Der Sonntag, Nr. 5, 3. Februar 2013

4 | HOLOCAUST Das Verhör der Rorschacher Mädchen Eine Mädchenklasse empörte sich beim damaligen Bundesrat – und wurde wie in einer Diktatur verhört

Es war ein Brief der Mädchense- Heimatlosen» und einem Gruss voller kundarschule 2c aus Rorschach, «Hochachtung und vaterländischer Ver- der in Bern die Nerven blank- bundenheit». legte. Justizminister Eduard von MIT DEM SCHREIBEN trafen die 14-jähri- Steiger ordnete ein Verhör an. gen Mädchen einen Nerv. Justizminister Und entlarvte sich. Eduard von Steiger persönlich ordnete ein Verhör der 22 Schülerinnen an, die den Brief unterschrieben hatten. Zehn VON ALAN CASSIDY Mädchen unterzeichneten ihn nicht. Die UND OTHMAR VON MATT Untersuchung fand am 23. Oktober 1942 GGG G GGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G statt und dauerte zweieinhalb Stunden. as Fazit der Historiker ist Auszüge aus dem Verhör, das der Schul- klar: Die Bundesbehörden ratspräsident führte: hatten bereits 1941 Kennt- Frage: «Steht nichts im Brief, was eine nis von den systemati- Beleidigung für den Bundesrat sein schen Massentötungen könnte?» Dder Juden in Europa. Doch nicht nur die Antwort von Heidi: «Nein, ich glaube offizielle Schweiz, sondern auch die Zi- nicht. Und der Bundesrat wird wohl vilbevölkerung wusste schon früh Be- noch mehr solche Briefe bekommen scheid darüber, was sich in Deutschland haben.» und in den besetzten Gebieten abspielte. Frage: «Ihr wolltet ihm also doch Vorwür- Trotz Zensur berichteten die Schweizer fe machen?» Zeitungen ab Sommer 1942 regelmässig Antwort: «Nein, nein. (...) Ja warum, hat über die Erlebnisse der Flüchtlinge, wel- denn der Bundesrat sich etwa beklagt?» che die Schweizer Grenze erreichten. Ei- Antwort des Verhörers: «Ja, es ist eine Be- nen besonders erschütternden Bericht schwerde eingegangen (...)» veröffentlichte die Basler «National-Zei- Der Schulratspräsident liest ihr tung» im September 1942 – der Verleger den Satz aus dem Schülerbrief vor: «Es und FDP-Ständerat Ernst Löpfe druckte kann ja sein, dass Sie den Befehl erhal- ihn kurz darauf auch in seinem «Ost- ten haben, keine Juden mehr aufzuneh- schweizer Tagblatt» nach. men, aber der Wille Gottes ist es be- Unter dem Titel «So geht es zu an stimmt nicht ...» unseres Landes-Grenze» schilderte der Frage: Weisst Du die schwerwiegende Berichterstatter, wie sich eine Gruppe Bedeutung dieses Satzes nicht? belgischer Juden mit einer Flucht in die Heidi überlegt und sagt: «Ich wollte mit Schweiz vor der Deportation nach Polen diesem Satze sagen, dass wir verste- rettete. Nachdem sie ein ungenanntes hen, wenn der Bundesrat auf die Deut- Westschweizer Dorf erreicht hatten, schen Rücksicht genommen hat, wie wurde die geschwächte Familie trotz er auch bei der Einführung der Ver- Protesten der Bevölkerung vom lokalen dunkelung auf sie Rücksicht nehmen Gendarmen wieder zur Grenze ge- musste, denn für die Schweiz selbst schickt und «ausgesetzt», wie der Korres- wäre es doch nicht notwendig gewe- pondent notierte: «Und nun, da sie sich sen, zu verdunkeln.» nach qualvollen Wochen gerettet glaub- Frage: «Woher weisst Du das?» ten, diese fürchterliche Enttäuschung!» Antwort: «Ja das sagt man überall.» Der Schulratspräsident sagt zu ES WAR DIESER ARTIKEL, der eine Mäd- Heidi: «Dann will ich Dir sagen, was chenschulklasse aus Rorschach SG dazu dieser Satz bedeutet: Der Bundesrat bewog, sich in einem Brief an Bundesrat hätte auf ausländischen Druck hin Eduard von Steiger zu wenden, den Vor- den Flüchtlingsstrom abgestoppt. Das steher des Eidgenössischen Justiz- und heisst, der Bundesrat sei nicht mehr Polizeidepartements. In ihrem Schrei- eigener Herr und Meister, er könne ben kritisierten die 14-jährigen Mädchen nicht mehr tun, was er für richtig fin- die Flüchtlingspolitik der Schweiz de, er sei nicht mehr frei, sondern er scharf: «Wir können es nicht unterlassen müsse tun, was die Deutschen ihm Ihnen mitzuteilen, dass wir in den Schu- vorschreiben. Das ist für den Bundes- len aufs Höchste empört sind, dass man rat eine Beleidigung, über welche er die Flüchtlinge so herzlos wieder in das sich mit Recht beklagt. Das ist ein star- Elend zurückstösst.» Nie hätten sie sich 14-jährige Mädchen entlarven kes Stück, dass da ein paar junge, un- träumen lassen, dass die Friedensinsel Justizminister Eduard von erfahrene Mädchen, die kaum wissen, Schweiz «diese zitternden, frierenden Steiger: «Das ist für den Bun- was überhaupt für das Leben notwen- Jammergestalten wie Tiere über die desrat eine Beleidigung, dig ist, glauben, dem Bundesrat in Grenze wirft». über welche er sich zu Recht Bern Lehren erteilen zu müssen (...).» Es könne ja sein, schrieben die Mäd- beklagt.» KEYSTONE chen dem Bundesrat, «dass Sie den Be- NACH DEM VERHÖR werden die Mädchen fehl erhalten haben, keine Juden aufzu- zu Stillschweigen verpflichtet. Und der nehmen, aber der Wille Gottes ist es be- Gemeindeschulrat informierte den stimmt nicht». Der Brief schloss mit der «hochgeehrten Herr Bundesrat» schrift- Bitte um die «Aufnahme dieser ärmsten lich persönlich über die Untersuchung. Nur übte Kritik – indem er lobte Bundespräsident Ueli Mauer steht nicht allein da: Kein Bundespräsident kritisierte die Schweizer Flüchtlingspolitik am Holocaust-Gedenktag offen

VON OTHMAR VON NATT und Verfolgte zur rettenden Insel.» Der Zweiten Weltkrieg schrieb Pascal Cou- 2005 hatte der damalige Bundes- GGG G GGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G G GGGG G G G Schweizerische Israelitische Gemeinde- chepin als Bundespräsident von 2008. präsident am 60. Jah- Der Tag stehe zur Erinnerung an «fürch- bund (SIG) und die «Plattform der Libera- Er übte indirekt Kritik, via Lob. «Dieser restag zur Befreiung des Konzentrati- terliche Verbrechen und unfassbares len Juden der Schweiz» (PLJS) bedauerten Tag ist auch Anlass, der Schweizer Bür- onslagers Auschwitz vor Ort teilgenom- Leid», schrieb Bundespräsident Ueli in einer Erklärung, dass der Bundesprä- gerinnen und Bürger zu gedenken, die men. Dort äusserte sich Schmid zur Maurer am 27. Januar zum Internationa- sident am Holocaust-Gedenktag die an diesem entsetzlichen Tiefpunkt der Aussage von Israel Singer, dem len Tag des Gedenkens an die Opfer des Schweiz in einem einseitigen, nur positi- Geschichte (...) es wagten, das zu tun, Präsidenten des Jüdischen Weltkon- Holocausts. Dann wurde Maurer persön- ven Licht darstelle. «Der Bundespräsi- was ganz einfach getan werden musste, gresses, die Neutralität sei angesichts lich. Er habe am 10. Oktober 2010 die dent lässt die Schwächen und Irrtümer nämlich den Verfolgten zu helfen. Die- des Holocausts ein Verbrechen gewe- Yad-Vashem-Gedenkstätte in Jerusalem der Politik der Schweiz während des se Frauen und Männer tragen den Titel sen. Schmid wies dies scharf zurück. besucht. Er habe eine Gedenkflamme Zweiten Weltkrieges ausser Acht.» ‹Gerechte unter den Völkern›. Sie haben entzündet, einen Blumenkranz nieder- (...) Menschlichkeit bewiesen. Sie liessen DIE ANDEREN BUNDESPRÄSIDENTEN be- gelegt und ins Ehrenbuch des Museums EINE ANALYSE DER GEDENKTEXTE der sich von ihrem Gewissen leiten und tonten, das «Unfassbare» müsse der Ju- die Worte geschrieben: «Nie wieder!» Schweizer Bundespräsidenten seit 2006, gingen unbeirrt ihren Weg.» Und er fol- gend an den Schulen vermittelt werden Im selben Text dankte Maurer aber als der Holocaust-Tag erstmals stattfand, gerte: «Sie zeigen uns, dass der Tri- (Leuenberger 2006, Calmy-Rey 2007, auch der Schweizer Generation «mutiger zeigt jedoch: Kein Bundespräsident kriti- umph des Bösen nicht unabwendbar Hans-Rudolf Merz 2009, Eveline Frauen und Männer» jener Zeit: «Unser sierte bisher die Rolle der Schweizer ist, solange es Frauen und Männer gibt, Widmer-Schlumpf 2012), wandten sich Volk hat damals trotz immensem Druck Flüchtlingspolitik in seinen Gedenktex- die sich nicht von Opportunismus lei- gegen die Leugnung (Calmy-Rey 2011) des Auslands die Kraft gefunden, den ei- ten zum Holocaust-Tag offen und direkt. ten lassen, sondern ihr Handeln an und betonten die «Werte, Würde, genen, unabhängigen Weg fortzusetzen. Den eindrücklichsten Holocaust- Pascal Couchepin war Bundespräsi- ethischen Werten messen, und dies Menschlichkeit» jedes einzelnen Mitbür- So wurde die Schweiz für viele Bedrohte Gedenktext zur Rolle der Schweiz im dent im Jahr 2008. KEYSTONE auch bei Lebensgefahr.» gers (, 2010).