesellschaft übernahmen. Sie began- 31 nen, sich im Detail zu vergleichen. Dabei stellten sie das Defizitäre am eige- 32 nen Körper fest und begannen mit dem Versuch, sich anzupassen (Götz & 33 34

2 Diese Angaben entstammen dem Datenblatt »TV-Einschaltquoten« von Media Control, 35 Baden-Baden: 2017. 36 3 Standardisiert befragt wurden n = 588 regelmäßige GNTM-Seherinnen aus einer reprä- 37 sentativen Stichprobe sowie GNTM-Fans (n = 120) mit offenen Fragen. 38

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1 Mendel, 2016). Was dabei völlig aus dem Blick geriet, ist, dass es sich bei 2 den Kandidatinnen von GNTM um absolute Ausnahmeerscheinungen 3 handelt, denn schon um sich bei der Show zu bewerben, muss ein Mädchen 4 die körperlichen Grundmaße von mindestens 1,76m bei einer maximalen 5 Kleidergröße von 36 haben. Statistisch hat aber nur eine von 40.000 Frauen 6 überhaupt die Körpermaße (Hawkins et al., 2004). Das heißt: Wenn die 7 Kandidatinnen als Normallfall angenommen werden und dies das Schön- 8 heitsideal ist, sind 99,998 Prozent der Frauen in ihrer Figur defizitär. Das 9 vermutlich bedeutsamste Element der Sendung in diesem Zusammenhang 10 ist der Subtext von GNTM, der immer wieder und auf verschiedenste 11 Weise vermittelt: Du musst den Anforderungen und Urteilen genügen und 12 egal, was sie von dir verlangen, ob Spinnen oder Schlangen über dich krab- 13 beln lassen, du unter Wasser nackt posieren oder dich im Kühlhaus heiß 14 inszenieren musst – was immer sie von dir wollen, du musst abliefern, du 15 musst alles geben für den Kunden. Leistung heißt hier, körperliche Empfin- 16 dungen zu überwinden und Stärke durch Selbstdisziplinierung zu zeigen. 17 Bei entsprechender Veranlagung und sozialem Kontext kann insofern 18 davon ausgegangen werden, dass GNTM die Ausbildung einer Essstörung 19 begünstigt (Götz & Mendel, 2016). Und wenn Heidi Klum am Ende der 20 Sendung diejenigen aussondert, die nicht genügen, wurden die Grundlagen 21 dieses Urteils im Laufe der Sendung ausführlich veranschaulicht und die 22 Entscheidung entsprechend gut nachvollziehbar gemacht: Diese Identität 23 reicht nicht und deshalb bekommt sie heute leider kein Foto von sich. 24 25 26 Der Bogen, der heutige Mädchensozialisation prägt 27 28 Mädchen wachsen heute meist mit einer ausgesprochen positiven Einstel- 29 lung zur eigenen Weiblichkeit auf. In vielen Fällen geliebt und anerkannt, 30 sozialisieren sie sich selbst in ihrer Leistungs- und Anpassungsbereitschaft. 31 Eine Defizitwahrnehmung in Sachen Gleichstellung kommt dabei kaum 32 noch vor. Sie suchen sich entsprechend Mädchenfiguren, die zum einen 33 besonders sind – denn nach wie vor gibt es nur halb so viele weibliche wie 34 männliche Hauptfiguren im (Kinder-)Fernsehen –, die stark und erfolg- 35 reich wie sie selbst sind. Mit ihnen denken sie sich wertgeschätzt und kom- 36 petent, erleben in ihrer Fantasie die Verantwortung einer Prinzessin Lillifee 37 nach und gehen voller Selbstbewusstsein und Überlegenheitsgefühl als Bibi 38 und Tina durch die Grundschulzeit. Sie selbst, wie auch Erwachsene über-

290 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen sehen dabei, dass sie von Anfang an mit Überfliegermädchen konfrontiert 1 werden, die als Add-on-Figuren alle Idealvorstellungen vereinen – und das 2 in einer Körperlichkeit, die zum Großteil nicht auf natürlichem Weg zu 3 erreichen ist. Dass dem so ist, erkennen die Mädchen jedoch nicht, träu- 4 men aber davon, sie würden dieses Ideal bald selbstverständlich erreichen – 5 und kommen dann in die Pubertät. Je nach psychischer Resilienz finden sie 6 Wege, mit der »Ent-täuschung« zu leben, oder entwickeln den Ehrgeiz, 7 sich dem Körperbild anzupassen, mit den entsprechenden Entbehrungen 8 und Einschränkungen, bis hin zur gesundheitlichen Schädigung. 9 10 11 Literatur 12 Aubrey, J. S. & Harrison, K. (2004). The gender-role content of children’s favorite televi- 13 sion programs and its links to their gender-related perceptions. Media psychology, 14 6(2), 111–146. 15 Baker, K. & Raney, A. A. (2007). Equally Super? Gender-Role Stereotyping of Superheroes in Children’s Animated Programs. Mass Communication & Society, 10(1), 25–41. 16 Bauer Media Group (Hrsg.). (2016). BRAVO Dr. Sommer Studie 2016. München: Bauer 17 Media Group. 18 Beauvoir, S. de (1968). Das andere Geschlecht: Sitte und Sexus der Frau. Reinbek bei Ham- 19 burg: Rowohlt. Chan, K. (2012). Consumerism and Gender in Children’s Television. In M. Götz & 20 D. Lemish (Hrsg.), Sexy Girls, Heroes and Funny Losers: Gender Representations 21 in Children’s TV around the World (S. 169–180). Frankfurt a. M. u. a: Peter Lang. 22 Connell, R. (2000). The men and the boys. Cambridge: Polity Press. 23 Finsterbusch, M. (2004). Prinzessin Lillifee. Münster: Coppenrath. Frosh, S., Phoenix, A. & Pattman, R. (2002). Young masculinities. Understanding Boys in 24 Contemporary Society. Basingstoke: Palgrave. 25 Götz, M. (Hrsg.). (2013). Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen und Jungen. Geschlechter- 26 spezifische Studien zum Kinderfernsehen. München: Kopaed. 27 Götz, M. & Cada, J. (2013). »Sie ist so schön rosa«. Die Wertschätzung von Weiblichkeit: Phänomen Prinzessin Lilifee. In M. Götz (Hrsg.), Die Fernsehheld(inn)en der Mäd- 28 chen und Jungen. Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen (S. 679– 29 701). München: Kopaed. 30 Götz, M. & Eckhardt Rodriguez, A. (2017). Just Want to Look Good for You, Stereotypes 31 in Music Videos and How to Overcome the Self-Evident Sexism in Germany. In D. Lemish & M. Götz (Hrsg.), Beyond Stereotypes? Children, Youth, Gender, and 32 Media (S. 119–130) Göteborg: Nordicom. 33 Götz, M. & Gather, J. (2013). Ich habe heute leider kein Foto für dich. Die Faszination 34 Germany’s Next Topmodel. In M. Götz (Hrsg.), Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen 35 und Jungen. Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen (S. 473–528). München: Kopaed. 36 Götz, M. & Herche, M. (2012). »Wasp Waists and V-Shape Torso«. Measuring the Body of 37 the Global Girl and Boy in Animated Children’s Programm. In M. Götz & D. Lemish 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 291 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Maya Götz

1 (Hrsg.), Sexy Girls, Heroes and Funny Losers: Gender Representations in Children’s TV 2 around the World (S. 49–68). Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Götz, M. & Lemish, D. (2012). Gender Representations in Children’s Television World- 3 wide: A Comparative Study of 24 Countries. In M. Götz & D. Lemish (Hrsg.), Sexy 4 Girls, Heroes and Funny Losers: Gender Representations in Children’s TV around the 5 World (S. 9–48). Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. 6 Götz, M. & Mendel, C. (2015). Der Gedanke, »zu dick sein«, und Germany’s Next Top- model. Eine repräsentative Studie mit 6- bis 19 Jährigen. Televizion, 28(1), 54–57. 7 Götz, M. & Mendel, C. (2016). Germany’s Next Topmodel. In Internationales Zentral­ 8 institut für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI)/ANAD (Hrsg.), Warum seh’ 9 ich nicht so aus? Fernsehen im Kontext von Essstörungen (S. 80–145). München: IZI/ 10 ANAD. Götz, M. & Mlapa, M. (2018). Who produces, writes and directs? Gender Ratio in the 11 international children’s TV industry. TelevIZIon, 31(E), 66–67. 12 Götz, M., Neubauer, G. & Winter, R. (2012). Heroes, Planners and Funny Losers: Mascu- 13 linities Represented in Male Characters in Children’s TV. In M. Götz & D. Lemish 14 (Hrsg.), Sexy Girls, Heroes and Funny Losers: Gender Representations in Children’s TV 15 around the World (S. 107–130). Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang. Hains, R. C. (2012). Growing up with girl power: Girlhood on screen and in everyday life. 16 New York u. a.: Lang. 17 Hawkins, N., Richards, P. S., Mac Granley, H. & Stein, D. (2004). The impact of exposure to 18 the thin-ideal media image on women. Eating disorders, 12(1), 35–50. 19 Hentges, B. & Case, K. (2013). Gender representations on Disney Channel, Cartoon Net- work, and Nickelodeon broadcasts in the United States. Journal of children and 20 media, 7(3), 319–333. 21 Linke, C., Stüwe, J. & Eisenbeis, S. (2017). Überwiegend unnatürlich, sexualisiert und 22 realitätsfern. Eine Studie zu animierten Körpern im deutschen Kinderfernsehen. 23 Televizion, 30(2), 14–17. Luther, C. A. & Legg, J. R. Jr. (2010). Gender differences in depictions of social and phys- 24 ical aggression in children’s television cartoons in the US. Journal of children and 25 media, 4(2), 191–205. 26 Mulvey, L. (1975). Visual Pleasure and Narrative Cinema. Screen, 16(3), 6–18. 27 Neubauer, G. & Winter, R. (2013). Selbstbehauptung und Potenzbegegnung. Jungen und ihre Fernsehfiguren. In M. Götz (Hrsg.), Die Fernsehheld(inn)en der Mädchen 28 und Jungen. Geschlechterspezifische Studien zum Kinderfernsehen (S. 293–233). 29 München: Kopaed. 30 Prommer, E., Linke, C. & Stüwe, J. (2017). Is the future equal? Geschlechterrepräsentati- 31 onen im Kinderfernsehen. Televizion, 30(2), 4–10. Smith, S. L. & Cook, C. A. (2008). Gender stereotypes: An analysis of popular films and TV. 32 Conference on Children and Gender in Film and Media. Los Angeles. https://seejane. 33 org/wp-content/uploads/GDIGM_Gender_Stereotypes.pdf (11.02.2019). 34 Sternglanz, S. H. & Serbin, L. A. (1974). Sex Role Stereotyping in Children’s Television 35 Programs. Developmental Psychology, 10(5), 710–715. Streicher, L. H. & Bonney, N. L. (1974). Children talk about television. Journal of Commu- 36 nication, 24(3), 54–61. 37 Thompson, T. & Zerbinos, E. (1995). Gender roles in animated cartoons. Has the picture 38 changed in 20 years? Sex roles, 32(9/10), 651–673.

292 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Von coolen Losern, rosa Prinzessinnen und Wespentaillen

Unterstell, S. & Götz, M. (2013). »In zwei Jahren, da find ich auch gut, wie ich aussehe«. 1 Das Selbstbild 8- bis 13- Jähriger und wie Sturmfrei Geschlechterbilder erweitert. 2 Televizion, 26(2), 26–30. World Health Organization – WHO (Hrsg.). (2012). Social determinants of health and 3 well-being among young people. Health Behaviour in School-Aged Children 4 (HBSC) study: International report from the 2009/2010 survey. Kopenhagen: WHO. 5 http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0003/163857/Social-­determi 6 nants-of-health-and-well-being-among-young-people.pdf (30.03.2017). 7 8 Die Autorin 9 10 Maya Götz, Dr. phil., verheiratet, zwei Töchter (10 und 13 Jahre), ist Leiterin des Interna- tionalen Zentralinstituts für das Jugend- und Bildungsfernsehen (IZI) beim Bayerischen 11 Rundfunk und des Prix Jeunesse International. Ihr Hauptarbeitsfeld ist die Forschung 12 im Bereich »Kinder/Jugendliche und Fernsehen« mit internationaler und geschlechter­ 13 sensibler Perspektive. Sie leitete über 180 empirische Studien und veröffentlichte bisher 14 über 250 wissenschaftliche Artikel, 15 Bücher und ist weltweit in Fortbildungen für Kinderfernsehredaktionen tätig. 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 293 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm 1 2 Ein Überblick über Filme mit schwulem Inhalt 3 4 Marco Geßner 5 6 7 8 9 10 11 Männliche Homosexualität im deutschen Spielfilm wurde in seiner Ge- 12 samtheit bisher nur ungenügend aufgearbeitet. Der deutsche Film hat 13 zur Homosexualität auch aus der Sicht des Weltkinos einige Pionierarbeit 14 geleistet. Ihm gebührt nicht nur die Ehre des ersten Werkes mit homo­ 15 sexueller Hauptthematik, auch haben offen schwule deutsche Filmemacher 16 wie Rainer Werner Fassbinder, Frank Ripploh, Rosa von Praunheim und 17 Wolfgang Petersen, vor allem in den politisch für die Schwulenbewegung 18 und den Akzeptanzkampf wichtigen 1970er Jahren, das Weltkino um neue 19 und interessante Facetten bereichert. 20 Der Bereich des Unterhaltungskinos wird in diesem Text mit aufgegriffen, 21 da viele Filme mit thematischer Einbindung bisher in den, auch deutschen, 22 lexikalischen und international orientierten Abhandlungen ignoriert werden. 23 Nicht nur der intellektuelle, der anspruchsvolle und/oder der politische Film 24 greift die rechtlichen und gesellschaftlichen Stimmungen seiner Zeit auf und 25 transportiert sie, sondern eben auch kommerziell orientierte Werke. 26 Dieser Beitrag legt seinen Fokus auf im Kino ausgewertete Spielfilme. 27 Reine TV-Produktionen werden nicht berücksichtigt. Ebenso werden 28 Spielfilme in deutscher, untergeordneter Koproduktion außen vor gelas- 29 sen, wie auch Filme, in denen zwar homoerotische Nuancen, jedoch keine 30 homosexuellen Charaktere vorkommen. Dies betrifft die zahlreichen filmi- 31 schen »Dragqueens«, die sich in Deutschland großer und andauernder Be- 32 liebtheit erfreuen (von Charleys Tante über Die Abenteuer des Grafen Bobby 33 und Wenn die tollen Tanten kommen bis hin zu Die Supernasen) sowie auch 34 die sogenannten »Buddy-Movies«, deren Plots anhand einer Männer- 35 freundschaft entworfen werden. 36 Die Literaturlage zu schwulen Inhalten in der deutschen Filmgeschichte 37 ist spärlich. Wenn dieser Themenbereich aufgegriffen wurde, dann -oft 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 295 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marco Geßner

1 mals nicht unter filmhistorischen Gesichtspunkten. Da sich in Deutsch- 2 land, speziell in den 1970er Jahren, der Zeit des Autorenfilms, einige offen 3 schwule Regisseure in ihren Filmen mit dem Thema auseinandersetzten, 4 ergaben sich für Filmanalytiker immer wieder Gelegenheiten oder Not- 5 wendigkeiten, über die Darstellung von Homosexualität zu schreiben. Re- 6 flexionen einer allgemeinen Darstellung über einen Film oder das Œuvre 7 eines Regisseurs hinaus fanden jedoch nicht statt (z. B. die Biografien und 8 die filmanalytischen Abrisse über offen schwule Regisseure wie Rosa von 9 Praunheim oder Rainer Werner Fassbinder; vgl. etwa Kuhlbrodt, 1984; 10 Elsaesser,­ 2001). 11 Deutsche Quellen zu Homosexualität im deutschen Spielfilm beschrän- 12 ken sich auf zwei Publikationen, die das Themengebiet im weiteren Sinne 13 beinhalten: Hermann J. Hubers Gewalt und Leidenschaft (1989) sowie 14 Axel Schocks und Manuela Kays Out im Kino (2003). Übergreifende Texte 15 finden sich in beiden Veröffentlichungen nicht. Der Text »Wie die Schwu- 16 len ins Kino kamen« von Reiner Veit in Elmar Kraushaars Hundert Jahre 17 schwul (1997) stellt eine Ausnahme dar, impliziert jedoch schon in seinem 18 Untertitel »Ein Rückblick mit schnellem Vorlauf« eine äußerst verknappte 19 Beschäftigung mit dem Thema. 20 Im Ausland, speziell in Amerika, hat die Auseinandersetzung mit den 21 Darstellungstraditionen gleichgeschlechtlicher Charaktere seit den 1980er 22 Jahren intensiver als hierzulande stattgefunden. Neben speziellen Ausfüh- 23 rungen zum französischen (Heathcote et al, 1998), italienischen (Cestaro, 24 2004), britischen (Griffiths, 2006) und amerikanischen Film (Harry M. 25 Benshoff, Sean Griffin: Queer Images – A History of Gay and Lesbian Film 26 in America) [2005] impliziert vor allem die Veröffentlichung The Celluloid 27 Closet – in the Movies (1987) von Vito Russo einen all­umfas­ 28 senden Überblick über das Thema, der sich jedoch bei näherer Betrachtung 29 stark auf die amerikanische Kultur konzentriert. Alice A. Kuzniars Ab- 30 handlung The Queer German Cinema (2000) legt den Schwerpunkt auf die 31 Repräsentationen geschlechtlicher Zwischenstufen und Grenzgänger im 32 Sinne der aktuellen »Gender Studies« und nicht auf eine filmgeschicht- 33 liche Beleuchtung des schwulen deutschen Films (vgl. Kuzniar, 2000). 34 Richard Dyer konzentriert sich in Now you see it – Studies on Lesbian and Gay 35 Film auf die Filme zum Thema von schwulen Regisseuren (vgl. Dyer, 1991). 36 Da sich Film nicht im luftleeren Raum bewegt, sondern immer auf der 37 jeweiligen nationalen Kultur aufbaut, können Befunde dieser Veröffentli- 38 chungen nicht automatisch auf deutsche Verhältnisse übertragen werden.

296 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm

Trotzdem lassen sich, vor allem in Russos Abhandlung, allgemeine Beschrei- 1 bungen über die Verlaufslinien schwuler Filmdarstellungen aus den Aus- 2 führungen herausarbeiten. Neben den landesspezifischen Unterschieden 3 bleiben Gemeinsamkeiten im Kanon der »westlichen Kulturgeschichte«, 4 wie die Entwicklung moralischer Ansichten zum Thema Homosexualität. 5 Diese Verlaufslinien werden im Folgenden in Anlehnung an Vito Russos 6 Studie The Celluloid Closet für den deutschen Film skizziert. Russos Arbeit 7 besitzt bis heute als Standardwerk Gültigkeit. 8 Die Konzentration seiner Darstellung der homosexuellen Filmge- 9 schichte liegt auf der Beschreibung der Charaktere im Film, nicht auf 10 möglichen Reflexionen des Zuschauers. Russo beschreibt seinen Themen- 11 gegenstand anhand verschiedener Darstellungstypen, die sich von der 12 Stummfilmära bis in die Mitte der 1980er Jahre hinein in der amerikani- 13 schen Kultur entwickelt haben, als Zusammenspiel zwischen dem Kino 14 selbst, der männlichen Geschlechterrolle und amerikanischer Gründer­ 15 mythologie, die Männer als stark, schweigsam und äußerlich emotionslos 16 definiert (vgl. Russo, 1987, S. 5f.). Die Rettung des schwächlichen, weibi- 17 schen Jungen bzw. Mannes und die Zurückgewinnung seiner Männlichkeit 18 sind das große Hauptthema dieser Zeit (ebd., S. 6) neben einer Bevorzu- 19 gung der Darstellung Homosexueller als »harmloser Tunte« (sissy) (ebd., 20 S. 26). Ziel war der Spott und das Gelächter des Publikums als emotionaler 21 wie auch moralischer Schutzwall gegen die unsichtbare Gefahr des kinema- 22 tografischen Wandelns zwischen den definierten Geschlechterrollen (ebd., 23 S. 6). Homosexuelle Männer hatten keine Männer zu sein. Die Filmära 24 Amerikas von Beginn der 1930er bis gegen Ende der 1960er Jahre unter 25 dem Einfluss des strikten »Production Codes« (Hays Code), der Fest- 26 legungen über abzulehnende, unmoralische Inhalte traf, definiert Russo 27 als die unsichtbaren Jahre. »Echte« homosexuelle Charaktere waren ver- 28 boten, die Filmkontrolle achtete zudem auf versteckte Anspielungen. So 29 konnten homosexuelle Inhalte lediglich sehr behutsam und undeutlich in 30 den Subkontext einer Filmhandlung integriert werden (ebd., S. 92). Die 31 Veränderungen der Darstellungen ab den 1960er Jahren, die mit dem ste- 32 tigen Verlust der Einflussnahme der Filmkontrolle einhergingen, führte zu 33 einer in den 1970er Jahren neuen und stärkeren Hinwendung zu schwulen 34 Charakteren. Die neu erlangte Sichtbarkeit führte jedoch zu dem neuen 35 Stereotyp des krankhaften, kriminellen und gefährlichen Schurken und 36 Dummkopfes (ebd., S. 122), dem als Filmschicksal nur die Heilung, der 37 Tod oder die Impotenz blieben (ebd., S. 162). Der Publikumsfilm blieb 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 297 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marco Geßner

1 auch im ersten Jahrzehnt der schwulen Bürgerbewegung homophob. Auch 2 in den 1980er Jahren sei die Darstellung von Homosexualität in Holly- 3 wood immer noch als das »letzte Tabu« zu werten. Abschließend schluss- 4 folgert Russo, dass die Sichtbarkeit, das Zeigen von Homosexualität in der 5 amerikanischen Filmgeschichte zu keiner Zeit das Problem war, vielmehr 6 die Art und Weise, wie gleichgeschlechtliche Charaktere dargestellt wurden 7 (ebd., S. 325). Homosexuelle Filmfiguren waren hauptsächlich über ihre 8 Sexualität definiert und ihre Probleme wurden auf die »Andersartigkeit« 9 ihrer »Veranlagung« zurückgeführt (ebd., S. 23, 132). 10 11 12 Zeitraum 1871–1935 13 14 Mit der Reichseinigung Deutschlands 1871 wurde im Strafgesetzbuch die 15 männliche Homosexualität als Verbrechen eingestuft. Der Paragraf 175 16 wurde dabei nahezu unverändert aus dem Preußischen Strafgesetzbuch von 17 1851 übernommen. Als Begründung für den Straftatbestand dienten nicht 18 mehr theologische Ansichten, sondern es wurde mit der »Naturwidrigkeit« 19 des homosexuellen Geschlechtsaktes argumentiert, da dieser nicht der Zeu- 20 gung von Nachkommen diene. Mit dem Argument des »Rechtsbewußtseins 21 im Volke« (Stümke, 1989, S. 22) setzte sich die Politik über die Ansich- 22 ten der hinzugezogenen Gutachter hinweg. So forderten die beiden Ärzte 23 Rudolf Virchow und Bernhard von Langenbeck eine Nichtbestrafung von 24 Homosexuellen, da ihre Art des Geschlechtsaktes keine zusätzlichen Risiken 25 zum heterosexuellen Verkehr mit sich bringe (vgl. Blazek, 1996, S. 116). 26 Der Paragraf 175 bestrafte nicht die Veranlagung. Verhandelt wurden 27 nur Fälle von »beischlafähnlichen Handlungen« – ein Terminus, der 28 Streitthema unter Juristen war und auch die Schwierigkeit des Nach­weises 29 mit sich brachte. In der Privatsphäre durchgeführte einvernehmliche Akte 30 entzogen sich der Justiz. Deshalb versuchte die Gerichtsmedizin, körper- 31 liche Merkmale und Anzeichen einer begangenen »Unzuchtstat« bei 32 Homo ­sexuellen festzustellen. Das zeigt sich schon früh im 19. Jahrhundert, 33 unter anderem 1826 bei Ludwig Mende und 1857 bei dem französischen 34 Arzt Ambroise Tardieu (vgl. Blazek, 1996, S. 110f.; Stümke, 1989, S. 24). 35 Homosexueller Verkehr finde, so Mende, hauptsächlich zwischen einem 36 ­älteren, »verbrauchten« Mann und einem jungen Knaben statt. Gerade 37 der passive Partner hatte in den Ausführungen Mendes ein tierhaftes, evo- 38 lutionär rückschrittliches Wesen (vgl. Blazek, 1996, S. 108).

298 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm

Die Untersuchungen des Berliner Gerichtsmediziners Johann Ludwig 1 Casper fokussierten auf die psychischen Eigenheiten der Homosexuellen 2 und der Homosexualität, für ihn ein »Geschlechtswahnsinn«, eine ange- 3 borene Krankheit, die unheilbar sei (ebd., S. 114). Seine Theorie war aus 4 wissenschaftlicher Sicht ein erster Schritt hin von der »Perversion« zur 5 »Krankheit« und wurde von Gelehrten positiv aufgenommen. Für den Ju- 6 risten und Privatgelehrten Karl Heinrich Ulrichs entstand Homosexualität 7 durch eine entwicklungsbedingte Zwischenstufe: »Im männlichen Körper 8 ist eine weibliche Seele eingeschlossen« (ebd., S. 121). Der Psychiater 9 ­Richard von Krafft-Ebing sprach von einer »zerebral bedingte[n] Neurose 10 [, die] einem Defekt im Zentralnervensystem entspring[t]« (ebd., S. 127). 11 Der bekannteste und engagierteste Forscher zu dieser Zeit, der Arzt und 12 Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, lehnte seine Theorie der sexu- 13 ellen Zwischenstufen an Krafft-Ebing wie an Ulrichs an. Ausgehend von 14 einer angenommenen Bisexualität des Embryos entstünden inmitten der 15 selten erreichten Extreme »Vollmann« und »Vollweib« Mischformen, das 16 heißt Männer mit mehr oder weniger weiblichen bzw. Frauen mit mehr 17 oder minder männlichen Eigenschaften. Nach Hirschfeld können diese 18 »sexuellen Zwischenstufen« in den Bereichen der Psyche, der Physis, 19 des Geschlechtstriebs und der Geschlechtsorgane selbst auftreten (ebd., 20 S. 132). Hirschfeld war 1897 Mitbegründer des Wissenschaftlich-huma- 21 nitären Komitees (WhK), dessen Hauptziel die Streichung des § 175 war. 22 Bereits 1898 verfasste das WhK eine dementsprechende Petition, die durch 23 den Ehrgeiz seiner Mitglieder und Fürsprecher aus der Politik bis 1907 24 in mehreren Ausschüssen diskutiert, letztlich aber abgewiesen wurde 25 (vgl. Stümke, 1989, S. 36ff.). 26 Die Sichtweise der Bevölkerung zur Homosexualität befand sich für 27 Hirschfeld eher auf der Ebene »spottende[r] Ironie als […] fanatischen 28 Groll[s]« (ebd., S. 49), trotz der medialen Enthüllungen der in hohen poli­ 29 tischen Kreisen verkehrenden Persönlichkeiten Friedrich Krupp und Fürst 30 Philipp zu Eulenburg (ebd., S. 43). Der Skandal zeigte das fehlende gesell- 31 schaftliche Ansehen der Homosexualität auf, das sich weit eklatanter als die 32 Rechtsvorschrift auf die konkrete Lebenssituation der Betroffenen auswirkte. 33 Selbst homosexuell, brachten seine Bemühungen um eine Verbesserung der 34 gesellschaftlichen Situation der Homosexuellen Hirschfeld Mitte der 1910er 35 Jahre mit dem neuen, breitenwirksamen Medium Film zusammen. 36 Mit dem Zensurverbot 1918 expandierte nicht nur die schwule Belletris- 37 tik schwungartig, auch im Film führte die Abwesenheit staatlicher K­ ontrolle 38

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1 unter anderem zu einer Reihe von Aufklärungs- und Sittenfilmen. Die Film- 2 welle entsprang dabei der »Bruchstelle […] aus wilhelminischen Gedanken 3 und Interessen [, …] Folgeerscheinungen des ersten Weltkrieges […], zu­ 4 nehmender Verstädterung und Modernisierungstendenzen, [vermischt] mit 5 dem Durchbruch der Populärkultur und des Amerikanismus« (H­ agener & 6 Hans, o. J.). Nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches und der wirt- 7 schaftlich wie sozial angespannten Lage beteiligte sich der Film an den 8 Diskussionen um einen neuen gesellschaftlichen Konsens in der Weimarer 9 Republik (vgl. ebd.), verbunden mit der Befriedigung der Sensationslüstern- 10 heit des Publikums. Allein zwischen 1918 und 1920 entstanden etwa 120 11 Filme wie Sklaven der Sinnlichkeit, Hyänen der Lust oder Das Paradies der 12 Dirnen (vgl. Steakley, 2007, S. 92f.). Der Regisseur und Produzent Richard 13 Oswald griff als Erster Themen aus den Bereichen der Psychoanalyse und 14 der Sexualaufklärung (vgl. Hagener & Hans, o. J.) in seinen selbsternannten 15 »sozialhygienischen Filmwerken« auf (vgl. Thissen, 1995, S. 68), begin- 16 nend mit Es werde Licht (1916/17), einer Warnung vor den Gefahren und 17 Folgen der Syphilis. Aufklärung und Geschäftssinn sorgten in wirtschaft- 18 lich instabilen Zeiten unter der steten Bedrohung einer Verstaatlichung der 19 Produktionsmittel für schnelle Gewinne und damit sichere Geschäfte (vgl. 20 Hagener & Hans, o. J.). 1919 entstanden in Zusammenarbeit mit Hirschfeld 21 Die Prostitution und vor allem Anders als die Anderen, der sich als erster Film 22 explizit mit dem Thema Homosexualität auseinandersetzte. 23 Im Mittelpunkt des Films lernt der Violinvirtuose Paul Körner nach 24 einem seiner Konzerte den jungen Kurt Sivers kennen, der ihn bittet, sein 25 Lehrmeister zu werden. Die beiden werden ein Liebespaar. Doch Körner 26 leidet unter steten Geldforderungen eines gewissen Franz Bollek, der ihn 27 sonst wegen Vergehens nach § 175 anzeigen will. Durch eine unwahre Äuße- 28 rung Bolleks glaubt Kurt, dass dieser immer noch mit Körner intim ist und 29 verlässt seinen Freund daraufhin. Körner erinnert sich an einschneidende 30 Erlebnisse der Vergangenheit und entschließt sich, einen Schlussstrich unter 31 das Problem zu ziehen. Er verklagt Bollek wegen Erpressung, dieser erstattet 32 Gegenanzeige wegen widernatürlicher Unzucht. Bollek wird zu einer langen 33 Haftstrafe, Körner zu einer Woche Arrest verurteilt. Wieder zu Hause merkt 34 Körner, dass er für die Öffentlichkeit zur Unperson geworden ist. Er begeht 35 Suizid. Am Sterbebett will sich auch Kurt das Leben nehmen. Ein Sexual- 36 wissenschaftler ermutigt ihn, für die Aufhebung des §175 zu streiten. 37 Die Originalfassung des Films gilt als verschollen. Dass es inzwischen 38 Bildmaterial gibt, ist der Zweitverwendung in dem Aufklärungswerk

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Gesetze­ der Liebe (1927) zu verdanken. Für den finalen Part mit dem Titel 1 Schuldlos geächtet! – Tragödie eines Homosexuellen kürzte Hirschfeld den 2 Originalfilm um mehr als die Hälfte und gab ihm zudem eine andere dra- 3 maturgische Struktur. In den 1970er Jahren als ukrainische Exportkopie 4 entdeckt, steht seit 2006 eine Rekonstruktion zur Verfügung. Als Grund- 5 lage für die Restauration diente unter anderem eine Schilderung des Film­ 6 inhaltes im »Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen«, einer Schriftenreihe 7 des Wissenschaftlich-humanitären Komitees. Die weiterhin fehlenden 8 Szenen wurden mit Texttafeln und teilweise durch Standfotos ersetzt. Die 9 Kürzungen betreffen vor allem die Nebenfiguren. Hirschfeld eliminierte 10 den Familienhintergrund von Körner und Sivers, konzentrierte sich für die 11 neue Fassung auf die beiden Hauptpersonen, Bollek und sich selbst. Für die 12 Filmbetrachtung ergeben sich somit zwangsweise Lücken, die einer voll- 13 ständigen Analyse der Originalfassung entgegenstehen. 14 Oswald und Hirschfeld bilden die aufgezeigte schwule Lebensrealität mit 15 ihren wiederkehrenden archetypischen Situationen nach: vom erzwungenen 16 Doppelleben und der Gefahr der Erpressung zur Existenzvernichtung im 17 Falle des öffentlichen Bekanntwerdens und der finalen Tragik des Suizids. 18 Der durch die Gesellschaft aufgebaute Druck brachte vor allem Männer im 19 Alter von 18 bis 25 Jahren dazu, sich das Leben zu nehmen. Wer sein Coming-­ 20 out überlebt hatte, dem stand in den Großstädten eine homosexuelle Szene 21 offen, die nach 1918 Bars für alle Schichten und Altersstufen zu bieten hatte. 22 Im vorliegenden Filmfragment geben ein Tanzlokal und ein Maskenball mit 23 Arm in Arm tanzenden Männern einen Einblick in diese Subkultur. Wei- 24 tere Möglichkeiten zur Kontaktaufnahme bestanden durch kodiert formu- 25 lierte Zeitungsannoncen sowie in der spontanen Begegnung auf speziellen 26 Plätzen und Straßen. Hierzu gehörten belebte, »helle« Orte wie Bahnhöfe 27 oder Theater wie auch »dunklere«, verrufene Orte wie Parkanlagen oder 28 öffentliche Toiletten. Aufgrund der Erpressungsgefahr bevorzugten viele 29 Homosexuelle überschaubare Freundeskreise und feste Beziehungen. Zwar 30 kam mit der Gründung der ersten deutschen Republik 1918 – abseits des 31 § 175 – die nun vom Gesetz garantierte Freiheit in Wort und Schrift, was 32 zur Bildung mehrerer »Freundschaftsvereine« führte, aus denen 1921 der 33 Bund für Menschenrecht (BfM) hervortrat (vgl. Stümke, 1989, S. 54); trotz 34 politischer Ziele stritten jedoch nur wenige der Mitglieder aktiv für bes- 35 sere Lebensumstände, die einzelnen Ortsgruppen fokussierten sich zumeist 36 auf die gemeinsame Freizeitgestaltung (vgl. ebd.). Ein Phänomen, das auch 37 Hirschfeld sah, indem er beschied, dass »es kaum eine zweite Menschen- 38

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1 klasse gibt, die sich in so geringem Grade zur Wahrnehmung gemeinsamer 2 Rechts- und Lebensinteressen zu organisieren verstanden hat« (ebd., S. 34). 3 Er selbst warb für seine Ansichten nicht nur als wissenschaftlicher Berater 4 des Films, sondern übernahm auch die Rolle des Arztes, an dessen Auftreten 5 die propagandistische Ader des Films zu großen Teilen aufgemacht wird. 6 Einzige Ausnahme bildet Sivers Schwester, die als einziger fiktiver Charakter 7 des Films in der Schlussszene agitatorisch reden darf. Steht Körners Vater 8 für die alte Generation, die in ihren Moralvorstellungen und Konventionen 9 erstarrt ist, so kann Elses Figur als Hoffnung Hirschfelds gesehen werden, 10 dass der Liberalismus der Jugend zu gesellschaftlichen Änderungen führen 11 könnte. Dem entspricht auch der Schluss des Films, der nicht in Verzweif- 12 lung, sondern kämpferisch endet. Im Schlussbild, das heute eine Texttafel 13 ersetzen muss, streicht eine unsichtbare Hand den § 175 durch. 14 Wurde die Aufklärungswelle ohnehin kontrovers diskutiert, so spaltete 15 Anders als die Anderen den öffentlichen Diskurs endgültig in zwei Lager. 16 Politischer Druck führte bereits im Juni 1920 mit dem »Lichtspielgesetz« 17 zu einer Wiedereinführung der staatlichen Filmkontrolle (vgl. Steakley, 18 2007, S. 103), die den Film noch im gleichen Jahr nicht mehr für öffentliche 19 Vorführungen freigab (vgl. ebd., S. 106) und damit homosexuellen Inhal- 20 ten in dieser Form eine klare Absage erteilte. Das Thema schlich sich in der 21 Folgezeit nur noch gelegentlich in Filmerzählungen ein. Den subtilen Weg 22 beschritt dabei Carl Theodor Dreyer mitMichael von 1924, einer Verfil- 23 mung eines Romans von Hermann Bang. Der literarischen Vorlage folgend 24 erzählt Dreyer die tragische Geschichte des Malers Zoret, dessen Adoptiv- 25 sohn und Muse Michael ihn aufgrund seiner Liebe zu einer Gräfin verlässt. 26 Offiziell als Vater-Sohn-Beziehung und als Maler-Muse-Verbindung ausge- 27 geben besitzt der Film sichtbare Zwischenzeichen, welche die Verbindung 28 der beiden eher als die eines homosexuellen Liebespaares definieren. Waren 29 die Andeutungen in Michael so in den Subkontext eingeschlossen, dass der 30 Film von der Zensur unbeanstandet blieb, so hatte 1928 der Film Geschlecht 31 in Fesseln von Wilhelm Dieterle mehr Probleme, eine Freigabe zu erhalten. 32 Der Film, als Plädoyer für die sexuellen Rechte von Strafgefangenen ange- 33 legt (vgl. Schock & Kay, 2003, S. 143), beschreibt zaghaft, aber eindeutig die 34 homosexuelle Verbindung zweier Inhaftierter, wenn auch letztlich als eine 35 negative Verfehlung. Um eine Zulassung zu erhalten, musste eine Einstel- 36 lung entfernt werden, die einen homosexuellen Annäherungsversuch zeigt 37 (vgl. Steakley, 2007, S. 100). Demgegenüber blieb die Szene, in der Alfred 38 in das Gesangsbuch einer Kirche seinen und Sommers Namen schreibt und

302 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm mit einem Kreis umschließt, unbeanstandet (vgl. Schock & Kay, 2003, 1 S. 143). Magnus Hirschfelds KompilationsfilmGesetze der Liebe von 1927 2 wurde mit der Auflage freigegeben, dass die bereits erwähnte Kurzform 3 von Anders als die Anderen, hier Schuldlos geächtet! – Tragödie eines Homo- 4 sexuellen betitelt, zu entfernen sei (vgl. Steakley, 2007, S. 115ff.). 5 Zeitgleich trat Hirschfeld mit dem WhK im Zuge der Beratungen einer 6 geplanten Strafrechtsreform erneut auf den Plan. Der Entwurf der Regie- 7 rung sah eine weitere Verschärfung des § 175 vor, der Gegenentwurf des 8 WhK sprach sich für eine generelle Straflosigkeit der einfachen Homo­ 9 sexualität aus (vgl. Stümke, 1989, S. 71). Der beratende Strafrechtsaus- 10 schuss entschied 1929 mit knapper Mehrheit zugunsten der Positionen 11 des WhK. Aufgrund geänderter politischer Verhältnisse kam der Entwurf 12 nicht mehr zur Abstimmung in den Reichstag (vgl. ebd., S. 78ff.). In Rela- 13 tion zur damals vermuteten Häufigkeit praktizierter homosexueller Hand- 14 lungen nahm sich die Anzahl der Urteile nach § 175 eher bescheiden aus. 15 Mit dem Ende der Weimarer Koalition von 1924 schnellte die Zahl der 16 jährlich Verurteilten von jeweils unter 500 auf über 1.000 an, um sich nach 17 1927 bei etwa 800 einzupendeln (vgl. ebd., S. 90). 18 19 20 Zeitraum 1935–1969 21 22 Bereits im Jahr der Machtübernahme der NSDAP unter Adolf Hitler voll- 23 zog sich ein drastischer Anstieg der Verurteilungen nach § 175. Erste Ein- 24 lieferungen in die sogenannten »Schutzlager« folgten (ebd., S. 103). Die 25 Arbeiten an einer Neukonzeption des Strafgesetzbuches nationalsozialis- 26 tischer Prägung mündeten 1935 in eine deutliche Verschärfung des § 175. 27 Durch Streichung des Tatbestandsmerkmals der »Widernatürlichkeit« lag 28 nun eine Strafwürdigkeit sämtlicher Handlungen zwischen Männern vor, 29 angefangen bei Umarmungen oder einem bloßen Blick (vgl. Schäfer, 2006, 30 S. 109). Die Verfolgung und von den Nazis erwünschte »Ausmerzung« 31 der männlichen Homosexuellen erfolgte aus Gründen der Aufrechterhal- 32 tung und Festigung der »gesunden Volkskraft« (vgl. ebd., S. 40) im Sinne 33 einer nationalsozialistischen Rassenhygiene. Im Zuge des neuen Gesetzes 34 schnellte die Zahl der Verurteilten weiter nach oben und lag von 1937 bis 35 1939 bei über 8.000, ab 1940 bei etwa 4.000 Verurteilten pro Jahr (vgl. 36 Stümke, 1989, S. 118). Ermöglicht wurde dies nicht zuletzt durch die 37 Gründung der Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und 38

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1 Abtreibung 1936. Bereits im gleichen Jahr führte die Behörde in mehreren 2 Großstädten Razzien in der noch übrig gebliebenen schwulen Subkultur 3 durch (vgl. ebd., S. 116), die durch Lokalverbote systematisch stark verklei- 4 nert, jedoch nicht vollständig aufgelöst werden konnte (vgl. Pretzel, 2000, 5 S. 20). Weiterhin dienten die traditionellen Treffpunkte der Kontaktan- 6 bahnung für Sex unter Männern: Parks, Toiletten, Kinos, Badeanstalten, 7 Bahnhöfe, aber auch »seriöse« Lokale, das eigene Arbeitsumfeld, Männer- 8 oder Jünglingsgemeinschaften (ebd.). Das Bedrohungspotenzial durch 9 Verfolgung und mögliche Denunziation trieb die Homosexuellen weiter in 10 die Isolation. Beziehungen wurden abgebrochen, eine Partnersuche fand 11 nur äußerst vorsichtig oder gar nicht statt, viele flohen in Scheinehen oder 12 Verlobungen, Treffen fanden nur mehr privat statt, sexuelle Kontakte in 13 der eigenen Wohnung wurden dabei jedoch vermieden, Freundeskreise 14 blieben, sofern überhaupt vorhanden, im überschaubaren Rahmen (vgl. 15 Stümke, 1989, S. 115, 122; Pretzel, 2000, S. 18ff.). Von den in der Nazizeit 16 wegen § 175 Verurteilten – das waren etwa 50.000 Personen – wurden nach 17 neueren Schätzungen etwa 5.000 bis 10.000 Personen mit einem »rosa 18 Winkel« in Konzentrationslager verschleppt (vgl. Lautmann et al., 1977; 19 Schoppmann, 2002). Die Häftlinge standen an unterster Stelle der Häft- 20 lingshierarchie (vgl. Stümke, 1989, S. 129). Sie waren einer besonders bru- 21 talen Behandlung durch die Wachmannschaften und Ärzte ausgesetzt (vgl. 22 Blazek, 1996, S. 320), zwei Drittel von ihnen wurden in den KZs ermordet 23 (vgl. Lautmann et al., 1977; Schoppmann, 2002). Im Kontrast zu dieser 24 Verfolgung standen bekannte und angesehene Homosexuelle, die in der 25 Nazizeit unbehelligt blieben oder sogar wichtige Funktionen einnehmen 26 konnten (vgl. etwa Fout, 2002; Steakley, 2002): , Herausgeber 27 der Zeitschrift , der schon in den 1920er Jahren die »­Weimarer 28 Toleranz« abgelehnt und die nationalistische Rechte unterstützt hatte, 29 blieb auch in der NS-Zeit unbehelligt; der Bildhauer Arno Breker wurde 30 von Adolf Hitler selbst auf die »Sonderliste« der »gottbegnadeten«, für 31 den Nationalsozialismus »unersetzlichen Künstler« aufgenommen (auf 32 der »Sonderliste« befanden sich nur zwölf Personen); der Reichswirt- 33 schaftsminister Walther Funk machte im NS-Staat Karriere, im Nürnberger 34 Kriegsverbrecherprozess wurde er – wegen Kriegsverbrechen und Verbre- 35 chen gegen die Menschlichkeit – zu lebenslanger Haft verurteilt. 36 37 Nach der Befreiung Deutschlands sah eine erste Weisung der westlichen 38 Besatzungsmächte vor, alle unter den Nationalsozialisten durchgeführten

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Gesetzesänderungen als unrecht zu deklarieren. In der Sowjetischen Be- 1 satzungszone wurde das auch bezüglich des § 175 umgesetzt – unter den 2 Westalliierten und nachfolgend in der BRD und in Westberlin wurden 3 die Änderungen des § 175 hingegen zunächst (bis zur Rehabilitierung im 4 Jahr 2017) nicht als NS-Unrecht eingestuft (vgl. Stümke, 1989, S. 132f.). 5 Als Maßstab ersetzte die Lehre der christlichen Konfessionen, von den 6 Richtern als »Sittengesetz« interpretiert, die nationalistisch verbrämte 7 Formulierung des »gesunden Volksempfindens« (vgl. ebd., S. 134). Erste 8 Reformbestrebungen, Eingaben der Deutschen Gesellschaft für Sexualfor- 9 schung 1950 und des 39. Deutschen Juristentages 1951, blieben erfolglos. 10 Dem Leiter des Hamburger Instituts für Sexualforschung, Hans Giese – 11 der allerdings auch erste Schritte seiner Karriere in der Nazizeit gemacht 12 und dort eine »systemkonforme«, »männerbündische« Theorie der 13 Homosexualität vorgelegt hatte (vgl. etwa Sigusch, 2001) –, gelang es, das 14 Thema Homosexualität in der BRD wieder in den öffentlichen Fokus zu 15 stellen. In seiner 1958 veröffentlichten Studie Der homosexuelle Mann in 16 der Welt unterschied er zwischen dem »normalen« homosexuellen Mann, 17 der die »normative Ordnung« (also die Heterosexualität), jedoch nicht 18 die gesellschaftlichen Grundtugenden verfehlt, und dem »perversen« 19 Homosexuellen, der gegen diese Ordnung lebt (vgl. Giese, 1958, S. 232). 20 Bereits im Jahr zuvor hatte Giese als wissenschaftlicher Berater der Filmpro- 21 duktion Das dritte Geschlecht zur Seite gestanden, die in der Zeit als große 22 und einzige Ausnahme, nicht nur im deutschsprachigen Raum, Homosexu- 23 alität zum Hauptthema erhob. Aufgrund der gesellschaftlichen Situation in 24 der jungen Bundesrepublik wurden Filmstoffe, gerade literarische Vorlagen, 25 die derlei Potenzial hatten, moralisch geglättet – ein gängiges Gebaren der 26 Unterhaltungsfilmindustrie weltweit. Als Beispiel kann Helmuth Käutners 27 Verfilmung vonLudwig II (1954) gesehen werden. Auch Andeutungen 28 oder ein metaphorischer Subtext wurden von deutschen Drehbuchautoren 29 und Regisseuren kaum benutzt. 30 Das dritte Geschlecht setzt im Filmtitel einen direkten Bezug zur Person 31 von Magnus Hirschfeld und seiner Überzeugung eines »Zwischenge- 32 schlechts«. Im Plot sehen die Eltern Teichmann ihren Sohn Klaus in un- 33 erwünschte Bahnen abdriften. Durch seinen Schulfreund Manfred lernt 34 Klaus die Gesellschaft von Dr. Boris Winkler kennen, der junge Männer 35 mit moderner Kunst und einer geistigen, weltlich modernen Atmosphäre 36 an sich bindet. Werner Teichmann verklagt Dr. Winkler wegen Verführung 37 Minderjähriger, Christa Teichmann forciert eine sexuelle Annäherung von 38

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1 Klaus an das Hausmädchen der Familie. Dies erfährt Dr. Winkler, der nun 2 seinerseits Strafanzeige wegen Kuppelei gegen die Teichmanns stellt. Vor 3 Gericht wird Christa Teichmann verurteilt. 4 Der Film stellt den Charakter Dr. Winkler im Sinne der Ausführungen 5 Gieses als einen archetypischen Vertreter des sogenannten »perversen Homo­ 6 sexuellen« dar: promiskuitiv, immer auf der Suche nach jungen Männern, 7 damit die Ordnung normativer menschlicher Seinsmöglichkeiten verletzend 8 (vgl. Giese, 1958, S. 232). Der Film zeigt dieses »triebgesteuerte« Ausleben 9 von Homosexualität auch als Einfallstor für schwerere strafbare Handlungen, 10 unabhängig von einer gegebenen Vorsätzlichkeit. Wie sich im Verlauf des 11 Filmes herausstellt, ist Dr. Winkler ebenso ein »Verführer Minderjähriger«, 12 wenn auch unbewusst, da eine ehemalige Bekanntschaft ihm ein falsches Alter 13 angegeben hatte. Harlans visuelle Gestaltung betont immer wieder das verfüh- 14 rerische Potenzial der Figur: Speziell in der Partyse­ quenz im Haus des Doktors 15 arbeitet der Film mit schrägen Kameraperspektiven, dämonischer Ausleuch- 16 tung und einem kommentierenden Einsatz der neuartigen Elektronen­musik. 17 Mit der Figur des Dr. Winkler setzt der Film damit an (damaligen) gesell- 18 schaftlichen Klischeevorstellungen männlicher Homosexueller an. Schwule 19 wurden in der christlich geprägten Adenauer-Nachkriegsära nach wie vor als 20 »Exoten am Rande der Gesellschaft« (Blazek, 1996, S. 241) gesehen, die 21 Klischeevorstellung war die des »bösen Onkels« als Verführer der Jugend 22 (vgl. ebd.). Die mit Gründung der BRD erworbenen demokratischen Rechte 23 der Bürger galten für Homosexuelle nicht. So entstand eine Lebenssituation, 24 die bis 1969 der Verfolgung der Nazizeit ä­ hnelte (zum Teil wurden in diesen 25 Jahren mehr Männer nach § 175 verurteilt als in der Nazi­zeit): Doppelleben, 26 Polizeirazzien in Lokalen (vgl. Stümke, 1989, S. 144), Zivilstreifen in Parks 27 und Toiletten (vgl. Hohmann, 1982, S. 24), Existenzvernichtung im Falle des 28 öffentlichen Outings (vgl. Blazek, 1996, S. 251), langjährige Haftstrafen bzw. 29 Psychiatrieeinweisungen und unfreiwillige Menschenversuche (Kastrationen 30 und Gehirnoperationen) (Voß, 2013) bedrohten die Männer. Die Repressio- 31 nen durch Staat und Gesellschaft führten zu einem stärkeren Zusammenhalt 32 der Minderheit (vgl. Bendt, 1984, S. 94). Berichte sprechen von einer moderat 33 auflebenden Subkultur, »in der Zärtlichkeit, Zuneigung, beständige Freund- 34 schaften und Liebe kaum mehr Platz finden« (Hohmann, 1982, S. 24). Die 35 Möglichkeiten einer langfristigen Beziehung waren stark eingeschränkt, da es 36 kaum Wege gab, zu zweit eine Wohnung zu bekommen oder zusammenzu­ 37 leben, ohne in Verdacht zu geraten (vgl. Bendt, 1984, S. 92). Lebensmut spen- 38 deten Zeitschriften wieDer Weg und Der Kreis (vgl. Stümke, 1989, S. 143),

306 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm

Briefzirkel entstanden und waren durchaus auch international ausgerichtet 1 (vgl. Hohmann, 1982, S. 25). Es entstanden erneut Schwulen­initiativen, die 2 den Kampf gegen den § 175 wieder aufnahmen. Die politischen Aktivisten 3 trafen jedoch nach wie vor auf eine politische Unbekümmertheit der Homo- 4 sexuellen (vgl. Bendt, 1984, S. 94), die sich den Gegebenheiten anpasste und 5 ihre Freiräume schuf. Das 1949 wieder gegründete Wissenschaftlich-humani- 6 täre Komitee benannte sich 1952 in die »Gesellschaft für Reform des Sexual­ 7 strafrechts« um (vgl. Janssen, 1984, S. 23). Es entstanden der »Verein für 8 humanitäre Lebensgestaltung« (vgl. Hohmann, 1982, S. 25) und der »Welt- 9 bund für Menschenrechte« (vgl. Janssen, 1984, S. 24). Eine neue Bezeich- 10 nung wurde gefunden, aus dem Homosexuellen wurde der Homophile (vgl. 11 Rizzo, 2007, S. 206), der sich als hochgeistiger, vor allem aber gesellschaftlich 12 verantwortungsbewusster Normalbürger ausgab. Dieses Leitbild der Konfor- 13 mität ist auch das Hauptmerkmal des »nicht-perversen Homosexuellen« 14 nach Definition von Giese, der seine normgemäße Lebenswirklichkeit zwar 15 verfehlt, dies jedoch innerhalb der Grenzen der normativen menschlichen 16 Seinsmöglichkeiten (vgl. Giese, 1958, S. 232). Fast verblüffenderweise konnte 17 Giese auch diesen Gegenpart direkt im Film verankern, in einer Szene, die in 18 ihrer offenen Ansprache ein Alleinstellungsmerkmal für den Unterhaltungs- 19 film der 1950er Jahre aufweist. In besagter Szene sucht Dr. Winkler einen 20 homosexuellen Rechtsanwalt in dessen Büro auf. Nach rechtlichem Beistand 21 gefragt erwidert dieser: »Wir erhoffen von der bürgerlichen Welt Verständnis 22 dafür, dass wir eben anders sind als die meisten Menschen. Wenn wir aber 23 solches Verständnis erwarten, dann müssen wir uns zunächst erst einmal 24 verantwortlich und sittlich verhalten« (Das dritte Geschlecht, TC: 23:59– 25 24:09). Und noch eindeutiger: »Der Paragraf 175 wird von sehr vielen 26 Leuten in Deutschland als ungerechte Freiheitsberaubung angesehen. Die 27 Verführung Jugendlicher oder Minderjähriger aber gilt auf der ganzen Welt 28 als schweres Verbrechen« (ebd., TC: 24:34–24:45). Auch die von Giese in 29 Ablehnung der bisherigen Behandlungsmethoden favorisierte Hinwendung 30 zur Erlangung einer »normalen« Lebensgestaltung findet sich im Sprecher- 31 text des Rechtsanwaltes wieder: 32 33 »Aber sehen sie, in der Sexualität gibt es doch nur zwei Möglichkeiten, 34 wenn man anständig bleiben will. Entweder die völlige Abstinenz, das heißt 35 also Selbstbeherrschung, das völlige Fehlen jeder Sexualität, oder aber die 36 Bindung. Und zwar die Bindung an einen einzigen Menschen« (ebd., TC: 37 25:12–25:29; vgl. auch Giese, 1958, S. 232). 38

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1 Ebenso wird im Film mehrfach auf die Angeborenheit von Homosexualität 2 verwiesen sowie der Umstand erwähnt, dass die Polizei die schwule Sub­ 3 kultur überwache, jedoch nicht eingreife, da sie als Ventil angesehen wird, 4 um »Schlimmeres zu verhindern«. 5 Die ursprüngliche Fassung des Films kam jedoch nur in Österreich zum 6 Einsatz, wo der Film unter seinem Originaltitel Das dritte Geschlecht im Kino 7 lief. In Deutschland sah das Publikum stattdessen Anders als du und ich, wie 8 der Film nach mehreren Kürzungen, teilweise nachsynchronisiert und mit 9 neu gedrehten Szenen versehen, hieß. Nicht mehr enthalten war die Szene 10 mit dem Rechtsanwalt. »Homosexuellenpropaganda« urteilte die Freiwil- 11 lige Selbstkontrolle bei ihrer Freigabeverweigerung: »Auch muß der Film, da 12 er keine eindeutige Stellungnahme gegen das Treiben der Homosexuellen er- 13 kennen läßt, und da ihm jeder sittliche Maßstab fehlt, sittlich verwirrend und 14 damit entsittlichend auf weite, normal empfindende Kreise wirken« (FSK, 15 1957). Auch die meisten Hinweise auf die »Natürlichkeit« von gleichge- 16 schlechtlichen Veranlagungen fanden sich nicht mehr im Film wieder, ledig- 17 lich der Satz »Die Welt ist voller Schatten. Aber auch die Schatten sind in 18 der Natur« (Anders als du und ich, TC: 36:08–36:13) blieb erhalten. Neu 19 gedreht wurde das Ende. In der Originalfassung kann sich Dr. Winkler ins 20 Ausland absetzen, während er in der freigegebenen Form nun am Bahnhof 21 verhaftet wird. Der Regisseur merkte in seinen Memoiren an, dass durch die 22 Änderungen die Aussage seines Films verfälscht wurde, indem alle positiven 23 Szenen über Homosexualität aus der überarbeiteten Endfassung weichen 24 mussten (vgl. Harlan, 1966, S. 244). Der deutsche Kinoeinsatz des Films 25 wurde stark medial begleitet. Da sein Regisseur Veit Harlan (er hatte in 26 der NS-Zeit unter anderem den antisemitischen HetzfilmJud Süß und das 27 Durchhalte-Epos Kolberg inszeniert) hieß, war ihm publizistische Aufmerk- 28 samkeit gewiss, die das eigentliche Thema des Films überschattete. 29 30 Die 1954 einberufene Große Strafrechtskommission, die 1962 einen Ent- 31 wurf über Änderungen im Strafgesetzbuch vorlegte, plante im Bereich des 32 § 175 lediglich eine Abschwächung auf das Niveau vor 1935, indem es den 33 Straftatbestand wieder auf »beischlafähnliche Handlungen« reduzierte 34 (vgl. Blazek, 1996, S. 253). Ansonsten nahm die Kommission an, dass bei 35 »zumutbarer Anspannung der seelischen Kräfte […] [ein] gesetzmäßiges 36 Leben möglich« (Giese, 1967, S. 8) sei und vermutete weiterhin eine an- 37 sonsten »schwere Gefahr für eine gesunde und natürliche Lebensordnung 38 im Volke« (Stümke, 1989, S. 139). Der Entwurf wurde von juristischer,

308 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm politischer, wissenschaftlicher und soziologischer Seite aufgrund der Nicht- 1 beachtung aktueller Forschungsergebnisse und den daraus gewonnenen 2 Ansichten scharf kritisiert, unter anderem von Giese (1967, S. 5ff., 170), 3 Doucet (1967, S. 156) und Klimmer (1965, S. 270, 453). 4 In der deutschen Filmlandschaft gewann das Thema in den 1960er 5 Jahren zaghaft an Bedeutung. Im Film Der junge Törless (BRD/F 1965, 6 Volker Schlöndorff ), der an einer preußischen Kadettenanstalt zu Beginn 7 des 20. Jahrhunderts spielt, ist eine homoerotische Komponente als Me- 8 tapher jugendlicher Pubertätswirren eingebaut. Im Kontext der durch die 9 vom Familienministerium in Auftrag gegeben ProduktionHelga (1967, 10 Erich F. Bender) und dem ersten Film von Oswald Kolle (Das Wunder 11 der Liebe, 1967, Franz Josef Gottlieb) ausgelösten Aufklärungsfilmwelle 12 befasste sich der von Gerhard Zenkel inszenierte Streifen Du – Zwischen­ 13 zeichen der Sexualität von 1968 zum ersten Mal mit dem Thema männli- 14 cher Homosexualität. Der episodisch aufgebaute Film zeigt Einblicke in 15 die (in diesem Fall konservative) Lebens- und Gefühlswelt Schwuler. Auch 16 der Unterhaltungsfilm begann nun, schwule Nebenfiguren zu entdecken. 17 Erste Beispiele, in denen diese noch sehr zögerlich eingebaut werden, sind 18 Wenn es Nacht wird auf der Reeperbahn (1967, Rolf Olsen) und der Edgar-­ 19 Wallace-Krimi­ Der Mann mit dem Glasauge (1968, Alfred Vohrer), in 20 denen ein feminin dargestellter Villenbesitzer bzw. ein sich affektiert ge- 21 bendes Pärchen auftreten. 22 Auch das Fernsehen griff Mitte der 1960er Jahre erstmals das Thema 23 auf, in Peter von Zahns Dokumentation der Debatte über die Strafrechts- 24 reform. Das Thema Homosexualität war, in nicht einseitig negativer Weise, 25 Tagesgespräch geworden – ein dringend benötigter gesellschaftlicher 26 ­Diskurs, wenn wir uns noch einmal die Verurteilungszahlen nach § 175 in 27 der Ära Adenauer vor Augen rufen. 28 29 30 Zeitraum 1969–1973 31 32 Die Reformbestrebungen der 1960er Jahre zum § 175 bekamen mit der 33 ersten großen Koalition von CDU/CSU und SPD 1966 weiteren Aufwind 34 (vgl. Blazek, 1996, S. 257), sodass 1969 im ersten Gesetz zur Reform des 35 Strafrechts eine Entkriminalisierung der männlichen Homosexualität poli- 36 tisch durchgesetzt werden konnte. Mit der Reform wurde der ­Wechsel vom 37 »sittenbildenden zum ausschließlich rechtsgüterbezogenen« (S­ chäfer, 38

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1 2006, S. 300) Strafrecht eingeläutet, das künftig nur mehr die »Rechts- 2 güter des Einzelnen« (ebd.) zu schützen gedachte. Die Aufnahme der 3 in § 175 Abs. I Nr. 1 festgesetzten unterschiedlichen Altersschutzgrenze 4 von 18 Jahren für andersgeschlechtlichen Sex und 21 Jahren für gleich­ 5 geschlechtlichen Sex (unter Männern) geschah hauptsächlich aufgrund der 6 Befürchtung einer Bedrohung der militärischen Ordnung durch homo­ 7 sexuelle Vorkommnisse in der Bundeswehr (ebd., S. 303). 8 Ebenfalls 1969 bekam Rosa von Praunheim vom Westdeutschen Rund- 9 funk die Zusage, einen Film über die Situation von Homosexuellen in der 10 BRD herzustellen. Praunheims Film berichtet vom Abstieg des jungen 11 Daniel, der, neu in Westberlin, in Clemens einen Partner gefunden hat, 12 wie er ihn sich vorgestellt hat. Doch nach einiger Zeit erstarrt das Verhält- 13 nis und Daniel begibt sich in die schwule Subkultur. Hier wird er selbst­ 14 bewusster, aber auch durch zahlreiche, letztlich jedoch unbefriedigende 15 flüchtige Bekanntschaften immer abgestumpfter und frustrierter. Von 16 den Bars »sinkt er« bald zum Toilettengänger herab; seine Lebensgeister 17 werden erst von einer neuen Schwulen-WG und ihren kämpferischen Ide- 18 alen wieder geweckt. 19 Der Film wurde auf der Berlinale 1971 gezeigt und sorgte für Kontro- 20 versen im Publikum, vor allem unter den Schwulen selbst. Ziel der Kritik 21 waren nicht die von langen Einstellungen getragenen formal einfachen und 22 nüchternen Bilder, sondern der Kommentartext, der auf die Zuschauer un- 23 erwartet scharf und provozierend wirkte. Praunheim übernahm wichtige 24 inhaltliche Kernpunkte aus der von Martin Dannecker und Reimut Reiche 25 publizierten Darstellung zu den »gewöhnlichen Homosexuellen«, in zum 26 Teil provokanter Zuspitzung (vgl. Dannecker & Reiche, 1974). Die Straf- 27 freiheit hatte sich zwar unter dem Eindruck der Ereignisse in den USA, 28 wo sich 1969 in der New Yorker Bar Stonewall Inn Homosexuelle – dar- 29 unter insbesondere auch Trans*-Leute, viele of color – gegen Polizeiwillkür 30 zur Wehr setzten, in der Gründung von Schwulenverbänden manifestiert, 31 diese waren jedoch schon bald auf Anpassung und Integration bedacht (vgl. 32 Blazek, 1996, S. 266). Viele Homosexuelle schlossen sich diesem Ideal an 33 und hielten sich weiterhin versteckt, auch aufgrund der immer noch nega- 34 tiven, mit Vorurteilen belasteten Meinung der Bevölkerung (vgl. Werres, 35 1982, S. 90; Bruns, 1997, S. 102). Diesen Zustand sieht Praunheims Film 36 als untragbar an: Die Kritik richtet sich an die nicht veränderte Sicht der 37 Bevölkerung auf die Homosexuellen, sie rechnet aber vor allem mit dem 38 »Homophilenideal« der schwulen Nachkriegsgeneration ab:

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»Da die Schwulen vom Spießer als krank und minderwertig erachtet werden, 1 versuchen sie, noch spießiger zu werden, um ihr Schuldgefühl abzutragen, 2 mit einem Übermaß an bürgerlichen Tugenden. Sie sind politisch passiv 3 und verhalten sich konservativ, als Dank dafür, dass sie nicht totgeschlagen 4 werden. […] Schwule versuchen die bürgerliche Ehe zu kopieren. […] Die 5 schwule Ehe kann nur ein lächerlicher Abklatsch sein, da fehlende gemein- 6 same Aufgaben ersetzt werden durch eine romantische Liebe, die fern jeder 7 Realität ist« (Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der 8 er lebt, TC: 02:58–03:30, 08:18–08:21, 08:42–08:57). 9 10 Eine Methode des Films ist die Abgrenzung der aktuellen schwulen Lebens- 11 weise wie ihrer theoretischen Möglichkeiten von denen der »Spießer«. 12 Hiermit verortet sich der Film in der 68er-Bewegung, es wird von sexuel- 13 ler Freiheit gesprochen, die potenziell erreichbar wäre, wenn es denn den 14 Schwulen gelänge, über ihre Schatten zu springen. Ebenso wird im Film 15 der fehlende Gemeinschaftssinn und das mangelnde politische und gesell- 16 schaftliche Engagement der Schwulen kritisiert: »Homosexuelle haben 17 miteinander nichts gemeinsam als den starken Wunsch, mit einem Mann 18 zu schlafen« (ebd., TC: 19:49–19:58). Ausgehend von dieser Bankrott- 19 erklärung in Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, der Studenten- und 20 Frauenbewegung, appelliert der Kommentar an die Schwulen direkt, selbst 21 etwas an ihrer Situation zu ändern. Die politische Passivität solle gegen 22 eine Solidarisierung mit den »Leidensgenossen« eingetauscht und für den 23 Kampf um eigene Rechte mobilisiert werden. Auch hier gehen Praunheim 24 und Dannecker einen Schritt weiter: Nicht Toleranz müsse die Schwulen- 25 bewegung erreichen, sondern Akzeptanz. Dafür müssen allerdings die rich- 26 tigen Voraussetzungen geschaffen werden: die Abkehr von unpersönlichem, 27 schnellem Sex als Hauptbeschäftigung, eine Verstärkung der Persönlich- 28 keit, eine Eindämmung der Überbetonung von Körperlichkeit, die auch zu 29 einem weniger­ starken Jugendideal führen würde, die Veränderung der Szene 30 zu stärker sozial ausgerichteten und menschlich wärmeren Begegnungsstät- 31 ten, die Verweigerung dem Konsumterror gegenüber, um das äußere Erschei- 32 nungsbild nicht überproportional zu gewichten, sowie den Abbau des Hasses 33 auf andere Schwule, ausgelöst durch ihre Erziehung und die darauf aufbau- 34 ende Konkurrenzsituation. Der Film schließt mit dem eindeutigen Aufruf: 35 36 »Engagiert euch politisch! Schwulsein ist nicht abendfüllend! Wir schwu- 37 len Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt 38

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1 werden! […] Wir müssen uns organisieren! […] Werdet stolz auf eure Ho- 2 mosexualität! Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen! Freiheit für die 3 Schwulen!« (ebd., TC: 1:02:58–1:03:47). 4 5 Der Film, den der Regisseur auf eine Kinotour inklusive nachfolgender Zu- 6 schauerdiskussion nahm, gab den Anstoß zur Gründung mehrerer neuer 7 Homo sex­ uellen-Organisationen. Seine geplante Fernsehpremiere wurde 8 zum öffentlichen Skandal. 1972 weigerte sich die ARD den Film auszustrah- 9 len. Als der Film ein Jahr später doch gezeigt wurde, schaltete sich der Baye- 10 rische Rundfunk aus dem Senderverbund aus (vgl. Kuhlbrodt, 1984, S. 116). 11 Die Gesetzesänderung bewirkte auch in der deutschen Filmindustrie ein 12 stärkeres Aufgreifen homosexueller Story-Elemente. Im gerade florieren- 13 den Erotiksegment galt dies mehr für den Erotik- und Sexfilm als für den 14 Aufklärungsfilm. Nach dem bereits erwähnten Du – Zwischenzeichen der 15 Sexualität geschah dies noch bei der Nachfolgeproduktion Freiheit für die 16 Liebe (1969, Phyllis und Eberhard Kronhausen) und dem Film Abarten der 17 körperlichen Liebe (1970, Franz Marischka). Letzterer räumt in der Episode 18 über Homosexualität, der sexuellen Lust im Bild, im Gegensatz zum erz- 19 konservativen Kommentartext, einigen Spielraum ein. Ansonsten beginnt 20 im erotischen Genre die Affektiertheit einzuziehen: Nur in Gestalt einer 21 Tunte schienen Homosexuelle dem deutschen, nun hauptsächlich männ- 22 lich-heterosexuellen Publikum erträglich. Den Anfang bildete in Erotik im 23 Beruf (1971, Ernst Hofbauer) eine Episode, in der eine Geschäftsfrau aus 24 der Modebranche mit nymphomanen Zügen auf einen Mann hereinfällt, 25 der sich nach der Liebesnacht als homosexuell herausstellt, worauf sie sich 26 das Leben nimmt. 27 Eher ein Sittengemälde ist Frisch, fromm, fröhlich, frei (1970, Rolf Thiele), 28 ein Film, der von den ersten erotischen Gehversuchen männlicher Jugend- 29 licher aus vier Generationen berichtet. Der schwule Subkontext kommt 30 dabei in der Episode aus dem Dritten Reich zum Tragen, in der ein Jugend- 31 licher das Gerücht, er sei homosexuell, aus der Welt schafft, indem er mit 32 der Frau des Verleumders schläft.Liebesspiele junger Mädchen (1972, Franz 33 Josef Gottlieb) greift in einer Episode auf die Grundidee des Films Anders 34 als du und ich zurück und weist dabei ein ebenso reaktionäres und klischee- 35 haftes Schwulenbild auf. Im Kriminalfilm boten weiterhin die sogenannten 36 St.-Pauli-Filme, die den Kiez als schillernden, verruchten, aufregenden und 37 auch tragischen Mikrokosmos kolportierten, Gelegenheit zu homosexuel- 38 len Zwischentönen. Am stärksten trat dies im Film Das Stundenhotel von

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St. Pauli (1970, Rolf Olsen) zutage, der auf eine klischeehafte Übertreibung 1 der homosexuellen Charaktere verzichtet. Ein Mord an einem Transvesti- 2 ten steht in Perrack (1970, Alfred Vohrer) im Mittelpunkt der Handlung. 3 Auch der aufkommende »Neue deutsche Film« beschäftigte sich weiter 4 mit dem Thema, wobeiJagdszenen aus Niederbayern (1969, Peter Fleisch- 5 mann) zum ersten Mal Homosexualität in den Mittelpunkt stellt. Nach 6 dem gleichnamigen Theaterstück von Martin Sperr schildert der Film die 7 Homophobie in einem erzkonservativen Dorf, die nach und nach zu einer 8 Art Hexenjagd mutiert, als Gerüchte vom Schwulsein eines Mannes die 9 Runde machen. In Ich liebe dich, ich töte dich (1971, Uwe Frießner), einem 10 Wilderer-Drama mit utopischen Einflüssen, steht eine sich anbahnende 11 Beziehung zwischen einem Jäger und einem Lehrer, der sich als Wilderer 12 entpuppt, im Mittelpunkt. 13 14 15 Zeitraum 1973–1994 16 17 Mit der Reform des Strafrechts von 1973 vollzog sich die endgültige Um- 18 wandlung des § 175 von einer sittenrechtlichen zu einer rechtsgüterspe- 19 zifischen Rechtsauffassung. Zum ersten Mal seit Bestehen sollte mit der 20 Rechtsvorschrift nicht mehr ein moralischer Kommentar gegeben werden, 21 die Bestrafung von homosexuellen Handlungen unter Männern galt nun- 22 mehr nur einem Jugendschutzgedanken (vgl. Schäfer, 2006, S. 303). Somit 23 entfiel der bis dato gebrachte Terminus der »Unzucht«, der durch »sexu- 24 elle Handlungen« ersetzt wurde. Initiativen, den § 175 gänzlich abzuschaf- 25 fen, blieben rar und kamen erst zu Beginn der 1980er Jahre in stärkerem 26 Maße auf. Die zwei grundverschiedenen Erklärungsmuster zur Entstehung 27 von Homosexualität kursierten weiterhin in der Öffentlichkeit. Sprach 28 die Zeitschrift Brigitte schon 1973 von einer immer stärker zunehmenden 29 Einsicht unter Fachleuten, dass Homosexualität normal sei (vgl. Rimmele, 30 1997, S. 140), so schrieb Die Welt noch 1979 von der »Mär […] der ange- 31 borenen Normalität« (ebd.). Der Umgang staatlicher Organe mit Homo- 32 sexuellen beschwor immer wieder den Unmut von Schwulenverbänden. So 33 musste zum Beispiel 1979 die Kölner Polizei eingestehen, dass sie immer 34 noch homosexuelle Verdächtige behördlich erfasst (vgl. Kraushaar, 1997, 35 S. 162), während in Hamburg 1980 Überwachungen von öffentlichen Toi­ 36 letten ans Tageslicht kamen (vgl. ebd., S. 165). Auch die Bundeswehr sah 37 Homosexualität in ihren Reihen weiterhin als höchst problematisch an. Ein 38

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1 Erlass von 1979 schloss die Eignung schwuler Soldaten zum Vorgesetzten 2 kategorisch aus (vgl. ebd., S. 189). Auch das Verhältnis der Kirchen zur 3 Homosexualität blieb stark von alten Anschauungen belastet. Der Vatikan 4 als oberste kirchliche moralische Instanz sah Homosexualität weiterhin als 5 schwere Sünde an und duldete in ihren Reihen keine offen homosexuell 6 lebenden Mitarbeiter (vgl. Stümke, 1989, S. 154). Die Vereinigte Evange- 7 lisch-Lutherische Kirche Deutschlands empfahl 1980 immerhin, Homo- 8 sexuelle als Nächste zu akzeptieren, gesellschaftliche Diskriminierung zu 9 beseitigen und ihnen bei der Lebensgestaltung beratend zur Seite zu stehen 10 (vgl. Kraushaar, 1997, S. 219f.). Pfarrer Hans Georg Wiedemann sah sein 11 1982 erschienenes Buch Homosexuelle Liebe – Für eine Neuorientierung 12 in der christlichen Ethik als eine Art »Abrechnung mit der Angst vor der 13 Homosexualität« (Wiedemann, 1982, S. 9). Es trug seinen Teil zu einer 14 schrittweisen Liberalisierung der evangelischen Kirche bei. 15 Mit der weiteren Abminderung der Strafbarkeit der Homosexualität 16 im Jahr 1973 stieg die Anzahl der Filme, die sich mit der Thematik in den 17 verschiedenen Facetten auseinandersetzten, ebenso wie jener, die weiterhin 18 Stereotype bedienten. Faustrecht der Freiheit (1975) von Rainer Werner 19 Fassbinder setzt sich anhand der eitlen und kalten schwulen Subkultur mit 20 ihren Klassenunterschieden und der menschlichen Kälte des ehemaligen 21 Wirtschaftswunderlandes auseinander. Als bitteres Resümee hält der Film 22 fest, dass es nicht die gesellschaftlichen Klassenunterschiede beseitigt, wenn 23 man zu einer Minderheit gehört – der Schwule, der wirklich liebt, werde 24 auch in der Minderheit immer ausgenutzt. 1975 gedreht, kann der Film 25 auch als Kommentar angesehen werden, wie wenig und warum sich die 26 Forderungen des Praunheim-Films von 1970 nach einem neuen ­schwulen 27 Selbstbild nicht verwirklichen ließen. Supermarkt (1974) von Roland 28 Klick zeigt das Scheitern eines jugendlichen Außenseiters, der, selbst 29 mittel ­los, von verschiedenen Vertretern der Gesellschaft ausgenutzt wird, 30 unter anderem von einem wohlhabenden, älteren Schwulen. In Die Kon- 31 sequenz (1977) von Wolfgang Petersen scheitert die Beziehung zw­ ischen 32 einem 16-jährigen Jugendlichen und einem Erwachsenen an staatlichem 33 und gesellschaftlichen Druck und Repression. Die Geschichte, nach einem 34 autobiografischen Roman von Alexander Ziegler, ist medial zugespitzt. 35 Die Rahmenbedingungen des in der Schweiz spielenden Films (Schutz­ 36 alters ­grenze, Drastik des Umgangs staatlicher Organe mit Homosexu- 37 ellen) lassen sich nicht eins zu eins auf deutsche Verhältnisse über­tragen. 38 Die durch die Alterswahl des Liebespaares eingeschriebene Kritik an der

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­Ungleichheit der Altersschutzgrenzen für Hetero- und Homosexuelle 1 konnte zum Zeitpunkt des Films jedoch auch auf Deutschland bezogen 2 werden (16 Jahre für andersgeschlechtliche, 18 Jahre für gleichgeschlecht- 3 liche Handlungen [unter Männern]). Betroffenheit ob gesellschaftlicher 4 Fehlleistungen, möchte auch Giarres (1983) von Reinhard von der Mar- 5 witz auslösen, der, ausgehend von einem realen Ereignis, den Selbstmord 6 eines Paares beschreibt. Die freundschaftliche Beziehung zwischen einem 7 schwulen Fahnenflüchtigen und einem zehnjährigen türkischen Jungen 8 zerbricht in Freddie Türkenkönig (1978) von Konrad Sabrautzky auf­grund 9 der deutschen wie türkischen gesellschaftlichen Moralvorstellungen.Die 10 Verrohung des Franz Blum (1974) von Reinhard Hauff schildert die bru- 11 talen Hierarchiegesetze hinter Gittern und thematisiert hierbei auch das 12 Thema Knasthomosexualität. 13 Studien der Akzeptanzforschung belegten in den 1970er Jahren, dass 14 mit der weitgehenden rechtlichen Entkriminalisierung keinesfalls ein ge- 15 sellschaftlicher Umschwung in der Bevölkerung im Hinblick auf deren 16 ­Ansichten zur Homosexualität stattgefunden hatte. 1973 veröffentlichte 17 die Frankfurter Allgemeine eine Umfrage der Gesellschaft zur Förderung 18 sozialwissenschaftlicher Sexualforschung, der zufolge nur 40 Prozent 19 der Bundesbürger Schwule als vollwertige Bürger bezeichneten. Die neu 20 entstandene Schwulenbewegung forderte daher bald ein Antidiskrimi- 21 nierungsgesetz (vgl. Blazek, 1996, S. 280) und eine differenziertere Be- 22 trachtungsweise der Medien zum Thema (vgl. Rimmele, 1997, S. 131). 23 1978 brachten Stern und Spiegel eine gemeinsame Titelstory, in der »682 24 Männer bekennen: Wir sind schwul!« (vgl. ebd., S. 134). Das feuilletonisti- 25 sche Massen-Coming-out – das in Anlehnung an die Titelgeschichte »Wir 26 haben abgetrieben!« (1971) stattfand – sollte dabei nicht nur das Thema 27 Homosexualität stärker im gesellschaftlichen Diskurs verankern, sondern 28 die Schwulen selbst politisieren und zu Offenheit animieren. Das von Rosa 29 von Praunheims Film zu Beginn der 1970er Jahre geforderte öffentliche 30 Bekenntnis der Schwulen zu ihrer Homosexualität hatte nur einen, letzt- 31 lich geringen, Anteil der Adressaten mobilisiert. Die sich rasch formierende 32 schwule Bürgerrechtsbewegung setzte sich überwiegend aus Studenten und 33 Jungakademikern zusammen (vgl. Stümke, 1989, S. 162). Die breite Masse 34 blieb weiterhin nahezu unsichtbar, nutzte die neuen Freiheiten einer weiter 35 expandierenden Subkultur, die nun nicht nur weniger kritisch als in den 36 1970er Jahren gesehen wurde, sondern auch für das neue Ideal einer frei aus- 37 gelebten Sexualität stand (vgl. Blazek, 1996, S. 281). Passend dazu kehrte 38

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1 mit Frank Ripplohs Taxi zum Klo (1980) ein neuer Ton im deutschen Film 2 ein. Schwulsein ist bei Ripploh der nicht mehr problematisierte Unterbau 3 für die nun zur Hauptsache erhobenen zwischenmenschlichen Konflikte 4 Homosexueller. Ripploh war nach eigenem Bekunden ein Verfechter des 5 Kinos der Emotionen und Gefühle, ohne in seinen Werken eine spezielle 6 Botschaft überbringen zu wollen (vgl. Huber, 1989, S. 8). Hauptkonflikt 7 des Films bilden die Spannungen in der Beziehung von Frank und Bernd 8 aufgrund charakterlicher Differenzen und Franks promiskuitiven Verhal- 9 tens. Die Echtheit der schwulen Innenansichten in Lebensalltag, Zukunfts- 10 vorstellungen und Reflektionen sind der persönlichen Zurschaustellung des 11 Regisseurs geschuldet. Frank Ripploh inszenierte einen Film über und mit 12 sich und überrascht hierbei mit seiner Bereitschaft, dem Publikum selbst 13 intimste Details preiszugeben. 14 Im Film ist AIDS noch kein Thema, viele Schwule leben ihre »Anders- 15 artigkeit« aus und genießen die neuen Freiheiten, die mit der Gesetzesän- 16 derung nach und nach einhergingen. Taxi zum Klo beschreibt und bildet 17 als Film den Status quo schwulen Großstadtlebens dieser Zeitspanne ab: 18 lustvoll, unbeschwert, lebensfroh, apolitisch. Dazu gehört nicht nur die 19 weitgehende Ausklammerung der immer noch vorhandenen gesellschaft- 20 lichen Homophobietendenzen, sondern auch die Nichteinbeziehung des 21 Umstandes, dass viele Homosexuelle nicht in den hohen Genuss des freien 22 Auslebens ihrer Bedürfnisse und Sehnsüchte kommen, sei es aus territori- 23 alen oder emanzipatorischen Gründen (vgl. Nagel, o. J.). In gewisser Weise 24 dient Taxi zum Klo auch zur Überprüfung der Umsetzung von Danneckers 25 und Praunheims eine Dekade zurückliegenden Thesen. So hat die von 26 beiden und von Dannecker 1978 noch einmal bekräftigte Forderung nach 27 einer Änderung des Wesens der Subkultur augenscheinlich nicht stattge- 28 funden, anonymer Sex ist weiterhin stark verbreitet. Auch die negative 29 Sicht auf die Toilette als unterster Stufe und die »Pissbuden­schwulen« 30 erfahren in der stärkeren Visualisierung durch eine neutralere bis positive 31 Umdeutung eine ironisch akzentuierte Selbstverständlichkeit. Im Grund- 32 konflikt des Ripploh-­Films offenbaren sich zudem starre, noch nicht über- 33 wundene Identitätsmuster. Taxi zum Klo baut sein Beziehungsdrama auf 34 den Säulen zweier schwuler Idealextreme mit langer Tradition auf. Frank, 35 selbstbewusst, heiter und lebensfroh wäre nach Giese der »perverse Homo­ 36 sexuelle«, nach Dannecker der »Jagdtyp«, der den Einen durch viele 37 Andere ersetzt, weil er Angst vor dem Älterwerden hat: »Hoffentlich habe 38 ich dann wenigstens genug Rente, um mir einen knackigen Strich­jungen

316 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm zu leisten, denn so ein alter Pissbudenschwuler; das möchte ich auch nicht 1 werden« (Taxi zum Klo, TC: 45:31–45:40). Dieser Off-Kommentar 2 Franks kann sogar als ein direkter Bezug zum Praunheim-Film gesehen 3 werden. Bernd, eher fürsorglich und sensibel, entspricht dem »normalen 4 Homosexuellen«, dem »schwulen Spießer«. Wird diese Beziehungs- 5 konstellation symbolhaft überhöht, so entwickelt sich daraus das kritische 6 Potenzial des Films. Die Gegensätze scheinen unvereinbar, deren Inhaber 7 in einer Endlosschleife gefangen, die sie nicht durchbrechen können. In 8 Franks Off-Kommentar fragt er sich selbst im Schlusssatz: »Können wir 9 mehr als uns nur wiederholen?« (ebd., TC: 1:29:40–1:29:42). Damit 10 bewegt sich der Film ideell auf gleicher Linie wie der Praunheim-Film, der 11 ebenfalls diese Extreme kritisiert und ihre Überwindung fordert. Ripplohs 12 Schlussfrage wirkt zehn Jahre später jedoch seltsam rhetorisch, als wenn er 13 trotz oder sogar wegen des neuen schwulen Selbstbewusstseins die Extreme 14 eher verfestigt sieht. 15 Der Film Taxi zum Klo thematisierte nicht mehr die Normalität der 16 Homosexualität und die Gemeinsamkeiten von Schwulen und Hetero­sexu­ 17 ellen, er stellte diese ganz unspektakulär als ständigen Subkontext fest, sah 18 sie als Bedingung an. Er zog eine Reihe weiterer Filme nach sich, die im 19 gleichen Grundverständnis gedreht wurden, jedoch auf sexuelle Explizität 20 verzichteten. Eine Liebe wie andere auch (1983) ist der programmatische 21 Titel des Films von Hans Stempel und Martin Ripkens, der ebenfalls die Be- 22 ziehungsprobleme eines Pärchens beschreibt und sich einige Seitenhiebe auf 23 das neu erwachte Machogehabe von Schwulen erlaubt. Robert van Ackeren 24 schildert in Die flambierte Frau (1982) den Kampf eines Mannes und einer 25 Frau um einen anderen Mann. Rüdiger Tuchels Komödie Crash – man sucht 26 Mann (1984) handelt von den Liebesirrungen und -wirrungen während 27 eines Filmdrehs. Eine Zwangsbeziehung zwischen einem Homosexuellen 28 und einer Frau aus Gründen der Erlangung einer Erbvorbedingung ist der 29 Hauptkonflikt in Frank RipplohsTaxi nach Kairo (1986). Uwe Frießner 30 schilderte 1979 in Das Ende des Regenbogens in einem Subplot die erfolg­ 31 losen Bemühungen eines homosexuellen Studenten, einem obdach­losen, 32 aus kaputtem Elternhaus geflüchteten heterosexuellen Jugendlichen zu 33 einer geordneten und rechtschaffenen Existenz zu verhelfen. Baby (1983), 34 vom gleichen Regisseur, erzählt von einem schwulen Türsteher, der aus se- 35 xuellem Interesse mit zwei Ganoven gemeinsame Sache macht. Wieland 36 Specks Westle r (1985) beinhaltet die Liebesgeschichte zwischen einem Ost- 37 und einem Westberliner. Nebenher erwähnt der Film auch die schlechte 38

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1 ­Situation Homosexueller in der DDR und zeigt damit auf, warum sich der 2 Ostdeutsche ins westliche Ausland absetzen will. Damit ist der Film eine in- 3 teressante Ergänzung zum einzigen (expliziten) DDR-Spielfilm zum Thema 4 Homosexualität: Coming Out (1989, Heiner Carow). 5 Der Sexklamauk in Dirndl- oder Lederhosenform hielt sich im deut- 6 schen Kino bis in die 1980er Jahre hinein und bot somit auch weiterhin die 7 Gelegenheit, schwule Charaktere einzubauen. An ihrer Bestimmung und 8 Funktion änderte sich jedoch nichts. So bedienten Filme wie Geh, zieh dein 9 Dirndl aus (1973, Sigi Rothemund), Charleys Nichten (1974, Walter Boos), 10 Liebesgrüße aus der Lederhose 2 – Zwei Kumpel auf der Alm (1974, Franz 11 Marischka), Drei Oberbayern auf Dirndljagd (aka Drei Bayern in Bangkok, 12 1976, Sigi Rothemund), Hurra, die Schwedinnen sind da (1978, Franz Josef 13 Gottlieb) und andere Exponate das traditionelle Klischee. Exponiert für 14 diese Rollen war bei den Produzenten der Schauspieler Werner Röglin, 15 der zumeist mit der Darstellung betraut wurde. Dies tat er auch in Ein 16 Kaktus ist kein Lutschbonbon (1981, Rolf Olsen), einem Spätausläufer der 17 in Deutschland beliebten Schlagerlustspiele, wie auch in der Horrorfilm- 18 Sexparodie Graf Dracula beißt jetzt in Oberbayern (1979, Carlo Ombra). 19 Liberalisierungstendenzen lassen sich auf diesem Gebiet nicht feststellen, 20 allenfalls zarte Veränderungen. In Liebesgrüße aus der Lederhose 6 – Die 21 wilden Stuten vom Rosenhof (1982, Gunter Otto) wird immerhin mit einer 22 Ausnahme (»Ach das ist ja kein Mann!«) auf zotige Schwulenwitze und 23 Kommentare zum Thema »warm«, »heiß« oder »hinten« verzichtet, 24 dem weibischen Schwulen sogar im Verlauf des Films ein Partner zugestan- 25 den. Zur Belustigung des Publikums ist die Homosexualität der Charaktere 26 aber weiterhin freigegeben. 27 Historische Stoffe hatten auch gelegentlich schwule Plotinhalte. Volker 28 Schlöndorff erzählt inDer Fangschuss (BRD/Frankreich 1975) von der un- 29 glücklichen Liebe einer Frau zu einem homosexuellen Offizier. Die Zärt- 30 lichkeit der Wölfe (1973, Ulli Lommel) basiert auf den realen Taten des 31 ­Serienmörders Fritz Haarmann, der Zeitpunkt der Handlung wurde jedoch 32 von der Weimarer Republik in die Nachkriegszeit verlegt. Querelle (BRD/ 33 Frankreich 1982) ist Rainer Werner Fassbinders Versuch, die Fantasiewelt 34 von Jean Genet als Film zu transportieren. Nach dessen Tod versuchte 35 Ein Mann wie EVA (1984, Radu Gabrea) die Person Fassbinder, inklusive 36 deren Homosexualität, zu ergründen. Homosexualität unter Wehrmachts- 37 soldaten zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges thematisierten, wenn auch nur 38 in jeweils einer Szene, Steiner – Das eiserne Kreuz (BRD/GB 1976, Sam

318 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm

Peckinpah)­ und Hitlerjunge Salomon (BRD/F/POL 1990, Agnieszka Hol- 1 land). Gay West (1974, Walter Bockmayer) ist eine Westernparodie, die die 2 schwulen Aspekte des Westernlebens in den Fokus der Betrachtung rückt. 3 Die sexuell unbeschwerten Jahre fanden Anfang der 1980er durch das 4 Auftauchen eines mysteriösen Krankheitsbildes ihr abruptes Ende. 1982 5 bekam die Krankheit ihren aktuellen Namen AIDS (Acquired Immuno- 6 deficiency Syndrome) (vgl. Blazek, 1996, S. 287). Im gleichen Jahr wurde 7 auch in der BRD eine erste Infektion bekannt. 1984 entdeckten Forscher 8 die Ansteckungsart via virushaltiger Körperflüssigkeiten. Weltweit wuchs 9 die Angst in der Bevölkerung vor einer Ansteckung, was ein Aufleben der 10 gesellschaftlichen Diskriminierung Homosexueller bewirkte, die als haupt- 11 sächlich Betroffene zu Sündenböcken abgestempelt wurden. Die Panik 12 erreichte auch die Wirtschaft – es kam zu Kündigungen von Homosexu- 13 ellen aufgrund der vermuteten Ansteckungsgefahr und der Verschlechte- 14 rung des guten Rufes (vgl. Grossmann, 1998, S. 114) – und die Politik (vgl. 15 Kraushaar, 1997, S. 185f.). Die Schwulenbewegung blieb ob der gestiege- 16 nen Antipathie für einige Zeit gelähmt, Homosexuelle hielten sich wieder 17 stärker versteckt. Es wurde ein neues Konzept erarbeitet und propagiert, 18 das sowohl die mühsam erkämpfte Vielfalt der sexuellen Betätigung erhielt 19 als auch die Gefahr einer Ansteckung und weiteren Ausbreitung von AIDS 20 einschränkte und damit den öffentlichen Druck minimierte: »Safer Sex« 21 setzte sich laut einer Untersuchung aus dem Jahr 1988 unter Homosexuellen 22 rasch durch (vgl. Blazek, 1996, S. 290). Trotzdem blieb eine gewisse Angst 23 vor einer Ansteckung, die Anzahl monogamer Beziehungen unter Homo- 24 sexuellen nahm zu (vgl. ebd.). 1986 beschäftigte sich Rosa von Praunheim 25 als Erster im deutschen Spielfilm mit der Krankheit AIDS.Ein Virus kennt 26 keine Moral nähert sich dem Thema in Form einer schwarzen Komödie mit 27 schrillen, überzeichneten Figuren (ein reaktionärer Saunabesitzer und sein 28 Freund, eine als Mann getarnte Sensationsreporterin, eine Therapeutin für 29 Todesmeditation etc.) und einem makabren Ende, in dem alle Infizierten 30 nach »Hell-Gay-Land« verbannt werden. Praunheim verstand seinen 31 Film als Provokation, um das Thema auch und gerade unter Homosexu- 32 ellen stärker im Bewusstsein zu verankern, um Gespräche über Safer Sex 33 zu führen und um »in Zeichen tödlicher Gefahr mit Galgenhumor ums 34 Überleben zu kämpfen« (Huber, 1989, S. 190). 1989 forderte eine neue 35 Petition erneut die Streichung des § 175, um in Zeiten einer wieder stärker 36 empfundenen Diskriminierung durch die AIDS-Hysterie ein Zeichen für 37 Akzeptanz zu setzen (vgl. Kraushaar, 1997, S. 206f.). 1990 folgen weitere 38

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1 Proteste in Berlin, um eine Angleichung der Bedingungen in Westdeutsch- 2 land an die in Ostdeutschland zu erreichen: Im Einigungsvertrag zwischen 3 der BRD und der DDR wurde der § 175 für den Westteil nicht gestrichen, 4 für den Ostteil jedoch nicht wieder eingeführt (vgl. ebd., S. 214f.). Es galt 5 zu dieser Zeit das sogenannte »Tatortprinzip«, ein Paradoxon, das 1994 6 mit der Strafrechtsreform – und der Abschaffung des §175 auch für West- 7 deutschland – bereinigt wurde. 8 9 10 DDR: Zeitraum 1949–1989 11 12 Nach der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik beschäf- 13 tigte sich das Oberste Gericht 1950 auch mit dem § 175. Dieser wurde als 14 eindeutiges nationalsozialistisches Unrecht erklärt und auf die Fassung vor 15 1935 zurückgestuft (vgl. Schäfer, 2006, S. 119f.). Dies traf nicht auf die 16 qualifizierten homosexuellen Handlungen in §175a zu, in denen keine NS- 17 Typologie erkannt wurde (vgl. ebd., S. 121). Da homosexuelle Handlun- 18 gen in den 1950er Jahren in der Praxis wegen »Beischlafunähnlichkeit« 19 weitgehend von Gerichten unbeanstandet blieben, wurde der § 175 Ende 20 1957 praktisch aufgehoben (vgl. ebd., S. 124; Klimmer, 1958, S. 174). Die 21 Richter sahen in der Homosexualität keinen Widerspruch mehr zu sozialis- 22 tischen Gesellschaftsidealen, wenn »gleichgeschlechtlich veranlagte Men- 23 schen ihr Sexualleben nach ihrer sexuellen Orientierung ausrichten und 24 ihr Sexualleben entsprechend gestalten« (Schäfer, 2006, S. 124). Großen 25 Einfluss auf die liberale Entwicklung hatte der Nervenarzt Rudolf­Kl immer. 26 In seinem Standardwerk Die Homosexualität als biologisch-soziologische 27 Zeitfrage beschreibt er sie als fest in der Natur verwurzelten »Trieb«, der 28 nicht aufgrund bloßer Gewöhnung oder Verführung entsteht und nicht 29 willkürlich verändert werden kann (vgl. Klimmer, 1958, S. 88). Mit dem In- 30 krafttreten eines neuen Strafgesetzbuches wurde 1968 der § 175 gestrichen, 31 § 175 a ging mit Veränderungen in den § 151 StGB-DDR ein (vgl. Schäfer, 32 2006, S. 209). Die Formulierung »Unzucht treiben« und »zur Unzucht 33 missbrauchen« wurde in »eine sexuelle Handlung vornehmen« umfor- 34 muliert. In den 1980er Jahren nahm der wissenschaftliche Diskurs über die 35 Integration Homosexueller in die Gesellschaft zu, auch bedingt durch eine 36 Änderung der Parteistrategie. Eine interdisziplinäre Forschungsgruppe der 37 Berliner Humboldt-Universität erbrachte 1984 Vorschläge, die einer der 38 Mitarbeiter des Projektes, der Psychologe Reiner Werner, 1988 in seiner

320 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm wissenschaftlichen Untersuchung Homosexualität – Herausforderung an 1 Wissen und Toleranz erneut formulierte (vgl. ebd., S. 251). Werner forderte 2 die Gleichbehandlung von heterosexuellen und homosexuellen Paaren bei 3 der Vergabe von Wohnraum sowie die Einrichtung von staatlichen Kon- 4 sultationszentren für Homosexuelle (vgl. ebd.). Zum Thema wurden 1985 5 und 1988 zusätzlich zwei Wissenschaftskongresse durchgeführt. Die breite 6 wissenschaftliche Diskussion war in den 1980er Jahren ausschlaggebend für 7 eine weitere Liberalisierung der DDR-Rechtsprechung. Mit der Änderung 8 des Strafgesetzbuches wurde zum 1. Juli 1989 der § 151 gestrichen (vgl. 9 ebd., S. 253). 10 Die gerade im Gegensatz zur BRD-Rechtsauffassung liberaleren DDR- 11 Positionen täuschen jedoch darüber hinweg, dass die Parteiführung bis 12 zuletzt große Berührungsängste mit der Homosexualität und den Homo- 13 sexuellen hatte. Bert Thinius schreibt, dass nicht »Wissen, sondern Ängste, 14 monströse Phantasien und ein autoritär missverstandener ›Erziehungsauf- 15 trag‹« (Thinius, 1994, S. 17) den Umgang mit Homosexualität bestimmte. 16 Die Auffassungen von der Verführung zur Homosexualität, ihre angenom- 17 mene Begünstigung von Verbrechertum waren nur zwei der Vorurteile, 18 die den Schwulen auch in der DDR entgegengebracht wurden (vgl. ebd., 19 S. 16f.). Die Diskrepanz zwischen Liberalisierungstendenzen im Strafge- 20 setzbuch und der gesellschaftlichen Stigmatisierung änderte sich auch nach 21 der Strafrechtsreform von 1968 nur unwesentlich: 22 23 »Die öffentliche Meinung ist meist gegen die Homosexuellen. Davon sollte 24 man sich distanzieren. Homosexuelles Verhalten ist nicht ›verbrecherisch‹, 25 ›verderblich‹, ›sündhaft‹ […] Man sollte sich nicht mit Homosexuellen 26 anfreunden oder ihre Gesellschaft aufsuchen, aber man soll sie auch nicht 27 verunglimpfen« (Bach, 1974, zit n. Thinius, 1994, S. 20). 28 29 Die in den DDR-Aufklärungsbüchern propagierte »tolerante Ableh- 30 nung« bewirkte eine weitreichende Tabuisierung in der Gesellschaft. 31 Schwule lebten zurückgezogen, verheimlichten ihre sexuelle Ausrichtung 32 weitgehend. Es fehlten Zeitschriften oder Filme, die Treffpunkte waren -in 33 offiziell und wechselten ständig ihre Zeiten und Orte (vgl. Schäfer, 2006, 34 S. 249). Kurz nach den 10. Weltfestspielen 1973 gründete sich die Homo- 35 sexuelle Interessengemeinschaft Berlin (HIB). Eingaben an die Polizei, die 36 Volkskammer und andere Institutionen wurden eingereicht, als größten 37 Erfolg konnte die URANIA dazu gebracht werden, eine Veranstaltung 38

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1 zum Thema durchzuführen (vgl. Thinius, 1994, S. 20). Um dem Versamm- 2 lungsverbot zu entgehen, stellte ihnen Charlotte von Mahlsdorf ihr Grün- 3 derzeitmuseum als Veranstaltungsort zur Verfügung (vgl. ebd., S. 21). Die 4 staatlichen Organe beobachteten dies mit steigendem Misstrauen. Ihrer 5 Maxime getreu, die alle gesellschaftlichen Prozesse vom Staat gelenkt sah, 6 musste eine Bewegung aus der Bevölkerung heraus oppositionell wirken 7 (vgl. Blazek, 1996, S. 301; Schäfer, 2006, S. 250). Ein Antrag der HIB 8 auf Anerkennung als Interessengemeinschaft wurde 1976 abgelehnt (vgl. 9 Schäfer, 2006, S. 250). Nachdem der Stadtrat für Kultur dem Gründerzeit- 10 museum verbot, Versammlungen oder Veranstaltungen abzuhalten, zerfiel 11 die HIB (vgl. Thinius, 1994, S. 21). Zusammenschlüsse mit gesellschaft- 12 lichen Zielen entstanden in der Folgezeit lediglich unter dem Dach der 13 evangelischen Kirche (vgl. Schäfer, 2006, S. 250). Erst zur bevorstehenden 14 Gesetzesänderung 1989 erschienen die ersten Bücher, Radio- und Fernseh- 15 sendungen (vgl. Stümke, 1989, S. 168). Hauptanliegen der Programme 16 waren die sachliche Aufklärung über Homosexualität und der Abbau von 17 Vorurteilen gegenüber Schwulen und Lesben (vgl. ebd.). Auch im Film­ 18 bereich konnte die Thematik zum ersten und letzten Mal in Heiner Carows 19 Coming Out reüssieren. Selbst in jener Phase, da das Thema wissenschaftlich 20 und auch politisch wieder aufgegriffen und über konkrete Maßnahmen zur 21 Verbesserung der Situation für die Betroffenen debattiert wurde, löste das 22 Drehbuch beim damaligen DEFA-Studioleiter Hans Dieter Mäde noch 23 Unbehagen aus. Aufgrund dessen Verzögerungstaktik wandte sich Regis- 24 seur Heiner Carow mehrfach an das Politbüromitglied Kurt Hager, der 25 gegen Mädes Willen die Drehgenehmigung aussprach (vgl. Schenk, 2006, 26 S. 245). Dem Filmvorschlag lagen Gutachten eines Rechtswissenschaftlers, 27 Soziologen und Psychiaters bei (vgl. Poss & Warnecke, 2006, S. 453). 28 Philipp, neu als Lehrer an seiner ersten Schule, freundet sich mit seiner 29 Kollegin Tanja an und geht eine Beziehung mit ihr ein. Einer ihrer Freunde 30 stellt sich als Jugendfreund Philipps heraus, durch den verdrängt geglaubte 31 Gefühle und Erinnerungen wieder aufkeimen. Der Film schildert den 32 langen und schwierigen Weg Philipps zu seinem Coming-out, der für ihn 33 und sein näheres Umfeld, seine Freundin Tanja und seinen Freund Mat- 34 thias, mit Enttäuschungen verbunden ist. 35 Heiner Carows Film zeigt die Folgen der propagierten »toleranten 36 Ablehnung«: Homosexuelle führen ein Leben im Versteck. Das innere 37 Coming-out stellt der Film als steten Akzeptanzprozess dar, der nicht be- 38 freit, sondern verstört und desillusioniert. Das äußere Coming-out wird

322 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm nur nach dem Tiefpunkt der emotionalen Achterbahnfahrt als (auto-)ag­ 1 gres ­siver Hilfeschrei erreicht. An einem solchen Punkt beginnt der Film 2 mit medizinischen Rettungsmaßnahmen nach dem Suizidversuch, dem 3 ein kurzes Gespräch mit der Ärztin folgt, in dem sich Matthias zum ersten 4 Mal einem Außenstehendem anvertrauen kann. Die Hintergründe des 5 Suizidversuchs werden dem Zuschauer bzw. der Zuschauerin im nachfol- 6 genden Coming-out-Prozess der Hauptfigur Philipp begreiflich. Über das 7 Verdrängen der eigenen Gefühle, der Unsicherheit und Ängste ob der ge- 8 sellschaftlichen Akzeptanz seiner Neigung, der darauf keimenden Unent- 9 schlossenheit und dem Abdriften in ein Doppelleben und seinem Selbst- 10 eingeständnis erreicht auch er den Punkt des emotionalen wie seelischen 11 Zusammenbruchs. Hier schließt sich die dramaturgische Klammer des 12 Films, dem ein kämpferisch-optimistischer Epilog folgt. Der Film endet 13 mit einem abgeschlossenen Reifeprozess, dessen positive Tendenz jedoch 14 nicht die alltäglichen Probleme verwischen kann. So tragen auch die ober- 15 flächlich fröhlichen Momente – die Kostümfeste im (echten) Schwulen­ 16 lokal Zum Burgfrieden sowie die zwischenmenschlichen Momente – stetig 17 eine Aura des Trostlosen in sich. Diese Gesamtsituation potenziert die 18 ohne ­hin schon triste Grundstimmung, die für die DDR kurz vor dem Zu- 19 sammenfall durch die naturalistischen Bilder eingefangen und transpor- 20 tiert wird. Der Film verweist zudem direkt auf die Gegensätzlichkeit des 21 gesellschaftlichen Umgangs mit Homosexuellen zu den eigenen sozialisti- 22 schen Idealen: »Dann war ich Aktivist der ersten Stunde. Alle haben gear- 23 beitet wie besessen, und haben die Ausbeutung des Menschen durch den 24 Menschen abgeschafft. […] Bloß die Schwulen, die haben wir vergessen« 25 (Coming Out, TC: 1:41:38–1:42:10). Die schwule Szene wird als kleiner, 26 anonymer Ort des Rückzugs dargestellt: »Hier weiß keiner, wie der andere 27 heißt und wo er wohnt. Hier ist jeder allein. Und jeder hat Angst« (ebd., 28 TC: 1:22:23–1:22:35). Die Stammgäste des Szenelokals stehen für die 29 maximale schwule Selbstverwirklichung in der Spät-DDR. Mehr als ein 30 Abfinden und Einrichten mit und in den gegebenen Verhältnissen scheint 31 für sie nicht möglich. Die Älteren haben längst resigniert. Was sie geben 32 können, ist Zuspruch im Kreise von Gleichgesinnten, der Zusammenhalt 33 der Gemeinschaft eint sie alle. 34 Sein gesellschaftliches Diskussionspotenzial konnteComing Out nicht 35 mehr abrufen. Der Tag der Premiere war auch der des Mauerfalls. Somit 36 kann der Film als Vermächtnis angesehen werden, als Zeitdokument ost- 37 deutschen schwulen Lebens. 38

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1 Zeitraum nach 1994 2 3 Die Streichung des § 175 im Jahre 1994 war weder das Ergebnis der Eman- 4 zipationsbestrebungen homosexueller Verbände noch Ausdruck einer Ver- 5 änderung des gesellschaftlichen Ansehens, sondern geschah vielmehr aus 6 der Notwendigkeit heraus, die unterschiedlichen Strafregelungen zu homo­ 7 sexu ­ellen Handlungen in Deutschland Ost und West in Einklang zu bringen 8 (vgl. Schäfer, 2006, S. 305f.). Das 29. Strafrechtsänderungsgesetz orientierte 9 sich dabei an der DDR-Rechtsprechung und strich den § 175 aus dem Ge- 10 setzbuch. Ersetzt wurde der Paragraf durch den § 182, der dem Beispiel des 11 DDR-Strafrechts folgend eine geschlechtsneutrale Altersschutzgrenze für 12 Jugendliche unter 16 Jahren festlegte. Befragungen zeigten die immer noch 13 vorhandenen Vorurteile in der Bevölkerung gegenüber Homosexuellen. In 14 einer Untersuchung des Soziologen Michael Bochow im Jahr 1991 befür- 15 worteten 9,7 Prozent der Ostdeutschen und 13,4 Prozent der Westdeut- 16 schen ein absolutes Verbot homosexueller Aktivitäten (vgl. Blazek, 1996, 17 S. 319). Eine weitere Studie ergab 1995, dass nahezu jeder Homosexuelle 18 am Arbeitsplatz schon Opfer von Diskriminierung aufgrund seiner Sexua- 19 lität gewesen war (vgl. ebd., S. 320). Die Wissenschaft versuchte weiterhin, 20 den Grund für homosexuelle Neigungen zu erforschen, blieb damit jedoch 21 erfolglos. 2005 stellte der US-Forscher Mustanski fest, dass es kein kon- 22 kretes Schwulengen gäbe, eher eine komplexe Verbindung mehrerer Gene 23 kombiniert mit verschiedenen Umwelteinflüssen (vgl. Spiegel, 2005). Seit 24 dem 1. August 2001 können sich homosexuelle Paare durch das Eingehen 25 einer Eingetragenen Partnerschaft in vielen rechtlichen Punkten der Ehe 26 gleichstellen lassen (vgl. Spiegel, 2000) – erst 2017 erfolgte die Öffnung der 27 Ehe auch in Deutschland (vgl. Spiegel, 2017). 28 Bereits 1991 sorgte erneut der Filmemacher Rosa von Praunheim für 29 einen Medienskandal, als er in einer Fernsehsendung mehrere Prominente, 30 darunter Hape Kerkeling und Alfred Biolek, als schwul outete, um gegen 31 die Diskriminierung und die Verlogenheit der Öffentlichkeit anzugehen 32 (vgl. Spiegel, 1991, S. 212). Bis heute hat sich das gesellschaftliche Klima 33 weiter gebessert: Schwule Politiker sind Sympathieträger und regierten 34 unter anderem die Großstädte Berlin und Hamburg, die Bundeswehr gab 35 seit 2004 mehrere Dienstvorschriften zum Thema Homosexualität mit libe- 36 raler Grundtendenz heraus, Anlaufstellen für Schwule in Parteien, Armee, 37 Polizei und anderen Interessengemeinschaften wurden initiiert. Spätestens 38 seit der Jahrtausendwende gelten Schwule als Trendsetter in Sachen Mode,

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Lifestyle, Kunst und Kultur (vgl. Gatterburg & Haegele, 2001, S. 80f.). 1 Unter dem Begriff »Metrosexuell« adaptierten vor allem junge Hetero- 2 sexuelle schwule Ästhetik und Attitüden (vgl. Baum, 2008). Aktuell schei- 3 nen Homosexuelle in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein. Sie 4 »legen Wert darauf, einfach nur die Nachbarn von nebenan zu sein. Der 5 Stolz der Minderheit schwindet und macht Platz für ein neues, bürgerliches 6 Selbstverständnis« (ebd.). 7 Gegen die neue Normalität gibt es jedoch Widerstände: So fand unter 8 heterosexuellen Jugendlichen im letzten Jahrzehnt eine Umdeutung des 9 Wortes »schwul« statt, das nun nicht mehr nur eine sexuelle Orientie- 10 rung beschreibt, sondern als Synonym für etwas Schlechtes ein gängiges 11 Schimpfwort geworden ist (vgl. Albers & Gernert, 2008). Eine Studie 12 der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft stellte 2007 fest, dass 13 »schwule Sau«, die häufigste Beschimpfung auf deutschen Schulhöfen ist 14 (vgl. ebd.). Auch amerikanische wie deutsche Rapper benutzen diese Um- 15 deutung für ihre Texte, jedoch wiederum auch für diffamierende Aussagen 16 gegen Homosexuelle sowie um Dritte als homosexuell zu brandmarken 17 (vgl. ebd.). Auch die katholische Kirche hat ihre Einstellung zur Homo- 18 sexualität nicht wesentlich modifiziert, sieht sie immer noch als schwerwie- 19 genden Sündenfall an. So stellte 2003 die Glaubenskongregation unter der 20 Leitung von Kardinal Ratzinger fest, dass Homosexualität gegen das natür- 21 liche Sittengesetz verstoße (vgl. Cziesche et al., 2003, S. 20f.). Eheähnliche 22 Gemeinschaften stellten eine »schwere Verirrung« dar (ebd.). Nach zwei 23 Polizeiskandalen 1995 in München (regelmäßige Razzien in Lokalen und 24 Vermerk »Homostrich« bzw. »Homoszene« in Ausweisen ausländischer 25 Bürger) (vgl. Blazek, 1996, S. 327) und 1996 in Halle (Razzia in Lokal 26 mit stundenlanger polizeidienstlicher Erfassung, in Handschellen nackt 27 auf dem Boden liegend) (vgl. Kraushaar, 1997, S. 226) ist es im Bereich 28 der Polizei inzwischen ruhiger geworden, wenn auch weiterhin Razzien in 29 Cruising-Gebieten stattfinden. 30 Sönke Wortmanns Der bewegte Mann (1994), eine Adaption des gleich- 31 namigen Comics von Ralf König, brachte dem deutschen Film nicht nur 32 nach langer Durststrecke wieder einen Kinoerfolg, er wies zudem nach, 33 dass schwule Charaktere kein Kassengift sind und öffnete somit die Tür 34 für weitere Produktionen mit homosexuellen Charakteren und Kon­ 35 texten. In Echte Kerle (1995, Rolf Silber) landet ein Polizist, nachdem er 36 von seiner Freundin vor die Tür gesetzt wird, in einer Schwulen-WG und 37 mausert sich letztlich zum toleranten Vorzeigeheterosexuellen, inklusive 38

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1 einer ­Akzeptanzansprache an seine homophoben Kollegen. Silbers Film 2 ver ­meidet die gängigen Schwulenklischees, ergibt sich aber in eine alles 3 umschließende brave Nettigkeit. Nachdem mit Das Kondom des Grauens 4 (1996, Martin Walz) eine weitere Ralf-König-Comicadaption dem Autor 5 nicht gelungen erschien, schrieb er für Wie die Karnickel (Sven Unter- 6 waldt Jr., 2002) das Drehbuch selbst. Heraus kam ein Film, der wiederum 7 brav inszeniert war, die Überspitztheit der Vorlage nicht angemessen um- 8 setzten konnte und so größtenteils nur altbekannte Klischees aneinander- 9 reihte. Immerhin hatte er den thematisch neuen Ansatz, im Gewand einer 10 Komödie den heterosexuellen Filmfiguren schwulen Nachhilfeunterricht 11 in Sachen befreitem Sex zu geben. Auch der größte deutsche Kinoerfolg der 12 Nachwendezeit, Der Schuh des Manitu (2001, Michael »Bully« Herbig) 13 weist einen schwulen Nebencharakter auf, auch wenn dieser nicht mehr 14 als die üblichen Tuntenklischees bedient. In Reine Geschmackssache (2007, 15 Ingo Rasper) muss der Sohn eines Vertreters nach dessen Führerschein- 16 verlust Chauffeursaufgaben übernehmen und verliebt sich zudem noch 17 in den größten Konkurrenten des Vaters. Eine Familie, bei der nach und 18 nach die »zivilisatorischen Fesseln«, die heile Fassade ob ihrer seelischen 19 Verwundungen und Verirrungen zu bröckeln beginnen, beschreibt Das 20 wahre Leben (D/CH 2006, Alain Gsponer). Der älteste Sohn erlebt im 21 Laufe des Films sein Coming-out ausgerechnet bei der Bundeswehr und 22 wirkt in seiner Rolle, neben den psychopathischen Manierismen der ande- 23 ren Hauptfiguren, derart banal, dass seine Auftrittszeit insgesamt sehr kurz 24 ausfällt. Schwule Nebencharaktere lassen sich unter anderem ebenso in 25 Das Trio (1998, Hermine Huntgeburth), Harte Jungs (2000, Marc Rothe­ 26 mund), Herr Lehmann (2003, Leander Haußmann), Keiner liebt mich 27 (1994, Doris Dörrie), Was nützt die Liebe in Gedanken (2004, Achim von 28 Borries), Schlafes Bruder (1995, Joseph Vilsmaier), und Oi! Warning (1999, 29 Ben und Dominik Reding) finden. 30 Filme mit hauptsächlich schwuler Thematik suchten in der Nach­wende­ 31 zeit nach Inhalten und Orten, in denen Homosexualität noch Konflikte 32 heraufbeschwören konnte. Männer wie wir (2004, Sherry Horman) han- 33 delt von einer schwulen Fußballmannschaft, Lola und Bilidikid (1999, 34 E. Kutlug Ataman) beschreibt die Lebenswirklichkeit schwuler Türken in 35 Deutschland, Ich kenn keinen – Allein unter Heteros (2003, Jochen Hick) 36 ist ein Dokumentarfilm über Schwule auf dem Land. 37 Zurück auf Los! (2000, Pierre Sanoussi-Bliss) ist ein tragikomischer Film, 38 der trotz aller dargestellter Probleme, von AIDS über Erblindung nach einem

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Unfall bis hin zum täglichen Überlebenskampf, niemals negativ oder depri- 1 mierend wirkt. Neu an ihm ist die Thematisierung des Lebens mit AIDS 2 fern der sonst üblichen Dramatisierung und Problematisierung als trotz aller 3 widrigen Umstände dem Leben positiv eingestellter Film. Der Einstein des 4 Sex (1999) von Rosa von Praunheim widmet sich dem Leben des Sexual­ 5 wissenschaftlers Magnus Hirschfeld,Ein Leben lang kurze Hosen tragen 6 (2002, Kai S. Pieck) behandelt die Kindheit des späteren Knabenschänders 7 Jürgen Bartsch. Ein Medizinstudent aus Berlin geht in San Francisco der 8 Verschwörungstheorie nach, der HIV-Virus sei ein Produkt des US-Militärs 9 und stößt in No One Sleeps (2000, Jochen Hick) auf eine Mordserie an AIDS- 10 positiven Männern. Gängige Tuntenklischees werden in (T)Raumschiff 11 Surprise – Periode 1 (2004, Michael »Bully« Herbig) aneinandergereiht. 12 Solange du hier bist (2006, Stefan Westerwelle) behandelt die Beziehung 13 zwischen einem jungen Stricher und einem alten Homosexuellen. Schließ- 14 lich widmet sich Sommersturm (2004) von Marco Kreuzpaintner dem in 15 Deutschland bisher vernachlässigten Subgenre des Coming-out-Films. 16 17 18 Schlussbemerkungen 19 20 Für die Darstellung männlicher Homosexualität im deutschen Film können 21 folgende Subgenres und Zeitbereiche formuliert werden: 22 ➣➣ Der Aufklärungsfilm mit propagandistischem Unterton (1919–1970): 23 Aufgrund ehemals bestehender Gesetze fällt dieser Bereich sehr 24 überschaubar aus. Der Appell zur Akzeptanz der Homosexualität, 25 wie bei Anders als die Anderen und auch in einer Szene in Das dritte 26 Geschlecht, steht hier im Fokus, ist zumindest die Quintessenz der 27 Handlung. Aufgrund ihrer propagandistischen Tendenzen verstehen 28 sich die Filme als Beitrag zu aktuellen gesellschaftlichen Diskussio- 29 nen mit liberaler Grundausrichtung. Charakteristisch ist für diesen 30 Bereich die Betonung der schwierigen Situation der Homosexuellen, 31 verbunden zumeist mit einem negativen und tragischen Ende. Die 32 Filme sind von einer ernsten Grundstimmung geprägt, die im Verlauf 33 der Handlung oftmals ins Depressive abgleitet. Schwule Charaktere 34 werden in diesen Filmen hauptsächlich über ihre Homosexualität de- 35 finiert, ihre Probleme und Konflikte ergeben sich aus ihrer Veranla- 36 gung. Das Subgenre koppelte sich an die Zeit der strafrechtlichen Ver- 37 folgung in Deutschland. Es kann als abgeschlossen betrachtet werden. 38

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1 ➣➣ Der problemorientierte Gegenwartsfilm als Appell zur Akzeptanz der 2 Homosexuellen (ab 1969): Ausgehend von den modernen Aufklä- 3 rungsfilmen im Zuge der Strafrechtsreform 1969 können die 1970er 4 Jahre als die Blütezeit dieses Subgenres gesehen werden. Die Filme 5 verweisen nun kaum mehr auf die Natürlichkeit der Homosexualität, 6 sondern legen ihr Augenmerk auf die Thematisierung gesellschaftlich- 7 sozialer Missstände. Die Homosexualität ist hier weiterhin als Grund 8 der Filmkonflikte vorhanden, jedoch ist den Filmen keine explizite 9 Propaganda mehr eigen. Den Appell zur Akzeptanz der Homosexu- 10 ellen verpacken sie in der Emotionalität der jeweiligen Geschichte. 11 Unverändert zum Aufklärungsfilm bleibt der ernste und ins De- 12 pressive gehende Grundtenor der Geschichten, auch die Konflikte 13 liegen weiterhin hauptsächlich in der Veranlagung der Charaktere 14 begründet. Eine langsam steigende Tendenz selbstbewusster Phasen 15 der Film­charaktere ist zu konstatieren. Aufgrund der inzwischen 16 größeren Akzeptanz schwuler Lebensweisen hat das Subgenre seine 17 starke Dominanz eingebüßt, ist aber weiterhin existent, solange es 18 noch gesellschaftliche Bereiche gibt, in denen Homophobie an der 19 Tagesordnung ist. Neuere Produktionen sind Lola und Bilidikid und 20 Oi! Warning. 21 ➣➣ Der Unterhaltungsfilm mit der Gefahr der Stereotypisierung (ab 1954): 22 Ausgehend vom Vorreiter Anders als du und ich griffen ab 1969 23 verstärkt auch Unterhaltungsfilme auf homosexuelle Charaktere, zu- 24 meist in Nebenrollen, zurück. Wird der Fakt vergegenwärtigt, dass 25 diese Filme für ein hauptsächlich heterosexuelles, im Falle der stark 26 frequentierten Genres Kriminal- und Sexfilm sogar männlich-­hetero­ 27 sexuelles Publikum vorgesehen waren, ergeben sich hieraus interes- 28 sante Aufschlüsse über den Grad der Akzeptanz von Homosexuellen 29 in der Gesellschaft. Ausgehend von den ersten Produktionen Der 30 Mann mit dem Glasauge und Erotik im Beruf verfestigte sich schnell 31 das Stereotyp des weibischen, schrillen, mit hoher Stimme und Affek- 32 tiertheit ausgestatteten Homosexuellen, der entsexualisiert und ent- 33 individualisiert zur Belustigung des Publikums auftritt. Dieses Stereo- 34 typ, besonders präsent in der Sexfilmwelle, hielt sich bis in die 1980er 35 Jahre hinein stark im deutschen Unterhaltungskino. Das Subgenre ist 36 bis heute aktiv. 37 ➣➣ Der Unterhaltungsfilm mit homosexuell-thematischer Normalität (ab 38 1980): Seine Initialzündung erhielt das Subgenre mit Taxi zum Klo.

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Das Subgenre definiert seine Charaktere als homosexuell, jedoch ist 1 ihre sexuelle Neigung nicht mehr oder kaum noch Grundlage ihrer 2 Alltagsprobleme und steht daher auch nicht mehr im Vordergrund 3 der Betrachtung. In diesem Bereich sind das Selbstbewusstsein der 4 Charaktere und deren Lebensbedingungen am positivsten abgebildet. 5 Dieser Bereich dominiert aktuell. 6 7 Die von Russo aufgestellten Archetypen schwuler Filmfiguren müssen für 8 die deutsche Filmgeschichte hinsichtlich des zeitlichen Auftretens sowie 9 der Häufigkeit ihrer Verwendung modifiziert werden, gleichwohl sie alle 10 auch im deutschen Film anzutreffen sind. Am Beginn der »schwulen 11 deutschen Filmhistorie« steht nicht die harmlose Tunte, sondern bereits 12 der depressive, am gesellschaftlichen Druck verzweifelnde Homosexuelle, 13 dessen Hochzeit Ende der 1970er Jahre aufgrund gesellschaftlich geän- 14 derter Ansichten endete. Die zurückgewonnene Sichtbarkeit schwuler 15 Filmfiguren, von der auch ab den 1970er Jahren gesprochen werden kann, 16 äußerte sich in einer Fokussierung auf den depressiven Charakter seiner 17 Personen. Als kranke oder gar gefährliche Menschen wurden sie im deut- 18 schen Film selten gezeigt. 19 Die Phase der Unsichtbarkeit lässt sich für Deutschland zwischen 1933 20 und der Mitte der 1960er Jahre festlegen, unterbrochen von der Aus- 21 nahme des Harlan-Films. Im Kontrast zum amerikanischen Kino lassen 22 sich in Deutschland jedoch nur wenige Filme finden, die das Tabuisierte 23 als Metapher in den Subtext ihrer Filme mit einschrieben. Der Typus der 24 harmlosen Tunte kam in Deutschland erst nach der Entkriminalisierung 25 der Homosex­ ualität 1969 in Mode und wird nahezu ausschließlich, dafür 26 aber intensiv, im deutschen Erotik- bzw. Sexfilm bedient. Die scheinbare 27 Normalisierung auf der Basis alter Stereotype begann in der BRD erst in 28 den 1980er Jahren. Das deutsche Kino verweigerte seinen homosexuellen 29 Charakteren nicht in der Mehrzahl ihr Happy End. Untypisch war dieses 30 nur in Zeiten der Stigmatisierung sowie auch noch im gesellschaftlich-­ 31 depressiven Realismus des Neuen Deutschen Films. 32 Russos Schlussbemerkung zum amerikanischen Film lautete, dass es 33 niemals eine Frage war, dass Homosexualität auf der Leinwand gezeigt 34 wurde, sondern immer, wie sie gezeigt wurde. Für den deutschen Film 35 muss der Schlusssatz lauten: Es war eine Frage des Wie, bis 1970 jedoch 36 durchaus auch eine des Ob. 37 38

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https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 331 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Marco Geßner

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332 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Homosexualität im deutschen Spielfilm

Der Autor 1 Marco Geßner, 1977 in Cottbus geboren, arbeitete zunächst als freiberuflicher Video- 2 journalist und studierte anschließend Kultur- und Medienpädagogik sowie Angewandte 3 Medien- und Kulturwissenschaften als Master an der Hochschule Merseburg. Seit 2010 4 arbeitet er als Fachkraft für den (präventiven) Jugendmedienschutz des Landkreises 5 Saalekreis am Offenen Kanal Merseburg-Querfurt e. V. Als Jugendschutzsachverständi- ger des Landes Sachsen-Anhalt prüft er seit 2014 für die Freiwillige Selbstkontrolle der 6 Filmwirtschaft (FSK) und ist seit 2018 einer der Sprecher der Landesgruppe Sachsen- 7 Anhalt der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur. 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 333 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* 1 im zeitgenössischen Musikvideo 2 3 Anna-Leena Lutz 4 5 6 7 8 9 10 11 Die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Geschlechtergleich- 12 stellung hat Einzug in die breite Öffentlichkeit erlangt: Die Frauen*quote 13 wurde im Bundestag beschlossen, mit dem Ziel den Frauen*anteil in Füh- 14 rungspositionen zu erhöhen. An der Leipziger Universität wurde in der 15 Neufassung der Grundordnung gänzlich auf männliche* Berufsbezeich- 16 nungen verzichtet. Hierin kommt ausschließlich die weibliche* Variante 17 zum Einsatz, also Professorin* statt Professor*. Eine Fußnote ergänzt, 18 dass die weibliche* Berufsbezeichnung für beide Geschlechter gilt. Damit 19 ist die Universität Leipzig »Vorreiter der geschlechtergerechten Linguis- 20 tik«, so der Deutschlandfunk (Hentsch, 2014). Der Gewinner* des Grand 21 Prix 2014 präsentiert sich im femininen* Abendkleid und Vollbart als ge- 22 schlechtlich unbestimmte Kunstfigur Conchita Wurst. 23 Solche Jubelmeldungen der Presse lassen die Geschlechter- bzw. Femi- 24 nismusdebatte obsolet erscheinen. Doch weit gefehlt, denn wir befinden 25 uns in einem Gesellschaftssystem, in dem Machtungleichheiten zwischen 26 den Geschlechtern historisch gegeben sind und permanent von beiden 27 Geschlechtern bewusst und unbewusst produziert werden. Da wäre neben 28 den Lohnunterschieden zum Beispiel das Spiel mit den Rollenklischees in 29 den Medien zu nennen. Die 2017 veröffentlichte Studie der Uni Rostock 30 Audiovisuelle­ Diversität? verdeutlicht die Unterrepräsentanz von Frauen* als 31 Protagonistinnen* und Hauptakteurinnen* in deutschen TV-Vollprogram- 32 men. Das Ergebnis ist eindeutig, Männer* dominieren dabei mit 67 Pro- 33 zent klar, gegenüber einem Frauen*anteil von 33 Prozent (vgl. P­ rommer & 34 Linke, 2017, S. 6). Weiter offenbart die Studie: »[W]enn Frauen gezeigt 35 werden, kommen sie häufiger im Kontext von Beziehung und Partnerschaft 36 vor« (ebd., S. 8). Auch in Musikvideos dominiert Männlichkeit* einer- 37 seits quantitativ durch das häufigere Erscheinen männlicher* Interpreten* 38

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1 und Darsteller*; andererseits durch Inszenierungen weiblicher* Figuren 2 als abhängige, verfügbare, sexualisierte Objekte. Auf derartige stereotype 3 Weiblichkeits*darstellungen stößt man in Musikvideos1 täglich. 4 In jüngster Zeit spielen aber immer mehr Musiker*innen in ihren Musik- 5 clips genau mit diesen heteronormativen Geschlechterordnungen. Einige 6 gehen sogar noch weiter und stellen in ihren Inszenierungen das gesell- 7 schaftlich verankerte System der Zweigeschlechtlichkeit infrage. Zur Über- 8 windung, Erschütterung und Auflösung solcher Geschlechterdifferenzen 9 und -ordnungen in Musikvideos sind Störungs- bzw. geschlechterdekon­ 10 stru ­ierende Repräsentationsstrategien notwendig. 11 Ohne an dieser Stelle auf den Begriff des Feminismus näher einzugehen, 12 scheint jedoch zunächst ein eröffnender Einblick unabdingbar. Feministi- 13 sche Theorien und Denkrichtungen werden auf vielfältige Weise formuliert 14 und sind schwer voneinander zu trennen, zwei elementare Ziele lassen sich 15 jedoch übergreifend festhalten, so Kroll: erstens die Gleichheit der Ge- 16 schlechter und zweitens die Differenz zwischen Mann* und Frau*, die im 17 de-/konstruktivistischen Sinne »als kulturell und sozial konstruiert begrif- 18 fen wird« (Kroll, 2002, S. 103). 19 Die Überlegung, dass nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern 20 auch das biologische Geschlecht (sex) kulturell konstruiert sein könnte, hat 21 das Denken innerhalb der feministischen Geschlechtertheorie maßgeb- 22 lich verändert. In Deutschland hielten diese Gedanken mit dem Erschei- 23 nen von Judith Butlers Buch Das Unbehagen der Geschlechter Einzug ins 24 öffentliche Bewusstsein. Butler geht davon aus, dass »das natürliche Ge- 25 schlecht (sex) […] definitionsgemäß immer schon ein soziales Geschlecht 26 (gender) [ist], das, der Natur gemäß, als biologisches Geschlecht gedacht 27 wird« (­Bublitz, 2002, S. 56). Das anatomisch-biologische Geschlecht ist 28 also nach Butler nur scheinbar eine natürliche Tatsache. Es ist vielmehr ein 29 Effekt, der nur über einen kulturell geprägten Diskurs entsteht und sich im 30 Augenblick der Auseinandersetzung immer schon in gender verwandelt hat 31 (vgl. ebd.). Butler zufolge ist das Körpergeschlecht ferner kein natürliches 32 ­Merkmal des Körpers, sondern kulturelles Produkt, das gleichzeitig eine 33 gesellschaftlich verankerte heterosexuelle Ordnung und ebensolche Repro- 34 duktion vorgibt. In dieser Hinsicht kann Judith Butlers Geschlechter­theorie 35 als Grundlage für das Verständnis der Queer Theory gesehen werden. Die 36 37 1 Synonym zum Begriff Musikvideo wird in dieser Arbeit die Bezeichnung Musikclip ver- 38 wendet.

336 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo

Queer Theory begreift ebenso das soziale und das biologische Geschlecht 1 als gesellschaftliche Konstruktion und stellt das binäre Geschlechtersystem 2 sowie die Heterosexualität als gesellschaftliche Norm in Frage. Sie plädiert 3 für eine Vielfalt von Sexualität, Identität und Geschlecht. 4 Die vielfältigen und ausdifferenzierten Denkströmungen des Feminis- 5 mus sind es ferner, die den Grundstock für den aktuellen Geschlechterdis- 6 kurs liefern. Demnach beschäftigen sich feministische Medien- und Ge- 7 schlechterforschungen mit der Analyse von Geschlechterkonstruktionen 8 in Musikvideos (vgl. Neumann-Braun & Mikos, 2006, S. 40). 9 Analog zu Judith Butlers sex/gender-System wird das Geschlecht somit 10 in Musikvideos ständig »diskursiv reproduziert« (Bechdolf, 1998, S. 125). 11 Die Kombination von Bild, Musik und Text ermöglicht dem Musikclip, 12 als popkulturellem Bestandteil der Alltagswelt, einen enormen Spielraum 13 an Dar­stellungs­optionen, nicht zuletzt aufgrund der stetig wachsenden 14 technischen Möglichkeiten (vgl. Schach, 2006, S. 6). Ihm kann daher eine 15 tragende Rolle im Konstruktionsprozess des gesellschaftlich verankerten 16 Zweigeschlechtersystems und der Geschlechter­ordnungen zugesprochen 17 werden. Stellt man zunächst das Bild der Frau* im traditionell-affirmativen 18 Musikclip in den Vordergrund, fallen die Unterrepräsentanz, der Objekt- 19 status und die klischeehafte Darstellung von Frauen* auf (vgl. Bechdolf, 20 1999, S. 20f.). In ihrem Buch Media Entertainment aus dem Jahr 2000 21 berichten Vorderer und Zillmann von Forschungsberichten zur Charakter- 22 Analyse aus 1.000 Musikvideos. Ihnen zu Folge werden Männer* häufiger 23 als abenteuerlich, aggressiv und dominant dargestellt, während Frauen* 24 meist die Rolle der Zärtlichen, Ängstlichen und Fürsorgenden innehaben 25 (vgl. Vorderer & Zillmann, 2000, S. 180). Des Weiteren werden Männer* 26 im Gegensatz zu Frauen* meist als aktive Musiker* illustriert; Musikerin- 27 nen* hingegen gebärden sich als grazile Tänzerin* oder Sängerin*, jedoch 28 selten als Instrumentalistin* (vgl. Mulvey, 1994, S. 55ff.). DerReport of 29 the APA Task Force on the Sexualization of Girls verweist im Jahr 2007 auf 30 eine Studie, nach der 57 Prozent der Musikvideos Frauen* als dekoratives 31 Sexobjekt darstellen (APA, 2007). Die aus der deutsch-amerikanischen 32 Untersuchung »I Just Want to Look Good for You« abgeleiteten Daten 33 der Jahre 2015 und 2016 gehen ins Detail und zeigen, dass es fast doppelt 34 so viele Sänger* wie Sängerinnen* gibt und dass 56 Prozent der Frauen* 35 in Musikvideos aufreizende Kleidung tragen, im Gegensatz zu 21 Prozent 36 bei den Männern* (Götz & Eckhardt Rodriguez, 2017, S. 121). Weibli- 37 che* Popstars räkelten sich außerdem in fast jedem dritten Musikvideo in 38

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1 ­erotischen Posen, wohingegen Männer* dies mit drei Prozent so gut wie nie 2 tun. Des Weiteren beschränkt sich der Bildausschnitt bei jedem zweiten 3 Musikvideo auf den Körper der Frau*, ohne dabei das Gesicht abzubilden. 4 Bei der Darstellung des männlichen* Körpers ist das nur bei 32 Prozent der 5 begutachteten Musikclips der Fall (vgl. ebd.). Im traditionell-affirmativen 6 Musikvideo, im Musikbranchen-Regelfall findet also eine zweigeschlecht- 7 liche Unterteilung in männlich*/aktiv und weiblich*/passiv statt, und 8 somit werden Heteronormativität sowie ein binäres Geschlechters­ystem 9 reproduziert. In traditionell-affirmativen Musikvideos werden Geschlech- 10 ter strikt getrennt: »Männer sehen, Frauen werden gesehen« (Bechdolf, 11 1999, S. 80). Der hierarchisch männliche* Blick auf die Frau* im bewegten 12 Bild wird in der Gender- und feministischen Medienforschung als male 13 gaze bezeichnet. Male gaze kann aus dem Englischen als männlicher* 14 Blick oder männliches* Starren übersetzt werden. Der Begriff wurde von 15 Laura Mulvey in ihrem Essay »Visual Pleasure and Narrative Cinema« 16 (1975) geprägt, in dem sie (ausgehend von Ideen aus der Psychoanalyse) 17 die These vertritt, dass Filme meist aus Männer*perspektive erzählt und 18 gefilmt werden. Daraus resultiere die Konstruktion der Frau* als Objekt 19 der Begierde, und zwar für die Figuren im Film sowie für das Publikum 20 außerhalb davon. Das funktioniert zum einen über die visuelle Hierarchi- 21 sierung durch Kameraperspektive, Montage und Einstellungen. Die Frau* 22 wird beispielsweise von oben herab gefilmt. Ergebnis davon ist der Aus- 23 druck von Hilfsbedürftigkeit oder Demut aufseiten der Frau*. Ein Gefühl 24 von Macht hingegen verspüren dabei die Zuschauenden. Ebenso geraten 25 als erotisierend geltende Körperteile von Protagonistinnen* wie die Brüste 26 in jedem dritten und der Po in jedem vierten Musikvideo in den Fokus 27 der Kamera und sind damit viel häufiger sichtbar als die des Mannes* (vgl. 28 Götz & Eckhardt Rodriguez, 2017, S. 121). Ein Musikvideo-Beispiel für 29 die Darstellung der Frau* aus der Perspektive des male gaze sei hier ange- 30 führt: Das Musikvideo der Regisseurin* Diane Martel zum Song Blurred 31 Lines der Musiker* Robin Thicke, T. I. und Pharrell aus dem Jahr 2013. In 32 Unterwäsche gekleidete, dem gesellschaftlichen Idealbild entsprechende, 33 weibliche* Models laufen über den Bildschirm und lassen sich von den 34 elegant gekleideten Musikern* »anbaggern«. Eine Textzeile, die auch im 35 Video immer wieder typografisch abgebildet wird, ist: »Robin Thicke 36 has a big dick« (deutsch: »Robin Thicke hat einen großen Schwanz«). 37 Männer* nutzen die Frauen* in ihrem Musikvideo ferner als dekorative se- 38 xualisierte Objekte für sich selbst sowie die ­Konsumierenden des Videos.

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Der voyeuristische Blick der Zuschauenden auf die Frau* drückt sich in 1 der Erzählweise aus. Vor allem im Mainstream-Bereich geht es in den 2 Musikclips von Musiker*innen inhaltlich häufig um die Begegnung zwi- 3 schen Mann* und Frau*, wobei die Story aus Sicht des Mannes* beschrie- 4 ben wird: »Von der romantischen Sehnsucht nach der Angebeteten über 5 die direkt formulierte Anmache junger, attraktiver Frauen bis zur wüten- 6 den Beschimpfung der einstmals Geliebten« (Bechdolf, 1999, S. 103). 7 Eben solche traditionell-affirmativen Musikvideos treten in abwerten- 8 der Haltung Frauen* gegenüber auf und verdinglichen und sexualisieren 9 sie. Ganz im Sinne männer*dominierter Gesellschaftsstrukturen werden 10 herrschende Geschlechterverhältnisse abgebildet und die Dichotomie 11 der Geschlechter bestärkt, die Frauen* und Männer* als unterschiedliche 12 Wesen ansieht und anspricht. Untersuchungen haben ergeben, dass die 13 eindimensionale Darstellung der Geschlechter in den Medien Auswir- 14 kungen auf den Sozialisationsprozess von Kindern und Jugendlichen hat 15 (vgl. ebd., S. 24). Es erscheint daher nicht verwunderlich, dass laut der 16 Studie »I Just Want to Look Good for You« 75 Prozent der befragten 17 weiblichen* Jugendlichen den Vorbildern aus dem Musikvideo äußerlich 18 gleichen wollen und 74 Prozent der Jungen* gern eine* Partnerin* hätten, 19 die diesen Vorbildern entspricht (vgl. Götz & Rodriguez, 2017, S. 124). 20 Folglich entstehen dadurch Denkmuster, die Emanzipationsbestrebungen 21 im Keim ersticken. Die Auswirkung der stereotypisierten Darstellung der 22 Geschlechter auf die Rezipient*innen soll jedoch in dieser Arbeit nicht 23 vertieft werden. 24 Zwar dominieren traditionell-affirmative Geschlechterverhältnisse den 25 Geschlechterdiskurs im Genre Musikvideo, jedoch finden auch opposi- 26 tionelle bzw. progressive Musikclips Einzug in die Medienlandschaft, die 27 versuchen die Geschlechterordnung und/oder -differenz mithilfe dekonst- 28 ruierender Strategien aufzulösen (vgl. Bechdolf, 1999, S. 112). 29 Bevor die Repräsentationsstrategien zur Dekonstruktion der Weib- 30 lichkeit* allerdings näher vorgestellt werden, soll an dieser Stelle zunächst 31 der Begriff »Dekonstruktion« geklärt werden. Dekonstruktion kann als 32 »ein philosophisches Werkzeug [verstanden werden], um die in binären 33 Gegensätzen inhärente Hierarchie zu erschüttern, Bewegungsräume zwi- 34 schen Differenzen zu öffnen und Bedeutungen zu verschieben« (Hart- 35 mann, 2002, S. 25). Dichotomien wie zum Beispiel Mann* und Frau* oder 36 Heterosexualität und Homosexualität können mittels der Strategie der 37 Dekonstruktion hinterfragt und aus dem Gleichgewicht gebracht werden, 38

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1 um dann wieder in tragfähiger Form zusammengebaut zu werden (vgl. 2 Distelhorst, 2009, S. 16). Das Verfahren der Dekonstruktion kann quasi 3 als Re-Konstruktion einer neuen Realität und anderen Sichtweise auf die 4 Welt verstanden werden (vgl. Bechdolf, 1999, S. 40). »Mittels dekon­stru­ 5 ierender Strategien werden nicht nur hierarchische Differenzierungen um- 6 gekehrt, sondern auch binäre Logiken der Bedeutungsherstellung selbst 7 hinterfragt« (Schuegraf & Smykalla, 2010, S. 171). 8 Reynolds und Press formulierten in ihrem 1995 erschienenen Buch 9 The Sex revolts. Gender, Rebellion and Rock’n’Roll erstmalig Strategien 10 der weiblichen* Rock-Rebellion. Bechdolf greift diese vier Jahre später in 11 ihrem Buch Puzzling Gender auf und fasst sie in deutscher Sprache zu vier 12 Oberkategorien zusammen: erstens »unveränderte Übernahme der genuin 13 männlichen Rock-Rebellion, zweitens die Anreicherung der Rockmusik 14 mit sogenannten ›weiblichen‹ Qualitäten, drittens das eher postmoderne 15 Umarbeiten weiblich konnotierter Repräsentationsweisen durch Posen 16 und Maskerade sowie viertens die schwierige Gratwanderung einer prozeß- 17 haften […] Identitätskonstruktion« (Bechdolf, 1999, S. 112). 18 Die ersten beiden Strategien sprechen sich im Sinne des Feminismus 19 gegen die traditionellen Weiblichkeits*zuschreibungen aus und versuchen 20 feminine* Stereotypisierungen mindestens aufzuzeigen. Diese Musikvideos 21 üben zwar Kritik an der bestehenden Geschlechterordnung und an der 22 Männer*herrschaft in der Gesellschaft, jedoch zweifeln sie nicht das binäre 23 Geschlechterkonstrukt als Ganzes an. Sie entwerfen vielmehr Alternativ­ 24 entwürfe zu stereotypen Geschlechterbildern und verankern bzw. bestäti- 25 gen damit einmal mehr die Zweigeschlechtlichkeit (vgl. ebd.). 26 Die beiden letztgenannten Repräsentationsstrategien Demaskierung 27 von Weiblichkeit und Umgang mit Identitätskonstruktion fasst Bechdolf 28 unter dem Begriff desgender b(l)ending zusammen. Bending kann dabei 29 mit »verbiegen« übersetzt werden (to bend) und blending mit »vermi- 30 schen« (to blend). Gender bending meint somit die Ausweitung der Ka- 31 tegorie Geschlecht. Gender blending hingegen beinhaltet das Vermischen 32 der Geschlechter (vgl. ebd., S. 122). Da sowohl das Vermischen als auch 33 die Ausdehnung der Kategorie gemeint ist, wird im folgenden Text die 34 Schreibweise gender b(l)ending verwendet. Mittels gender b(l)ending 35 lassen sich analog zur Butler’schen Theorie nicht nur Geschlechterhierar- 36 chien überwinden, sondern sie ermöglich darüber hinaus, die Geschlech- 37 terdifferenz als Ganzes zu erschüttern, aufzulösen oder gar Geschlechts- 38 neutralität herzustellen, womit diese Strategien noch einen Schritt weiter

340 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo als die ersten beiden Strategien gehen (vgl. Neumann-Braun & Mikos, 1 2006, S. 50). Sie zielen auf die Dekonstruktion der gesellschaftlich akzep- 2 tierten Geschlechterkategorien Mann* und Frau* ab, die die Grundlage 3 für sexistische Unterdrückung darstellen. Die Künstler*innen stellen mit 4 der Anwendung dieser Repräsentationsstrategien die Geschlechterkon­ 5 struktion gänzlich infrage und führen das binäre Konstruktionsprinzip 6 ad absurdum oder erschaffen gar eine Neudefinition des Geschlechts (vgl. 7 Bechdolf, 1999, S. 122). 8 Der vorliegende Text stellt lediglich die Repräsentationsstrategien des 9 gender b(l)ending vor und fokussiert zur Erläuterung auf visuelle und nur 10 punktuell narrative und akustische Beispiele. Da der Fokus dieser Arbeit 11 auf der Dekonstruktion des Weiblichen* liegt, wurden auf männliche* 12 Repräsentationsstrategien bezogene Betrachtungen Bechdolfs nicht auf- 13 genommen. Darüber hinaus beschränke ich mich in der Darstellung auf 14 Musikvideos von weiblichen* Musikerinnen* bzw. Bands mit mindestens 15 einer weiblichen* Sängerin*, wobei auf die Aktualität der Beispiele Wert 16 gelegt wird.2 Des Weiteren sind die Musikclips aus den Bereichen Elek- 17 tro, Pop, Hip-Hop und Rock, und sind weniger dem Mainstream als dem 18 Underground zuzuordnen.3 Die ausgewählten Musikclips sind Beispiele 19 für die Anwendung von Repräsentationsstrategien zur Dekonstruktion des 20 Weiblichen* in Musikvideos, sollen jedoch nicht als repräsentativ für die 21 Musikvideoproduktion der letzten Jahre verstanden werden. 22 Die folgende Darstellung orientiert sich an den fünf von Bechdolf be- 23 nannten Unterstrategien des Gender b(l)ending (vgl. ebd., S. 122–142). 24 25 26 Demaskierung von Weiblichkeit 27 28 Mit dieser Strategie wird die gesellschaftliche Definition von Weiblich- 29 keit* hinterfragt. »Dies kann durch spielerische oder auch krasse Dar- 30 stellungen von klassischen Weiblichkeits- (oder Männlichkeitsbildern) 31 geschehen, die durch die Überpointierung als Maskerade sichtbar und 32 dadurch einer Kritik zugänglich gemacht werden« (ebd., S. 122). Indem 33 34

2 Fast alle der Musikvideos sind in den letzten zehn Jahren erschienen. Keiner der Musik­ 35 clips ist jedoch älter als 20 Jahre. 36 3 Mindestens 100.000 Musikvideo-Aufrufe waren jedoch Voraussetzung für die Aufnahme 37 der Clips in dieser Arbeit. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 341 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anna-Leena Lutz

1 die weibliche* Figur in verschiedenste Rollen schlüpft, wird einer bestän- 2 digen Geschlechtsidentität entgegengewirkt, die sich nicht festlegen lässt. 3 Diese Rollen reichen von der magischen Femme fatale über das »devote 4 Lustobjekt« zur herrschenden »Macho-Frau« (vgl. ebd., S. 123). Damit 5 soll das weibliche* Geschlecht als vielfältig, variabel und letztlich zufällig 6 herausgestellt werden. So nimmt Grimes in ihrem zweiteiligen Musik­video 7 Flesh Without Blood/Life In The Vivid Dreams mehrerlei Gestalten an: Sie 8 entwirft sich als eine modern-übersteigerte Marie-Antoinette auf einem 9 pinken Tennisplatz, als dämonisch-böser Engel inmitten einer aus­ufernden 10 Pyjama-Party, als Rockstar à la Michael Jackson und als gespenstisch- 11 kühle Cyperpunk-Gamerin*. Durch das Aufzeigen des Facetten­reichtums 12 von Weiblichkeit* dekonstruiert sie diese und kritisiert ihre einseitige 13 ­Darstellung. 14 Diese Instabilität der Weiblichkeits*rolle kann sich auch in der Stimme 15 oder Tonlage der Musik wiederfinden (vgl. ebd.). Gleichermaßen kann die 16 Darstellung überbetonter Weiblichkeit* und Übererfüllung der Norm nach 17 Bechdolf zusätzlich als Demaskierung von Weiblichkeit verstanden werden 18 (vgl. ebd., S. 124), wie zum Beispiel im Musikvideo Das Me von Brooke 19 Candy. Ein anderes Beispiel sind die Videoclips von Lady Bitch Ray. Im 20 Musikvideo Du Bist Krank stellt sie als Lady Ray und Doktor Bitch Ray 21 permanent ihren Körper zur Schau. Oberflächlich betrachtet präsentiert 22 sie sich mit ihrer knappen Kleidung, den erotischen Posen und ihrem 23 prunkvollen Schmuck als Sexobjekt. Im Refrain fordert Lady Bitch Ray 24 sogar ihren Patienten* auf, ihre »Titten zu grapschen«. Diese übertriebene 25 Zurschaustellung ihrer stereotypen Weiblichkeit* kann als Parodie weib- 26 licher* Sexobjekte der Hip-Hop-Welt und ferner der Gesellschaft gelesen 27 werden, mit der die Definition des Weiblichen* hinterfragt werden soll. 28 Die Überpointierung funktioniert hier als entlarvendes und kritisierendes 29 Instrument gegenüber stereotypen Weiblichkeits*darstellungen und der 30 kulturell bedingten Konstruktion weiblichen* Handelns. Ebenfalls gelingt 31 ihr die Umdeutung der negativ konnotierten Ausdrucksweise »bitch« 32 (deutsch: Schlampe), die im Hip-Hop als gängige abwertende Bezeichnung 33 für (sexuell häufig aktive) Frauen* dient. Lady Bitch Ray definiert diesen 34 Begriff neu und schreibt ihm Stärke und einen positiven Wert zu, wenn sie 35 ruft: »Hinter jeder starken Bitch steckt ne harte Clit.« »Bitch« erhebt 36 sie damit zum Begriff für eine selbstbestimmte, emanzipierte, intelligente 37 Frau*, die nicht notwendigerweise einen starken Mann* an ihrer Seite 38 braucht, um schaffensmächtig zu sein.

342 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo

Auch Peaches gelingt es im Musikvideo Kick It »die traditionellen Kon- 1 zepte von Weiblichkeit und Männlichkeit auf eine Weise zu verwenden, 2 daß die Inszeniertheit hinter den Repräsentationen transparent wird« 3 (ebd., S. 122). Peaches performt mit Iggy Pop im gleichnamigen Musik- 4 video. Leicht bekleidet, mit aggressiver Gestik treten sie in einem körper- 5 lichen und lyrischen Gefecht gegeneinander an. Während sich Iggy ober- 6 körperfrei und in Latexhosen präsentiert, zeigt sich Peaches mit feminin* 7 codierter Kleidung (kurze rosa Lackhose, Stöckelschuhe, pinker BH). Der 8 Text befasst sich mit ungezähmten sexuellen Wünschen und haarigen weib- 9 lichen* Geschlechtsteilen. Ihre Stimme wirkt aggressiv. Peaches reprodu- 10 ziert mit ihrem sexy rosa Outfit zwar ein klassisches Weiblichkeits*ideal, 11 füllt dies allerdings gleichzeitig durch Mimik, Gestik und Sprache mit 12 neuen männlich* codierten Inhalten aus und konterkariert damit die Ge- 13 schlechterzuschreibung. 14 15 16 Inszenierung gleichgeschlechtlichen Begehrens 17 18 Nach Bechdolf findet die gleichgeschlechtliche Liebe in Musikvideos meist 19 nur in Form von Andeutungen statt und nicht in offensichtlicher Deut- 20 lichkeit. Um Anspielungen auf gleichgeschlechtliche Liebe zu verstehen, ist 21 oftmals Vorwissen über die sexuelle Orientierung der Musiker*innen oder 22 Regisseur*innen nötig, da Homosexuelle zuweilen spezielle Zeichencodes 23 nutzen, die Heterosexuellen möglicherweise nicht geläufig sind (vgl. ebd., 24 S. 126). »Je deutlicher ein gleichgeschlechtliches Begehren in Musikvideos 25 sichtbar wird und je mehr spezifische visuelle und auditive Codes die Äs- 26 thetik und damit auch die Rezeptionspotentiale beeinflussen, desto eher 27 können die Repräsentationen als Kritik an der Zwangsheterosexualität ge- 28 wertet werden« (ebd., S. 129). Im Musikvideo Real MVP von Siya nähert 29 sich die Musikerin* in verschiedenen Szenen ihrer Ex-Freundin* an. Neben 30 dem Text des Songs, der dies verdeutlicht, weisen lediglich dezente Be- 31 rührungen oder Blicke auf die gleichgeschlechtliche Liebe hin. Hingegen 32 kommen sich im Musikvideo Stranger von Goldfrapp zwar eindeutig zwei 33 Frauen* am Strand näher, schwarz-weiß-Ästhetik, Zeitlupenaufnahmen 34 sowie lediglich fragmentarische Close-ups dieser Szene vermitteln eher eine 35 melancholische als erotische Stimmung. 36 Diese Repräsentationsstrategie kann durch die Präsentation von Sexual­ 37 formen, die von der gesellschaftlichen Norm der Heterosexualität abwei- 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 343 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anna-Leena Lutz

1 chen, als Angriff auf die Heteronormativität verstanden werden. Aktive, 2 offensichtliche weibliche* Homosexualität, die nicht den Zweck hat, die 3 Lust des Mannes* zu steigern, findet laut Bechdolf im Jahr 1999 selten in 4 Musikvideos statt. Diesbezüglich ist eine Veränderung im Jahr 2017 zu ver- 5 zeichnen, wenn allerdings immer noch kaum im Mainstream. 6 7 8 Überschreiten der Geschlechtergrenzen 9 durch Crossdressing 10 11 Ein weiteres Verfahren zur Erschütterung der gebräuchlichen Geschlech- 12 terdifferenzierung stellt das sogenannte Crossdressing dar. Dieses Verfahren 13 meint die Nachahmung des jeweils anderen Geschlechts durch beispielsweise 14 Kleidung, Make-up und Gesten (vgl. ebd.). Die häufig angewandte Übertrei- 15 bung der Schmink- oder Kleidungscodes im Crossdressing demaskiert die Ge- 16 schlechtergrenzen spielerisch (vgl. Neumann-Braun & Mikos, 2006, S. 49). 17 Meist bleiben in den Musikvideos keine Zweifel an der Dichotomie, indem 18 das »wahre« Geschlecht von dem verkleideten klar unterschieden wird (vgl. 19 Bechdolf, 1999, S. 132). Crossdressing wirkt umso provozierender und in- 20 tensiver in seiner Intention der Geschlechterdekon­struktion, wenn weder 21 Erotik noch Ironie aufkommen (vgl. ebd., 133). Je nach Geschlecht und 22 Hintergrund der Verwandlung können Verwandlungsprozesse ins andere 23 Geschlecht die instabilen Geschlechtsidentitäten und die Künstlichkeit 24 des binären Geschlechterkonstrukts also mehr oder weniger hervorheben. 25 »Wie groß das subversive Potential dieser visuellen Inszenierungen jeweils 26 ist, hängt stark von den anderen Zeichenebenen Musik und Sprache wie 27 auch von der Intertextualität, der Verbindung zu anderen Medienproduk- 28 ten ab« (ebd., S. 130). In einer tristen Partyraum-Kulisse performt, perfekt 29 als Frau* inszeniert, ein männliches* Model lippen­synchron im Musikvideo 30 von The Knife den Titel Pass This On. Aggressiv bis abweisend wirken die 31 Zuschauer*innen, wenn die Worte »I’m in love with your brother« durchs 32 Mikrofon raunen, begleitet von lasziven Bewegungen der Sängerin*. Nach- 33 dem einer der »harten Jungs*« beginnt, unmittelbar vor der Sängerin* wie 34 elektrisiert zu tanzen und die anderen Gäste es ihm daraufhin gleichtun, 35 löst sich die latent angriffslustige Anspannung auf. Die Akzeptanz der 36 Travestie- ­Sängerin in dieser testosterongeladenen Stimmung wirkt befrei- 37 end, die Geschlechterzugehörigkeit plötzlich nebensächlich, womit das 38 binäre Geschlechterkonstrukt transparent und erschüttert wird.

344 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo

Androgyne Annäherung an die Geschlechtergrenze 1 2 Die bisher genannten Strategien haben diskursive Geschlechtergrenzen 3 übergangen oder ausgeklammert, die Androgynie hat die Verwischung der 4 Geschlechtergrenze zum Ziel (vgl. ebd., S. 134). Androgyne Repräsentati- 5 onen bewegen sich in einem Spektrum zwischen männlich* und weiblich*. 6 Umgangssprachlich gilt Androgynie auch als Synonym für Intersexualität, 7 was allerdings biologisch nicht zutreffend ist. Androgyn »wird manch- 8 mal auch als Beschreibung für eine Geschlechtsidentität benutzt, die sich 9 zwischen männlich und weiblich verortet« (Queer Lexikon, o. J.) Die 10 Aneignung des Kleidungsstils, der Gestik, der Musik, die Inkorporierung 11 des Ausdrucksvermögens und geschlechtlicher Codes des jeweils anderen 12 Geschlechts dienen als verwirrungsstiftende Elemente der geschlechtlichen 13 Einordnung (vgl. Bechdolf, 1999, S. 134f.). Dadurch entstehen Irritationen 14 bezüglich der Zuordnung des Geschlechts und Zweifel an der Heterosexu- 15 alität. Frauen* sind im Gegensatz zu Männern* dabei häufig dem Vorwurf 16 der »lesbischen Männerhasserin« (ebd., S. 136) ausgesetzt. 17 Die Musikerinnen* Micachu (Micachu and the shapes) wie auch 18 J. D. Samson (Bands: Le Tigre und Men) oder La Roux treten in ihren Mu- 19 sikvideos stets als androgyn anmutende Wesen in Erscheinung: Kurzhaar- 20 schnitt, meist weite unbetonte Kleidung, gleichzeitig eher schmächtig und 21 weiche Gesichtszüge. J. D. Samson geht noch einen Schritt weiter, indem 22 sie einen Schnauzbart trägt, womit sich für Uninformierte eine klare Ein- 23 ordnung bezüglich ihres biologischen und sozialen Geschlechts diffizil ge- 24 staltet und sie genauso Spielraum für eine mögliche Trans*identität lässt. 25 Klingt die Stimme der beiden erstgenannten geschlechtsneutral, so betont 26 La Roux darin stereotype Weiblichkeit*: Hohe Stimmlage, weiche Klang- 27 farbe und Emotionalität verleihen ihr theatralische Wirkung und stehen im 28 Kontrast zu ihrem androgynen Äußeren. Auch Peaches spielt neben ihren 29 Bühnenperformances in ihren Musikvideos ständig mit der Verwischung der 30 Geschlechtergrenzen. Im Musikclip How You Like My Cut steht die Choreo- 31 grafie einer philippinischen Tänzerin* im Mittelpunkt. Darin imitiert sie den 32 Tanzstil der sogenannten macho dancer in Manilas Diskotheken: Mit kühlem 33 Blick und Kaugummi kauend präsentiert sie mit männlich* konnotierten 34 Posen ihre sportliche Figur, öffnet ihre knappe Hose, schüttelt ihr langes 35 Haar, räkelt sich in sexuell anreizenden Posen auf dem Boden, während der 36 Text »I am a sexy little fucker« ertönt. Sie präsentiert sich als Mischform 37 zwischen männlich* und weiblich* und lässt die Zuschauenden im U­ nklaren 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 345 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anna-Leena Lutz

1 darüber, an welches Geschlecht sich die sexuelle Aufforderung richtet. Auch 2 Peaches Stimme ist uneindeutig: Während sie anfangs aufgrund von Stimm- 3 effekten hyperfeminin*, gar kindlich naiv ertönt, klingt sie später eher tief 4 und maskulin*. Im Sinne Butlers und der Queer Studies resultiert daraus eine 5 Verwischung der Geschlechtergrenzen, die die Darstellung der kulturellen 6 Geschlechterkonstruktion aufzeigt. Maßgeblicher Vorreiter und Vorbild für 7 viele androgynen Musiker*innen ist David Bowie. In den 1970er Jahren bis 8 zu seinem Tod im Jahr 2016 erzeugte er mit seinen Musikvideos großes Auf- 9 sehen, indem er weibliche* wie männliche* Figuren selbst verkörperte: 10 11 »Wegen seines Changierens zwischen männlich und weiblich sowie wegen 12 seiner Persona-Wechsel […] und Ironisierungen des Androgynen […] kann er 13 als einer der wichtigsten Geschlechter-Grenzgänger der Popmusik bezeich- 14 net werden […] [, indem] er sexuelle Abweichungen von der Norm geradezu 15 zelebrierte, sich aber nie auf eine Spielart festlegte […]« (ebd., S. 135). 16 17 Erst seit den 1980er Jahren treten auch Frauen* als androgyne Wesen auf 18 (vgl. Neumann-Braun & Mikos, 2006, S. 50). 19 Weiter zählt Bechdolf das sogenannte Morphing in diese Kategorie des 20 gender b(l)ending. Damit ist ein computergenerierter Spezialeffekt gemeint, 21 der ohne Blende ein Bild durch ein anderes ersetzt und somit beispielsweise 22 einen Frauen*kopf abbildet, der sich ohne Übergang in einen Männer*- oder 23 Tierkopf verwandelt (vgl. Bechdolf, 1999, S. 137). Im Musikvideo zu Björks 24 Song Hunter findet im Wechsel eine schrittweise Transformation zwischen 25 ihr als glatzköpfiger Sängerin* und einer Bärin* statt (Mensch und Tierma- 26 schine). Die Bärin* verkörpert die wilden Jagenden, die sie im Text beschreibt. 27 Sie kann als eine Hybridform zwischen (nicht-femininer*) Frau*, wildem Tier 28 und Technologie gelesen werden. Sie zersprengt die gesellschaftlich als natür- 29 lich verstandene Weiblichkeits*konstruktion und fordert damit den traditi- 30 onellen Begriff des Weiblichen* heraus. Anzumerken ist die Seltenheit der 31 Verwendung von Morphing im Sinne Bechdolfs in aktuellen Musikvideos. 32 33 34 Utopische Indifferenzen 35 36 Diese Strategie geht der Frage nach, ob »Geschlechterdifferenz in media- 37 len Repräsentationen nicht nur […] erschüttern, […] dehnen und […] ver- 38 wirren, sondern auch gänzlich ad absurdum […]« (ebd., S. 138) geführt

346 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo werden kann. Bechdolf beschäftigt sich mit der Frage, ob eine Welt ohne 1 Geschlecht bzw. mit mehr als zwei Geschlechtern überhaupt vorstellbar 2 wäre. Sie merkt dazu an, dass sich dieser Abschnitt eher als Theorie denn als 3 praktische Strategie verstehen lasse. In dieser Arbeit haben die zur Strate- 4 gie »utopische Indifferenzen« gehörenden vier Repräsentationsoptionen 5 jedoch gleichwertigen praktischen Status wie die bereits vorgestellten. Des 6 Weiteren merkt sie an, dass tatsächlich nur wenige Musikvideos existieren, 7 deren Absicht darin liegt Geschlechterkategorien komplett obsolet erschei- 8 nen zu lassen (vgl. ebd.). An dieser Stelle ist anzumerken, wäre Ute Bech- 9 dolfs Buch Puzzling Gender im Jahre 2017 erschienen, hätte sie für die fol- 10 genden Strategien möglicherweise den Überbegriff non-binär gewählt und 11 ausdifferenziert. Ein Geschlecht also das sich einer Zweiteilung entzieht 12 und eine Identifikation mit keinem oder mehr Geschlechtern ermöglicht. 13 Die erste Repräsentationsoption besteht im »Verzicht auf identifi- 14 zierbare Bilder von Frauen und Männern« (ebd.) Visuelle Bilder und 15 geschlechtlich zuordenbare Stimmen müssten demnach beispielsweise 16 Grafiken oder computergenerierten Figuren, denen kein Geschlecht zuge- 17 wiesen ist, weichen. Treffende Beispiele hierfür liefert die Musikerin* und 18 Performance-Künstlerin* planningtorock in ihren Musikvideos, in denen 19 sich weder Stimme noch Äußeres einem Geschlecht zuordnen lassen. Sie 20 arbeitet mit visueller sowie akustischer Verfremdung und präsentiert sich 21 in ihren Videoclips als Hybridform zwischen außerirdischem Wesen und 22 anders künstlicher Figur, jedoch nie einem Geschlecht zuordenbar. Ge- 23 schlechtergrenzen stellt planningtorock komplett auf den Kopf, womit 24 ihr eine Neudefinition des Geschlechts bzw. die Erfindung eines weiteren 25 Geschlechts gelingt. 26 Die zweite mögliche Strategie ergibt sich aus einer identischen (audio) 27 visuellen Repräsentationsweise von Mann* und Frau*. Damit ist die gleich- 28 berechtigte auditive bzw. visuelle Inszenierung der beiden Geschlechter ge- 29 meint, die ähnliche Körpersprache, Gestiken oder Stimmlagen vor­weisen. 30 Innerhalb dieser Unterstrategie spielt die erotische Darstellung keine Rolle 31 und lässt daher die Geschlechterhierarchie obsolet erscheinen. Als Beispiel 32 hierfür steht die Band Easter. Die Protagonistin* singt schleppend und in 33 tiefer Tonlage den gleichnamigen Titel des Musikvideos Ur A Great Babe, 34 während ihr Kollege und sie auf visueller Ebene mit ihren minimalen 35 Handlungen, wenig Gestik und Mimik sowie viel Dunkelheit geschlechts- 36 neutral wirken oder zumindest die Geschlechterhierarchien stark in den 37 Hintergrund gerückt werden. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 347 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anna-Leena Lutz

1 Noch stärker am binären Geschlechterkonstrukt rüttelt die dritte Ver- 2 fahrensmöglichkeit. Sie orientiert sich an der androgynen Repräsentations- 3 strategie, bedient sich der optischen Vermischung allerdings weitaus exzes- 4 siver. Sie sorgt für die »Vermischung von äußerst differenten weiblichen 5 und männlichen Zeichen […]« (ebd., S. 140). 6 Wie bereits im Abschnitt »Androgyne Annäherung an die Geschlechter­ 7 grenze« geschildert, irritiert J. D. Samson, Musikerin* der Bands Le Tigre 8 und Men, etwa als androgyne, oder wie sie sich selbst beschreibt, als non- 9 binäre Figur in ihren Musikvideos: schmächtig, mit kurzem Haar, Schnauz- 10 bart, maskulinem* Kleidungsstil und geschlechtsneutralen Gesten bei 11 gleichzeitig hell klingender Stimme. Im Musikvideo Who Am I To Feel So 12 Free von Men steht J. D. Samson statisch auf einem Berggipfel, was an das 13 Gemälde Der Wanderer über dem Nebelmeer von Caspar David Friedrich 14 erinnert. Sukzessive beginnt die Annäherung der Kamera. Bei ihr angekom- 15 men wird sichtbar, wie sich auf Höhe ihres Geschlechtsteils ein Leuchtturm 16 aufrichtet und schließlich eine Eruption mit goldenem Konfetti hervorruft. 17 Auf humorvolle Weise erfindet sie im eben beschriebenen Musikvideo den 18 weiblichen* Phallus, der als Symbol für Kraft und Macht und als Inkor- 19 porierung der Männlichkeit* (und Weiblichkeit*) gelesen werden kann. 20 Folglich bleibt die Zweigeschlechtlichkeit nicht immanent, wodurch Platz 21 für die Eigenständigkeit der Geschlechtsidentitäten entsteht. Orientiert 22 an Butler zweifelt J. D. Samson damit die Existenz einer eindeutigen oder 23 wahren Geschlechtsidentität an und stellt den traditionellen Geschlechter- 24 dualismus infrage. 25 Häufig entsteht diese Vermischung der Geschlechter auch durch tech- 26 nische Hilfsmittel, die den Körper in seine Einzelteile »zerstückeln« und 27 mit solchen des anderen Geschlechts wieder zusammensetzen, auf musika- 28 lischer Ebene beispielsweise durch Verfremdung der eigenen Stimme. Im 29 Musikvideo Clap Your Hands der Musikerin* Sia changiert sie als Puppe, 30 fragmentiert zwischen lasziver Königin*, gewissenhafter Bauarbeiterin*, 31 Pilotin*, unbeholfenem Vogel, der von einem goldenen Wesen mit Flügeln 32 gefressen wird, bis hin zur »Südseeschönheit«, die in einen rosa Frosch 33 verwandelt wird. Sie wechselt dabei nicht nur zwischen den Geschlechtern 34 und vermischt Feminität* auf äußerst irritierende Weise mit Maskulinität*, 35 sondern verdinglicht oder entmenschlicht sich gleichzeitig und lässt damit 36 Spielraum für die Vielfalt der Geschlechterdarstellung entstehen. 37 Die Bisexualität stellt die vierte Repräsentationsmöglichkeit dar. Als Re- 38 präsentationsoption unterscheidet sie nicht zwischen Hetero- und Homo­

348 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo sexualität, sondern lässt beides gleichermaßen zu. Bechdolf merkt hier an, 1 dass die Begrifflichkeit Multi- oder Polysexualität an dieser Stelle noch 2 passender wären (vgl. ebd., S. 141). In Kylie Minogues Videoclip All The 3 Lovers zeigt sich ein stetig größer werdendes sich liebkosendes halb­nacktes 4 Menschenknäuel, mit ihr auf der Spitze. Die Austauschbarkeit der Ge- 5 schlechter sowie die Nebensächlichkeit der sexuellen Orientierung stehen 6 hier im Mittelpunkt. 7 8 9 Resümee 10 11 Wie sich zeigt, gibt es aktuell einige Musikvideo-Beispiele, die zur Dekon- 12 struktion des Weiblichen* beitragen können. Die große Mehrheit aber be- 13 schäftigt sich nur am Rande oder (noch) gar nicht mit der Frage nach Ge- 14 schlechtergerechtigkeit bzw. der Aufhebung der Dichotomie Mann*/Frau*. 15 Die vorangegangenen Musikvideos jedoch wirken am geschlechter- bzw. 16 weiblichkeits*kritischen Diskurs mit. Zum einen gelingt ihnen mindes- 17 tens anti-stereotypische Frauen*bilder und männer*dominierte Strukturen 18 sichtbar zu machen, zum anderen die Befreiung des Geschlechts aus seinem 19 gesellschaftlich fest verankerten Zweigeschlechtersystem. 20 Emanzipatorische Weiblichkeits*darstellungen und Geschlechter- 21 Indifferenz in Musikvideos aufzuzeigen, könnte möglicherweise gerade 22 beim jungen Publikum Einfluss auf bestehende Geschlechterbilder haben, 23 da Musiker*innen eine nicht unerhebliche Vorbildfunktion für ihre An­ 24 hänger*innen erfüllen. Wie viel Einfluss diese Musiker*innen mit ihren 25 Video ­clips tatsächlich auf die Auflösung der Geschlechterstereotype haben, 26 muss hier allerdings unbeantwortet bleiben. Allerdings ist auch der Einfluss 27 des Mediums Musikvideo auf gesellschaftliches Handeln und Denkpro- 28 zesse nicht zu unterschätzen. Musikvideos können möglicherweise den Ge- 29 schlechterdiskurs besser vorantreiben als konfrontative theo­re­tische Femi- 30 nismus- und Gender-Diskussionen. Gleichzeitig sollte man im Hinter­kopf 31 behalten, dass eben diese Theorien es den Musiker*innen erst in ­größerer 32 Breite ermöglichen, die Geschlechterordnungen und -­differenzen zu durch- 33 brechen. Die theoretischen Grundlagen und das praktische Streiten haben 34 dazu beigetragen, dass sich Musikerinnen* heute trauen, etwas auszuprobie- 35 ren und selbstverständlich auch böse, wüst und wild zu sein. 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 349 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Anna-Leena Lutz

1 Literatur 2 APA (2007). Report of the APA Task Force on the Sexualization of Girls. Washington, D. C.: 3 American Psychological Association. 4 Bechdolf, U. (1998). Männlich vs. Weiblich? In D. Beinzger, S. Eder, R. Luca & R. Röllecke 5 (Hrsg.), Im Wyberspace. Mädchen und Frauen in der Medienlandschaft [Schriften zur Medienpädagogik, Bd. 26] (S. 124–136). Bielefeld: GMK. 6 Bechdolf, U. (1999). Puzzling Gender. Re- und De-Konstruktionen von Geschlechterverhält- 7 nissen im und beim Musikfernsehen. Weinheim: Deutscher Studienverlag. 8 Bublitz, H. (2002). Judith Butler zur Einführung. Hamburg: Junius. 9 Distelhorst, L. (2009). Judith Butler. Paderborn: Wilhelm Fink. Götz, M. & Eckhardt Rodriguez, A. (2017). I Just Want to Look Good for You. Stereotypes 10 in Music Videos and How to Overcome the Self-Evident Sexism in Germany. In 11 D. Lemish & M. Götz (Hrsg.), Beyond the Stereotypes? Images of Boys and Girls, and 12 their Consequences (S. 119–130). Göteborg: Nordicom. 13 Hartmann, J. (2002). Vielfältige Lebensweisen. Dynamisierungen in der Triade Geschlecht- Sexualität-Lebensform. Kritisch-dekonstruierte Perspektiven für die Pädagogik. 14 ­Opladen: Leske + Budrich. 15 Hentsch, F. (2014). Universität Leipzig. Heftige Reaktionen auf die weibliche Form. Köln: 16 Deutschlandfunk. https://www.deutschlandfunk.de/universitaet-leipzig-heftige- 17 reaktionen-auf-die-weibliche.680.de.html?dram:article_id=294077 (31.01.2019). Kroll, R. (Hrsg.). (2002). Metzler Lexikon. Gender Studies Geschlechterforschung. Ansätze – 18 Personen – Grundbegriffe. Stuttgart u. Weimar: J. B. Metzler. 19 Mulvey, L. (1994). Visuelle Lust und narratives Kino. In L. Weissberg (Hrsg.), Weiblichkeit 20 als Maskerade (S. 48–65). Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch. 21 Mulvey, L. (1975). Visual Pleasure and Narrative Cinema. Screen 16(3), 6–18. Neumann-Braun, K. & Mikos, L. (2006). Videoclips und Musikfernsehen. Eine problem­ 22 orientierte Kommentierung der aktuellen Forschungsliteratur [Schriftenreihe 23 Medien ­forschung der LfM, Bd. 52]. Berlin: Vistas. 24 Prommer, E. & Linke C. (2017). Audiovisuelle Diversität? Geschlechterdarstellungen in 25 Film und Fernsehen in Deutschland. Kurzbericht Rostock: Philosophische Fakultät, Institut für Medienforschung. 26 Queer Lexikon (o. J.). https://queer-lexikon.net/wp/2017/06/15/androgyn/ (31.01.2019). 27 Reynolds, S. & Press, J. (1995). The Sex Revolts. Gender, Rebellion, and Rock ‘n’ Roll. Cam- 28 bridge: Harvard University Press. 29 Schach, C. (2006). Dancing Queen & Ghetto Rapper. Die massenmediale Konstruktion des »Anderen«. Eine systemtheoretische Analyse der hegemonialen Diskurse über Ethni- 30 zität und Geschlecht in populären Musikvideos [Reihe Medienwissenschaft, Bd. 12]. 31 Herbolzheim: Centaurus Verlag. 32 Schuegraf, M. & Smykalla, S. (2010). Zwischen Popfeminismus und Mainstream – Insze- 33 nierungsstrategien von KünstlerInnen im Musikvideoclip. In N. Degele, S. Schmitz, M. Mangelsdorf & E. Gramespacher (Hrsg.), Gendered Bodies in Motion (S. 163– 34 183). Opladen & Farmington Hills: Budrich UniPress. 35 Vorderer, P. & Zillmann, D. (2000). Media Entertainment: The Psychology of Its Appeal. 36 Mahwah: Lawrence Erlbaum Associates Publishers. 37 38

350 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Die Dekonstruktion des Weiblichen* im zeitgenössischen Musikvideo

Die Autorin 1 Anna-Leena Lutz studierte im Bachelor Kultur- und Medienpädagogik und beendete ihr 2 anschließendes Studium der Angewandten Medien- und Kulturwissenschaft mit der 3 Masterarbeit »Repräsentationsstrategien zur Dekonstruktion des Weiblichen im zeitge- 4 nössischen Musikvideo«. Sie arbeitete als ausgebildete Buchhändlerin in Augsburg und 5 Berlin und 2012 als Pädagogin in der Abteilung für frühkindliche Bildung im Brooklyn Children’s Museum in New York City. Heute arbeitet sie als freie Kulturpädagogin haupt- 6 sächlich mit Mädchen*gruppen und plant für 2019 ein Girls Rock Camp in Leipzig. Sie 7 spielt Schlagzeug, seit sie 14 Jahre alt ist, seit 2009 bei der Band Half Girl. Ihre einjährige 8 Tochter Holly ist eine hoffnungsvolle Nachwuchsdrummerin. 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 351 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen 1 auf Pornografie 2 3 Qualitative Analyse eines Onlineforums 4 5 Melissa Büttner 6 7 8 »Es ist wichtig, denn es ist ein Teil unserer Gesellschaft. So 9 sehr die Leute auch nicht wahrhaben wollen, dass Porno­ 10 grafie nicht Teil unserer Kultur sei, sie ist es doch! 11 Erika Lust1 12 13 Einleitung 14 15 Pornografie befindet sich in einem Spannungsfeld aus Tabuisierung und Nor- 16 malisierung: Obwohl ein erheblicher Anteil der Bevölkerung häufig Porno- 17 grafie konsumiert, bleibt es ein schambesetztes Thema, über das die wenigsten 18 Menschen gern offen reden (vgl. Aude & Matthiesen, 2012, S. 19). Wie die 19 feministische Filmemacherin Erika Lust im obigen Zitat beschreibt, gehört 20 Pornografie, trotz aller Widerstände und Scham, zu unserer Gesellschaft. 21 Dabei prägt sie besonders die sexuelle Sozialisation Jugendlicher. Schließ- 22 lich kommen Jugendliche heutzutage aufgrund der freien Verfügbarkeit im 23 Internet schon sehr früh mit Pornografie in Kontakt. Das wissenschaftliche 24 Interesse an Pornografie, gekoppelt mit Fragen zu Konsum, Auswirkungen 25 sowie Einstellungen, ist in den letzten Jahren gestiegen. Spätestens mit Er- 26 scheinen der FachzeitschriftPorn Studies im Jahr 2014 hat sich das Thema im 27 wissenschaftlichen Diskurs fest etabliert. Gerade der Pornografiekonsum von 28 Jugendlichen rückte dabei ins Zentrum der medialen wie wissenschaftlichen 29 Aufmerksamkeit: Welche Auswirkung haben diese Filme auf die sexuelle 30 Entwicklung junger Menschen? Dieser Frage wurde teils mit großer Besorg- 31 nis nachgegangen (vgl. Hill, 2011; Schetsche & Schmidt, 2010; Stuhlhofer 32 et al., 2010). Der Fokus der Forschung hat sich in den letzten Jahren weg von 33 34

1 Interview mit Erika Lust (vgl. McClure, 2012). Original: »It’s important because it’s part 35 of our society. As much as people don’t want to think that porn is part of our culture, it 36 is!« Sämtliche englische Zitate wurden von den Herausgebenden des Sammelbandes 37 ins Deutsche übersetzt. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 353 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 der »Verwahrlosungsdebatte« (Weller, 2011, S. 8), die eine starke negative 2 Wirkung sexueller Medieninhalte postuliert, hin zu einer positiven Sicht auf 3 Jugendsexualität und Mediennutzung verschoben. Auch wird nicht mehr 4 nur nach der Wirkung von Pornografie auf den Menschen gefragt; vielmehr 5 stehen Fragen darüber, was Menschen mit Pornografie machen, wie sie sie 6 nutzen und erleben, im Vordergrund (vgl. Attwood, 2005, S. 65). 7 Der vorliegende Beitrag begibt sich in dieses Forschungsfeld und geht 8 der Frage nach, wie junge Frauen bzw. Mädchen im Internet über Pornogra- 9 fie diskutieren. Der Fokus wurde dabei auf die weibliche Perspektive gelegt, 10 da diese in der Forschung stark unterrepräsentiert ist und Frauen nur in den 11 wenigsten Studien als aktive, selbstbestimmte Konsumentinnen betrachtet 12 werden (vgl. Ciclitira, 2004, S. 186). Ziel dieser Arbeit ist es herauszufinden, 13 welche unterschiedlichen Haltungen zu Pornografie von jungen Frauen ge- 14 äußert werden und welche Rolle dabei Geschlechterstereotype spielen bzw. 15 welche Vorstellungen von Geschlecht überhaupt existieren und verhandelt 16 werden. Zudem soll der Einfluss verschiedener feministischer Strömungen 17 auf die Meinungsbildung beim Thema Pornografie und Sexualität herausge- 18 arbeitet werden. Um einen möglichst tiefen und gleichzeitig wenig verzerr- 19 ten Einblick zu bekommen, wurden dafür Diskussionen aus dem Forum 20 maedchen.de mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet. 21 22 23 Pornografie, Geschlecht und Feminismus 24 25 »Feminismus scheint bei Frauen einen gewichtigen Einfluss auf den Blick 26 und die Präsenz von Pornografie in ihrem Leben zu haben, wobei dieser 27 Einfluss oftmals komplex und schwierig ist«2 (Attwood, 2005, S. 73). In 28 den letzten 40 Jahren wurde Pornografie von verschiedenen Feminist_innen 29 aufgegriffen und heftig diskutiert: auf der einen Seite die Anti-Pornografie- 30 Position, die für eine Zensur – bzw. eine Möglichkeit zur zivilrechtlichen 31 Verfolgung von Pornografieproduzent_innen – eintritt (vgl. Penely et al., 32 2014, S. 16). Zentrale Figuren sind Andrea Dworkin und Catharine Mac­ 33 Kinnon sowie im deutschsprachigen Raum Alice Schwarzer, die Porno­ 34 grafie als frauenverachtende »Propagierung von Sexualgewalt« (Schwarzer, 35 1990, S. 181) sehen. Im Zuge der Verbreitung des Internets und der Online- 36 37 2 Original: »Feminism appears to have made a strong impact in women’s views of porn, 38 and on its presence in their lives, often in complex and difficult ways.«

354 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

Pornografie erstarkte die Anti-Pornografie-Debatte zu Beginn der 2000er 1 wieder (vgl. Ciclitira, 2004, S. 283). 2 Auf der anderen Seite existiert eine Pro-Pornografie-/Anti-Zensur- 3 Haltung, die sich für einen offenen Diskurs über (weibliche) Sexualität 4 und einen freien Markt für Pornografie, in dem Frauen als selbstbestimmte 5 Produzentinnen und Konsumentinnen angesehen werden, einsetzt (vgl. 6 Segal, 1993, S. 96). Durch feministische Debatten wurde eine neue Per- 7 spektive auf Sexualität und Pornografie eröffnet: Erst durch die Kritik an 8 Pornografie und eine feministische Auseinandersetzung damit konnte eine 9 geschlechterdifferenzierte Perspektive entstehen, die auf die Verwicklung 10 von pornografischen Darstellungen und Geschlecht aufmerksam macht. 11 Inwiefern diese Ansätze auch in Online-Diskussionen von jungen Frauen 12 heute sichtbar sind, wird im Laufe dieses Beitrags beleuchtet. 13 Das theoretische Analyseinstrument dieses Beitrags ist das Konzept des 14 doing gender, das auf einem interaktionstheoretischen Ansatz basiert. Ent- 15 scheidend ist die Frage, wie Geschlecht in sozialen Situationen hervorge- 16 bracht und konstruiert wird (vgl. Gildemeister & Hericks, 2012, S. 198). Das 17 Geschlecht ist eines der zentralen Disktinktionsmerkmale in den meisten 18 Gesellschaften und wird in vielen Alltagssituationen zu einer relevanten Ka- 19 tegorie. Garfinkel spricht in diesem Zusammenhang von der Omnirelevanz 20 von Geschlecht, also von dessen Unvermeidbarkeit (vgl. Garfinkel, 1967, 21 S. 183). Hirschauer widerspricht und relativiert die These der Omnirelevanz, 22 indem er behauptet, dass nach einer anfänglichen Zuweisung des Gegenübers 23 die Kategorie auch wieder in den Hintergrund treten oder gar neutralisiert 24 werden kann (undoing gender) und somit nicht mehr als relevant mitgedacht 25 wird (vgl. Hirschauer, 1989, S. 100). Inwiefern Geschlecht eine relevante 26 Kategorie ist und inwiefern sie in den Diskussionssträngen des Datensatzes 27 zurücktreten wird, wird sich bei der Datenanalyse zeigen. 28 29 30 Jugendliche und Pornografie – 31 Ein Überblick über den Forschungsstand 32 33 Der Pornografiekonsum gehört zu den wenigen Faktoren des sexuellen 34 Verhaltens junger Menschen, der sich in den letzten Jahrzehnten deutlich 35 verändert hat (vgl. Dekker & Matthiesen, 2015, S. 245).3 Die auffälligste 36 37 3 Unter »jungen Menschen« wird hier die Altersgruppe der unter 30-Jährigen verstanden. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 355 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 Veränderung ist dabei der Anstieg des Konsums im Zuge der Verbreitung 2 des Internets, wobei drei Faktoren entscheidend sind: anonymity, afford­ 3 ability und accessability (Anonymität, Erschwinglichkeit und Zugänglich- 4 keit), auch als »triple A-engine« (Döring, 2008, S. 294, Hervorh. i. O.) 5 bekannt.4 6 In zahlreichen Studien wurde versucht, Pornografiekonsum exakt zu 7 quantifizieren, wobei auffällt, dass sich die Zahlen teilweise stark vonein- 8 ander unterscheiden, was nicht zuletzt an unterschiedlichen Definitionen 9 von Pornografie liegt (vgl. Altstötter-Gleich, 2006, S. 8).5 Nichtsdestotrotz 10 soll ein kurzer Überblick über die neusten Forschungsergebnisse verschie- 11 dener Studien aus Deutschland gegeben werden: Im Alter von 15 bis 19 12 Jahren haben 90 % Jungen und 68 % der Mädchen laut der Studie Partner 4­ 13 bereits mindestens einmal einen Porno gesehen, wobei eine habituelle 14 Nutzung bei 61 % der Jungen und 15 % der Mädchen festzustellen ist (vgl. 15 Weller, 2013, S. 7). Die Dr.-Sommer-Studie der Zeitschrift Bravo liefert 16 ähnliche Zahlen: Laut dieser sind 95 % der Jungen und 69 % der Mädchen 17 bereits mit Pornos in Kontakt gekommen (vgl. Bravo, 2016). Männliche 18 Studierende gaben in einer retrospektiven Befragung an, als Jugendliche 19 mehrheitlich ab etwa 16 Jahren »eher oft« oder »oft« Pornos angese- 20 hen zu haben. Für das Alter 14 bis 16 Jahre nannten nur rund 30 % diese 21 Häufigkeit. Junge Frauen gaben mit unter 10 % erst ab 16 Jahren überhaupt 22 Konsum an, allerdings mit steigender Tendenz im Lauf der Lebenszeit. Es 23 sind also starke Geschlechterunterschiede und ein Anstieg des Konsums 24 mit dem Alter zu erkennen. 85 % der Studenten machten in dieser Studie 25 die Angabe, in den letzten vier Wochen Pornos gesehen zu haben, bei den 26 Studentinnen waren es 23 % (vgl. Dekker & Matthiesen, 2015, S. 263). Laut 27 Matthiesen sehen die Hälfte der Jungen und etwa 15 % der Mädchen ihren 28 ersten Porno vor dem 13. Lebensjahr. Bis zu einem Alter von 19 Jahren 29 haben dann 8 % der Mädchen und 80 % der Jungen mehr als sporadischen 30 Kontakt mit Pornografie (vgl. Matthiesen, 2013, S. 24). Zusammenfas- 31 send lässt sich sagen, dass die große Mehrheit der Jugendlichen im Laufe 32 des Teenageralters mit Pornografie konfrontiert wird und die Mehrheit der 33 34 4 Gemeint ist damit, dass die Verbreitung des Internets dazu geführt hat, dass Pornografie 35 anonym zugänglich, erschwinglich (wenn nicht kostenlos) und einfach ohne Hürden zu- 36 gänglich ist, was auf die Nutzung von Pornografie eine katalysatorische Wirkung hat. 37 5 Die Arbeitsdefinition von Pornografie für diese Untersuchung wird zu Beginn des Ab- 38 schnitts »Ergebnisse und Diskussion« vorgestellt.

356 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

Jungen sie habituell (als Masturbationsvorlage) nutzt, wohingegen nur die 1 wenigsten Mädchen Pornografie häufig konsumieren. 2 Diese Geschlechterunterschiede finden sich auch in der Einstellung zu 3 Pornografie wieder: Auf der weiblichen Seite werden mehr negative Ge- 4 fühle wie Ekel oder Abneigung artikuliert, wohingegen Jungen häufiger 5 Interesse, Belustigung und Erregung deutlich machen (vgl. Bravo, 2016; 6 Weller, 2013; Matthiesen, 2011). Interessant dabei ist, dass die Haltung mit 7 zunehmendem Alter und steigender sexueller Erfahrung positiver und ent- 8 spannter wird. Die Mehrheit der Jugendlichen steht Pornografie gelassen 9 gegenüber, fühlt sich also nicht verängstigt oder verunsichert (vgl. Weller, 10 2013, S. 7). Trotzdem sind die Reaktionen auf das Gesehene sehr breit ge- 11 fächert und liegen zwischen den Extremen Ekel/Abneigung und Erregung/ 12 Interesse oder Neugierde (vgl. Altstötter-Gleich, 2006, S. 44; Häggström- 13 Nordin et al., 2006, S. 391). Diese Gegensätze entsprechen Wellers Plura- 14 lisierungs- und Polarisierungsthese: Die Meinungen sind zwar breiter ge- 15 streut und vielfältiger als früher, aber gleichzeitig auch extremer und stark 16 polarisiert (vgl. Weller, 2011, S. 11). 17 Aus diesem Überblick lassen sich nun folgende Schlüsse ziehen: E­ rstens: 18 Pornografie gehört heute selbstverständlich zur sexuellen Umwelt von 19 Jugendlichen. Es gibt einen »mainstreaming of porn« (Döring, 2011, 20 S. 229), eine steigende Präsenz des Themas, das zunehmend gelassener 21 betrachtet wird, was auch unter dem Begriff »normalisation of porn« 22 (Knudsen, 2008, S. 10), also Normalisierung von Pornografie, diskutiert 23 wird. Zweitens: Die Geschlechterunterschiede im Nutzungsverhalten sind 24 groß, wobei dieser Gendergap auch in der Einstellung deutlich wird. 25 Auf zwei der oben bereits erwähnten Studien wird nun noch einmal 26 näher eingegangen. Um dieses komplexe Phänomen besser zu verstehen, 27 bedarf es qualitativer Sozialforschung, die eine tiefer gehende Analyse er- 28 möglicht. Silja Matthiesen führte 2009 eine Studie mit leitfadengestützten 29 Interviews mit 160 Jugendlichen aus Hamburg und Leipzig durch (vgl. 30 Matthiesen, 2013). Als zentrales Ergebnis in Bezug auf Pornografie werden 31 hier die Geschlechterunterschiede dargestellt, die schon oben beschrieben 32 wurden. Mädchen schauen selten Pornos und wenn, dann weil sie zufällig 33 darauf gestoßen seien. »Mädchen funktionalisieren Pornos, wenn sie sie al- 34 leine sehen, so gut wie nie für die Masturbation […] Für die meisten jungen 35 Frauen sind Pornos nicht erregend« (ebd., S. 150). Die Einstellungen zu 36 Pornografie werden in drei Gruppen zusammengefasst und quantifiziert: 37 ablehnend (25 %); liberal, aber desinteressiert (50 %); liberal, ­aufgeschlossen 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 357 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 und neugierig (25 %). Der Gendergap wird kurz thematisiert: »Jungen und 2 Mädchen inszenieren sich hier als deutlich differente Sexualwesen«, Pornos 3 werden als »Jungssache« (ebd., S. 153) wahrgenommen. Die Haltung der 4 Mädchen wird dabei einerseits an einigen Stellen sehr differenziert be- 5 schrieben, andererseits reproduziert die Studie gängige geschlechterspezi- 6 fische Vorstellungen von Pornografiekonsum, indem als zentrales Ergebnis 7 der Gendergap und nicht die Vielseitigkeit der Haltungen hervorgehoben 8 wird. Des Weiteren können noch zwei Kritikpunkte angebracht werden: 9 Generalisierungen, die in der Studie zuhauf suggeriert werden, sind unzu- 10 lässig, weil die vermeintliche Stichprobe zum einen nur aus Jugendlichen 11 aus zwei Großstädten besteht und zum anderen ein self-selection bias6 nicht 12 auszuschließen ist, da es sich nicht um eine zufällige Stichprobe handelt. 13 Die Teilnehmenden sind deshalb nicht als repräsentative Abbildung der 14 deutschen Jugendlichen zu sehen. Zudem dürften Interviewer_innen­ 15 effekte und soziale Erwünschtheit eine nicht zu vernachlässigende Rolle 16 gespielt haben, was kaum reflektiert wird. Sozial erwünschtes Antwortver- 17 halten ist im Bereich der Sexualität besonders relevant, da die Verzerrung 18 geschlechterspezifisch sein kann und sich somit doppelt verstärkt: Junge 19 Frauen antworten in dem Sinne sozial erwünscht, dass sie eher nicht zu­ 20 geben würden, Pornografie zu konsumieren. Bei jungen Männern ist genau 21 das Gegenteil der Fall. Deshalb sind gerade in diesem Bereich nicht-reak- 22 tive Forschungsmethoden vonnöten. 23 Diese Problematik greift Nicola Döring auf, indem sie Onlineforen als 24 Forschungsfeld wählt und untersucht, wie Frauen und Männer hier über 25 Pornografie diskutieren. Dabei wurden 400 Diskussionsstränge aus vier 26 Foren betrachtet und mittels quantitativer und qualitativer Inhaltsanalyse 27 nach Themenwahl, Meinung, Bedeutung und Präsenz von Pornografie aus- 28 gewertet (vgl. Döring, 2013). Die Studie ergab, dass Pornografie ein wich- 29 tiges, viel diskutiertes, wenn auch nicht dominierendes Thema in Online- 30 foren ist (vgl. ebd., S. 312). Döring betont die Vielfalt der Meinungen und 31 Themen sowie einen hohen Grad an Reflexion und Medienkompetenz, 32 letzteres besonders bei Jugendlichen; zudem seien dort die Aussagen we- 33 niger geschlechterdifferent (vgl. ebd., S. 325f.). Döring verweist auf einen 34 zusätzlichen Bedarf an Onlineforen-Analysen, sowohl quantitativ als auch 35 36 6 Der Begriff self-selection bias (Verzerrung durch Selbstselektion) beschreibt eine poten- 37 ziell systematische Verzerrung der Daten, wenn die Stichprobe nicht zufällig gezogen 38 wird, sondern durch willkürliche Stichprobenziehung zustande kam.

358 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie qualitativ. Der vorliegende Beitrag soll diesem Bedarf entgegenkommen. 1 Dabei wird hier detaillierter, deshalb auch mit einem deutlich kleineren 2 Datensatz, gearbeitet als in Dörings Untersuchung, da es sich um eine rein 3 qualitative Auswertung handelt. 4 5 6 Methodik 7 8 Onlineforen sind heutzutage ein viel genutztes Medium zum anonymen 9 Austausch im Internet. Das gesellschaftliche Potenzial von Onlineforen ist 10 gerade im Bereich der Sexualität nicht zu unterschätzen: Sie ermöglichen 11 Austausch und Lernen, geben gerade Minoritäten eine anonyme Stimme, 12 können bei der Sexualaufklärung helfen und tragen zur Identitätskonstruk- 13 tion von Jugendlichen bei, da sie sich hier mit sich selbst und der Meinung 14 anderer auseinandersetzen und ihre eigenen Einstellungen reflektieren und 15 artikulieren können (vgl. Tillmann, 2008, S. 143). 16 Für die empirische Sozialforschung sind Onlineforen eine wichtige 17 und vorteilhafte Datenquelle. So hat die Analyse von Onlineforen als 18 nicht-reaktive Methode den großen Vorteil, dass hier keine Verzerrung 19 der Daten durch sozial erwünschtes Antwortverhalten oder sonstige In- 20 terviewer_inneneffekte zustande kommen.7 Allerdings müssen auch die 21 Nachteile der Methode und damit die Grenzen dieser Forschung klar be- 22 nannt werden. Problematisch ist dabei vor allem die Zusammensetzung 23 der Nutzer_innen, da es sich um eine »mehrfach selektierte spezielle 24 Bevölkerungsgruppe [handelt,] […] über deren soziodemografische und 25 sonstige Merkmale wenig bekannt ist« (Döring, 2013, S. 327). Somit 26 können Aussagen aus dieser Arbeit nicht generalisiert werden, da nicht 27 davon auszugehen ist, dass die hier untersuchten Jugendlichen repräsen- 28 tativ für alle Jugendlichen in Deutschland sind – zumal letztendlich über 29 die Identität der Nutzer_innen kaum Aussagen gemacht werden können 30 und diese auf anonymen Online-Profilen basieren. Um forschungsethische 31 Probleme, vor allem bezüglich der Anonymität, zu vermeiden, wurden alle 32 Nutzer_innen anonymisiert.8 33 34

7 Soziale Erwünschtheit existiert aber im Kontext des Forums, ist also zwar vorhanden, 35 aber nicht erzeugt durch die gewählte Erhebungsmethode. 36 8 Für eine ausführliche Diskussion forschungsethischer Fragen siehe Döring (2013, S. 311; 37 2003, S. 239). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 359 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 In diesem Beitrag werden Diskussionsstränge (Threads) der Seite 2 ­maedchen.de analysiert. Dieses Forum wurde ausgewählt, weil es das ein- 3 zige größere Forum ist, das sich explizit an ein junges, weibliches Publi- 4 kum richtet und frei einsehbar ist. Es muss hier aber angemerkt werden, 5 dass nicht nur weibliche Nutzer_innen im Forum aktiv sind, sondern auch 6 zahlreiche männliche Profile existieren. Im Forum wurden alle Threads her- 7 ausgesucht, die sich mit dem Thema Pornografie befassen und deren letzter 8 Post nicht älter als drei Jahre ist. So konnte eine umfassende, aber nicht zu 9 große Datenmenge generiert werden, die zugleich sehr aktuell ist. Insge- 10 samt umfasst das Datensample 31 Threads, bestehend aus ca. 65.000 Wör- 11 tern, wobei über 550 verschiedene Nutzer_innen beteiligt sind. Die Daten 12 wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring mit der Software 13 MAXQDA ausgewertet (vgl. Mayring, 2015). 14 15 16 Ergebnisse und Diskussion 17 18 Der Präsentation und Diskussion der Ergebnisse sollten einige Über- 19 legungen vorangestellt werden: Zunächst gilt es, den Begriff Pornografie 20 für diese Arbeit zu definieren, was kein einfaches Unterfangen ist. In der 21 Literatur finden sich zahlreiche unterschiedliche Ansätze, aus denen zwei 22 Schlüsse zu ziehen sind. Erstens: Unter Pornografie werden stets sowohl 23 Texte und Bilder als auch Videos verstanden. Zweitens: Was allerdings 24 als pornografischer Inhalt angesehen wird, ist letztlich sehr subjektiv 25 (vgl. Schetsche & Lautmann, 1999, S. 887; MacKinnon, 1987, S. 176; 26 ­Knudsen et al., 2008, S. 9). Bei der Analyse der Daten zeigt sich, dass 27 im Forum ein anderes Pornografieverständnis vorherrschend ist: Unter 28 Pornos/Pornografie werden beinahe ausschließlich Pornofilme – manch- 29 mal noch pornografische Bilder –, aber keine Pornoromane oder erotische 30 Literatur verstanden. Diese Filme müssen nicht zwingend erregend sein, 31 sondern zeichnen sich nur durch das visuelle Darstellen explizit sexueller 32 Inhalte aus. 33 Zudem sollte vorab die untersuchte Gruppe kurz beschrieben werden, 34 was sich als komplexe Aufgabe gestaltet, da relevante Informationen zu 35 soziodemografischen Daten nicht immer preisgegeben werden und deren 36 Richtigkeit nicht überprüft werden kann. Trotzdem können einige knappe 37 Aussagen gemacht werden: Zuallermeist handelt es sich um Frauen und 38 Mädchen – die Aussagen der Jungen werden in der Analyse gesondert

360 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie betrachtet –, die zwischen 13 und 28 Jahren alt sind, wobei die meisten 1 Nutzer_innen vermutlich 16 bis 21-jährig sind.9 2 Die Themen der 31 Threads sind breit gefächert: Ein Drittel der Threads 3 befasst sich mit dem Pornokonsum des Partners und der damit verbundenen 4 Frage, welche Rolle Pornografie grundsätzlich in Beziehungen einnehmen 5 kann und sollte. Zudem gibt es viele, oft von Jungen initiierte Threads zu 6 dem Thema, wie Mädchen zu Pornografie stehen und was von ihnen präfe- 7 riert wird. Drei Threads befassen sich mit dem Thema Sucht(gefahren). Des 8 Weiteren gibt es noch Threads mit praktischen Fragen, etwa nach Altersbe- 9 schränkungen, Legalität, Lernen durch und Nachstellen von Pornos. Zudem 10 werden noch einige eher scherzhafte Themen diskutiert, wie Meinungen zu 11 Promipornos und Umfragen, welche Hautfarbenkombinationen der Dar- 12 steller_innen bevorzugt werden. 13 14 15 Haltungen zu Pornografie 16 17 Die Frage nach der Haltung von Mädchen zu Pornografie ist eines der 18 zentralen Themen, das immer wieder in den Diskussionen auftaucht. In 19 einem Thread stellt ein männlicher Nutzer diese Frage und nutzt dabei das 20 Umfrage-Tool, wobei 146 Mädchen antworten (vgl. Abb. 1).10 Auch wenn 21 diese Umfrage keine repräsentative Stichprobe aus dem Forum ist, so kann 22 sie doch als grobes Stimmungsbild gesehen werden. Dabei fällt auf, dass nur 23 15 % der antwortenden Mädchen Pornografie »blöd« finden und diese 24 nicht ansehen. Die überwiegende Mehrheit von über 80 % hält Pornos 25 für erregend und konsumiert sie auch. Dieser Gegensatz zu bisheriger For- 26 schung wird im weiteren Verlauf noch aufgegriffen und diskutiert. 27 Bei der inhaltsanalytischen Auswertung konnten sieben zentrale Kategorien 28 herausgearbeitet werden: (1) Wohlwollen, (2) generelle Abneigung, (3) Ab- 29 neigung gegen Konkretes, (4) Pragmatik, (5) Neugierde, (6) Desinteresse und 30 (7) Ambivalenz. Diese werden nun anhand von Textzitaten vorgestellt. 31 32 33 9 Diese Einschätzung erfolgt aus einem Thread, in dem alle Kommentierenden ihr Alter 34 posteten. Über Herkunftsort, Bildungsstand etc. lassen sich keine Aussagen machen. Hin- ter welchem Nutzerprofil letztlich welche Identität steht, lässt sich nicht herausfinden. 35 10 Interessant sind dabei schon die drei Kategorien, die er zur Auswahl stellt, denn sie im- 36 plizieren, dass Pornos nur mit erotischem Motiv konsumiert werden, Pornografiekon- 37 sum zur Belustigung, zum »Lernen« oder sonstige Motive werden dabei ausgeschlossen. 38

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1 2 3 4 5 6 7 8 9 Abb. 1: Umfrage eines Nutzers im Forum von maedchen.de 10 11 (1) Wohlwollen 12 13 »Ich schau für mein Leben gerne Pornos, ich mach keinen Hehl draus, spre- 14 che mit meinen Sexpartnern offen darüber und wir schauen sie uns auch 15 manchmal gemeinsam an« (Unbekannt11) 16 17 Viele Mädchen im Forum äußern eine sehr positive, wohlwollende Einstel- 18 lung zu Pornografie, wie das obige Zitat veranschaulicht. Pornos werden 19 hier als erregend und inspirierend empfunden. Dabei werden zahlreiche 20 positive Aspekte des Pornografiekonsums aufgezählt, wie die Möglich- 21 keit neue Anregungen zu bekommen und eigene Vorlieben besser zu ent­ 22 wickeln, das Sexualleben in Partnerschaften zu bereichern, Praktiken, die 23 man mit dem Partner nicht praktizieren kann, zumindest anzusehen und 24 so auszuleben, sowie die Funktion einer Ersatzbefriedigung – generell vor 25 allem Luststeigerung bei der Masturbation. Interessant ist, dass oftmals 26 sehr genau beschrieben wird, welche Art von Pornografie präferiert wird, 27 dass diese Vorlieben gleichzeitig sehr breit gestreut sind und beinahe alle 28 gängigen Pornogenres umfassen.12 Wie groß die Begeisterung für und der 29 Konsum von Pornografie ist, variiert stark. Allerdings ist der Enthusias- 30 mus nicht immer so ungebremst wie oben. Die meisten Textstellen lassen 31 auf einen regelmäßigen bis gelegentlichen Pornografiekonsum schließen, 32 33 34 11 User_Innen, deren Name im Forum nicht angezeigt wurde, werden hier mit »Unbe- kannt« bezeichnet. 35 12 Bei der Analyse der Vorlieben wird auch schnell klar, dass ein festgelegtes, geteiltes 36 Wissen über Pornografie und deren Subgenres unter den Nutzer_innen vorhanden ist. 37 Dieses Wissen basiert auf Begrifflichkeiten, die auf den meisten Mainstream-Seiten zu 38 finden sind.

362 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie der in verschiedenen Settings – wie allein zur Masturbation, alleine zur 1 Inspiration, mit dem Partner / der Partnerin oder unter Freund_innen – 2 stattfinden kann. Die Einstellung »Wohlwollen« ist mit 52 kodierten 3 Textstellen deutlich die am häufigsten geäußerte Haltung.13 Im Gegen- 4 satz dazu steht die Abneigung, die in 28 Textstellen zu Wort kam. Dabei 5 fiel auf, dass sich zwei Tendenzen ausmachen ließen: Zum einen die Ab­ 6 neigung gegen konkret Vorhandenes und die Abneigung gegen Porno­ 7 grafie per se. 8 9 (2) Abneigung per se 10 11 »Hab ich nie, würde ich nie. Echter Sex ist und bleibt echter Sex. Wer’s nötig 12 hat bitte. Stell ich mir amüsant vor, er/sie/es sitzt vorm Computer und … jaja. 13 Primitiv, wie die Affen im Zoo« (Unbekannt). 14 15 In diesem Zitat aus der Kategorie Abneigung per se wird deutlich, dass der 16 Userin die grundsätzliche Idee von Pornografie, nämlich sexuell explizite 17 Szenen anzusehen, abwegig erscheint und sie Pornos jedweder Art ablehnt. 18 Geäußert wird diese Haltung – in der Untersuchung – meist von Nutzer_ 19 innen, die noch keine oder sehr geringe Erfahrung mit Pornografie haben. 20 Als Gründe für die Einstellung werden negative Folgen des Konsums, wie 21 etwa ein verzerrtes Bild von Sex und eine Einschränkung der Fantasie, 22 sowie Ekel, Verachtung und kritische Reflexionen über Pro­duktions­be­din­ 23 gungen genannt. 24 25 (3) Abneigung gegen Konkretes 26 27 »Ich finde Pornos ziemlich überflüssig und vor allem meistens absolut abtur- 28 nend. Realitätsfern, meistens nicht einmal was interessantes, nur so simples 29 rein-raus, einfach totaler Non-Sense!« (Tina123) 30 31 Davon unterscheidet sich die zweite Subkategorie, die Abneigung gegen 32 Konkretes, da sich die Abneigung hier genau genommen gegen eine be- 33 34

13 Allerdings darf von der Anzahl der Textstellen nicht auf eine genaue Verteilung der Mei- 35 nungen geschlossen werden, da manche Meinungen häufiger diskutiert und genannt 36 werden und gerade Stammnutzer_innen ihre Meinung zu derselben Fragestellung 37 mehrmals und in mehreren Foren schreiben. 38

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1 stimmte Form der Pornografie richtet, die dann generalisiert wird und 2 nicht gegen die Darstellung von Sexualakten per se. Die Abneigung resul- 3 tiert aus eigener sporadischer, negativer Pornoerfahrung. Deshalb sind die 4 Gründe für die Abneigung hier auch andere und beziehen sich auf die Art 5 der Darstellung: Diese sei etwa eklig, abstoßend, unrealistisch, unerotisch 6 und frauenverachtend. Diese Unterscheidung in die beiden Subkategorien 7 ist deshalb bedeutsam, da so pornokritische Haltungen von jungen Frauen 8 differenziert erklärt werden können, denn es ist nicht immer Pornografie 9 generell, sondern die Art, wie sie gemacht wird, die nicht gefällt. 10 Zwischen Abneigung und Zustimmung liegt ein breites Meinungsspek­ 11 trum, das mit den folgenden vier Kategorien beschrieben werden soll. 12 13 (4) Pragmatik 14 15 »Es gibt gute und schlechte. Für zwischendurch ist mal so ein netter Porno 16 okay, aber regelmäßig schauen muss ich die auch nicht« (Unbekannt). 17 18 In dieser Kategorie wird eine pragmatische Haltung zu Pornografie geäu- 19 ßert: Pornografie sei grundsätzlich in Ordnung, nicht besonders gut oder 20 besonders schlecht, aber potenziell erregend und deshalb nützlich und ziel- 21 führend als Masturbationshilfe. Pornografie wird zu einer gelegentlich gern 22 genutzten Abwechslung, die aber nicht unabdingbar ist. Diese Aussagen 23 stammen vor allem von Gelegenheitsnutzerinnen von Pornografie, die sie 24 zumeist zur Masturbation gebrauchen. 25 26 (5) Neugierde 27 28 »Ich schaue manchmal welche aber dann eher aus Interesse oder Langeweile. 29 Geil werde ich von Pornos irgendwie nicht« (Freya). 30 31 Davon unterscheidet sich die Gruppe der »Neugierigen«, die Pornografie 32 zwar interessant, aber nicht erregend finden, wie im obigen Zitat der Nutze- 33 rin Freya. Pornografie wird gelegentlich genutzt, aber nicht als Masturbati- 34 onsvorlage, sondern aus Neugierde, als Informationsquelle oder Entertain- 35 ment, sei es allein oder unter Freund_innen. Hierzu gab es die wenigsten 36 (insgesamt sechs) kodierten Textstellen. 37 38

364 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

(6) Desinteresse 1 2 »Mich interessiert das einfach überhaupt nicht. Generell würde ich einfach 3 mal behaupten, dass sie mir recht egal sind und ich kein Problem damit habe, 4 wenn sich andere welche ansehen« (Flocki). 5 6 Wurde in der letzten Kategorie zumindest noch eine gewisse Neugierde 7 geäußert, so kommt nun ein generelles Desinteresse bezüglich Pornografie 8 zur Sprache. In diesem Zusammenhang wird von sporadischer oder nicht 9 vorhandener Pornografieerfahrung berichtet. Begründet wird diese Ein­ 10 stellung zumeist damit, dass entweder kein Interesse oder kein Bedürfnis 11 nach Pornografie bestehe oder dass bisher Gesehenes als langweilig und 12 nicht ansprechend empfunden wurde. Dies resultiert in Desinteresse und 13 Indifferenz, wodurch sie sich von der Abneigung unterscheidet, da die 14 »desinteressierte Haltung« gelassener und gleichgültiger ist. 15 16 (7) Ambivalenz 17 18 »leider ziehe ich mir hin und wieder mal so was rein, allerdings schäme ich 19 mich hinterher auch immer voll dafür. aber irgendwie find ich das voll auf- 20 regend …« (TinaTina) 21 22 In der letzten Kategorie werden ambivalente Einstellungen zu Pornografie 23 zusammengefasst, die meist sowohl von positiven Gefühlen wie Erregung 24 und Neugierde, als auch von negativen Emotionen wie Ekel und Scham 25 geprägt sind. Oftmals wird eine widersprüchliche Haltung artikuliert, wie 26 etwa die Feststellung, dass diese Filme erregend wirken können, obwohl 27 man sie doch eigentlich ekelhaft findet, was im Nachhinein Scham auslöst. 28 Inwiefern diese intrapsychischen Konflikte mit bestehenden Geschlechter- 29 bildern zusammenhängen – also dass der Konflikt dadurch verstärkt wird, 30 dass man »weiß«, dass Frauen Pornos eigentlich nicht gut finden (sollen) 31 – wie Matthiesen vermutet –, bleibt ungewiss, da dazu keine Aussagen ge- 32 macht werden (vgl. Matthiesen et al., 2011, S. 349). Die Textstellen lassen 33 entweder auf seltene Nutzung von Pornografie schließen, die ausschließlich 34 zur Masturbation gebraucht wird, oder aber auf frühere häufige Nutzung, 35 die nun bewusst abgebrochen wurde. Begründet wird dies, neben Scham 36 und Ekel vor dem Film und sich selbst, auch mit Ängsten über negative 37 Folgen eines Pornografiekonsums. 38

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1 Ein zusätzlicher Aspekt, der bei der Analyse der Einstellungen eine wich- 2 tige Rolle spielt, ist die empfundene Normalität des Pornografiekonsums. 3 Angelehnt an die Normalisierungs- und Mainstreaming-These wurde der 4 Datensatz dahingehend untersucht, inwiefern der Konsum von Pornografie 5 als etwas Normales betrachtet und wie diese Norm konstruiert wird. 6 7 »Die Pornoindustrie erwirtschafftet Millardenumsätze. Fast jeder Bundes­ 8 bü[r]ger konsumiert regelmässig Pornos […] Daher ist es sehr wichtig, nicht 9 immer nur auf die Pornografie zu zeigen, sondern sie aus der Schmuddel­ 10 ecke heraus zu holen. 11 Sie ist längst in den Schränken des Normalbürgers angekommen. 12 Trotzdem tun alle immer so Uhh und Ahhh als hätte man es mit was ver- 13 botenem zu tun. Haben Schamgefühle oder was weiss ich …« (Whoopgirl) 14 15 Große Teile der untersuchten Aussagen – über 120 kodierte Textstellen – 16 stimmten damit überein, dass Pornografie normal sei. Diese Auffassung 17 wurde in Zusammenhang mit allen unterschiedlichen Konsumverhaltens­ 18 typen und Haltungen (mit Ausnahme der Abneigung) geäußert, wobei die 19 meisten Überschneidungen in der porno-positiven Kategorie zu finden 20 waren. Gegenargumente wurden so gut wie nie vorgebracht und entspre- 21 chen in diesen Fällen der Kategorie »Abneigung«. Das obige Zitat zeigt, 22 wie explizit und ausführlich über Normalisierung und Enttabuisierung/ 23 Entmystifizierung diskutiert wird. Dabei lassen sich verschiedene Argu- 24 mentationsstrategien in unterschiedlicher Ausführlichkeit finden: Zum 25 einen wird auf individueller Ebene begründet, frei nach dem Motto: »Ich 26 tue es doch auch.« Zum anderen lassen sich Begründungen finden, die die 27 kollektive Ebene nutzen: Weil alle/viele Pornografie nutzen, ist sie normal. 28 Die »Beweisführung« dafür erfolgt durch verschiedene Argumente. Teil- 29 weise werden Statistiken und mehr oder minder wissenschaftliche Quellen 30 zitiert und Links gepostet, die den Konsum quantifizieren und normali- 31 sieren. Zudem finden sich historische Begründungen mit Verweisen auf 32 die Antike oder die Steinzeit. Des Weiteren werden auch biologistische 33 Argumentationen aufgeführt, Pornografie sei ein »menschliches Bedürf- 34 nis« und sogar manche Affenarten hätten voyeuristische Verhaltensweisen. 35 Nicht immer wird die eigene Position allerdings so genau erläutert, in den 36 meisten kodierten Textstellen wird beiläufig erwähnt, dass der Konsum von 37 Pornografie »normal«, »natürlich«, »selbstverständlich« sei, »warum 38 auch nicht?« – Es »ist ja nichts dabei«, so die gängige Argumentation.

366 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

Zusammenfassung 1 2 Die Haltungen zu Pornografie sind sehr breit gefächert und differenziert, 3 weshalb eine schlichte dreigeteilte Klassifizierung, wie sie von Matthiesen 4 vorgenommen wird, der Meinungsvielfalt nicht gerecht wird (vgl. Matthie- 5 sen et al., 2011, S. 336). Das hier gewählte System aus sieben Kategorien 6 geht vor allem in Bezug auf die Begründung für die Haltung stärker in die 7 Tiefe. So lässt sich zusammen mit den Punkten Quantität, Qualität und 8 Setting des Konsums eine Art heuristische Typisierung von Pornografie­ 9 nutzerinnen erarbeiten (s. Tab. 1). Dieser Vorschlag einer Typisierung kann 10 aufgrund des Samples aber nur vorläufig sein und bedarf quantitativer 11 ­Forschung, um ihn zum einen auf Gültigkeit zu prüfen. 12 13 Begründung Quantität Empfindung häufigstes 14 des Konsums des Konsums Setting 15 16 (1) Wohlwollen Erregung und regelmäßig angenehm Solo-, Paarsetting 17 Inspiration bis gelegentlich 18 (2) Abneigung negative Folgen, selten verstörend – 19 per se Ekel, Verachtung bis nie 20 (3) Abneigung Art der (sehr) selten abschreckend – 21 gegen Konkretes Darstellung 22 (4) Pragmatik grundsätzlich gelegentlich erregend Solosetting 23 okay 24 (5) Neugierde Lernmöglichkeit, gelegentlich interessant, aber Solosetting 25 Neugierde nicht erregend (Information) 26 (6) Desinteresse kein Bedürfnis/ selten langweilig – 27 Interesse bis nie 28 (7) Ambivalenz Scham, Erregung, selten erregend und Solosetting 29 Angst beschämend 30 31 Tab. 1: Heuristische Typisierung der Nutzer_innen 32 33 Für die zumeist gelassene, normalisierende und oftmals positive Einstellung 34 und die damit verbundene Diskrepanz zu bisherigen Forschungsergebnissen 35 lassen sich zwei verschiedene Erklärungen finden. Zum einen wäre es denk- 36 bar, dass sich die Nutzer_innen des Forums als vorselektiertes Sample von 37 der Gesamtheit der jungen Frauen unterscheiden und hier schlichtweg die 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 367 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 Verteilung der Meinungen anders ist. Zum anderen könnte die Sensibilität 2 des Themas und die teilweise noch vorherrschende Tabuisierung – beson- 3 ders bei jungen Frauen – eine Erklärung liefern: Dies würde bedeuten, dass 4 bisherige Forschung durch sozial erwünschtes Antwortverhalten verzerrt 5 war, weshalb diese nichtreaktive Methode andere Ergebnisse liefert. Zudem 6 kann ein offener Umgang mit derart heiklen Thematiken eher in anonymen 7 Räumen wie diesem Forum stattfinden. Beide Erklärungsansätze erscheinen 8 plausibel, können aber mit den vorliegenden Daten weder belegt noch falsi- 9 fiziert werden. Es kann vermutet werden, dass ein monokausaler Erklärungs- 10 ansatz zu kurz greift und beide Erklärungen zusammenwirken. 11 12 13 Die Diskussion über Pornografie als doing gender 14 15 Diskussionen Jugendlicher über Pornografie können viele Hinweise zum 16 Verständnis ihrer Geschlechterbilder geben: »Dies kann als Praxis verstan- 17 den werden, in der Alter, Gender und Heterosexualität hervorgebracht 18 werden«14 (Berg, 2008, S. 295), »eine Gelegenheit Gender und Sexualität 19 vorzuführen«15 (Attwood, 2005, S. 65). Vorstellungen von Geschlechter- 20 stereotypen leisten zudem einen wichtigen Beitrag zur Erklärung von Ge- 21 schlechterunterschieden in der Nutzung und Wahrnehmung von Porno- 22 grafie (vgl. Hald, 2010, S. 128). 23 In den Diskussionen auf maedchen.de wird die Frage, inwiefern es Unter­ 24 schiede zwischen den Geschlechtern bezüglich des Pornografiekonsums gibt 25 und wie diese zustande kommen, viel diskutiert. Zusammenfassend lassen 26 sich die passenden Textstellen auf einer kontinuierlichen Skala mit zwei 27 Extrempunkten einordnen: auf der einen Seite jene, die die Unterschiede 28 betonen und eine traditionellere Sicht haben (hier als gender difference be- 29 zeichnet) und auf der anderen Seite die, die diese Unterschiede anzweifeln 30 und abstreiten (gender similarity). 31 32 Gender difference – der traditionelle Blick 33 34 »Ich bin ein Mädchen und ich schaue keine Pornos, erfülle also dieses »Kli- 35 schee-Bild«, aber es gibt sicher genügend, die welche schauen« (Fleur). 36 37 14 Original: »it can be viewed as an age, gender- and heterosexuality-creating practice«. 38 15 Original: »an occasion for performing gender and sexuality«.

368 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

Das Meinungsspektrum zwischen diesen Endpunkten ist breit gefächert, 1 zumal oftmals verschiedene Argumente vermischt werden, wie das obige 2 Zitat zeigt. In der Gender-difference-Argumentation werden zahlreiche 3 gängige Geschlechterstereotype herangezogen, um den unterschiedlichen 4 Pornografiekonsum von Männern und Frauen zu erklären und zu bestärken. 5 Grundlegend dafür sind alltägliche Annahmen über Geschlechter: Zum 6 einen das Klischee, das im Zitat von Fleur beschrieben wird, dass Mädchen 7 häufig keine Pornos konsumieren und diese nicht besonders ansprechend 8 finden. Der Nutzerin ist bewusst, dass es eben »nur« ein Klischee ist, das 9 der Wirklichkeit zwar nicht immer entsprechen muss, sie sich darin aber 10 trotzdem unproblematisch einordnet und somit das Stereotyp reprodu- 11 ziert. Durch ihre kritische Reflexion lässt sich diese Aussage nicht auf dem 12 Extrempunkt der Gender-difference-Argumentation einordnen. Die zweite 13 häufig geäußerte Annahme ist, dass Männer häufig Pornos schauen und dass 14 dies ganz normal sei. In Abgrenzung zu den Normalisierungsstrategien, die 15 oben beschrieben wurden und sich auf beide Geschlechter bezogen, lassen 16 sich auch zahlreiche Aussagen finden, die explizit den männlichen Konsum 17 normalisieren. 18 19 »Macht irgendwie jeder Typ und gibt auch jeder zu. Also gehe ich da bei 20 Typen von aus, bei Frauen je nachdem 21 jeder typ macht das einfach ist eine ganz normale sache auserdem denken 22 die eh nur an das eine, auserdem hat das nix mit der liebe zu tun, es ist eine 23 tatsache das jungs gerne pornos anschauen« (Zitronee). 24 25 Derartig beschwichtigende, normalisierende Aussagen dominieren Threads 26 über den Pornokonsum in Partnerschaften. Wie im vorherigen Kapitel 27 lassen sich zum einen zahlreiche Aussagen finden, die die Normalität des 28 Konsums bei Männern konstatieren und ohne Begründung als gegebenen 29 Fakt, als »Tatsache« präsentieren, wie im obigen Zitat. Nutzerin Marli 30 schreibt des Weiteren: »Männer und Pornos schauen, das gehört irgend- 31 wie ja zusammen. Ist eben so.« Hier wird schon eine vermeintlich logische 32 Verknüpfung (Mann → Porno) geschaffen, aber begründet wird sie nicht. 33 Eventuell hat sich diese Verbindung schon so sehr normalisiert, dass sie 34 scheinbar nicht mehr zu begründen und hinterfragen ist. 35 Zum anderen gibt es Kommentare, in denen verschiedene Gründe dafür 36 erläutert werden und die sich dabei auf vermeintlich »männliche Eigen- 37 schaften« beziehen, wie im obigen Zitat die Behauptung, dass Jungs »eh 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 369 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 nur an das eine« denken. Diese Aussagen betonen die Geschlechterunter- 2 schiede nun schon stärker, als es Fleur noch tat. Die verschiedenen Argu- 3 mentationen sollen im Folgenden näher beschrieben werden. 4 5 »Pornos werden ganz überwiegend von Männern für Männer gemacht und 6 richten sich nach dem Geschmack von Männern. 7 Frauen sind nicht grundsätzlich gegen Pornos, haben allerdings einen an­ 8 deren Geschmack, den die weitverbreiteten Pornos nicht erfüllen« (Ingwer). 9 10 Die Nutzerin Ingwer sieht einen Grund für den geringen Konsum von 11 Frauen in der Art der Pornografie, da diese in ihren Augen nicht für Frauen 12 gemacht sei. Bei vielen dieser Äußerungen werden allerdings keine Aussa- 13 gen darüber gemacht, was eigentlich unter einem weiblichen Geschmack zu 14 verstehen sei. Zwar wird in diesem Zusammenhang gelegentlich erwähnt, 15 dass Genres wie »Softcore« und »Lesbian« oder Aspekte wie Romantik 16 und Handlung besonders von Frauen bevorzugt werden, allerdings be- 17 merkt man bei einer Analyse der Präferenzen eine viel höhere Diversität. 18 Eine Vermutung, die von einigen Nutzer_innen angestellt wird, ist, dass 19 Frauen prinzipiell mehr Ansprüche (egal, in welche Richtung) haben, Män- 20 nern hingegen sowieso alles gefalle, weshalb Letztere auch leichter etwas 21 Passendes finden. Frauen werden oft allein durch die lange Suche nach 22 Ansprechendem vom Pornografiekonsum abgehalten, wie einige andere 23 Nutzer_innen aus Selbsterfahrung berichten. 24 Eine weitere Annahme, die in der Gender-difference-Argumentation 25 häufig genannt wird, ist, dass Männer von visuellen Reizen, wie einem Porno­ 26 film, mehr angesprochen werden, wohingegen Frauen eine stärker ausge- 27 prägte Fantasie hätten: 28 29 »Gerade Männer sind sehr visuell geprägt und brauchen einfach Bilder 30 oder Videos, um sich richtig scharf zu machen. Das ist bei Frauen nicht so 31 stark ausgeprägt, bei uns reichen oft die Fantasie und die Gedanken im Kopf. 32 Trotzdem gibt es auch viele Frauen, die gerne mal einen Porno schauen« 33 (Unbekannt). 34 35 Obwohl diese Nutzerin noch anmerkt, dass auch Frauen gerne Pornos 36 sehen und sie dadurch die Unterscheidung relativiert, sind die Formulierun- 37 gen hierbei teilweise sehr deterministisch: Männer seien »visuell geprägt« 38 oder »visuelle Wesen«, wie es eine andere Userin – Tabbie – beschreibt

370 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie und wieder wird dies als unumstößliche Tatsache gehandelt. In diesem Zu- 1 sammenhang werden auch Äußerungen zu einer Präferenz von erotischen 2 Geschichten statt Pornofilmen gemacht, da hier mehr Spielraum für eigene 3 Fantasien bleibe, was von anderen Nutzer_innen als »typisch für Frauen« 4 bezeichnet wird. In einigen wenigen Aussagen wird eine biologistisch-­ 5 deterministische Erklärung noch deutlicher artikuliert: 6 7 » 1. Ist es gut, wenn ein Mann jeden Tag wichst. Es ist erwiesen, dass die 8 Spermien so gesund bleiben. 9 2. B raucht er es vielleicht jeden Tag. Das muss ja keine Kritik an dir sein, 10 natürlich kannst du nicht jeden Tag für ihn zur Stelle sein. 11 3. Finde ich das normal« (Minum). 12 13 Hier wird die Argumentationslogik verfolgt, dass Männer Pornos und 14 Masturbation aus biologischen Gründen verstärkt brauchen, und zwar 15 zum einen, weil es gesund sei und zum anderen, weil sie gesteigerte sexu- 16 elle Bedürfnisse haben. An diesem Punkt ist es spannend, sich die Be- 17 nutzung des Verbes »brauchen« (im Sinne von »benötigen«, nicht 18 »gebrauchen«/»verwenden«) im Forum anzusehen: Die Formulierung 19 Pornografie »zu brauchen« wird fast ausschließlich dann verwendet, wenn 20 es um Männer geht; »Männer brauchen das eben«. Im Zusammenhang 21 mit Frauen oder der eigenen Person wird diese Wortwahl ausschließlich 22 im Sinne von »Ich/Frauen brauche(n) das nicht« benutzt. Männer und 23 Frauen haben in den Augen mancher also von Natur aus unterschiedliche 24 sexuelle Bedürfnisse, was implizit auch bedeutet, dass hier die Vorstellung 25 einer »natürlichen«, geschlechterabhängigen Sexualität vorherrscht. Die 26 biologistischen Argumente werden an anderer Stelle noch weitergeführt: 27 Es sei hormonell bedingt, dass gerade Jungen im Jugendalter besonders auf 28 nackte Körper fixiert seien und häufiger an Sex denken. Das sei eine »völlig 29 normale Entwicklungsphase« und gehöre zum »Mann-werden« dazu. Die 30 biologistische Argumentation wird von einigen männlichen Nutzern auf die 31 Spitze getrieben, wie die folgenden Zitate veranschaulichen: 32 33 »Tut uns ja leid, dass wir keine Woche aushalten. 34 Wir Männer sind halt so gemacht. Bedank dich bei Gott« (Mogli [m]).16 35 36 16 User, die als Geschlecht »männlich« in ihrem Profil angegeben haben, wurden im 37 Daten ­satz mit »(m)« gekennzeichnet. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 371 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 »War ja auch nur so, aber Mädels sind da halt gaaaaanz anders. 2 Die können Monate ohne SB leben. 3 Aber wir Männer kriegen automatisch feuchte träume oder holen uns vorher 4 halt ein runter. 5 Der Hoden hat nur begrenzten inhalt« (Mogli [m]). 6 7 »Solche Bilder haben nichts mit Aussehen oder hübsch zu tun. 8 Sie sprechen ganz einfach bestimmte Instinkte an. Männer sind so program- 9 miert« (Bademeister [m]). 10 11 Hier werden also Instinkte und begrenzte körperliche Kapazitäten, die von 12 »Gott« oder »der Natur« aus gegeben sind, für ein vermeintlich gestei- 13 gertes sexuelles Bedürfnis der Jungen bzw. Männer verantwortlich gemacht. 14 Es gehe dabei um »Triebbefriedigung« und Steuerung durch das »Unter­ 15 bewusstsein«, was an das Sexualitätskonstrukt von Freud erinnert. Das 16 sameness taboo, also die Vorstellung, dass Männer und Frauen sich unter- 17 scheiden müssen, wird hier also besonders deutlich: Männer und Frauen 18 hätten naturgemäß verschiedene Sexualitäten und deshalb könnten sie in 19 ihrem sexuellen Verhalten auch nicht gleich sein. In diesen Kommentaren 20 wird die Gender-difference-Argumentation am deutlichsten. 21 22 Gender Similarity – das Aufweichen von Stereotypen 23 24 Dennoch sind derartige Kommentare nicht repräsentativ für die Posts männ- 25 licher User. Auch hier ist das Meinungsspektrum in Bezug auf Haltungen, 26 Präferenzen, Intensität des Konsums und Argumente dafür vielseitig. So gibt 27 es auch Jungen, die sich explizit gegen die oben beschriebene Argumenta- 28 tion richten und dafür plädieren, dass Männer dieselben »Bedürfnisse« wie 29 Frauen haben, wie der folgende Post, der in Reaktion auf eine Aussage, dass 30 Männer Sex hauptsächlich zur Triebbefriedigung hätten, zeigt: 31 32 »Manchmal frage ich mich echt, was so manche Frauen/Mädchen von uns 33 denken, wir sind genau so Menschen wie ihr, also wieso sollten wir keine 34 Gefühle haben? Und kein Bedürfnis nach Geborgenheit, Nähe, Liebe, Zu- 35 wendung etc« (Unbekannt [m]). 36 37 Dieser Post entspricht vielmehr der im Folgenden erläuterten Gender- 38 similarity-Hypothese, nach der Männer und Frauen keine grundsätzlich

372 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie differenten Wesen sind. Dies führen diejenigen Aussagen weiter aus, die 1 explizit oder implizit Sozialisation als Grund für den Gendergap nennen 2 und dessen Bedeutung damit relativieren: 3 4 »Sehe ich ähnlich würde man das Thema Sex nicht dermassen tabuisieren 5 und durch Altersbeschränkungen mystifizieren, würde man mit dem Thema 6 wesentlich freier und unverklemmter umgehen. Vor allem würde man nicht 7 so eine Sensation da draus machen. 8 Interessant wird es doch immer erst wenn es Verbote gibt … 9 Aber da wir lernen, das das alles Ihhhh und Ehhhh ist und die Nachbarin, 10 weil sie ONS [One-Night-Stand] hatte eine Schlampe ist, Bleibt es nicht aus 11 das das Thema wichtiger wird als es ist und zu massiven mentalen Problemen 12 und Wiedersprüchen zwischen fühlen, wollen und Handeln führt. 13 Eine Schizophrenie … oder auch schon Trizophenie (Um das Wort mal zu 14 erfinden). 15 Wenn ich mir als Kind an die Vagina fasste bekam ich einen Schlag auf den 16 Hand rücken. 17 ›Da fasst man nicht hin das ist Bäh‹ Rest der Geschichte kennt ihr und wun- 18 dert sich da noch wer das es Mädchen gibt die nicht ihre Scheide waschen? 19 Weil sie es abartig finden da hin zu fassen« (Whoopgirl). 20 21 In diesem Post kritisiert Whoopgirl gesellschaftliche Vorstellungen von Se- 22 xualität, insbesondere bei Frauen: Sie plädiert für einen offenen Umgang 23 mit Pornografie und gegen eine Tabuisierung. Zudem beanstandet sie, dass 24 Frauen bzw. Mädchen ein falsches Bild ihrer Sexualität vermittelt werde, 25 das zu einem zurückhaltenden, schambesetzten Umgang mit dem eigenen 26 Körper und der eigenen Sexualität führe. Noch immer würden Frauen, 27 die ihre Sexualität etwa mit One-Night-Stands ausleben, von der Gesell- 28 schaft dafür verurteilt. In feministischen Debatten wird in diesem Zusam- 29 menhang von slut shaming gesprochen, was das Beleidigen und Abwerten 30 von Frauen, die ihre Sexualität auf eine Weise leben, die im Gegensatz zu 31 konservativ männerdominierten Vorstellungen von Weiblichkeit steht, be- 32 schreibt (vgl. Ringrose & Renold, 2012, S. 334). Für Whoopgirl ist diese 33 konservative sexuelle Sozialisation, die schon im Kindesalter beginnt, der 34 Grund für geringere Masturbationsfrequenz und Pornografiekonsum von 35 jungen Frauen; sie führe zudem zu intrapsychischen Konflikten. Hier 36 werden Geschlechterunterschiede nicht wie in den obigen Argumentatio- 37 nen reproduziert und hingenommen, sondern infrage gestellt. Diese seien 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 373 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 nicht biologisch oder natürlich bedingt, sondern Ergebnis gesellschaftli- 2 cher Normen und Vorstellungen. In dieser Ausführlichkeit ist eine solche 3 Argumentation im Forum zwar selten, doch lassen sich ähnliche Ansätze 4 auch in andern Posts finden. Pornografie wird bei Mädchen noch eher als 5 ein »Tabu-Thema« empfunden, das teilweise schambesetzt ist, weshalb 6 der Konsum selbst unter Freundinnen nicht immer zugegeben wird, wie 7 auch andere Nutzer_innen schreiben. In einem weiteren Sinn können auch 8 Aussagen aus der Haltungskategorie Ambivalenz hier aufgeführt werden, 9 da in diesen Kommentaren deutlich wird, wie sozialisierte Reaktionen, wie 10 Scham, zu Verunsicherung und Nichtkonsum beitragen können. 11 Aussagen, die grundsätzlich bestreiten, dass Männer und Frauen sich 12 in Bezug auf Pornografie unterscheiden, gehen noch einen Schritt weiter. 13 Dabei wird aufgeführt, warum die oben genannten biologistischen Begrün- 14 dungen nicht richtig seien: 15 16 »Bitte nicht allzu sexistisch werden, ich finde nämlich Frauen betrifft das 17 genauso. Nur ists es ja ›was ganz was anderes‹ ;) wenn dann im Mädelskreis 18 drüber geschwärmt wird wie geil/toll/sexy/heiß Ryan Gosling/Zac Efron/… 19 wer auch immer ist. 20 Ne ganz ehrlich, ich kenn kaum eine, die plötzlich jedes männliche Wesen 21 hässlich/uninteressant findet, sobald sie vergeben ist. 22 Und ich bin ne Frau und kann einfach nur sagen ich bin da offenbar ganz 23 genau so »programmiert«. 24 Wollte hier nur mal dagegen vorgehen, dass es so dargestellt wird, als sind 25 Jungs/Männer zwangsläufig schwanzgesteuerte, willenlose Maschinen, die 26 ihrer Biologie total unterworfen sind. Entweder sind wir das allesamt, oder 27 keiner in diesem Ausmaß. Bin mir bewusst, dass es durchaus Unterschiede 28 zwischen den Geschlechtern gibt – aber es ist wie gesagt nicht so als ›sind 29 Jungs/Männer halt einfach so‹« (StrongFighter). 30 31 Dieser Post wurde in Reaktion auf den oben zitierten Post des männli- 32 chen Users Bademeister geschrieben und argumentiert gegen die Idee, dass 33 Männer von Natur aus andere sexuelle Bedürfnisse hätten als Frauen, worin 34 sie von anderen Nutzer_innen bestärkt wird. In anderen Posts wird auch 35 die Verknüpfung zwischen Visuellem und Männlichkeit sowie Fantasie und 36 Weiblichkeit angezweifelt und sich darüber sogar lustig gemacht: »[D]ann 37 bin ich wohl ein Hybrid aus Mann und Frau«, schreibt die Nutzerin 38 Candy ­shop dazu. In ähnlicher Manier sind Posts geschrieben, in denen

374 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie betont wird, dass Männern »ja schließlich nicht reihenweise Hoden« 1 platzen würden, wenn sie nicht masturbierten. Sexualität und Geschlecht 2 sollten laut einigen Nutzer_innen also differenzierter betrachtet, gängige 3 Geschlechterklischees nicht einfach reproduziert werden. 4 Diese Klischees sind in den Augen mancher Nutzer_innen sowieso 5 längst überholt und nicht mehr zeitgemäß, wie folgender Post veran- 6 schaulicht: 7 8 »Es mag ja stimmen, dass fast alle Männer irgendwann mal oder auch regel- 9 mäßig ›Pornos‹ oder anregende erotische Filme anschauen. 10 Aber so, wie das ›Märchen‹, dass nur Jungs sb machen und Mädchen nicht, 11 ist es wohl auch hier: Seit es dann Internet gibt und den leichten Zugang 12 zu Pornos, schauen auch sehr viel Mädchen und Frauen solche Inhalte an 13 und erfreuen sich daran. Und Millionen Camgirls, die weltweit damit ›cash‹ 14 machen wollen, zeigen ja auch, dass ›pornographisches Verhalten‹ keines- 15 wegs hauptsächlich auf Männer beschränkt ist« (Unbekannt). 16 17 Hier werden konservative gesellschaftliche Vorstellungen nicht nur 18 infrage gestellt, wie es etwa Whoopgirl tut, sondern abgelehnt und de- 19 konstruiert. Frauen würden selbstverständlich auch masturbieren und 20 sich heutzutage dabei der Pornografie bedienen, alles andere sei ein ver- 21 altetes Märchen, ein »Gerücht«, wie es eine andere Userin formuliert, 22 das antiquierte Idealbilder heraufbeschwört. Dementgegen wird betont, 23 dass auch Frauen Pornografie konsumieren: Das »sollte so langsam ange- 24 kommen sein«, wie eine andere Nutzerin schreibt. Das Bedürfnis nach 25 Selbstbefriedigung wird im weiteren Verlauf der Diskussion normalisiert, 26 sowohl für Männer als auch für Frauen, was bei vielen Nutzer_innen auf 27 Zuspruch stößt. Interessant an diesem Post ist auch, dass Pornografie auch 28 für die Darstellerinnen positive Aspekte haben kann, was auch in einem 29 anderen Thread betont wird: 30 31 »Ich denke da an Bobbie Starr z. B. die gesagt hat, das Emanzipation auch 32 bedeutet, dass man sich frei entscheiden kann wie man sein Sexleben gestaltet 33 und ob man Pornos dreht oder nicht. 34 Oder Sasha Grey und Annette Schwarz die aus reinem Interesse an der 35 ­Materie mit 18 in die Produktion gingen. 36 Manche hier würden sagen, das das Fakes sein müssen, weil kein Mädchen 37 sowas machen würde« (Unbekannt). 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 375 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 Mit dem Verweis auf Bobbie Starr, einer vielfach ausgezeichneten Porno- 2 darstellerin, die sich als Pro-Sex-Feministin sieht, wird die Debatte eröff- 3 net, dass Pornografie auch für die Schauspielerinnen emanzipatorisches 4 Potenzial haben kann. Pornografie und Feminismus werden hier auf posi- 5 tive Weise verbunden und es kommt so zu eben jener Argumentation, die 6 auch von vielen sex-positiven Feminist_innen vertreten wird. Der Verfasse- 7 rin des Posts scheint jedoch auch bewusst zu sein, dass diese Idee für andere 8 Menschen nicht nachvollziehbar ist, da die Vorstellung, dass eine Frau sich 9 freiwillig und bewusst für eine Karriere in der Pornobranche entscheidet, 10 nicht mit konservativen Ideen von Anstand zu vereinbaren ist. Was sich 11 für eine Frau »gehört« und was nicht, wird gesellschaftlich festgeschrie- 12 ben, was besonders die folgende Diskussion zeigt: 13 14 »Hallo, 15 ich wollte mal fragen, ob es Mädels gibt, die eigentlich auf Pornos stehen. 16 Und wenn ja welcher Art. 17 Kann mir eigentlich kaum vorstellen, dass die meisten Pornos erregend für 18 eine Frau sind. 19 Würde mich über Antworten freuen. 20 liebe Grüße« (Basti [m]). 21 22 »wart ab, bis der Thread von »Knallfarben« oder »Chaan« entdeckt wird 23 Dann wirst mal erfahren was Mädchen so gucken« (Samii [m]). 24 25 »Ich hab eher das Gefühl, dass das dann entweder Fakes sind oder Mädels die 26 sich wichtig machen oder?« (Unbekannt). 27 28 »Chaan ist nicht repräsentativ, knallfarben kp wer dahintersteckt (so interes- 29 sant es ist), und sonst hat mich bislang keine Frau hier überzeugen können. 30 Wahr ist, was Dir eine Frau von Angesicht zu Angesicht sagt (wen sie es 31 tut …^^ )« (Fritz [m]). 32 33 »Wieso bitte ist man in deinen Augen ein Fake oder will sich bloß wichtig 34 machen, nur weil man ehrlich ist & sagt, dass man Pornos geil findet 35 Was erregt dich denn so an ihnen? 36 Ich mag nur Filme, die amateurmäßig gedreht sind. Die professionellen, in 37 denen die Mädchen so ›künstlich‹ & viel zu perfekt aussehen, seh ich mir gar 38 nicht erst an. Am liebsten Hardcorefilmchen, rape pornos, gangbang, dreier, was

376 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

härteres auf jeden Fall. Aber das glaubt mir ja eh wieder keiner, weil das ja auch 1 sooo unwahrscheinlich ist, dass ein Mädchen so was erregend findet« (Chaan). 2 3 »Hi Chaan, 4 bleib so wie Du bist. Wenn ich hier so Kommentare von einigen Typen lese, 5 denke ich mir auch nur: DAS sind MÖCHTEGERN-Machos« (­Unbekannt). 6 7 Die Diskussion wird noch lange und hitzig weitergeführt, wobei Chaan von 8 vielen Mädchen indirekt wie auch direkt, wie im letzten hier angeführten 9 Post, mithilfe der Zitierfunktion im Forum bestätigt wird. Kommentare, die 10 in die Richtung von Fritz oder Samii gehen, werden kaum mehr geä­ ußert. 11 In dieser Diskussion kann man »die Konstrukteure des Geschlechts auf fri- 12 scher Tat ertappen« (Hagemann-White, 1993, S. 68), wie sie die Kategorie 13 interaktiv mit viel Eigendynamik hervorbringen und wie ausgehandelt wird, 14 welches Verhalten für Frauen in Bezug auf Pornografie gender-appropriate 15 sei. Dabei ist bezeichnend, dass die Stichwortgeber männlich sind, was so 16 in diesem Forum nicht unüblich ist, und also von Männern Vorannahmen 17 darüber gemacht werden, wie Frauen denken und handeln. Verhalten sie 18 sich nicht dieser Vorstellung entsprechend, wird ihnen entweder ihre Weib- 19 lichkeit abgesprochen, Lüge und Egozentrismus vorgeworfen oder schlicht- 20 weg behauptet, dass dies Ausnahmen seien, die nicht repräsentativ sind. Die 21 Nutzerin Chaan, die im Forum sehr aktiv ist, wehrt sich gegen diese Kli- 22 schees und beharrt auf ihrer Einstellung, dass auch Frauen Pornosettings, die 23 in den Bereich Hardcore fallen, mögen können und dies auch nicht unwahr- 24 scheinlich oder selten ist. Daraufhin beschreiben auch viele andere Frauen 25 ihre Vorlieben detailliert im Thread und so wird klar, dass Chaans Aussage 26 zumindest in diesem Forum nicht unbegründet ist. Chaan zweifelt die 27 grundsätzliche Idee an, dass Männer und Frauen einen unterschiedlichen 28 Geschmack und damit ein diverses Konsumverhalten hinsichtlich Porno- 29 grafie haben. Sie unterstreicht dies später mit der rhetorischen Frage »Was 30 unterscheidet uns denn von ihnen?« Für sie gibt es keinen Unterschied zwi- 31 schen Männern und Frauen. Chaan durchbricht das sameness taboo bewusst, 32 wofür sie einerseits Kritik und Häme, andererseits auch Lob und Zuspruch 33 erhält. Im Verlauf dieses Threads werden Normen ausgehandelt und unter- 34 schiedliche Vorstellungen von Geschlecht diskutiert, wobei zumeist ver- 35 schiedenste Aussagen nebeneinanderstehen und so ein pluralistisches Bild 36 des Pornokonsums und der Sexualität generell gezeichnet wird: »Die einen 37 mögen’s so und die anderen mögen’s anders und das ist normal so«. 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 377 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 Fazit 2 3 Pornografie befindet sich in einem gesellschaftlichen Spannungsfeld aus 4 Normalisierung und Tabuisierung, wobei das untersuchte Forum von 5 einem normalisierenden Diskurs geprägt ist: Für die meisten Jugendlichen 6 gehört der Kontakt zu Pornografie zur sexuellen Sozialisation, was über- 7 wiegend gelassen betrachtet wird. Die Meinungen über Pornografie sind 8 breit gestreut, wobei sie sich bei einer differenzierten Analyse in sieben 9 Typen einteilen ließen: Wohlwollen, Pragmatik, Neugierde, Desinteresse, 10 Ambivalenz, Abneigung gegen Konkretes und Abneigung per se. Dabei 11 ließen sich für jede Meinungskategorie auch eine eigene Argumentation 12 sowie ein spezielles Nutzungsverhalten feststellen, womit ein Vorschlag der 13 Typisierung von Pornografienutzerinnen erarbeitet wurde. Diese Typisie- 14 rung hat jedoch einen vorläufigen und heuristischen Charakter, denn für 15 eine Überprüfung ihrer Gültigkeit bedarf es zusätzlicher, bevorzugt quan- 16 titativer, Forschung. Bei näherer Analyse der Kategorien fiel auf, dass eine 17 positiv-gelassene Haltung vorherrscht und Abneigung seltener als aufgrund 18 bisheriger Forschungsergebnisse erwartet geäußert wird. Inwiefern sich 19 diese Diskrepanz durch das hier vorsortierte Sample und die Eigendynamik 20 der Diskussion oder durch die anonyme, nichtreaktive Methode erklären 21 lässt, bleibt ungewiss. 22 Die Analyse der Geschlechterkonstruktionen lässt einige Rückschlüsse 23 sowohl auf die Nutzer_innen des Forums maedchen.de als auch bedingt 24 auf Jugendliche generell zu. Zuerst zeigt sich, dass Geschlecht in der 25 Diskussion um Pornografie für die meisten Nutzer_innen eine sehr re- 26 levante Kategorie ist, die bei vielen Posts hintergründig mitschwingt. 27 Dabei werden zahlreiche Vorstellungen von Gender (re)produziert. An 28 manchen Stellen stehen sie unproblematisch nebeneinander, an anderen 29 Stellen werden sie heftig debattiert. Sexualität wird von vielen als etwas 30 »Natürliches« ge­sehen, wobei nicht unbedingt festgelegt ist, welches 31 sexuelle Verhalten natürlich sei. Nur wenige hinterfragen dies grundsätz- 32 lich. Doch vorherrschende Vorstellungen von Geschlecht und Sexualität 33 werden auch bewusst irritiert und es wird versucht, diese zu dekonstru- 34 ieren und ein neues Bild von Geschlecht, insbesondere von Weiblichkeit 35 hervorzubringen, was darin gipfelt, dass Geschlecht als relevante Kategorie 36 für Sexualität in Teilen des Forums entsprechend des undoing gender gene- 37 rell angezweifelt wird. Es zeigt sich, dass keine einheitlichen Aussagen über 38 die Geschlechter­vorstellungen Jugend­licher gemacht werden können.

378 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Der Blick junger Frauen auf Pornografie

Vielmehr sollte die Meinungsvielfalt in den Vordergrund rücken. Ein 1 Thema, das in diesem Zusammenhang von den Jugendlichen nur marginal 2 angesprochen wurde, ist die Bedeutung von Hetero­normativität in unse- 3 rer Gesellschaft. Gerade in den Diskussionen um den Pornografiekonsum 4 von Partnern fiel auf, dass implizit immer die Rede von heterosexuellen 5 Partnerschaften ist. 6 Auch zeigt sich, dass bestimmte Argumente aus feministischen Dis- 7 kursen von den Jugendlichen aufgegriffen werden, auch wenn das Wort 8 »Femi ­nismus« bzw. »feministisch« kein einziges Mal fällt. Besonders aus 9 der Pro-Pornografie-Bewegung werden einige Positionen angesprochen, 10 etwa als eine Nutzerin hervorhebt, dass Pornografie für Darstellerinnen 11 auch Emanzipation und Selbstverwirklichung bedeuten könne. An an- 12 deren Stellen wird das Aufkommen von Pornografie, die von Frauen für 13 Frauen gemacht ist, gelobt und eine Verbreitung dieser befürwortet. Für die 14 meisten Nutzer_innen scheint Pornografie also nicht in Konflikt mit femi- 15 nistischen Idealen zu stehen. Aus dem Anti-Porno-Feminismus hingegen 16 werden kaum Argumente aufgegriffen. Somit ist die PorNo-Perspektive 17 zumindest in diesem Forum im Gegensatz zur Antizensurbewegung kaum 18 anschlussfähig. 19 Das Feld maedchen.de erwies sich für die gestellten Forschungsfragen als 20 sehr ergiebig und ermöglichte einen tiefgehenden Einblick in die Lebens- 21 welt junger Mädchen. Besonders die Anonymität des Forums ermöglicht 22 eine sehr offene Diskussion, die für derartig sensible Themen wie Porno- 23 grafie in anderen Forschungsdesigns, wie Gruppendiskussionen oder In- 24 terviews, kaum ermöglicht werden kann. Trotzdem war diese Arbeit auch 25 Limitationen unterworfen: Letztendlich ist es ungewiss, wer hinter den 26 Profilen der Nutzer_innen steht, weshalb kaum Aussagen über die Zusam- 27 mensetzung des Samples, etwa in Bezug auf Alter, Herkunft und Bildung, 28 gemacht werden können. Es ist nicht davon auszugehen, dass diese Gruppe 29 repräsentativ für alle Mädchen in Deutschland ist, weshalb die hier gemach- 30 ten Aussagen nicht generalisiert werden können. Als direkten Anschluss an 31 diese Arbeit wäre deshalb ein quantitatives Forschungsprojekt denkbar, mit 32 dem die oben vorgeschlagene Typisierung der Nutzung überprüft, überar- 33 beitet und mit Zahlen zur Verteilung gefüllt werden könnte. Dazu müss- 34 ten die Typen in ausführliche Fragebatterien überführt werden und eine 35 entsprechende Studie mit einer ausreichend großen zufälligen Stichprobe 36 junger Frauen durchgeführt werden. 37 38

https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 379 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

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https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 381 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Melissa Büttner

1 Die Autorin 2 Melissa Büttner, geboren 1995, absolvierte ihre Bachelorabschlüsse in Soziologie und 3 Geschichte an Ludwig-Maximilians-Universität in München und am ICP Paris. Nach 4 einem halbjährigen Forschungsaufenthalt am California Institute of Technology studiert 5 sie nun im Master Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Themen- schwerpunkte sind unter anderem Sexualität im Kontext feministisch-wissenschafts- 6 kritischer Debatten und Mixed-Methods-Ansätze der empirischen Sozialforschung. 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38

382 https://doi.org/10.30820/9783837974560, am 30.09.2021, 22:35:07 Open Access - http://www.nomos-elibrary.de/agb Psychosozial-Verlag

Michaela Katzer, Heinz-Jürgen Voß (Hg.) Geschlechtliche, sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung Praxisorientierte Zugänge

Handelns mit einem Spektrum von An- passung bis Ausbruch. Geschlechtliche Selbstbestimmung schließt Abweichung, Veränderung und Deutungshoheit über körperliche Geschlechtsmerkmale ein. Im vorliegenden Buch wird »Selbstbe- stimmung« im sexualwissenschaftlichen Diskurs aus akademischer und aktivis- tischer Perspektive betrachtet. Die Bei- träge beleuchten Aspekte von Inter- und Transsexualität, Asexualität, Sexualität unter Haftbedingungen, im Kontext von Behinderung sowie außerhalb heterose- xueller Paarbeziehungen. In ihrer Viel- falt sind die Beiträge Zeitzeugnis, geben zugleich einen Ausblick auf die Zukunft und tragen dazu bei, gängige Denkscha- blonen zu überwinden.

2016 · 358 Seiten · Broschur Mit Beiträgen von Anne Allex, Markus ISBN 978-3-8379-2546-3 Bauer, Heike Bödeker, Jens Borchert, Diana Demiel, Andreas Hechler, Mi- Aktivist_innen und Akademiker_in- chaela Katzer, Torsten Klemm, Katja nen kommen hier gleichermaßen Krolzik-Matthei, Anja Kruber, Alina zu Wort! Mertens, Andrzej Profus, Nadine Schlag, Heino Stöver, Manuela Tillmanns, Da- Selbstbestimmung geht über die Über- niela Truff er, Heinz-Jürgen Voß und windung bzw. Abwesenheit von äußerem Marlen Weller-Menzel Zwang hinaus. Sie erfordert positives Bewusstsein über Möglichkeiten eigenen

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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Alexander Naß, Silvia Rentzsch, Johanna Rödenbeck, Monika Deinbeck (Hg.) Geschlechtliche Vielfalt (er)leben Trans*- und Intergeschlechtlichkeit in Kindheit, Adoleszenz und jungem Erwachsenenalter

Mit der Thematik Trans*- und Interge- schlechtlichkeit im Kindes- und jungen Erwachsenenalter beschäftigen sich die Autor*innen des vorliegenden Buches aus interdisziplinärer und multidimen- sionaler Perspektive. Die Beiträge sollen insbesondere pädagogischem und psy- chologischem Fachpersonal eine Hand- reichung beim Umgang mit inter- und trans*geschlechtlichen Kindern und Jugendlichen sein und unter anderem dabei helfen, deren spezifi sche Bedürf- nisse, Interessen und Gefühlslagen bes- ser zu verstehen. Über aktuelle Wandlungsprozesse und Forschungsergebnisse aus diesem Bereich informieren Vertreter*innen aus Psychologie, Soziologie, Biologie und Rechtswissenschaft. Sie alle streben 2016 · 149 Seiten · Broschur eine diff erenzierte Informiertheit der Le- ISBN 978-3-8379-2597-5 ser*innen an, um den wertschätzenden Umgang mit inter- und trans*geschlecht- lichen Personen weiter zu fördern.

Mit Beiträgen von Ulrich Klocke, Emily Laing, Alexander Naß, Eike Richter, Kurt Seikowski, Heinz-Jürgen Voß und Simon Zobel

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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Hanna Sophia Rose What’s fappening? Eine Untersuchung zur Selbstbefriedigung im 21. Jahrhundert

»What’s fappening?«, fragt Hanna Rose – eine Anspielung auf den Neologismus fap, der auf zumeist humoristischen In- ternet-Plattformen als lautmalerischer Ausdruck für Selbstbefriedigung ver- breitet wird. Der Begriff steht hier sinn- bildlich für die Entpathologisierung der Selbstbefriedigung in der Spätmoderne: Einstmals verpönt und als krankhaft angesehen, gilt sie nun als wichtiger Be- standteil sexueller Gesundheit. Ausgehend von historischen Diskur- sen, modernen Entwicklungen und For- schungsergebnissen widmet sich die Autorin der Untersuchung qualitativer Interviews mit Männern und Frauen über ihre Masturbationsbiografi e. Im Fokus steht damit die Frage nach der konkreten Einbettung in das (Sexual-) 2017 · 115 Seiten · Broschur Leben und dem subjektiven Erleben ISBN 978-3-8379-2640-8 von Selbstbefriedigung, die aus sozio- logischer und sexualwissenschaftlicher Selbstbefriedigung als Teil des Perspektive bisher nur selten als eigen- gesunden Sexuallebens: Die se- ständiger Forschungsgegenstand behan- xuelle Praktik hat innerhalb der delt wurde. letzten Jahrzehnte einen enormen Bedeutungswandel erlebt.

Walltorstr. 10 · 35390 Gießen · Tel. 0641-969978-18 · Fax 0641-969978-19 [email protected] · www.psychosozial-verlag.de

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