SWR2 MusikGlobal Vom Reichtum Kalabriens

Von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm

Sendung: Dienstag, 25. Juni 2019 Redaktion: Anette Sidhu-Ingenhoff Produktion: SWR 2019

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SWR 2 MusikGlobal 25. Juni 2019, 23.03 - 24.00 Uhr Vom Reichtum Kalabriens Eine Sendung von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm

Musik: Serenade (Stimme, surdulina) (Folk Music of , tr. 1) (3:35)

Autor/in: Vom Reichtum Kalabriens - Eine Sendung von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm

Autor/in: Kalabrien an der Südspitze des italienischen Stiefels ist reich an vielfältigen Landschaften, Gebirgszügen und Flusstälern. Ein Paradies für viele Italiener, die im Sommer dort Urlaub machen. An drei Seiten vom Meer umgeben, grenzt es im Westen an das thyrrenische, im Süden und Osten an das ionische Meer. Nur die enge Straße von Messina trennt die Stiefelspitze Italiens von Sizilien. Vom kalabrischen Städtchen Scilla sieht man die atemberaubende Küste, und Sizilien ist zum Greifen nahe.

(Musik wieder freistehend)

Autor/in: Bis heute bestimmen landwirtschaftliche Produktionsweisen, Ackerbau und Viehzucht, Oliven- und Weinanbau, Fischfang an den Küsten die Ökonomie. Eine nennens- werte Industrie gibt es kaum. Viele Dörfer Kalabriens sind vom Aussterben bedroht. Die hohe Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Auswanderung sind seit jeher das große Problem des italienischen Südens. Der Tourismus konnte sich lange nicht so entwickeln wie in anderen Regionen Italiens. Kalabrien wirkt wie abgetrennt, auch vom Mainstream der italienischen Industriegesellschaft in Mittel- und Norditalien. Immer noch scheinen Bauern, Hirten, Fischer, Handwerker und kleine Händler den Lebensstil auf dem Land zu bestimmen, in den kleinen Dörfern abgeschiedener Täler und Bergregionen. Aber was materiell gesehen Armut bedeutet, kann in anderer Hinsicht ein großer Reichtum sein.

Musik: (surdulina-Dudelsack, tamburell, organetto (FoC tr. 5) Autor/in: Bis heute konnten in Kalabrien alte Volkstraditionen überleben, und wie in kaum einer anderen Region Italiens ihre Funktion im Leben der Dörfer, ihren Formenreichtum in Festen und Feiern, und ihr Instrumentarium bewahren. Wir haben das Glück, dass wir „historische Aufnahmen“ der Musik kalabrischer Dörfer aus den 50er Jahren besitzen und mit späteren Aufnahmen aus den 80er und 90er Jahren vergleichen können. Bedeutende Volksmusikforscher wie der Amerikaner Alan Lomax und seine italienischen Kollegen und Ernesto de Martino haben in den 50er Jahren gezeigt, welche „Schätze“ in Regionen wie Kalabrien zu finden sind.

Musik: und Gesang: Cioparedda (FoC tr. 4)

Autor/in: Archaische Formen mehrstimmiger Gesänge, von Frauen und Männern im Rahmen religiöser Dorffeste und Prozessionen praktiziert, Serenaden und Tänze wie die tarantella, Arbeitslieder bei der Olivenernte oder beim Fischfang der Schwertfischer, handgefertigte Volksmusikinstrumente wie die , die zampogna, das organetto und tamburello, die Kniegeige lira, Hirtenflöten und -oboen, die Reibetrommel cupi-cupi oder zucu-zucu - eine Klangwelt, in der Leben und Arbeit, Erinnerungen und Geschichten, christliche wie heidnische Riten und der Rhythmus der Jahreszeiten die Musik bestimmen-

(Musik wieder freistehend)

Atmo: Bei Sebastiano Battaglia (Gläser klingen, Sebastiano spricht u.a.)

Autor/in: Auf unserer Kalabrienreise im Herbst 2018 trafen wir Volksmusiker wie den 50-jährigen Sebastiano Battaglia. Seine große Leidenschaft gilt dem Dudelsack, in Kalabrien zampogna genannt. Mit sechs Jahren schon hatte er angefangen, Musik zu machen.

Musik: Sebastiano spielt Mundharmonika (eigene Aufnahme)

Autor/in: Am Anfang spielte er nur eine einfache Mundharmonika bei Festen mit Freunden. Das Instrument war so billig, dass sich die rote und blaue Farbe des Gehäuses auf seinen Lippen abdrückte. Denn seine Begeisterung war so groß, dass er nicht aufhören konnte.

(Musik wieder freistehend)

Autor/in: Mit 14 bekam er von seinem Großvater ein organetto geschenkt, ein kleines diatonisches Akkordeon. Ein Dudelsack, eine zampogna, war damals nur schwer zu bekommen, weil es an Instrumentenbauern fehlte. Aber dieses Instrument spielte in seinem Leben schon sehr früh eine große Rolle. Sein Onkel Ciccio spielte die zampogna bei den Festen der Familie, und Sebastiano erinnert sich genau an ihren Klang bei den langen Festen.

Musik: Zampogna: La Cadenza (FoC, tr. 12)

OT Sebastiano 01: "Ich war ein Kind, erst 6 Jahre alt und irgendwann während des Festes schlief ich beim Klang dieses Instruments auf einer Truhe ein. Es war immer eine festa a ballo, ein Tanzfest, man kochte frittole, man aß Schwein, die zampogne spielten wunderbar. Diese Klangerinnerungen blieben jahrelang in meinem Kopf und begleiteten mich wie ein Schatz. Nach dem Militärdienst, als ich 20 war, habe ich eine zampogna für mich gesucht und habe damit angefangen. Ein bisschen spät, aber es hat gereicht, um vieles realisieren zu können. Das Instrument hat mir viele schöne Momente geschenkt, die das Leben wertvoller machen. Durch die Musik habe ich viele Menschen kennengelernt, mit denen ich verbunden geblieben bin. Man teilt das Essen, ein Glas Wein, die Musik und die Freundschaft. Dank der Musik konnte ich auch viele andere Orte kennenlernen."

(Musik wieder freistehend)

Autor/in: Kalabrien ist eine der reichsten Regionen Italiens, was die Vielfalt an Dudelsack-Formen betrifft. Sie heissen surdulina, a paro, a chiave, a la moderna u.a. und unterscheiden sich in der Größe, in der Harmonik und Stimmung und in der Zahl der Pfeifen - meistens 4 oder 5, selten 6, davon 2 Melodie- und 2 - 4 Bordunpfeifen. Der Luftsack ist immer aus Ziegen- oder Schafshaut, während die Pfeifen aus Ahorn-, Oliven-, Walnuss-, Maulbeerbaum und anderen Hölzern gefertigt werden. Die Mundstücke gibt es als einfaches Blatt oder als Doppelrohrblatt wie bei der Oboe. Weitere wichtige Accessoires sind Bienenwachs zur Abdichtung, Stöpsel zum Schließen der Bordunpfeifen beim Stimmen, farbige Bänder und Kokarden, meistens rot, zum magischen Schutz des Instruments.

Musik: Sebastiano Battaglia: Zampogna-Stück (eigene Aufnahme)

Autor/in: Sebastiano spielt für uns, als wir ihn besuchen. Erst muss er den Sack oder Balg mit seiner Atemluft füllen. Er wirkt riesig, wenn er voll ist. Und als Sebastiano zu spielen beginnt, sieht es aus, als würde er eine Ziege umarmen. Der kalabrische Dudelsack ist kein Instrument, das industriell produziert wird. Meistens sind es die Spieler selbst, die ihn herstellen. Es ist nicht selbstverständlich, einen Dudelsack zu besitzen, vor allem wenn es ein gutes Instrument sein soll. Vielleicht ist das auch der Grund, warum viele ältere Dudelsack- spieler eifersüchtig über ihr Instrument wachen. Sebastiano erzählt die Geschichte seines Maestro Pietro Cilione, bei dem er gelernt hat, ein Schäfer, der den Dudelsack wie kein zweiter spielen konnte.

OT Sebastiano 13:“Als Pietro Cilione acht Jahre alt war, ist er mit dem Großvater, einem Schäfer, auf die Weide gegangen. Der Großvater hatte seinen Dudelsack mitgebracht, das Enkelkind durfte ihn aber nicht einmal berühren und spielen schon gar nicht. Deswegen wartete der kleine Pietro darauf, dass der Großvater eingeschlafen war, um den Dudelsack zu packen und weit weg von der Hütte in der Natur zu spielen. Einmal hat der Großvater ihn beim Spielen doch erwischt. Das war ein besonderer Moment. Pietro Cilione spielte mit acht Jahren so schön, dass sein Großvater weinen musste. Er weinte aus Schmerz, weil das Kind schon so gut wie er spielen konnte, so dass er sich alt fühlte, als wäre seine Zeit schon vorbei. Aber er weinte auch aus Freude, weil das Kind sein Erbe angetreten hatte - mit Leidenschaft und großer Begabung.“

Autor/in: Die Musiker waren früher selten Menschen, die ausschließlich als Musiker arbeiteten. Oft waren es Schäfer oder Bauern, die zu den Festen spielten. Manche galten damals und gelten heute noch als anerkannte, angesehene Künstler, als wichtige Vertreter der Tradition. Auch Sebastiano Battaglia selbst übt einen anderen Beruf aus. Aber er spielt, um das Leben zu begleiten, es lebenswerter zu machen und die Tradition fortzuführen.

OT Sebastiano 02: "2003 hatten wir dann die Idee, diesen circolo, diesen Verein zu gründen. Es gibt Vereine von Jägern, von Karten- und Tennisspielern, warum nicht ein circolo di zampognari, ein Verein von Dudelsackspielern! Der Sitz ist hier in diesem Raum, der zum Teil unseres Lebens geworden ist. Heute Abend kommen noch weitere Freunde, die mit uns spielen werden. Wir studieren die Stücke, die Harmonien, die Stimmungen, es ist wie eine Musikschule, für alle offen, für die, die lernen möchten, aber auch für jene, die diese Musik überhaupt erst einmal kennenlernen und verstehen möchten. Wir lernen voneinander, das ist sehr wichtig. Jeder hat seine positiven wie negativen Erfahrungen und teilt sie mit den anderen. Das hilft auch, um besser spielen zu können."

Musik: Sebastiano Battaglia: Zampogna-Stück (Forts.) (u.T.)

Autor/in: Wir sitzen mit Sebastiano Battaglia in der Associazione Zampognari di Cardeto in . Sebastiano, Präsident der Associazione, sagt: „Ein Gespräch kann nur anfangen, wenn Wein und Brot auf dem Tisch stehen. Alles erzählt eine Geschichte. Diese Musik ist nur ein Haufen Klänge, wenn sie getrennt vom Leben ist. Du sitzst jetzt hier, ich schenke dir meinen Wein ein, erzähle dir, woher er kommt, von meinen Eltern und den Trauben, die wir haben, ich beschreibe dir das Dorf, wo meine Eltern wohnen, wie wir auf dem Feld arbeiten."

(Musik wieder freistehend bis Ende)

Autor/in: Solche Geschichten muss man kennen, wenn man auch die Musik verstehen möchte. Einmal im Monat backen die Frauen seiner Familie in Cardeto Brot. Sie schenken es dann auch den Nachbarn, die dasselbe machen. Eine Art Ritual, meint Sebastiano, das den einfachen Dingen eine Bedeutung gibt.

OT Sebastiano 14 B: "Das Schönste, was mit diesem letzten Brot passiert, das sie cuddurace nennen, ist, dass es nicht wie üblich geformt wird. Sie machen mit dem Teig eine Art Schlange, die sie dann zusammenflechten. Ich habe meine Tante gefragt, woher das kommt. 'Das machten wir auch mit unseren Haaren - ich, meine Mutter und ihre Mutter - sie zusammenflechten und hochbinden.' Warum? 'Wegen der Schönheit! Das letzte Brot, das wir backen, formen wir so für die Bedeutung und die Schönheit des Tages, den wir hatten."

Autor/in: Ein Stück von diesem Dorfleben hat Sebastiano dem Verein übertragen. An den Wänden hängen Fotos und Plakate. Überall liegen tamburelli, organetti und zampogne herum. Sebastiano erzählt von den vielen Treffen, musikalischen Begegnungen und Abendessen, die hier stattfinden. Für viele Spieler ist der Verein ein Zuhause geworden.

OT Sebastiano 03 A: "Der Verein bringt Musiker aus verschiedenen Gegenden Kalabriens zusammen, von den Tälern der ionischen Seite bis zu denen an der thyrrenischen Seite. Das Wichtigste sind die alten Leute, die einen Schatz an Erinnerungen mit sich tragen. Sie erzählen von der authentischen Tradition, von Dingen, die heute nicht mehr so erlebt werden. Bei der festa a ballo zum Beispiel tanzten die Menschen nur, wenn ihnen die suonatori, die Musiker, gefielen. Wenn sie ihnen nicht gefielen, tanzten sie nicht. Heute tanzen alle, es spielt irgendeine eine Musik und die Leute tanzen dazu, einfach so. Früher tanzte man, wenn die Musik einem gefiel, wenn sie gut gespielt wurde, wenn die Musiker den Rhythmus halten konnten.“

Musik: Tarantella: Organetto, Tanzschritte, Rufe (Alan Lomax Collection, tr. 6)

OT Sebastiano 03 B: "Früher tanzte man, weil es ein Ritus war. Es war eine Form von respektvollem Miteinanderleben, von Respekt den eigenen Frauen und Familien gegenüber. Man ging zu den feste a ballo und brachte auch die Tochter mit, auch um zu sehen, ob sie dort einen Verlobten finden konnte. Wenn die Tochter einen Mann mochte, mit dem der Vater sonst nicht einverstanden gewesen wäre, der aber gut tanzen konnte, war der Vater einverstanden. Das hatte für ihn einen hohen Wert, dass die Tochter einen guten Tänzer heiratete."

(Musik wieder freistehend, dann u.T. fade out)

OT Sebastiano 04: "Schon Anfang der 70er Jahre hat sich etwas verändert. Die Folklore war schon immer da, aber nun spielte sie eine wichtigere Rolle und hat die Volkstradition in den Hintergrund rutschen lassen. Es gab Choreographien der Tänze, alle trugen Kostüme. Viele schämten sich, daran teilzunehmen, weil sie keine Kostüme hatten, und haben langsam mit dem Tanzen aufgehört. Das hat der Volkstradition geschadet. Ab den 90er Jahren gab es eine Wiederentdeckung der Tradition mit verschiedenen Variationen, nicht immer treu, aber immerhin macht man weiter. Wir versuchen, das fortzusetzen, was die Alten uns erzählen."

Atmo: Santa Lucia Prozession im Dorf Riace (eigene Aufnahme Dezember 2018)

Autor/in: Es ist schon ein seltsames, aber anrührendes Erlebnis, wenn man an einem dunklen Dezemberabend in einem kalabrischen Dorf an einer Prozession teilnimmt. Schritte und Gebete hallen in den engen Gassen, Rosenkränze werden gemurmelt, Kirchenlieder und Litaneien erklingen ... und eine Banda, eine Blaskapelle begleitet lautstark den feierlichen Duktus der Prozession für Santa Lucia, die Heilige des Lichts im dunklen Winter. Man fühlt sich an Kindheitstage erinnert, wo man noch ganz selbstverständlich in einer Fronleichnamsprozession mitlief.

Atmo: Santa Lucia Prozession in Riace (0:45 - 2:45, dann u.T. bis 3:26)

Autor/in: Weit archaischer klingt eine Karfreitagsprozession im April 1992 in der Aufnahme des italienischen Musikethnologen Antonello Ricci. Vor knapp 25 Jahren dokumentierte er das musikalische Leben in Mesoraca, einem 30 km westlich von Crotone in den Bergen gelegenen Dorf von 7.500 Einwohnern. Für Antonello Ricci ein sozialer wie musikalischer Mikrokosmos - inmitten des Makrokosmos, der Kalabrien heisst.

Musik: Mesoraca: Karfreitagsprozession/ mehrst. Gesang (Mesoraca tr. 16) (1:08) Kalvarienprozession (Trompete, Trommeln M tr. 17) (0:42) Mehrstimmiger Gesang (Männer) (tr. 18) (1:10) Kirchenglocken (M tr. 19) (bis 1:03)

Autor/in: Wie vor Jahrhunderten ist es immer noch der Zyklus der Jahreszeiten und des Kirchenjahres mit seinen besonderen Festen, Feiern, Ritualen, welcher das Leben in den Dörfern Kalabriens bestimmt. Natürlich hat sich in den letzten Jahrzehnten einiges verändert, aber viele Traditionen konnten sich behaupten. Die Aufnahmen aus dem Dorf Mesoraca in den 90er Jahren zeigen eindrucksvolle Beispiele aus der bäuerlichen Klangwelt Kalabriens.

Musik: Mesoraca: Botti e spari di Capodanno e la strina (M tr. 10) (7:37)

Autor/in: Silvester wird wie fast überall in der Welt mit einem Feuerwerk gefeiert, aber es gibt bestimmte Gesänge am Neujahrstag, die man nur in Kalabrien finden kann und mit der Reibetrommel cupi-cupi oder zucu-zucu begleitet werden. Mehrstimmige Gesänge von Frauen erklingen am Nachmittag des Karnevalsdienstag und an Aschermittwoch in Verbindung mit dem Rosenkranz.

Musik: Mesoraca: Rosario per le quarant'ore (M tr. 14 (Rosenkranz) (1:50)

Autor/in: Am letzten Sonntag im Mai beginnt die Wanderung der Tiere, Schafe und Ziegen, auf die höher gelegenen Weiden in den Bergen, die Transhumanz. Ein freudiges Ereignis, bei dem ein Hirte auch zum Tanz auf seiner Hirtenflöte blasen mag. Und dann erklingen die Ziegenglöckchen, le campane delle capre, die geschmiedet und gestimmt werden und dieses vielstimmige Geläute ergeben, das für uns Städter eine wahrlich pastorale Landschaft evoziert. Dabei ist das Hüten der Herden, das Suchen entlaufener Ziegen, das Ausharren in glühender Sonne mit Anstrengung verbunden und gar nicht so idyllisch. Zum Zeitvertreib spielen zwei Hirten auf ihren Flöten, die frischettu heissen, sie fordern sich gegenseitig heraus, indem jeder sein Repertoire zum Besten gibt. Ein anderer Hirte spielt nur für sich selbst und seine Herde.

Musik: Mesoraca: Abballo (M tr. 20) und le campane della capra (M tr. 22) (2:55) und Suonata e richiami (M tr. 24) (Flöte und Ziegenglöckchen) (1:34)

Autor/in: Im Oktober bereitet man den Dudelsack vor. Beschädigte Pfeifen müssen ersetzt werden und die Ziegenhaut befeuchtet. Die erste wichtige Gelegenheit zu spielen, ist an Allerheiligen, wenn man Eltern und Freunde besucht, um die Nacht des 1. Novembers zusammen zu verbringen. Hier spielt Alessandro Perri, einer der besten Dudelsackspieler der Gegend, seine zampogna stifetta mit 5 Pfeifen. Ihre vollständige Bezeichnung lautet: zampogna surdulina calabrese a 5 fusi la stifetta.

Musik: Mesoraca: Passa vinedda e abballi (Tänze) (M tr. 26) (2:40)

Autor/in: Zur Olivenernte im November/Dezember werden oft Lieder gesungen. Hier singen Filomena, Carmina und Angelina Brizzi ein Liebeslied - eine Aufnahme vom Dezember 1992. Und danach hören wir acht Männer, aufgenommen Anfang Januar 1993, mit dem vielsagenden Text: Ein König lebt nicht länger als ein Leidender, als ein Armer, der nichts besitzt (Quanto vive un re tanto un afflito / tanto un poveretto senza niente). Musik: Mesoraca: Oli oledda (M tr. 27 und 28)

Autor/in: Neben der Instrumentalmusik ist es vor allem der Gesang, der einen großen Raum in den ländlichen Musiktraditionen Kalabriens einnimmt. Es gibt viele lokale Stile, und die Texte werden im Dialekt des Ortes gesungen, in dem sie entstanden sind. Es gibt auch Kultur- und Sprachminderheiten wie die albanische, die Arbëreshë sprechen. Im 15. Jh. flüchteten Albaner vor dem Ansturm der osmanischen Türken nach Süditalien, über fünf Jahrhunderte behielten sie ihre eigene Sprache, vermischt mit kalabrischen Dialekten. Hier ein Wechsel- gesang in Arbëreshë von zehn Männern, die am Dienstag nach Ostern ein altes Ritual aufführen. In zwei Gruppen laufen sie, mit Taschentüchern verbunden, durch die Gassen des Dorfes, singen ihre Grüsse und guten Wünsche, und werden dafür mit Essen und Trinken belohnt.

Musik: 2 Solostimmen und 8 Männerstimmen: Viershe (FoC, tr. 14)

Autor/in: Bevorzugtes Stilmittel ist oft eine archaische Mehrstimmigkeit, die wie von den Bordunklängen des Dudelsacks entlehnt scheint. Die Stimmen, auch die der Frauen, sind kräftige Bruststimmen. Der Tonbereich überschreitet selten eine Quinte oder Sexte. Die vokale Spannung, bei der die Kehle eng bleibt und der Mund nicht weit geöffnet wird, führt zu gutturalen und nasalen Timbres. Dieser mehrstimmige Gesang von Frauen wird am Karfreitag gesungen: eine Hauptstimme und zwei Begleitstimmen mit einem dunklen Stimmtimbre und einem gedämpften Gesangston. Im Text heisst es: Am Freitag im März darf man nicht singen, denn Jesus Christus ist gestorben während der Passion. (booklet S. 53)

Musik: 3 Frauenstimmen: Lu venneri santu (FoC, tr. 19)

OT Anna 01 A: "Ich beschäftige mich mit einer Traditionslinie von Frauengesängen. Wenn der Gesang einen Zweck, z.B. einen religiösen hat, wird der Gesang noch notwendiger, noch dringlicher für die Volkssänger.“

(Musik wieder freistehend und u.T.)

Autor/in: Fasziniert von solchen traditionellen Gesängen ist Anna Maria Civico, Sängerin und Schauspielerin aus Catanzaro, der Regionalhauptstadt Kalabriens. Schon als Kind wollte sie Schauspielerin und Sängerin werden. Zum Gesang kehrte sie später zurück, als sie im Theater mit Maud Robart arbeitete, einer Assistentin des polnischen Regisseurs Grotowski.

OT Anna 01 B: "Als ich 1998/99 die Gesänge der settimana santa, der Osterwoche, in Cassano allo Ionio hörte, konnte ich einen Bezug spüren, der mich an einen griechischen Chor erinnert hat. Deutlich zu erkennen war die Position einer Koryphäe, einer Chorführerin innerhalb dieses Frauenchors. Es gab also eine Beziehung zwischen dieser Frau, die den Gesang anführt und der zweiten und dritten Stimme, die folgen, oder einer Stimme im Gegengesang, eine sehr hohe Stimme, die etwas Übermenschliches hat. Eine Stimme, welche die Solistin an einen überirdischen Ort zu ziehen scheint. Aber zum Glück gibt es die tieferen Stimmen, die die Chorführerin stützen und zurückbringen. Ich sah damals, wie sie manchmal fast in Ohnmacht fiel, den Kopf nach hinten bewegte wie belastet von der Kraft ihres wie auch des kollektiven Klangs. Der Kreis von Frauen um sie herum schien notwendig, auch um sie zu stützen."

Autor/in: Als Anna Maria Civico sehr jung war, kam sie mit der traditionellen Musik in Kontakt - dank älterer Freunde, die als Musiker damals danach forschten. Der Klang dieser Musik ist in ihr geblieben. Bei der Lehrerin Maud Robart experimentierten sie mit afro-karibischen Schwingunggesängen, canti vibrazionali. Später kam sie auf die Volksmusik Kalabriens zurück. Was sie kultiviert, ist der Stimm-Körper (il corpo- voce). Wenn sie singt, spürt sie in sich etwas, das über den reinen Klang hinausgeht, sie beschreibt es als ein erweitertes Schwingungsereignis, das den ganzen Körper miteinbezieht. Anna sieht ihre Forschung über mündlich überlieferte Gesangstraditionen im Kontext ihrer künstlerischen experimentellen Arbeit mit Klang und Körper. Sie versucht Verknüpfungspunkte zwischen der Herkunft der Musik und einer zeitgenössischen Gesangspraxis zu finden, die ihr kulturell näher steht.

OT Anna 03: "Ich lerne von den Sängern der Volksmusik sehr viel durch teilnehmende Beobachtung, durch Empathie, und durch die Praxis. Ich bin eher eine Praktikerin als eine Wissenschaftlerin. Ich lerne durch die Beobachtung während eines kleinen Volksfestes, wo die Spieler oder Musiker, eingeladen werden, und am Ende wird getanzt oder man hört nur zu. Auch wer nur zuhört und Zeuge ist, trägt zum Erfolg des Festes bei."

Autor/in: Eine Männersolostimme wird im nächsten Gesang von 4 Frauenstimmen begleitet. Auffallend die hohe Frauenstimme, die in der zweiten Strophe einsetzt. Es ist ein All'aria- Gesang, der im Freien während der Arbeit gesungen wird: Ich habe Bäume gesehen, gefällt / am Boden liegend verwüstet, zerstört / In einem Jahr sah ich sie wieder leben mit schönen Zweigen und Früchten / Auf dem flachen Stein schimmert Gold / Denk an meine Worte.

Musik: All‘aria-Gesang: A bandieria bella (FoC, tr. 11) (Männerstimme und 4 Frauenstimmen)

OT Anna 04 A: "Für mich sind diese Gesänge und wahrscheinlich einige Passagen und Aspekte der Melodie archäologisch-vokale Mosaiksteinchen, die uns etwas über musikalische Muster beibringen können, die in Kalabrien nicht mehr so verbreitet sind wie früher. Man findet sie noch nur in wenigen Gegenden. Genauer gesagt kann man sie nur bei ganz bestimmten Musikern und Sängern finden." (0'32'')

OT Anna 04 B: "Diese archäologisch-vokalen Mosaiksteinchen sind für mich sehr wertvoll. Ich entwickle, verstärke den Modus, den ich in einem musikalischen Motiv finde. Vielleicht verbessere ich in manchen Fällen jenes musikalische Muster, aber durch eine sehr langsame Praxis, die vor allem aus Zuhören besteht und weniger ein theoretisches Projekt über Melodik und Harmonik ist. Das ist meine Haltung. Aber es gibt Sänger, die diese Gesangs- und Musikformen von der eigenen Familie oder von ihrem Dorf überliefert bekommen haben. Sie verfolgen sicher andere Ziele." (0'48'')

Autor/in: Anna arbeitet sehr viel mit den historischen Aufnahmen von Alan Lomax und Diego Carpitella aus den 50er Jahren und mit weiteren Aufnahmen bis in die 80er Jahre hinein. Damals war das Ohr noch nicht so stark durch mechanische Geräusche wie Motoren belastet. Solche mechanischen Dauergeräusche kennen keine Pause, keine Unregelmässigkeit, kein Atmen wie wir Menschen und die Natur. Eine dieser Aufnahmen trägt die Bezeichnung Alla campagnola, ein Liebeslied nach ländlicher Art, das bei der Feldarbeit gesungen wird. Diese Aufnahme von fünf Frauen entstand im August 1954 in der Provinz von Catanzaro im Rahmen des Dokumentationsprojekts von Alan Lomax und Diego Carpitella. Eine „wilde“ Mehrstimmigkeit von eigenartig archaischem Reiz.

Musik: Fünf Frauen: Alla campagnola (Folk Music and Song of Italy, tr. 6)

OT Anna 05 (+Gesang): "Mich interessiert diese vokale Situation, die Stimme aus jener Zeit, weil sie mir auch von einer Beziehung mit dem eigenen Körper erzählt. Diese Stimme erzählt nicht nur von der Umwelt, die sich auch in der Musik widerspiegelt, sondern von einer Beziehung mit der eigenen Körperlichkeit ... Ich gebe ein Beispiel (SINGT) ... Jetzt singe ich denselben Gesang wieder, aber im Stehen (SINGT) ...

OT Anna 06: "Zu analysieren, wie man dazu kommt, ist eine technische Frage. Man braucht viel körperliche und gleichzeitig vokale Arbeit. Und man braucht sehr viel Strenge und Fleiß, um den Körper dazu zu bringen, eine lange Zeit den Rhythmus zu halten. Man braucht Zeit, um eine feste Verbindung der Stimme mit dem Rhythmus des eigenen Körpers zu finden".

OT Anna 02: "Was in meinem Fall stattfindet, drückt sich nicht in einer Aufführungssituation aus wie bei der mündlich überlieferten Gesangstradition. In meinem vokalen Laboratorium wird experimentiert: Ich unterrichte Praktiken für die Stimme, Praktiken der Integration von Körper und Bewegung, bei denen die Stimme das zentrale Medium ist, durch das diese Integration von Körper und Bewegung mit dem klanglichen, musikalisch-vokalen Ereignis zu finden ist." (0' 38'')

Autor/in: Eine historische Aufnahme mit dem mehrstimmigen Frauengesang "Pumellu Russu" von Alan Lomax und Diego Carpitella aus dem Jahre 1954 hat Anna Maria Civico mit ihrer eigenen Gesangsgruppe, dem Rrosa-Trio, übernommen. „Pumellu russu“, zu Deutsch „Rote Wangen“ ist ein „canto all‘aria“, ein Gesang, der meistens im Freien während der Arbeit oder in den Pausen auf den Feldern gesungen wurde. Die erste Stimme bestimmt den Rhythmus, den Atem und die melodische Linie, auf die sich dann die Begleitstimmen beziehen. Im Text des Liebesliedes heisst es: „Sie hat rote Wangen und ist schön wie die Flagge eines Schiffs. Du Schönheit, die das Herz durchbohrt, deine Haare lassen mich verrückt werden, wenn der Wind weht und sie bewegt. Ich möchte ein Porträt von dir in meinem Herzen prägen lassen.“ Wir hören erst die historische Aufnahme, dann die Version von Anna Maria Civico‘s Trio im Hof eines alten Palazzo.

Musik: Frauengesang: Pumellu Russu (2:21) (Alan Lomax Collection, tr. 27) Rrosa-Trio: Pumellu Russu (2:28) (RRosa Trio, eigene Aufnahme)

OT Anna 07: "Die Texte der Gesänge sind poetisch. Vielleicht weil unsere heutige Sensibilität diese Art und Weise zu denken als poetisch empfindet. Sie gehört zur bäuerlichen Welt und ist sehr konkret. Sie hat mit der Fähigkeit zu tun, die eigenen Gefühle in konkreten Zusammenhängen zu beobachten. Das Erlebte bezieht sich zum Beispiel auf den Wechsel des Lichts, auf den Sonnenaufgang und Sonnenuntergang. Oder auf die Zeit, in der man Oliven pflückt. Es sind Dimensionen, die sich ergänzen: 'Was passiert mit mir, wenn ich Oliven pflücke?' Ich bin also notwendigerweise auch der Olivenernte dankbar für die Gefühle, die ich habe. Oder aber für die Schwierigkeiten, es gibt viele Gesänge, die von Schwierigkeiten erzählen. Es ist diese Art und Weise, an sich zu denken auch im Zusammenhang mit den Veränderungen in der Natur.“ (01' 12'')

Musik: „Ti Vasharele“ (Chants des Albanais de Calabre, Tr. 8)

Autor/in: Vom Reichtum Kalabriens - Eine Sendung von Cristiana Coletti und Wolfgang Hamm.

(Musik wieder freistehend, dann u.T. )

Autor/in: Zum Schluss eine Serenade auf Arbëreshë, der albanisch-kalabrischen Sprache, von der Gruppe Arbëreshë di Lungro: „Mädchen, wie traurig bist du! / Ich will dich heireten/ Selbst wenn du arm bist/ Selbst wenn du kein Pfennig hast/ Selbst wenn deine Kleider nicht gestickt sind / Möchte ich dich heireten wegen deinder Schönheit.“

***