IM GESPRACH

ROLF HENRICH UND OTTO SCHILY

ISSN 1028-2734 Klagenfurter Beiträge zur Technikdiskussion

Heft 35

Herausgegeben von Arno Bamme, Peter Baumgartner, Wilhelm Berger, Ernst Kotzmann

ISSN 1028-2734

In dieser Schriftenreihe veröffentlicht das IFF, Arbeitsbereich Technik- und Wissen- schaftsforschung, Arbeitsmaterialien, Diskussionsgrundlagen und Dokumentationen, die nicht den Charakter abgeschlossener Forschungsberichte tragen, aber dem jeweils interessierten Fachpublikum zugänglich gemacht werden sollen. Beabsichtigt ist, neuere Forschungsresultate schnell, auch in vorläufiger Form, ohne aufwendige Aufarbeitung in die wissenschaftliche Diskussion einzubringen.

Der Nachdruck, auch auszugsweise, ist nur mit der Zustimmung des Instituts gestattet. Editorial

Im März und April fand in Klagenfurt eine Veranstaltungsreihe der Philosophischen Gesellschaft unter dem Titel Grenzberichte statt. An vier Abenden waren Schrift­ steller, Theoretiker und Politiker aus sieben europäischen Ländern eingeladen, um über ihr Land zu berichten, von ihren Lebensumständen zu erzählen und zu ver­ suchen, im Gespräch Gemeinsamkeiten und Differenzen zu reflektieren. Es kam uns darauf an zu erfahren, welche Besonderheiten, Unvereinbarkeiten, welche ganz konkreten Probleme und Konflikte das ausmachen, was man das je eigene Land nennt. Der Abend mit Otto Schily und Rolf Henrich am 6. April 1990 stand unter dem Vorzeichen der zukünftigen Vereinigung beider deutschen Staaten. Unter dem Titel: Einheit und Widerspruch sollte vor allem die Problematik dieses Vereinigunsprozesses zur Diskussion gestellt werden. Ob diese Vereinigung überhaupt zustande kommen kann, stand außer Frage. Hier waren sich Otto Schily und Rolf Hernrich einig. Fragt man nach dem Autor dieser Einigkeit, so ist es die Geschichte selbst. Mit dem Ton der Geschichtsmächtigkeit stellt sich nur mehr die Frage nach dem "Wie", nach der Machbarkeit eines vereinten Deutschlands. Und so standen auch die Folge­ problematiken, die Fragen der Währungs- und Wirtschaftsunion, der Eigentums­ verhältnisse und Reformen, wie die Auswirkungen der Vereinigung auf die politische Landschaft eines neuen Deutschlands und hier besonders der mögliche Zusammen- schluß der PDS mit den Grünen, im Mittelpunkt. Insgesamt gesehen, scheint die Realisierung eines gesamten Deutschlands nach westlichem Vorbild beschlossen zu sein. Ein "anderer Ton", der an diesem Abend nur kurz mit der Dritte-Welt-Problematik angesprochen wurde, fand sich nur selten. Besonders in Bezug auf das aktuell gewordene Haus Europa, war bei den anderen Veranstaltungsabenden nicht nur Zustimmendes zu hören. Ob in einem ökonomisch vernetzten Europa die kleineren Staaten wie Rumänien oder Bulgaren sich mit dem Keller des Hauses abfinden werden müssen, scheint nur allzu sicher zu sein. Beim Veranstaltungsabend "Schweiz - Österreich: Das Neutrale" wurde eine mögliche "Nordweltapartheid" angesprochen, die den Nord-Süd-Konflikt noch verschärfen könnte. Auch die Befürchtung, daß in einem vereinten Europa jene demokratischen Strukturen, die z.B. in der Schweiz unter dem Schutz der Neutralität aufgebaut werden konnten, in einem unter ökonomisch-zentralistischen Gesichtspunkten be­ stimmten Europa wieder abgebaut werden würden, blieb ohne Antwort. Sie konnte nur mit Sollens-Bestimmungen aufgefangen werden. Die politische Forderung nach Erhaltung demokratischer Strukturen, dem Mitbestimmungsrecht von Bürger­ bewegungen oder der kulturellen Vielfältigkeit, wurde ausgesprochen. Wie diese aber 1 zu realisieren ist, blieb offen. Scheinbar bleibt die Hoffnung, daß der sich ent­ wickelnde europäische Wirtschaftsraum ohne Demokratisierung gar nicht funk­ tionieren kann. Daß Angst, Zögern oder Nachdenklichkeit keine Kriterien für die Machtbarkeit sind, wurde von Otto Schily und Rolf Henrich sehr deutlich gemacht. Was die Wieder­ vereinigung betrifft, wurde klargestellt: zuerst wird die Geschichte vollzogen, dann ist wieder Zeit für andere Probleme. Insofern könnte das Tempo und die Methode der deutschen Vereinigung paradigmatisch für das Tempo und die Methode des angestrebten vereinigten Europas sein. Die ökonomisch treibende Kraft wird hierbei wohl die wirtschaftliche Potenz der BRD zu sein. Dieser Prozeß scheint zwingend und ohne Alternative zu sein, scheint doch ein vereintes Europa notwendig, um die politisch-ökonomische Potenz Deutschlands unter europäischer Kontrolle zu halten. Unter diesem Gesichtspunkt legitimieren sich wechselseitig die Vereinigung Deutsch­ lands und Europas. Wie Schily sagte: "Wir können umso deutscher sein, je euro­ päischer wir werden". Die Frage ist, ob sich Europa auch unter deutschen Vor­ zeichen vereinigen wird. Ein radikal oppositionelles Denken erscheint unter der Perspektive eines vereinten, demokratischen Europas irrational. Inwieweit die Entstehung eines ökonomisch­ politischen und kulturellen Machtblockes in Europa einen Terrorismus der Dritten Welt hervorrufen wird, bleibt als Frage aufgegeben. Wächst nicht die Gefahr, daß auf die offensichtliche ökonomische Vernünftigkeit des Vereinigungsprozesses nur mehr mit genauso offensichtlicher Unvernünftigkeit geantwortet wird? Wie aus dieser Diskussion hervorgegangen ist, wird sich ein demokratisches System gleich­ zeitig mit seinen eigenen obrigkeitsstaatlichen Traditionen und der Frage des Terrorismus auseinandersetzen müssen, um ein demokratisches System zu bleiben. Aus österreichischer Perspektive stellt sich weiterhin die Frage, wie ein kleiner Staat - noch dazu mit dem Status der Neutralität - im Prozeß der europäischen Vereinigung sein Recht auf Autonomie und Mitbestimmung bewahren wird können. Auf diese Frage wurde auch von Teilnehmern aus Bulgarien, Rumänien, der Tsche­ choslowakei und Ungarn insistiert. Besonders für kleine Länder ist es selbstver­ ständlich problematisch und identitätsbedrohend, wenn ökonomische Macht die politischen Perspektiven vorgibt.

An dieser Stelle möchten wir uns besonders bei Arno Bamm6 für die Konzeption und Moderation des Gespräches mit Rolf Henrich und Otto Schily bedanken. Be­ sonderer Dank auch an Frau Gerda Tomaschitz, die die schriftliche Fassung des Gespäches erstellte. Im Gespräch: Rolf Henrich (Deutschland-Ost) und Otto Schily (Deutschland-West)

Arno Bamml: Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie zum heutigen Gesprächs­ abend der "Grenzberichte" und heiße dazu unsere Gäste, Herrn Rolf Henrich aus Deutschland-Ost und Herrn Otto Schily aus Deutschland-West herzlich in Klagenfurt willkommen. Wir haben es hier mit zwei Deutschen zu tun, die mindestens zwei Dinge miteinan­ der gemein haben: Beide sind Juristen, und beide verfügen über eine Tugend, die in dem durch obrigkeitsstaatliches Denken lange Zeit geprägtem Deutschland nur spärlich entwickelt war: Zivilcourage. Der eine, aus Deutschland-Ost, wurde wegen seiner Kritik am real existierenden Sozialismus mit Berufsverbot belegt und aus der Partei ausgeschlossen. Bei dem anderen, aus Deutschland-West, fand man degoutier- lich, daß er, in Zeiten latenter politischer Hysterie, des Terrorismus Verdächtigten juristischen Beistand gewährt hat. Klaus Ratschiller, Hubert Wank und ich haben uns Themenkomplexe zurechtgelegt, von denen wir annehmen, daß sie auch für Österreich interessant sind. Dazu werde ich im Laufe des Gespräches einige Impulsthesen geben. Ich möchte nun mit dem ersten Themenkomplex "Politische Ambition - persönlicher Lebensweg" beginnen. Herr Rolf Henrich hat einen Weg genommen, von der staatstragenden Partei zur Radikalopposition. Die Kritik, die er in seinem Buch "Der vormundschaftliche Staat" formuliert, ist meines Erachtens radikaler als die Kritik, die zuvor Rolf Bahro formuliert hat. Bahro hatte ja gesagt, die DDR befindet sich im Stadium des Proto- sozialismus. Rolf Henrich hat gesagt, das stimmt so nicht. Der Sozialismus, das heißt, der Realsozialismus ist nicht die historische Folgestufe auf die bürgerliche Gesellschaft, sondern ein paralleler Entwicklungspfad. Er ist die industrielle Form der asiatischen Produktionsweise. Im "Spiegel" vom 27. März 1989 war daraufhin zu lesen, daß Rolf Henrich mit ein, zwei Jahren Gefängnis rechne, daß er sie aushalten würde, aber ein Held sei er nicht. "" meinte dazu, Rolf Henrich werde wohl nach West-Deutschland gegen Devisen abgeschoben. Es kam dann alles ganz anders. Herr Henrich, wie erlebten Sie das damals, was waren Ihre Beweggründe, Ihre Perspektiven, war das ein Alleingang oder mit Freunden abgesprochen?

Rolf Henrich: Sie haben die Spiegeigveröffentlichung angesprochen. Meine Freunde haben damals angenommen, daß es nicht ohne eine Inhaftierung abgehen würde. Da gab es halt immer denselben Mechanismus, Inhaftierung und letztendlich Abschiebung 3 in die BRD. Es haben mehrere Freunde mit mir zusammen gestanden, aber wir waren, jedenfalls vor dem Frühjahr 1988, doch ein sehr kleiner Kreis. Und auch da muß man wieder unterscheiden, zwischen denen, die unter dem Dach der Kirche gearbeitet haben und jenen die nur unter diesem Dach gearbeitet haben. Das war ein Raum, der einem einen gewissen Schutz gegeben hat, aber natürlich auch ein problematischer Raum, denn es gab da auch eine Grenze zur übrigen Bevölkerung. Das Problem vor 1988 war ja, daß es nie gelungen ist, den Funken, ich sag es jetzt einmal etwas plakativ, auf den normalen Bürger überspringen zu lassen. Wir hatten verabredet, und zwar schon sehr zeitig, daß wir eine Form finden wollten, außerhalb des kirchlichen Rahmens aktiv zu werden. In diesem Rahmen sehe ich auch diese Veröffentlichung, und wie gesagt, ohne die Hilfe vieler Freunde war das nicht abgegangen. Sie fragten, wie man sich da gefühlt hat. Wir waren sehr wenige, aber es waren engagierte Freunde und Freundinnen dabei. Und das war dann auch nicht nur so eine schwere Zeit, wie es heute manchmal dargestellt wird. Es war in gewisser Weise auch eine schöne Zeit. Man war sehr existenziell an der Entwicklung dran, das merkte man. Es war ja zu der Zeit schon klar, daß das Faß kurz vor dem Überlaufen war. Vielen war schon bewußt, daß eigentlich nur noch der Funken fehlte, der den Brand auslösen würde. Das war in dieser Zeit schon alles zu spüren. Da gab es dann konkrete Verabredungen zwischen einer kleinen Zahl von Personen, und auch die Organisation des Neuen Forums war schon um Ostern 1989 verabredet. Daß es dann erst so relativ spät losgegangen ist und dann noch in seiner Dynamik durch die Entwicklung in Ungarn, durch den Grenzabbau in Ungarn verstärkt wurde, das konnten wir natürlich in dieser Form nicht voraussehen. Aber daß es losgehen sollte, war schon zwischen, wenn ich da eine Zahl nennen sollte, so um die zwei­ hundert Leute abgesprochen. Also drei Leute haben die dreißig Erstunterzeichner des Neuen Forums eingeladen. Dabei ging es uns darum, das auch möglichst so zu machen, daß es über die ganze DDR verteilt war. Diese dreißig Leute haben dann wiederum dasselbe getan. Und so ist das dann, jedenfalls so weit es das Neue Forum als eine Bürgerbewegung angeht, vervielfältigt worden. So viel, zunächst mal zum Neuen Forum. Was das Buch angeht, steht ein solcher Protest - Sie haben gesagt: von der staats­ tragenden Partei zur Radikalopposition - natürlich auch innerhalb der SED in einer gewissen Tradition. Sie haben Bahro angesprochen; Harich und Havemann wären sicherlich auch noch zu erwähnen; in dieser Tradition stehen wir ja zum Teil. Jedenfalls diejenigen, die das Neue Forum gegründet haben. Ich will damit sagen, daß es auch innerhalb der SED Kräfte gegeben hat, die durchaus einmal unter anderen Vorzeichen angetreten sind. Daß die SED zum Schluß derart versteinerte 4 Strukturen entwickeltet hat, das war ja, wenn man es auf die 60er Jahre bezieht, nicht unbedingt vorauszusehen, zumindest für mich nicht. Ich will gerne zugestehen, daß ich da vielleicht ein bißchen lange gebraucht habe, das zu begreifen.

Arno Bamm£: Otto Schily ist genau den entgegengesetzten Weg gegangen. Von der Radikalopposition zur staatstragenden Partei. Ich kann mich noch genau erinnern, als ich die Meldung gelesen habe: Otto Schily verläßt die Grünen, geht zur SPD nach München; das war eine kleine politische Sensation. Otto Schily hat mehrere Bücher verfaßt, unter anderem über den Zustand der Republik, über die Obszönität der Macht und die Käuflichkeit der Politik. Sein Name steht für Glaubwürdigkeit in der Politik. Politischen Auseinandersetzungen, auch mit der eigenen Fraktion, ist er nie aus dem Weg gegangen. Ich hab in der letzten Woche in der "TAZ" gelesen: "Grüne Jutta kandidiert im roten München. Im Nachbarwahlkreis München-Land kandidiert ihr alter innerparteilicher Gegenspieler Otto Schily, der im letzten Jahr zur SPD übergetreten ist. Diese Konfrontation werde ihr großes Vergnügen bereiten". Ich nehme an, das Vergnügen ist wechselseitig. Es werden sicher alte Kontroversen wieder ausgekämpft werden. Herr Schily, was waren die Beweggründe Ihrer Entscheidung, von der Radikalop­ position zur staatstragenden Partei zu gehen? Was ist heute politisch anders als damals, als Sie zu den Grünen gingen und wie ist Ihr Verhältnis zu den doch sehr unterschiedlich zusammengesetzten Grünen heute?

Otto Schily: Also, Herr Bamme, zunächst mal muß ich etwas korrigieren. Ich finde, die spiegelbildliche Formel, die Sie gewählt haben ist verlockend, aber trotzdem auch falsch. Sie können natürlich nicht die SED und die SPD als staatstragende Parteien in einem Atemzug nennen. Das ist mir zu formelhaft. Es macht nämlich einen ganz gewaltigen Unterschied, ob eine Partei wie die SPD in einer langen demokratischen Tradition in einem Rechtsstaat, einer parlamentarischen Demokratie mitwirkt, oder ob es eine Partei gab, in der DDR, die eine Diktatur, eine menschen­ rechtswidrige Diktatur praktiziert hat. Ich glaube, deshalb ist Ihre Gegenüberstel­ lung, so eingängig sie zunächst auch sein mag, nicht richtig. Natürlich ist es ein Wechsel von den Grünen zur SPD, der etwas damit zusammenhängt, daß die Grünen in der Tat auch in Opposition zur Sozialdemokratie entstanden sind. Und deshalb ist Ihre Frage sehr berechtigt, woher die Motive für diesen Wechsel kommen. Es ist so: Die Grünen sind meiner Überzeugung nach aus zwei Hauptströmungen entstanden. Da ist einmal die radikaldemokratische Strömung, die eine gute Tradition hat, die man grob gesagt von 1848 an rechnen kann und häufig nicht gerade erfolg­ reich war, im politischen Kampf. Zweitens die ökologische Strömung, die neueren 5 Datums ist. Ich selber bin in der Zeit der außerparlamentarischen Opposition zu Hause, hatte viele Freundschaften und Bekanntschaften aus der Studentenbewegung, wie Rudi Dutschke, um nur einen zu nennen. Und da gab es immer Überlegungen, neben dem vorhandenen Parteienspektrum eine neue Gruppierung zu finden, die etwa in dieser Tradition der Radikaldemokratie steht. Und dann kam eben diese ökologische Komponente hinzu. So hat sich ein Kreis zusammengefunden, an dem sich übrigens in der Anfangsphase auch Rudi Dutschke beteiligt hat, oder auch Milan Horvatschek aus der Charta-77-Bewegung, Petra Kelly aus der Friedensbewegung, Ökologen - ich will jetzt nicht alle Namen aufzählen. Da ist bei mir dann auch der Entschluß entstanden, mich an dieser Gründung zu beteiligen. Diese Gründung war nicht zuletzt deshalb wichtig und notwendig, weil bei den etablierten Parteien die Fragestellung der Ökologie, ungeachtet der Tatsache, daß es innerhalb der Sozial­ demokratie immerhin einen Mann gegeben hat, wie Erhard Eppler, der sich sehr frühzeitig mit dieser Thematik beschäftigt hat, überhaupt noch nicht richtig wahr­ genommen wurde. Leider hatten die Grünen einen Geburtsfehler. Der bestand darin, daß sich zu ihnen auch sehr dogmatisch verhärtete Gruppen gesellt haben. Nun muß das nicht heißen, daß nicht einige von denen einen Wandlungsprozeß durchlaufen haben, und auch sehr wertvoll für die grüne politische Arbeit waren. Aber es hat da doch Dogmatiker gegeben, die eigentlich keinen Denkprozeß hinter sich haben. Das führt dazu, daß jetzt neuerdings von diesem Flügel diskutiert wird, ob man sich nicht mit der PDS zusammen tun sollte, wenn die PDS sich auf die Bundesrepublik ausdehnt. Und da ist in mir der Entschluß gereift, daß ich in einer solchen Partei, in der dieser Geburtsfehler nicht zu überwinden ist, nicht gut zu Hause bin. Denn ich bin der Meinung, die Probleme, die sich uns heute stellen, die erfordern einen praktisch-politischen Ansatz und keine wirklichkeitsfremden Ideologiediskussionen, und erst recht nicht ein Festhalten an Ideologiebildern und ideologischen Mustern, deren völliges Scheitern wir heute in Osteuropa verfolgen können. Einen Satz zu Ditfurth, die Sie erwähnt haben. Ich halte es für völlig unerheblich, daß Frau Ditfurth in meinem Nachbarwahlkreis kandidiert. Ich halte es nicht für lohnend, mit Frau Ditfurth zu diskutieren, weil ich der Meinung bin, daß Jutta Ditfurth Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit hat. Mit jemandem, der einerseits die Bundesrepublik sozusagen als Polizeistaat charakterisiert, andererseits aber Fidel Castro anhimmelt, glaube ich, ist es nicht so besonders lohnend zu diskutieren. Die Grünen werden sich damit auseinanderzusetzen haben, was sie sich damit antun, eine solche Kanditatur zu favorisieren. Für mich ist das nicht das Feld der Auseinander­ setzung. Ich werde einen positiven Wahlkampf führen und nicht irgendwelche rück­ wärtsgewandten Gefechte. Arno Bamm£: Das war deutlich.

Rolf Henrich: Ich würde noch gerne eine Anmerkung machen. Die SED ist natürlich aus einer Vereinigung von KPD und SPD entstanden, wie immer man ...

Otto Schily: Aber als Zwangsvereinigung.

Rolf Henrich: Ja, wie immer man diesen Vereinigungsparteitag sieht, man muß es der historischen Wahrheit zuliebe sagen, daß diese Zwangsvereinigung auch sehr viele Sozialdemokraten mitgemacht haben. Ich sag das jetzt nicht vorwurfsvoll. Aber man kann, man darf es sich nicht so vorstellen, als hätte es da die bösen Kommunisten gegeben und da die Sozialdemokraten, die alle reinen Herzens gewesen sind, und die einen haben die anderen umarmt und das war dann die SED. Ganz so ist es nicht gewesen. Es stimmt, daß da erhebliche Repressionen stattgefunden haben, daß da erheblicher Druck ausgeübt wurde, aber eben auch von Sozialdemokraten, die sich zuvor freiwillig mitvereinigt hatten. Ich denke, das muß man jetzt einfach mal an der Stelle noch anmerken.

Otto Schily: Das mag es geben, das gibt es in solchen Situationen immer. Es sind sehr viele Sozialdemokraten ins Gefängnis gewandert,...

Rolf Henrich: Auch sehr viele Kommunisten !

Otto Schily: Es sind 400 Sozialdemokraten - das ist die Zahl, die man gehört hat- in den Gefängnissen umgekommen. Ich glaube, wir tun gut daran, die Verhältnisse nicht in einer Weise zu schildern, daß das Wort Zwangsvereinigung, der Wortteil "Zwangs-" dabei zu kurz kommt. Ich glaube, man muß schon zugunsten der Sozial­ demokratie sagen, daß sie - ich habe das sehr betont hier ausgeführt - eine lange Tradition des Kampfes gegen Diktaturen hat. Es war die Sozialdemokratie, die 1933 gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hat, während andere sich einem solchen Prozeß angebiedert und angepaßt haben. Sicherlich gibt es in dem einen und anderen individuellen Fall auch Versäumnisse. Das will ich gar nicht bestreiten. Ich gehe nicht so weit zu sagen - ich bin ja in dem Sinne kein Anitkommunist - alle Kom­ munisten seien böse und verbrecherische Menschen. Das nicht. Aber man muß schon den prinzipiellen Unterschied im politischen Ansatz der SPD in der Bundesrepublik und der SED in der DDR wahrnehmen. Rolf Henrich: Ich denke, es ist schon richtig, wie Sie es jetzt sagen. Bloß sollten wir auch einsehen, daß nun eine Entwicklung in folgender Weise eintritt: Die SED mausert sich eindeutig zu einer sich immer mehr der Sozialdemokratie annähernden Partei. Ich lasse jetzt einmal diese moralische Komponente beiseite. Ich sehe jetzt einmal nur auf das derzeit von Gregor Gysi vertretene Programm. Es wird sich per­ spektivisch nicht mehr sehr unterscheiden von den programmatischen Erklärungen der Sozialdemokratie. Daß da personell andere Strukturen sind, oder daß da unter der Oberfläche noch alte stalinistische Strukturen weiter existieren, das will ich damit gar nicht in Abrede stellen. Aber ich denke, das muß man - auch ein Stück in der historischen Dialektik - so sehen, wie sich das jetzt alles entwickelt; das nur als Anmerkung. Ansonsten stimme ich hier durchaus überein.

Otto Schily: Wobei ja Papier geduldig ist. Wir können in Programme sehr viel hineinschreiben...

Rolf Henrich: Da sind wir uns einig.

Otto Schily: Wir wetteifern heute unter den verschiedenen Parteien darum, wer das beste Umweltprogramm hat. Es gibt keine Partei mehr, die nicht sagt, daß für sie der Umweltschutz ein hehres Ziel ist. Man muß nur nachschauen, wie es in der Praxis aussieht und dann wird das Urteil sehr viel differenzierter ausfallen.

Arno Bamml: Wir sollten später noch intensiver darauf zurückkommen. Vorerst will ich betonen, daß ich Ihnen völlig recht gebe darin, daß man die SPD und die SED nicht gleichsetzen kann, das ist völlig klar. Mir ging es um den anderen Wider­ spruch. Mir ging es um das Staatstragende und die Radikalopposition. Ich würde vorschlagen, wir kommen nun zum zweiten Themenbereich, zum parteipo­ litischen Spektrum in einem zukünftigen Deutschland. Ich glaube, der Wahlausgang in der DDR war für alle überraschend. Die Prognosen lauteteten ein wenig anders. Das konservative Lager ist der eindeutige Gewinner und die Sozialdemokraten haben etwas enttäuschend abgeschnitten. Über die Revolutionäre der ersten Stunde, Bärbel Bohley, Jens Reich, Rolf Henrich und wie sie alle heißen, ist die Geschichte in Person des westdeutschen Kanzlers hinweg gewalzt. Gregor Gysi hatte letzte Woche angekündigt, er wird in Deutschland-West Politik machen. Meine Fragen dazu: Entsteht links von der Sozialdemokratie deutschlandweit eine neue linke Kraft? Wird es trotz "Gruppe Aufbruch" und Antje Vollmer zum Zerfall der Grünen kommen? Wie wird die Parteienlandschaft sich polarisieren? Wo sehen Sie Ihre Arbeits­ perspektiven? Herr Schily? 8 Otto Schily: Ich glaube, in diesem Punkt muß man sich vor zu vorschnellen Pro­ gnosen hüten. Es kann durchaus sein, daß die PDS sich entschließt, ihr Aktionsfeld in die Bundesrepublik auszudehnen. Inwieweit das sehr erfolgreich sein kann, das, glaube ich, muß man mit einem sehr großen Fragezeichen versehen. Für die Grünen wird es außerordentlich gefährlich. Sie wissen, daß jetzt auf dem Hagener Parteitag darüber sehr heftig diskutiert worden ist. Sollte sich tatsächlich bei den Grünen eine Tendenz zu einer Kooperation mit der PDS durchsetzen, dann fürchte ich, setzt die Grüne Partei ihre Existenz aufs Spiel. Das hat dann stark suizidale Tendenzen. Ich meine, das ist nicht ganz ausgeschlossen. Es hat immer ein Spektrum bis zu einer Größenordnung von 10% gegeben, das empfänglich ist für eine solche radi­ kallinke Position, wie immer man das kennzeichnen will. Ich kann im Moment nicht urteilen, wie die Aussichten einer solchen Partei sind. Ich würde eher einschätzen, daß eine PDS bei uns nicht die 5%-Klausel erreichen würde, auch nicht mit Ver­ stärkung durch Teile der Grünen. Und das Schicksal der Grünen wäre dann - was ich persönlich bedauern würde, obwohl ich aus der Partei ausgetreten bin - daß dann womöglich die restgrüne Partei ebenfalls unter der 5%-Klausel bleiben würde.

Rolf Henrich: Also zunächst, was jetzt bei uns geschehen ist, hat mich letztendlich nicht überrascht. Ich verwende in meinem Buch den Ausdruck der Formationsver­ drängung, das heißt, ich behaupte, daß nach Kriegsende in Deutschland-Ost eine bürgerliche Gesellschaft in ihren Überbaustrukturen und ihren Basisstrukturen verdrängt wurde, was immer dieser Begriff - den kann ich hier natürlich nur schlagwortartig gebrauchen - an Dialektik enthält. Was jetzt passiert, ist im Grunde genommen die Restauration einer bürgerlichen Gesellschaft. Von daher war es völlig klar, daß sich das Parteienspektrum, das sich herausbilden würde, weitestgehend vergleichen läßt mit dem Parteienspektrum in der BRD. Das war vorauszusehen. Und von daher war auch völlig klar, daß solche Bewegungen, die eigentlich die Initial­ zündung gesetzt haben, wie das Neue Forum in diesem Parteienspektrum keinen Platz finden würden. Denn, wenn Sie sich das Parteienspektrum der Bundesrepublik vor Augen führen, hätte auch dort eine solche Bewegung keinen eigenen Platz mehr im Moment. Allerdings meine ich schon, daß solche Bürgerbewegungen ihren Platz unterhalb dieser Struktur der Parteien oder daneben haben. Denn ich denke, be­ stimmte Probleme können, soweit es die Initialzündung angeht, von derartigen Bewe­ gungen schneller, zumindest auf den Weg gebracht werden. Das ist das eine. Von daher bin ich selber nicht traurig oder ziehe mich jetzt in irgendeinen Schmollwin­ kel zurück, so nach dem Motto: Wir waren die Leute der ersten Stunde und nun müßte die Gesellschaft uns da auf den Sockel stellen. Ich denke, wer so an die Sache herangeht, der hat es dann doch sehr mit seinen eigenen Problemen zu tun. 9 Also von daher meine ich schon, was jetzt abläuft, war vorauszusehen; niemand braucht da überrascht zu sein. Und es muß auch niemand überrascht darüber sein, daß die DDR-Gesellschaft zunächst einen sehr konservativen Zug offenbart hat. Immerhin haben wir lange Jahre sehr abgeschlossen gelebt. Was man in der BRD sehen kann, daß da zumindest eine gewisse Toleranz gegenüber Ausländern in weiten Kreisen praktiziert wird - dabei übersehe ich jetzt nicht, daß es da natürlich auch erhebliche Probleme gibt; dies alles müssen wir ja überhaupt erst lernen. Der Ausländeranteil in unserer Bevölkerung, der ist ja, wenn man es mit der BRD vergleicht, ausgeprochen gering. Von daher meine ich, werden sich zunächst einmal - für manche vielleicht überraschend - sehr konservative Züge offenbaren. Was die PDS als Kraft angeht, meine ich, sie wird letztendlich in einem einheit­ lichen Deutschland tatsächlich nicht über diese 5%-Grenze hinauskommen. Eine Frage wird es wirklich sein, ob die Grünen mit der PDS in Teilen zusammengehen. Das wäre aber wahrscheinlich zum Nachteil für die Grünen und nicht für die PDS. Gregor Gysi wird sich bemühen, dieser Partei ein sozialdemokratisches Image zu verschaffen. Und da hat er gute Aussichten, dies auch zustande zu bringen. Davon gehe ich zunächst einmal aus.

Otto Schily: Zuerst einmal zwei Sätze zum Wahlergebnis. Ich teile die Auffassung, daß es absehbar war und habe nie an diese triumphalen Voraussagen geglaubt, daß die SPD die absolute Mehrheit bekommt. Diese Wahlentscheidung zeichnete sich auch in den letzten Wochen ab. Ich scheue eigentlich das Wort "konservativ" dabei. Es geht ja nicht darum, bestehende Verhältnisse zu bewahren. Es geht eigentlich um eine Gesellschaft, in der über viele Jahrzehnte Demokratie nicht gelernt werden konnte. Man darf ja nicht vergessen, daß es nicht erst seit 45, sondern seit 33 in der DDR keine Demokratie gab. Das ist ein sehr langer Zeitraum. Und, das sollen wir auch nicht verkennen, das sehe ich auch als eine Bereicherung für die Bundes­ republik an, da ist in der DDR, wie ein Diamant ja unter Druck entsteht, natürlich auch ein großes Potential an kritischem Geist entstanden. Nur hab ich den Eindruck, die Menschen in der DDR nehmen das gar nicht so wahr, also haben ein sehr stark gebrochenes Selbstbewußtsein. Aber das seltsame Ergebnis ist natürlich, daß bei der DDR-Wahl am 18. März zwei Blockparteien relativ gut abgeschnitten haben, nämlich die CDU und die PDS. Ich hab dann spaßeshalber gesagt, Ihr könnt doch nicht die alte Koalition wieder fortsetzen. Das hat mir natürlich auch viel Unmut zugezogen, neben anderem. Aber, man darf im Moment ja über diese Dinge keine Witze ma­ chen, auch keine schlechten. Insofern denke ich, hat Rolf Henrich vollkommen recht. Es ist praktisch eine Spiegelung des bundesrepublikanischen Parteienspek- 10 trums. Die große Mehrheit, die die CDU errungen hat, die hat sie nicht aufgrund ihrer eigenen Tradition, sondern einfach als Spiegelung der CDU-West erhalten, mit der Vorstellung, daß damit am schnellsten das Konsumniveau der Bundesrepublik erreicht werden kann. Das tadle ich nicht. Was ich mir aber erlaube festzustellen, ist, daß diese Vorstellung das Hauptmotiv war und, daß man bezüglich der Schnellig­ keit, mit der dieses Niveau erreicht werden kann, noch viele Enttäuschungen erleben wird.

Rolf Henrich: Ich hab hierzu auch noch eine Anmerkung. Wir sehen das im Moment immer nur aus einer Perspektive: Verwestlichung der DDR. Vielleicht sollte man auch folgende Perspektive mal sehen. Die Identität der BRD, behaupte ich mal, ist in der Vergangenheit zum Teil auch außenstabilisiert gewesen durch das abschreckende Beispiel DDR. Und natürlich auch durch das, was man als Bedrohung vor der So­ wjetunion empfunden hat. Meine Frage: Was wird aus dieser zunächst so sehr stabilen Identität, wenn diese Außenstabilisierung wegfällt, wenn also das abschreck­ ende Beispiel DDR wegfällt und wenn letztendlich auch die Haltung der Sowjetunion nicht mehr als Bedrohung empfunden wird? Kommt es da zu einer Destabilisierung in der Mitte Europas, insbesondere wenn man in Rechnung stellt, daß ja dieser wirt­ schaftliche Boom vielleicht auch einmal gebremst wird oder es da zu Einbrüchen kommt, was wäre dann? Woher nehmen dann die Deutschen ihre Identität? Das, denke ich, wird auch perspektivisch durchaus eine Frage sein.

Otto Schily: Ja, also mit der Identität, ich weiß nicht. Das nähert sich meiner Meinung nach sehr stark der Carl Schmittschen These, daß die politische Kontur aus der Feinderklärung gewonnen wird. Das mag ja in manchen Beziehungen auch durchaus zutreffen. Zumindest was den militärischen Bereich angeht, gibt es einige Bundeswehrgerneräle, die im Moment auf der Suche nach einem neuen Feindbild sind, weil sie sonst mit ihrer Militärdoktrin nicht zurechtkommen. Aber ich denke, man sollte nicht davon ausgehen, daß Identitäten nur aus einer Konfrontation gebil­ det werden können.

Rolf Henrich: Das meine ich auch nicht.

Otto Schily: Da sind wir uns in dem Punkt einig.

11 Arno Bammg: Das ist ja auch nichts Negatives und zudem eine schöne Überleitung zum nächsten Themenkomplex: Politisches Klima, politischer Alltag, politische Kultur. Man kann schon sagen, daß innnerhalb der beiden deutschen Staaten der politische Widerspruch zwischen kapitalistischem und sozialistischem Modell bislang fein säuberlich getrennt auf zwei deutsche Staaten verteilt war. Die Frage ist: Wird dieser Widerspruch nun in einem gemeinsamen Staat wirksam? Wir haben ja, das ist unbestreitbar, auf der einen Seite geschulte Funktionäre und Kader der alten SED, der neuen PDS - die werden ja nicht untätig bleiben. Wir haben auf der anderen Seite die Versprechung des Bonner Kanzlers, die Erwartungen geweckt hat, die, wenn sie erfüllt werden sollen, sicher nicht billig werden, und wenn nicht, Unruhe herbeiführen. Teuer wird es also so oder so. Die Frage lautet: Wie wird das Problem von verantwortungsvollen Politikern in Ost und West wahrgenommen, wie wird das Problem verarbeitet, in das die Deutschen da geschlittert sind? Worin unterscheidet sich das, was hinter vorgehaltener Hand kolportiert wird, von der offiziellen Linie? Ist das, was Oskar Lafontaine als Sozialdemokrat öffentlich ausgesprochen hat und wofür er ja auch öffentlich Prügel bezogen hat, ist das nicht eine ganze Ecke realistischer als das, was offizielle Vertreter, Politiker oft erzählen?

Otto Schily: Es ist realistischer, da bin ich der festen Überzeugung. Inzwischen hat die offizielle Politik sich dem auch zu einem großen Teil angeschlossen. Sehen Sie, ich will ein bißchen aus dem Nähkästchen plaudern. Im vergangenen Jahr nahm ich mit dem Staatssekretär im Innenminsterium, Herrn Spranger, an einer Fernseh­ diskussion teil. Wir haben auch über diese Probleme gesprochen, das war noch lange vor den Ereignissen am 9. November. Es ging um die Übersiedlerströme aus der Sowjetunion, aus Polen und aus der DDR, um ihr Anwachsen. Natürlich wurde vor den Kameras verkündet, wir müssen alle im nationalen Interesse ... Und da war ich schon wieder der vaterlandslose Geselle, der etwas skeptisch war in diesem Zu­ sammenhang. Dann, in vertrauter Runde, sagte Herr Spranger selber, wir können das nicht durchhalten. Wir werden das wirtschaftlich nicht durchhalten, wenn dieser Strom in dem zu erwartenden Zeitraum anwächst. Inzwischen haben wir uns alle auf die These geeinigt, daß es besser ist, den Menschen wirtschaftliche Unterstützung dafür zu geben, daß sie dort bleiben, wo sie sind, anstatt ihnen finanzielle Anreize zu geben, zu uns zu kommen. Also, die berühmte Wiedervereinigung auf dem Terri­ torium der Bundesrepublik ist kein Ziel, das ernsthaft angestrebt werden kann. Ich glaube, eine Konstellation werden sie immer wieder entdecken: den Widerspruch zwischen politischer Rhetorik aus bestimmten Vorgaben und den Notwendigkeiten politischer Praxis. Ich denke, da wir es in der Bundesrepublik und im künftigen Gesamtdeutschland mit einer Demokratie zu tun haben, kommt es sehr darauf an, 12 daß die öffentlichen Angelegenheiten auch öffentlich sind. Das gilt übrigens nicht nur für den Bereich, über den wir jetzt diskutieren, das gilt ganz allgemein. Demo­ kratie kann nur funktionieren, wenn die Transparenz und die Öffentlichkeit politi­ scher Entscheidungsvorgänge gewährleistet ist. Deshalb ist es sehr verdienstvoll von Oskar Lafontaine, daß er das - ungeachtet der Vorwürfe, er würde die nationalen Belange nicht richtig einschätzen - sehr frühzeitig ausgesprochen hat. Wobei Oskar Lafontaine mit Recht gesagt hat: ich bin der viel bessere Patriot, weil ich dafür sorgen will, daß die DDR durch die Abwanderung vieler Menschen nicht wirtschaft­ lich zusammenbricht.

Rolf Henrich: Ich sag es mal so, im Moment besteht bei uns folgendes Problem: Wir hatten eine Kommandowirtschaft und haben jetzt eine Kommandowirtschaft ohne Kommandeure und ohne Kommandos. Wenn ich jetzt mal nur das politökonomische System, und zwar als System, betrachte, dann befinden wir uns jetzt in einer Phase, in der man umsteuern muß von der Steuerung durch Macht, auf die Steuerung über das Geld. Bisher wurde ja nicht über das Geld gesteuert. Das Geld spielte in der Vergangenheit im Rahmen der Volkswirtschaft so gut wie gar keine Rolle. Anders gesagt, die Betriebe hatten allemal genug Geld, aber sie bekamen zum Beispiel keine Baukapazitäten, wenn sie eine neue Halle bauen oder neue Maschinen kaufen woll­ ten. Jetzt ist die merkwürdige Situation eingetreten, daß alles in Habachtstellung steht, und es fehlt dieser Anschub, der erste Impuls in eine neue Richtung, in Richtung Marktwirtschaft, was immer man darunter verstehen mag, also weg von dieser Planwirtschaft. Da wird einerseits noch geplant, als hätte sich gar nichts geändert, und die Betriebe bekommen immer noch Vorgaben. Andererseits weiß jeder, daß das morgen wirklich, daß das heute schon Makulatur ist. Das Problem ist, von den alten Strukturen wegzukommen und in die neuen Strukturen hineinzukommen. Da muß man sich dann wirklich auch mal die Größe dieser Aufgabe vorstellen. Nehmen wir alleine die Eigentumsfrage. Wir haben, wie es so schön heißt, Volkseigentum. Durch eine Treuhandanstalt soll es jetzt bewahrt oder umfunktioniert werden. Die Betriebe sollen in die auch Ihnen bekannten Formen des Gesellschaftsrechts, also GmbH, AG usw. überführt werden. Das ist wirklich eine riesige Aufgabe, und es fehlt, so habe ich jedenfalls den Eindruck, im Moment der erste Impuls. Und da kann man natürlich mit der Angst der Menschen, mit einer gewissen Unsicherheit, die tatsächlich in breitem Maße vorhanden ist, auch im negativen Sinne Politik machen. Ich denke, es ist weder eine übertriebene Angst noch ein übertriebener Optimismus berechtigt. Wir sollten pragmatisch an die Sache herangehen. Wir sollten uns auch darüber klar sein, daß nicht auf der gesamten Front in der Volkswirtschaft die Bewegung beginnt, sondern regional und bezogen auf die einzelnen Industrie- 13 zweige. Das ist bisher noch nicht richtig in Angriff genommen, so scheint es jedenfalls mir. Aber wie gesagt, ich bin da durchaus perspektivisch optimistisch. Und man muß es auch einfach mal sagen: der Lebensstandard in der DDR ist nach wie vor nicht so, daß die Menschen hungern, oder daß es im Moment zu großen Krisen kommt. Das wird auch in der Presse, behaupte ich einmal, zu neagtiv darge­ stellt. Es gibt bei uns, das muß man deutlich sagen, durchaus Gesellschaftsschichten, insbesondere Rentner oder alleinstehende Frauen mit mehreren Kindern, die auf jeden Fall unterstützt werden müssen, oder denen auf jeden Fall etwas dazugegeben werden muß. Aber wenn man einmal einen Blick auf die ganze Gesellschaft wirft, dann muß man doch sagen, daß der Lebensstandard nach wie vor relativ hoch ist. Es ist auch bisher nirgendwo zu Stromabschaltungen oder Ähnlichem gekommen. Es wird ja immer so getan als wäre die Situation so wie in der Nachkriegszeit. Das stimmt natürlich nicht. Schauen Sie sich unsere Straßen an, die sind voller mit PKWs als je zuvor. Der Preis des Trabanten ist sofort gesunken, seit die gebrauchten Westwagen hereingekommen sind. Es fahren heute mehr Leute Autos als noch vor einem halben Jahr. Das ist nicht der einzige Maßstab für mich, ich erwähne das nur, um mal von dieser Katastrophenstimmung wegzukommen. Wenn man manchmal die Presse liest, hat man ja den Eindruck, als wenn wir schon am Hungertuche nagen würden. Das ist beileibe nicht so. Auch wie über die Arbeitslosigkeit gesprochen wird, als bevölkerten ganze Heere von Arbeitslosen die Straßen, das ist nicht so. Die ersten Zahlen, die da veröffentlicht wurden, betrafen weitestgehend entlassene Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit. Das hat man einfach übertragen. Ich bin sehr dafür, daß auch diese Mitarbeiter integriert werden, aber das ist ein anderes Pro­ blem. Das ist nicht das Problem der Arbeitslosigkeit, von dem wir gewöhnlich sprechen. Dennoch ist das Risiko groß, daß Arbeitslosigkeit in größerem Umfang auf uns zu kommt. Aber wie gesagt, es kommt vor allem darauf an, daß dieser erste Impuls ausgelöst wird.

Arno Bammel Das sind im wesentlichen auch zwei Problembereiche, die wir hier so mitbekommen. Neben dem Problem der Arbeitslosigkeit, die Frage nach der Wäh­ rungsunion. Wenn jetzt auf- oder abgewertet wird, eins zu eins, je nachdem wie man das sieht, dann hat man wohl als DDR-Bürger immer im Auge, daß die Guthaben mit der D-Mark Währung gleichziehen. Aber natürlich trifft es die Schulden genauso, und dann gibt es sicher große ökonomische Probleme.

14 Otto Schily: Erstmal zur Arbeitslosigkeit. Wenn es eine Umstrukturierung der DDR- Wirtschaft geben wird, und es wird sie geben, dann ist es unvermeidlich, daß es zu einer größeren Arbeitslosigkeit kommen wird. Unrentable Betriebe werden schließen müssen, auch Betriebe, die unter ökologischen Vorzeichen nicht mehr weiter arbeiten dürfen. Und die Marktgesetze sind ja auch ziemlich erbarmungslos, was eben die Frage der Rentabilität angeht. Umgekehrt muß man aber gleichzeitig sagen, daß sich dieser Trend in relativ kurzer Frist, nach meiner Einschätzung und auch nach Einschätzung von Experten aus der Wirtschaft, umkehren wird. Es gibt dort ja einen gewaltigen Nachholbedarf, einen gewaltigen Investitionsbedarf und einen entsprech­ enden Bedarf an Arbeitskräften. Man darf daher wahrscheinlich die Prognose wagen, daß in einem Zeitraum von drei bis vier Jahren nicht etwa ein Arbeitskräfteüberhang vorhanden sein wird, sondern, im Gegenteil, ein Mangel. Vielleicht wird eine ähn­ liche Situation eintreten, wie es sie in den 50er, 60er Jahren in der Bundesrepublik gegeben hat, als wir Gastarbeiter angeworben haben, mit richtigen Werbekampagnen, um mit unseren wirtschaftlichen Problem fertig zu werden. Ich glaube, daß diese Prognose zutrifft. Sie haben die Frage der Währungsunion angesprochen, was ja nichts anderes heißt, als daß die DDR Währungsgebiet der D-Mark wird. Es ist richtig, in den Wahldis­ kussionen ist immer nur davon gesprochen worden, was aus den Guthaben wird. Die Schulden hat man dabei ausgeklammert. Man muß sich darüber im Klaren sein, daß sich ein Umtauschkurs Eins zu Eins, aber auch Eins zu Zwei in differenzierter Weise bei uns auf die wirtschaftlichen Verhältnisse auswirken muß. Das kann zu einer Absenkung des Außenwerts der D-Mark führen, es kann zu einer Erhöhung der In­ flationsrate führen, es kann zu einem Anstieg der Zinsen führen, die heute schon angestiegen sind. Das sind aber alles Dimensionen, die wir gut verkraften können. Ich glaube, daß man, was den Finanzbedarf betrifft, das Bild nicht verzerren darf. Sehen Sie, die Bundesrepublik ist ein sehr sehr reiches Land. Wir haben im vergan­ genen Jahr einen Nettokapital-Export von über 100 Milliarden Mark gehabt. Wenn nur ein Bruchteil dieser gewaltigen Summe in die DDR fließen würde, als investives Kapital, dann wäre das schon ein großer Batzen Geld. Auch von staatlicher Seite kann für den Aufbau der Infrastruktur, wenn man die richtigen Entscheidungen trifft, zum Beispiel wenn man den Rüstungsetat sehr stark zurückfährt, sehr viel an Mitteln bereitgestellt werden. Sehr schwierig ist die Frage des Umstellungskurses bei Löhnen und Gehältern und bei Renten. Ich glaube, Sie können es in der DDR- Bevölkerung unter gar keinen Umständen durchsetzen, daß man bei Löhnen und Gehältern mal halbiert.

Rolf Henrich: Das geht nicht. 15 Otto Schily: Sie würden einen Aufstand bekommen, der sich gewaschen hat, zumal das Lohnniveau ohnehin sehr viel niedriger ist. Das darf man an diesem Punkt auch nicht so sehr an der Produktivität messen. Wir müssen eben eine Übergangszeit ver­ kraften. Ich möchte noch einen Satz von Rolf Henrich aufnehmen. Er sagt mit Recht, die wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR sind nicht so katastrophal, wie sie manchmal bei uns bezeichnet werden. Diesen Satz möchte ich deshalb dick unterstreichen, weil ich meine, daß wir gut daran tun, einen ganz großen Fehler in dieser deutsch-deutschen Diskussion zu vermeiden. Es bereitet mir zunehmend Kopfschmerzen, daß wir uns nur noch mit uns selbst beschäftigen. Das sorgt für Unruhe in Europa, das sorgt aber besonders in der schwierigen Frage des Nord-Süd- Verhältnisses für Unruhe. Es gibt eben Regionen auf der Welt, in denen buchstäblich gehungert wird, und es wäre verhängnisvoll, wenn wir als Deutsche uns nur noch auf die Probleme der Rekonstruktion der wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR beschränken und die anderen Problemfelder aus den Augen verlieren würden. So darf das nicht sein. Ich nehme das sehr deutlich wahr, wenn ich Zeitung lese. Ich lese dann zehn Seiten, natürlich die ersten zehn Seiten, über die deutsch-deutschen Probleme, zum Teil muß man sagen deutsch-deutschen Wehwechen, und erst dann auf der allerletzten Seite, wo die vermischten Nachrichten über meteorologisch sonder­ bare Erscheinungen und seltsame Kriminalfälle stehen, findet sich ein Bericht der Kinderhilfsorganisation der Vereinten Nationen UNICEF mit einer erschreckenden Prognose: In den nächsten zehn Jahren, also bis zum Ende des Jahrtausends, wird es die Menschheit zu verantworten haben, daß in den Ländern der Dritten Welt die un­ vorstellbare Zahl von 100 Millionen Kindern an Hunger und medizinischer Unterver­ sorgung sterben werden. Ich glaube, gerade die Gegenüberstellung dieser beiden Situationen sollte uns doch veranlassen, den Blick auf die Probleme, die es in der Welt gibt, zu werfen und nicht nur in eine deutsch-deutsche Nabelschau zu ver­ fallen.

Rolf Henrich: Das sehe ich auch so. Es besteht im Moment auch in der DDR die Gefahr, daß unsere eigenen Probleme so überbewertet werden, daß die gesamte Nord- Süd-Problematik völlig vernachlässigt wird und daß die Ökologieproblematik besten­ falls unter dem Gesichtspunkt betrachtet wird, na Leuna und Buna müssen mal zumachen, aber dann kann's mal richtig wieder losgehen. Diese Gefahr sehe ich auch, denn ich meine schon, daß nach wie vor die industrielle Lebensweise - da beziehe ich die Bundesrepublik zumindest auch zum Teil mit ein - die wir prakti­ zieren, destruktiv ist. Und so lange diese Lebensweise destruktiv ist, müssen wir auch nach Alternativen suchen. Wir sollten sehr schnell zu einer Selbstbesinnung kommen und möglichst versuchen, den Wiederaufbau in der DDR gleich dafür zu 16 nutzen, was die Grünen als Umbau der Industriegesellschaft bezeichnen. Dieses Problem und die Hilfe für die Dritte Welt sollten wir in den Wiederaufbau gleich miteinbeziehen. Es kann nicht so sein, da gebe ich Otto Schily völlig recht, daß wir jetzt einem übersteigerten kollektiven nationalen Egoismus fröhnen, als ginge es nur darum, den DDR-Bürger auf das Lebensniveau des BRD-Bürgers zu heben. So nach dem Motto, da muß nun genau die selbe Zahl an Mercedes, an Golf rollen.

Arno Bamml: Ich denke auch, daß das ein zentrales Thema ist. Wir müssen nachher noch einmal auf das Problem der wirklichen Dritten Welt zurückkommen. Ich würde von Ihnen noch ganz gerne hören, ob man das in der DDR auch so sieht, wie Herr Schily das formuliert hat, daß es nämlich in drei, vier Jahren in der DDR eher einen Arbeitskräftemangel als eine Arbeitslosigkeit geben wird.

Rolf Henrich: Diejenigen, die die Dinge wirklich verantwortungsbewußt einschätzen, schließen sich dem schon an, aber im großen Teil der Bevölkerung herrscht natürlich eine andere Sicht der Dinge. Da besteht tatsächlich große Unsicherheit und viel Angst, aber auch - man muß es nun mal sagen dürfen - auch viel Futterneid. Wie gesagt, das wirkliche Thema ist, daß die Löhne nicht halbiert werden dürfen. Ein paar Beispiele: Ein Stahlwerker im Eisenhüttenkombinat Ost an der Massegieß­ maschine, das gehört zu den schwersten Arbeiten in diesem Industriezweig, hat 1.200 Mark netto. Das ist also ein Spitzenlohn; der hätte dann 600 DM netto. Aber eine Sekretärin, die geht natürlich auch schon mal mit 600 Mark netto nach Hause; die hätte dann 300 DM netto. Wenn sie den Durchschnitt der Rentenbezüge, abgesehen von den Sonderrenten, nehmen, liegen die bei 400 Mark. Also stellen Sie sich vor, man halbiert das noch. Wenn die Mieten vielleicht auch noch einmal steigen, dann bliebe wirklich nichts mehr übrig. Das geht einfach nicht, Otto Schily hat recht, dann gäbe es einen Aufstand, der sich gewaschen hat. Das kann man wirklich so sagen. Im Hinblick auf die Ersparnisse allerdings, meine ich schon, daß man diffe­ renziert verfahren kann. Als Anwalt kann man da tatsächlich aus dem Nähkästchen plaudern. Die Mandanten haben keine sehr hohen Ersparnisse. Stellen Sie sich bitte nicht vor, daß jeder Dritte in der DDR 60.000 Mark auf dem Konto hat, oder so. Es ist schon viel, wenn jemand zwischen 6.000 Mark und 10.000 Mark auf dem Konto hat. Das liegt auch daran, daß die Leute sozial sichergestellt waren. Also diese 160 Milliarden Ersparnisse, von denen da die Rede ist, verteilen sich wohl sehr einsei­ tig. Das muß man sehen. Wenn bis zu 5.000 Mark oder bis zu 8.000 Mark 1 : 1 getauscht würde, dann wäre demnach schon der größte Teil der Bevölkerung zufrie­ dengestellt. Dieses Problem sehe ich daher nicht so zugespitzt. Was aber die Löhne angeht, da gebe ich Otto Schily völlig recht, ist es undenkbar, daß halbiert wird. 17 Arno Bammg: Ich würde jetzt ganz gerne zum Thema Sozialismus als Utopie kommen. Der Sozialismus existierte in Westdeutschland als Utopie, in Ostdeutschland als Realität. Mit der Vereinigung entscheidet sich nicht nur das staatliche Zusammen­ leben eines Volkes, sondern auch das eines linken politischen Modells. Frage: Ist die Utopie für die nächsten Jahrzehnte bzw. für immer diskreditiert? Gibt es einen dritten Weg? Joschka Fischer von der Realo-Fraktion der Grünen, ehemaliger Umweltminister in Hessen, hat die Situation in seinem Plädoyer für einen Umbau der Industriegesellschaft zusammengefaßt. Ich würde ganz gerne einen kurzen Auszug daraus zitieren und Sie dann fragen, ob Sie die Situation auch so sehen? Ist es tatsächlich so, wie er das hier skizziert? Mit welchen Kernthesen können Sie sich identifizieren? Wo meinen Sie, ist die Einschätzung der Situation völlig falsch? Fischer sagt: "Die zentrale Frage des 19. Jahrhunderts wurde in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts entgültig entschieden. Der Kapitalismus hat gewonnen, der Sozia­ lismus hat verloren. Gegenwärtig erleben wir das Drama des völligen Scheiterns der realsozialistischen Wirtschaftsalternativen. Unter enormen sozialen und ökonomischen Kosten verabschieden sich diese Volkswirtschaften von der realsozialistischen Staatsökonomie und versuchen den Anschluß an die westlichen martkorientierten Gemischtwirtschaften zu finden. Der westliche Kapitalismus, de facto eine Misch­ wirtschaft, bestehend aus staatlicher Rahmenplanung, staatlicher Regulierung und staatlichem Eigentum und einer Marktökonomie, die vor allem auf Privateigentum beruht, dieser westliche Kapitalismus hat die historische Auseinandersetzung ge­ wonnen, unwiderruflich. Und der westliche Kapitalismus hat diesen Sieg nicht zuletzt dadurch errungen, daß er wesentliche Elemente des Reformsozialismus erfolgreich übernommen und damit die gesellschafliche Produktivität eines demokratischen Sozialstaats gewonnen hat. Freilich, und da schränkt Fischer ein, freilich übernimmt der Sieger dieser historischen Auseinandersetzung zugleich auch die Aufgaben und Verpflichtungen des Unterlegenen, wird also von einem Klassen- zu einem Gat­ tungsstandpunkt übergehen müssen." Ist mit der ökologischen Krise der Industriegesellschaften, mit dem Scheitern des realen Sozialismus nicht nur ein linkes Politikmodell, sondern zugleich eine Utopie in die Krise geraten?

Rolf Henrich: Also, es gibt ja viele, die sagen, das, was in der DDR stattgefunden hat, war kein Sozialismus. Ich selber charakterisiere das ja heute auch als Staats­ sozialismus. Gleichwohl muß man aber auch sehen, daß da sehr viel Eigenes dabeige­ wesen ist. Zwei Stichworte: und Weimar. Daß es nach 1945 zu derart stalinistischen Strukturen kommen konnte, hat natürlich etwas mit der obrigkeits­ staatlichen Tradition in Deutschland zu tun. Die muß man auch sehen. Das kann man 18 nicht alles der Sowjetunion anlasten. Gleichwohl kann man sehr genau nachvoll­ ziehen, wie bei uns nach 1945 Strukturen sowohl im Bereich der Volkswirtschaft als auch im Bereich des Staates installiert wurden, die anderswo konstruiert worden sind. Ich habe aber auch so meine Bedenken, ob man so glatt vom Kapitalismus, wie er gegenwärtig in der BRD existiert, sprechen kann. Das muß man aus beiden Richtungen sehen. Wo die Gesellschaft Positives zustande gebracht hat, hat sie es auch zustande gebracht, weil es eine Tradition der Arbeiterbewegung in Deutschland gibt. Die sozialdemokratische Bewegung ist ja nun nicht erst von gestern. Sie hat eine lange stolze Tradition, und sie hat meines Erachtens auch sozial vieles bewirkt. Das sollte man nicht übersehen. Dies ist ja nicht der Kapitalismus, der Manchester- Kapitalismus, den Karl Marx charakterisierte. Wenn wir anstelle von Sozialimus einmal Brüderlichkeit oder Geschwisterlichkeit setzen oder all das, was wir mit Gemeinschaft im positiven Sinne verbinden, das beschreibt dann dennoch einen Utopiebedarf, ob sie das nun Utopie nennen oder ob sie sagen, wir müssen nach neuen Lebensweisen suchen. Denn wenn wir feststellen, daß wir in der Ökologieproblematik, Stichwort Ozonloch oder Stichwort Dritte Welt, in den letzten zehn Jahren nicht viel weitergekommen sind, dann heißt das doch nichts anderes, als daß wir nach neuen Strukturen suchen müssen. Ich meine, wir werden nach sehr kurzer Zeit sehr schnell wieder dahin kommen, daß wir die alten Traditionen in gewisser Weise wieder aufnemen, und uns wieder fragen werden, welche positiven Seiten die sozialdemokratische Tradition, der demokratische Sozia­ lismus entwickelt hat. Ich bin schon der Meinung, daß man das wieder aufnehmen wird, obwohl es im Moment in der DDR kaum ansprechbar ist. Das ist ja auch der Grund, warum das Forum im Gründungsaufruf 1989 das Wort Sozialismus nicht mehr verwendet.

Otto Schily: Ich sehe das ähnlich. Das Problem ist in der Tat schon zunächst mal eines der Wortkultur. Dieses Wort "Sozialismus" wird nun mit einer Struktur identi­ fiziert, die mit den ursprünglichen humanen Intentionen derer, die sich mit der sozialen Frage im vorigen Jahrhundert auseinandergesetzt haben, überhaupt nichts mehr zu tun hat. Das Seltsame ist, daß Ähnliches mit anderen Worten, zum Beispiel mit Demokratie, geschehen ist. Die DDR hat sich Deutsche Demokratische Republik genannt. Sie war natürlich alles andere als demokratisch. Aber man kann deshalb nicht, weil eine repressive Struktur demokratisch genannt wurde, sagen, wir wollen keine Demokratie mehr. Insofern bleibt die Frage, ob man das Wort "Sozialismus" noch retten kann. Ich fürchte leider, angesichts einer sehr massiven Propaganda und auch der Leidenserfahrungen, die die Menschen dort mit diesem Begriff gemacht haben, daß er sich vermutlich nicht wieder revitalisieren oder reinigen läßt. Ande- 19 rerseits ist es falsch, wenn wir jetzt sagen, wir kehren hier zum puren Kapitalismus zurück. Wir nennen unsere Wirtschaftsform in der Bundesrepublik nicht etwa Kapita­ lismus, das würde selbst Graf Lambsdorf nicht sagen, sondern wir sprechen von einer sozialen Marktwirtschaft. Es ist sogar ein Element der Verfassung, daß wir von einem Sozialstaat sprechen. Die CSU, die gerne auch mit dem Slogan Freiheit oder Sozialismus durch die Welt zieht, hat im Namen das Wort "sozial" - vielleicht ebenso zu Umecht wie das Wort "christlich", aber jedenfalls nennt sie sich immer noch Christlich-Soziale Union. Und ich denke, daß man es allerdings mit Klauen und Zähnen verteidigen muß, daß wir die soziale Komponente nicht aus der Gesellschaft verschwinden lassen. Rolf Henrich hat das ja auch ein bißchen zugespitzt, als er sagte, früher hatten wir die Kommandowirtschaft und künftig haben wir die Steue­ rung durch Geld. Gegen diese Formulierung habe ich Vorbehalte. Es wäre keine gute Entwicklung, wenn künftig nur noch das Geld regieren sollte. Das Geld ist ein Mittel innerhalb des Marktes, um Marktbeziehungen zu vermitteln, um Wettbewerb in Preis und Qualität zu ermöglichen. Es gibt auch andere Entscheidungsbereiche, die zur Geltung kommen müssen. Die soziale Frage darf nicht dem Markt unterworfen werden, ebensowenig wie die Naturfrage, die Ökologiefrage. Man kann sich dabei auch Marktgesetze zunutze machen, aber letzten Endes sind das Bereiche, die außerhalb der Marktgesetzlichkeit liegen. Wir sollten außerdem die Tatsache nicht übersehen, das trifft sich wieder mit den Überlegungen von Rolf Henrich, daß in die Entwicklung der hiesigen Verhältnisse auch sozialreformerische Ideen aufgenommen wurden. Daß das geschehen ist, hat nicht zuletzt einen Zusammenhang damit, daß eine Machtherausforderung vorhanden war, ein gewisser Antagonismus zwischen Ost und West. Wir müssen sehr genau prüfen, wie es uns gelingen kann, in der künftigen Struktur von Europa nicht Verhältnisse eintreten zu lassen, in denen ein Ellbogenkapitalismus sich wieder stärker ausprägen könnte. Ich bin sehr dafür, daß wir die drei Ideale der französischen Revolution gleichberechtigt nebeneinander vor Augen haben: Freiheit, Gleichheit und - wir sagen eben heute nicht mehr Brüderlichkeit - Ge­ schwisterlichkeit. Die Wirtschaft muß dieses Element der Solidarität, wie die Sozial­ demokraten sagen würden, oder Geschwisterlichkeit in sich haben. Sie kann sich zum einen nicht nur aus dem Freiheitsprinzip speisen, aber auch andererseits nicht als egalitäres System, als das der reale Sozialismus gegolten hat, funktionieren, der letzten Endes sich durch sich selbst widerlegt, das heißt, sich als ein lebensfremdes System entpuppt hat.

20 Arno Bamm6: Das ist sicher ein Problem, das nicht nur Deutschland oder die beiden deutschen Staaten betrifft. Das Problem haben wir zum Beispiel in Italien oder genauso in Westeuropa, aber es fällt in Deutschland natürlich mit der Vereinigung zusammen. Das führt uns zu einem weiteren Themenbereich. Ich weiß nicht, ob man das in Deutschland oder in den beiden deutschen Staaten so wahrnimmt: Es gibt sicher Ängste vor der deutschen Wiedervereinigung in Europa, in der Welt. Und das ist irgendwie wohl auch einleuchtend. Wenn Litauen sich befreit, wenn Korea sich vereinigt, dann mag das ein Glück sein für diese Völker oder auch nicht. Im wesent­ lichen aber betrifft es eben nur diese Völker und vielleicht noch ein oder zwei Nachbarn. Anders hingegen bei Deutschland. Wenn Deutschland, gelegen in der Mitte Europas, sich vereinigt, wenn Deutschland sich befreit, dann betrifft das viele. Welche Ängste werden da erzeugt und welche Hoffnungen werden da geweckt? Ich habe zwei Zeitungsausschnitte ausgesucht, die sich sehr schön ergänzen und die diese Angst, ob berechtigt oder nicht, gut dokumentieren. Das eine ist ein Zitat von Antje Vollmer, die zur Gruppe Aufbruch innerhalb der Grünen gehört und versucht, die Spaltung der Grünen zu verhindern. Es ist ein Zitat aus ihrem Vortrag bei der deutschland-politischen Debatte im Bonner Bundestag. Das andere Zitat ist von einem Holländer, dem Literaten Cees Notteboom, der in war, als die Mauer fiel, und der sich mit den Ängsten auseinandergesetzt hat, die West-Berliner formu­ liert haben. Antje Vollmer sagt also vor dem deutschen Bundestag: "Auch ein kalter Krieg ist ein Krieg. Wir sollten die Ereignisse, die derzeit die Sowjetunion und alle ost- und mitteleuropäischen Länder erschüttern, einmal unter dem Aspekt betrachten, daß es sich um Erosionen und Wirren am Ende eines Krieges handelt, nur eben eines kalten Krieges. Diesen Krieg hat die Sowjetunion verloren. Sie hat ihn verloren infolge der Hochrüstung, mit der sie sich zu Tode gerüstet hat und zu Tode gerüstet wurde. Sie hat ihn verloren, infolge der technologischen Unterlegenheit, wofür die Cocom-Liste der symbolische Ausdruck eines westlichen Mauerbaues war. Sie hat ihn verloren infolge der inneren Widersprüche, die in einem Weltreich, das so viele Nationalitäten zusammenzwängt, unvermeidlich sind. Und sie hat ihn verloren in Folge der eigenen unerträglichen demokratischen Unfreiheiten in einem System, daß sich selbst Dikta­ tur des Proletariats genannt hat. Der gewonnene kalte Krieg macht für die Deut­ schen den ökonomischen Weg frei nach Osten, und verspricht gleichzeitig die Wiederherstellung der Einheit quasi zum Nulltarif. Er verspricht also die Umkehr der Ergebnisse des Hitlerkrieges, den Ausstieg aus seiner Geschichte." Deutschland wird dann wieder ein großes Land, dann ziehen die Deutschen wieder nach Osten. 80 Millionen Menschen werden wieder eine große Nation. Das sind auch Befürchtungen, die West-Berliner geäußert hatten, als die Mauer fiel. 21 Dazu jetzt Cees Notteboom: "Ich kann nur antworten, daß sie das schon sind. Daß es ihr eigenes spezifisches Gewicht ist, das der künstlichen Teilung ein Ende bereiten wird. Große Länder haben ihre eigene Schwerkraft. Früher oder später zerrt die an allem. Das Gewicht sucht seine eigenen Wege. Es wird Sache der Deutschen sein, damit umzugehen." Frage: Was kommt da an Verantwortung auf die Deutschen zu, nicht nur für sie selbst, sondern für Europa? Was kann die DDR einbringen? Was die BRD?

Rolf Henrich: Man sollte diese Sorgen auf jeden Fall Ernst nehmen und man muß das Gespräch mit den Nachbarn suchen. Das steht für mich fest. Aber andererseits meine ich auch, hilft es uns wenig, wenn wir uns ständig dafür entschuldigen, daß wir nun, wie hier gesagt wird, 80 Millionen an der Zahl sind. Dafür entschuldigen sich andere Vöker auch nicht. Das führt letztendlich nur dazu, daß - ich sag es mal ein bißchen plakativ - der rechte Rand gestärkt wird. Nach meiner Auffassung könnte man, das ist meine Hoffnung, diese Ängste vor allem dadurch mindern, daß man den Prozeß der Einigung mit einem Prozeß der Abrüstung koppelt. Das wäre ein Signal auch für die Nachbarn. Und man sollte wieder sehr schnell, darüber haben wir vorhin gesprochen, andere Themen mitaufgreifen. Es wäre darauf hinzuweisen, daß eine verstärkte Leistungskraft natürlich auch die Möglichkeit zur Hilfe nach außen gibt. Man sollte nicht nur die Hilfe für die DDR sehen, sondern diese auch mit der Lösung anderer Probleme verbinden. So, meine ich, kann man praktisch auf die Ängste der Nachbarn eingehen. Es bedarf solcher Maßnahmen und es hat wenig Sinn, sich in eine Diskussion zu begeben, ob die Ängste nicht berechtigt oder die Ängste doch berechtigt sind. Praktische Maßnahmen müssen kommen, Abrüstungs­ schritte zum Beispiel. Das wären deutliche Signale für die Nachbarn.

Otto Schily: Ja also, Herr Bamme, bei der Einschätzung von Frau Vollmer scheint mir doch einiges sehr schief zu sein. Ich glaube nicht, daß man sagen kann, die beiden deutschen Staaten waren ein Ergebnis des zweiten Weltkrieges oder sozusagen ein Ergebnis der Hitlerei. Sie sind aus zwei Besatzungszonen enstanden und sind daher unter bestimmten machtpolitischen Vorzeichen zur Staatlichkeit ausgebildet worden. Man darf auch nicht in den Fehler so eines gleichgewichtigen Denkens verfallen, denn wir haben hier eine freiheitlich parlamentarische Demokratie und auf der anderen Seite hatten wir ein Unterdrückungssystem. Deshalb begreife ich in dem Zusammenhang auch das Wort Nulltarif nicht. Die Cocom-Liste, die ich scharf kritisiere, mit dem Mauerbau zu vergleichen, ist ebenfalls ein schiefes Bild, ab­ gesehen davon, daß man jetzt das Bild aufnimmt vom Totrüsten; das wäre ja eine nachträgliche Rechfertigung von Herrn Reagan. Also, alles sehr seltsam zusammenge- 22 rührt. Ich glaube, daß die Linke und auch ganz speziell Antje Vollmer aufpassen müssen, daß sie sich nicht in eine larmoyante Attitüde zurückziehen. Die Linke hat sehr viel Aufarbeitungsbedarf. Sie hat sich nämlich mit einer Illusion darüber benebelt, wie die wahren Verhältnisse im Osten gewesen sind. Sie hat manchmal die Augen davor verschlossen, vielleicht auch in der Illusion, daß die DDR tatsächlich eine gewisse Verwirklichung der alten sozialen Utopie war. Man sollte auch nicht übersehen, daß ja Antje Vollmer und andere noch bis vor kurzem gemeint haben, sie müßten die Zweistaatlichkeit aufrechterhalten und die DDR sollte dabei als der Hort der sozialistischen Moral figurieren. Was nicht funktionieren kann. Hans Magnus Enzensberger hat spaßeshalber einmal gesagt, na gut, wir können natürlich, wenn dieses Konzept realisiert werden sollte, eine Art Arbeitsteilung zwischen der DDR und der Bundesrepublik machen. Dann wäre die DDR zuständig für die Moral und wir machen die Geschäfte. Ich glaube nicht, daß das den DDR-Bürgern, abgesehen von einigen politischen Predigern, so zusagt. Aber man muß es in der Tat ernst nehmen, daß sich jetzt wieder ein deutsches Gebilde mit nationalstaatlichem Dekor herauskristallisiert und daß bewußt bestimmte Ressentiments wieder politisch, wenn schon nicht geschürt, dann wenigstens in Anspruch genommen werden. Als Pragmatiker könnte ich mir durchaus vorstellen, daß es eine Entwicklung gegeben haben könnte, auch eine der Zweistaatlichkeit, bei der die DDR eine vernünftige rechtsstaatliche Demokratie gewesen wäre mit einem vernünftigen wirtschaftlichen System. Dann hätte sich die Frage wahrscheinlich ganz anders gestellt. Aber das ist nun nicht geschehen, und man kann die Ge­ schichte nicht zurückdrehen. Die Geschichte hat ihr Urteil gesprochen. Wir haben einen Bundeskanzler, der als Gerichtsvollzieher dieses geschichtlichen Urteils auftritt, und es ist absonderlich, daß zum ersten Mal in der Geschichte dieser beim Schuldner auch willkommen ist. Aber gut, so trifft es sich manchmal. Wir sollten aber, was sich jetzt da zusammenfügt, nicht überbewerten. Die DDR in den realen Dimensionen betrachtet, darauf hat Bundesbankpräsident Pohl mit Recht hingewiesen, die DDR umfaßt ein Territorium von Nordrhein-Westfalen und hat die Wirtschaftskraft von Hessen. So ein gewaltiger Zuwachs ist das also nicht. Aber in der Tat, wenn man dieses 80-Millionen-Volk dann vor sich sieht, kann es vielleicht bei manchen etwas Unbehagen verursachen. Um damit umzugehen, ist es notwendig, daß wir uns im künftigen Gesamtdeutschland in die europäische Entwicklung ein­ fügen. Wir müssen, wie es Hans Dietrich Genscher mit Recht gesagt hat - aber mit Verlaub ich auch - dieses künftige Deutschland als ein europäisches sehen. Wir können umso deutscher sein, je europäischer wir werden. Wir müssen eine Struktur finden, in der viele traditionelle Souveränitätsrechte auf suprastaatliche Institutionen verlagert werden. 23 Ich will aber noch etwas hinzufügen, und das ist sehr schwierig in die Diskussion überhaupt einzubringen: Die Überwindung des Nationalstaates hängt auch mit der Zurücknahme der Überbewertung staatlicher Institutionen zusammen. Das heißt, daß wir unser Bewußtsein dafür öffnen müssen, daß es gleichberechtigte gesellschaftliche Beziehungen gibt, die in ihrer Bedeutung mindestens so wichtig sind wie staatliche Entscheidungsprozesse. Manche verstehen zum Beispiel Kultur als reines Dekor oder, wie es früher in der herrschenden Ideologie der DDR hieß, als Überbau. Ich bin aber der Meinung, daß die Kultur ein zumindest ebenbürtiges Feld ist, das müssen wir lernen und das sind dann auch andere Bezugspunkte. Die Wirtschaft geht auch nach anderen autonomen Gesetzmäßigkeiten vor sich. Wir haben immer noch den Begriff der Nationalökonomie, es gibt noch immer eine Ausbildung, wahrscheinlich auch in Klagenfurt, in Volkswirtschaftslehre, aber wenn man die Realität vor Augen hat, gibt es heute eigentlich gar keine Nationalökonomie mehr, sondern zunehmend eine Euroökonomie und darüber hinaus eine Globalökonomie. Die Wirtschaft tendiert zur Weltwirtschaft, und das ist auch ein Ansatz, diese alten nationalstaatlichen Ab­ grenzungen zu überwinden. Das gehört mit in den Problemkreis, wenn wir von der Überwindung des Nationalstaates reden. Wir werden übrigens umso mehr Vertrauen bei den westlichen und östlichen Nachbarn haben, je stärker wir in multinationale Organisationen eingebunden sind. Deshalb scheint die Sowjetunion zur großen Verwunderung vieler inzwischen ja fast zu akzeptieren, daß ein künftiges Gesamt­ deutschland in irgendeiner Form in der NATO bleiben wird. Das ist ihr offenbar immer noch lieber als ein Gebilde Gesamtdeutschland, das nicht mehr berechenbar wäre. Wenn man das nach der alten dreifachen Zielsetzung der NATO, wie man das einmal spaßeshalber genannt hat, betrachtet: to keep the Russians out, to keep the Americans in, to keep the Germans down, dann hat man vielleicht auch Verständnis dafür, warum das von sowjetischer Seite so pragmatisch gesehen wird.

Rolf Henrich: Lassen Sie mich noch einen Gedanken einfügen. Es wird vieles darauf ankommen, ob es jetzt gelingen wird, in der DDR wieder die fünf Länder zu rekon­ struieren. Ob es also gelingt, dem föderalen Gedanken wirklich zum Durchbruch zu verhelfen, ihn vielleicht noch konsequenter umzusetzen, als er bisher in die Praxis umgesetzt wurde, und um in der DDR wegzukommen von dem - ja überzogen ist schon gar kein Ausdruck - überzogenen staatlichen Zentralismus. Ich denke, wenn wir diese föderalen Strukturen schaffen und damit auch ein Stück klassischen Nationalstaat überwinden, dann werden wir auch den Nachbarn durch praktische Politik einen Teil der Angst nehmen. Durch Reden werden wir ihnen diese Angst nicht nehmen können.

24 Otto Schily: Vielleicht darf ich diesen Gedanken noch einmal aufnehmen. Wir sollten auch unterschiedliche Vernetzungsstrukturen haben. Zum Beispiel ist es sehr wichtig, daß es so etwas wie eine kooperative mitteleuropäische Struktur gibt, das muß nicht unbedingt eine Konförderation oder Förderation sein, aber doch eine Koopera­ tionsstruktur, die die mitteleuropäischen Länder - da gehört Österreich auch dazu- die also auch Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei miteinbezieht. Zumal in diesen Ländern eine beträchtliche Unruhe darüber wächst, daß wir uns privilegiert nur mit der DDR beschäftigen und diese Länder eigentlich etwas beiseite lassen, die einen ganz wesentlichen Anteil am Reformprozeß in Osteuropa und Mitteleuropa hatten. Man muß ja, bei aller Anerkennung dessen, was das Neue Forum geleistet hat, feststellen, daß die Polen mit der Solidarnosc und die Tschechoslowaken mit der Charta 77 sehr viel früher und sehr viel intensiver mit der Opposition begonnen hatten, als es in der DDR der Fall war. Das hängt vielleicht auch damit zusammen, wie Rolf Henrich gesagt hat, daß es in Deutschland eben doch eine lange obrigkeits­ staatliche Tradition gibt, die in der DDR Jahrzehnte ungebrochen war.

Arno Bammg: Die These von der obrigkeitsstaatlichen politischen Tradition in Deutschland ist für mich Stichwort, um zum nächsten Themenbereich "Staatsmacht und Radikalopposition" zu kommen. Ich möchte eine Situation in Erinnerung rufen, indem ich einen Zeitungsausschnitt zitiere, der damals geschrieben wurde. Es geht um das Problem Staatsmacht und Radikalopposition in Deutschland. Über den 9. Oktober 1989, den Tag der großen Leipziger Demonstration, war damals in der TAZ zu lesen: "Die Stadt, also Leipzig, die Stadt gehört den Betriebskampfgruppen, die seit Freitag in Bereitschaft versetzt sind, um Provokationen kontrarevolutionärer Kräfte wie Neues Forum und Demokratischer Aufbruch sowie Brandanschläge gegen die Betriebe zu verhindern. Nicht alle sind bewaffnet, doch bei der Hauptpost am Karl-Marx- Platz werden Kalaschnikov-Maschinengewehre abgeladen. Die Kampfgruppe des Baukombinats am Nikolai-Kirchhof etwa wird erst gegen 10 Uhr abends ihre Waffen geschlossen wieder abgeben. Nach Aussagen eines Zeugen, wird hinter dem Bahnhof gegen 15 Uhr 30 scharfe Munition an eine Einheit aus der südlichen DDR verteilt, 18 Patronen pro Mann. Die Weisung des Mannschaftsführers: Und wenn was kommt, dann feuert ihr das Magazin leer bis zur letzten Mumpel, also bis zur letzten Patrone." Im nachhinein können wir sagen, das ganze ist haarscharf an "chinesischen Verhält­ nissen" vorbei gegangen. Wäre es tatsächlich zur Katastrophe gekommen, so wäre

25 das Neue Forum sicherlich kriminalisiert worden und verantwortlich gemacht worden. Das zur Situation Deutschland-Ost. Jetzt zur Situation Deutschland-West, ein paar Jahre zurück. Im Gefolge der Stu­ dentenbewegung der 60er Jahre ist eine Radikalopposition in den Terrorismus abgedriftet. Egal wieviel Schuld dem westdeutschen Staat selbst zukommt an dieser Entwicklung, Heimich Albertz, Pastor und ehemaliger Bürgermeister West- hat ja sehr eindrucksvoll die damalige Situation für sich aufgearbeitet, egal also: in jedem Fall waren es Jahre, die die Republik verändert haben. Dieser Satz stammt von Stefan Aust, der die Hintergründe des Baader-Meinhof-Komplexes untersucht hat. Parallelen zum Michael Kohlhaas sind unverkennbar. Michael Kohlhaas, der die Gerechtigkeit suchte und im Terror endete. Sie sind nun beide Juristen. Meine Frage: Gibt es eine Tradition der Staatsmacht in Deutschland, in Preußen, im Umgang mit Radikalopposition, die wir so zum Beispiel in Österreich nicht kennen, die historisch durchschlägt, egal ob es sich um einen realsozialistischen oder um einen bürgerlichen Staat handelt?

Rolf Henrich: Fangen wir mal mit dem Stichwort Michael Kohlhaas an. Ich weiß nicht, ob die Geschichte des Michael Kohlhaas hier so präsent ist. Die entscheidende Stelle im Michael Kohlhaas ist die, daß er sagt, wenn mir mein Recht nicht gegeben wird - er kämpft ja für sein Recht - wenn mir sozusagen der Rechtsweg nicht eröffnet wird - er ist ja auf der Reise nach Dresden und da werden ihm die be­ rühmten zwei Rappen abgenommen - dann werde ich vom Staat außerhalb der Gesell­ schaft gestellt und habe dann plötzlich wieder die Keule in der Hand. Das ist die Kernstelle des Michael Kohlhaas. Und die Tragik, die Janusköpfigkeit des Rechts, zeigt sich im Schicksal von Kohlhaas. Er anerkennt ja zum Schluß, daß er, indem er selbst aktiv geworden ist, also Widerstand geleistet hat, das kaiserliche Recht gebrochen hat. Und er unterwirft sich dann sogar dem Schuldspruch. Das ist eine etwas andere Situation als die, die wir erlebt haben. Es ist auch eine andere Situation, in der wir uns befunden haben, als die, die Sie mit dem "Baader-Meinhof- Komplex" bezeichnen. Ich meine, wir hatten ein Widerstandsrecht. Ich weiß nicht, ob die Baader-Meinhof-Gruppe nicht darüber hinausgegangen ist. Sie ist anders ge­ startet, oder sie hat anders begonnen, das will ich jetzt nicht in Abrede stellen. Aber ich wollte noch ein Wort dazu sagen, um mal die Situation, weil Sie den 9. Oktober angesprochen haben, wie ich den persönlich erlebt habe. Also am Freitag vor dem 9. kamen bei mir in der Früh Telefonanrufe aus Leipzig an: Herr Henrich, Herr Henrich, haben Sie schon die Leipziger Volkszeitung gelesen! An dem Tage erschien in der Leipziger Volkszeitung ein Artikel, den ein Kampftruppenkommandeur unterschrieben hatte. Und in dem Artikel gab es einen Satz, der in etwa so lautete: 26 Wenn am Montag die Straße nicht frei ist, dann werden wir sie notfalls oder erforderlichenfalls mit Waffengewalt freiräumen. Jeder, der die DDR kannte, wußte, daß ein solcher Artikel nur geplant und gezielt in eine Zeitung hineinkommen konnte. Das war also keine Privataktion irgendeines Kampftruppenkommandeurs, sondern dieser Artikel war eine gezielte Drohung. Und das geschah wiederum in einer Zeit, in der alle Parteisekretäre der SED eine parteiinterne Information auf den Tisch bekamen, in der das Neue Forum nochmals - es ist ja zuvor schon zweimal kriminalisiert worden - als eine staatsfeindliche Organisation charakterisiert wurde, und in der gesagt wurde, also das sind Leute, die das Volk verhetzen und in die Irre führen. So bestand am 9. tatsächlich die Gefahr, daß eine "chinesische Lösung" versucht werden konnte. Die Gefahr bestand und das hat man auch an den Stimmen der Anrufer gehört. Ich erinnere mich noch deutlich, daß ein junger Mann geweint hat am Telefon. Der war so aufgeregt, der hat da geweint. Das war die Situation. Aber wie gesagt, ich will noch zurückkommen auf Ihre weitere Frage. Ich denke, wir hatten ein Widerstandsrecht, und ich denke, wir haben aus einer berechtigten Position heraus gehandelt, und wir haben ja immer gewaltfrei gehandelt. Es gab nie die Versuchung unter uns und ich kenne überhaupt kein Gespräch, wo auch nur jemand mal andeutungsweise über Gewalt nachgedacht hat. Allerdings, eins steht auch fest, meine ich, und darüber wurde allerdings gesprochen: Mit Panzern wäre das nicht mehr zu erledigen gewesen. Es war klar, daß in diesen Tagen das Faß schon längst übergelaufen war. Daß das ganze so einen friedlichen Charakter hatte, ich denke, das spricht wirklich für eine gewisse Reife der DDR-Bürger in der damaligen Situation. Aber wie gesagt, ich meine, wir hatten ein Widerstandsrecht, und ich meine, wir waren in einer anderen Situation, als die Baader-Meinhof-Gruppe in der BRD gewesen ist. Dort hatte man Möglichkeiten, politisch Einfluß zu nehmen. Wir hatten im Grunde genommen überhaupt keine. Sie wissen ja: mein Buch wurde veröffentlicht und schon war ich meinen Beruf los. Und müßte mich noch dafür bedanken, wie ich jetzt von Herrn Krenz gehört habe, angeblich verdanke ich es ihm, daß ich nicht eingesperrt wurde. Das hat er ja jetzt allen Beteiligten mit­ geteilt, daß ich ihm das verdanke.

Arno Bamml: Herr Schily, in Westdeutschland gab es eine Gewaltdiskussion.

Otto Schily: Ich kann das alles unterschreiben, was Rolf Henrich gesagt hat. Ich glaube, daß die drei Situationen, die sie verknüpft haben, nicht im selben Atemzug genannt werden können. Bei Michael Kohlhaas ging es zunächst ja auch um ein privates Recht, von dem er glaubte, oder auch zu Recht glaubte, daß er nicht damit 27 zu Rande kam. Eine ganz andere Situation besteht, wo es ein Demokratiedefizit gibt, oder man muß sagen eine repressive Diktatur gibt, in der sich das Volk gewaltfrei erhebt. Das ist in der Tat auch etwas, was ja zu großer Bewunderung hier geführt hat, was aber auch mit anderen Ereignissen im Zusammenhang steht. Auch bei mir, als jemand, der noch 1956 die Erhebung in Ungarn, 1953 zuvor in der DDR und 1968 in der Tschechoslowakai mitbekommen hat, schwang natürlich auch damals im Herbst vorigen Jahres, nicht nur im Blick auf China, die Befürchtung mit, daß wir ein zweites Mal demonstrieren hätten müssen, ohnmächtig zu sein gegen ein solch repressives Vorgehen. Vielleicht auch mit einem Blick auf China, weil zum Beispiel Herr Krenz mit einer Erklärung hervorgetreten ist, daß das alles ganz richtig war, was die chinesische Führung gemacht hat. Ich glaube, man sollte dabei, bei aller Bewunderung für die Menschen in der DDR, die positive Seite, die die Sowjetunion in dem Fall gespielt hat, nicht unterschätzen. Das war völlig anders, als die Situa­ tion 1956 und 1968. Ich gaube, man kann es durchaus vertreten, zu sagen, daß die Sowjetunion sich nicht nur beiseite gehalten hat, sondern auch darauf politischen Einfluß genommen hat, daß von staatlicher Seite keine Gewalt ausgeübt wurde. Also das ist die Situation. Was nun die Rote-Armee-Fraktion angeht, wie sich die Baader-Meinhof-Gruppe selbst genannt hat, muß man, glaube ich, den geschichtlichen Zusammenhang mit im Blick haben. Die Rote-Armee-Fraktion ist, wie der Name schon sagt, ein Spaltprodukt aus dem Zerfall der Studentenbewegung. Und wenn man das individuell untersucht, dann wird man feststellen, daß einige in dieser Gruppierung aus sehr idealistischen poli­ tischen Arbeitszusammenhängen hervorgegangen sind. Eine der Hauptangeklagten im Stammheimer Prozeß war früher in der Wählerinitiative für Willy Brandt. Andere waren ausgesprochene Pazifisten, also überzeugte Pazifisten. Die bundesrepubli­ kanische Gesellschaft hat in der Tat sehr große Schwierigkeiten damit gehabt, mit dieser Herausforderung umzugehen. Und da muß man zwei Dinge unterscheiden. Es gibt natürlich kein Grundrecht in einer rechtstaatlichen Demokratie - jetzt einmal sehr frivol ausgedrückt - auf bewaffneten Kampf zur Durchsetzung der eigenen politischen Ziele. Aber daß überhaupt eine solche Gruppierung sich aus der Gesell­ schaft herausstellt, und sogar meint, ohne ein auch nur einigermaßen konturiertes positives Programm auf die Zerstörung der Staatsmacht durch bewaffnete Aktionen hinarbeiten zu sollen, das ist nicht nur ein Vorgang, den man im Zusammenhang mit den Individuen, die dabei mitgewirkt oder nicht mitgewirkt haben, sehen muß, das hat natürlich auch Aussagekraft, bezogen auf die Gesellschaft. Und da, denke ich, sind zwei Ereignisse von ganz großer Bedeutung, nämlich wie die alte Nazistruktur in die Bundesrepublik integriert worden ist, und wie sie mit eigenen Idealen in anderen Auseinandersetzungen umgegangen ist. Wenn man an die Studentenbewegung 28 zurückdenkt, dann haben so Ereignisse, wie das Verteilen von Berliner Freiheits­ glocken mit der Behauptung, in Vietnam, bei den Napalmbombardements würde auch die West-Berliner Freiheit verteidigt, natürlich zu einer Entfremdung zwischen jungen Menschen und dem Staat geführt, die ist kaum auszudenken. Oder die Tatsache, daß zum Beispiel Heiner Globke, der immerhin der Mitkommentator der Rassengesetze war, dann ins Bundeskanzleramt kommen konnte, oder daß nicht einer der Mörder in Richterrobe, der an dem Volksgerichtshof mitgewirkt hat, vor Gericht gestellt wurde, sondern auch noch große Pensionen bezogen hat. Daß es bei uns eine Haltung gibt, die den Staat immer privilegiert, das ist ein Phänomen mit dem wir uns noch verstärkt auseinanderzusetzen haben. Ich glaube, wir werden ein solches sehr heikles und sehr sensibles Thema, wie das ganze Problem des Staatsterrorismus nicht richtig erfassen, wenn wir uns nicht mit diesen politischen Erscheinungen auch beschäftigen. Es gibt einen interessanten Satz von einem Präsidenten eines Bundeskriminalamtes, der gesagt hat: Ob jemand Terrorist ist oder nicht hängt davon ab, ob er sich politisch durchsetzt oder nicht. Ich habe noch sehr deutlich einen Satz aus der damaligen Presse vor Augen. Er bezog sich auf den heutigen Ministerpräsidenten von Simbabwe, der heute bei allen Staatsge­ waltigen der Welt in allen Ehren zu Gast ist. Der wurde damals in der Zeitung "Die Welt" als der Andreas Baader von Afrika bezeichnet. Das ist Robert Mugave. Sie sehen, daß man in solchen Zusammenhängen mit kurzschlüssigen Urteilen sehr vorsichtig umgehen muß. Das heißt nicht, daß ich etwa im Widerspruch zu Henrich sagen könnte, daß es da ein Widerstandsrecht gegeben haben könnte. Aber die Frage ist dann auch, wie geht man mit einem solchen Phänomen, das ist dann wieder ein anderes Blickfeld, in einem Prozeß um? Kann man einen Stammheimer Prozeß durchführen, in dem man alle rechtstaatlichen Prinzipien beiseite läßt? Das war eine Auseinandersetzung, die ja noch bis heute ihren Nachhall hat und mich auch persönlich dadurch betrifft, daß man mir heute immer noch versucht, dieses Etikett eines Terroristenverteidigers anzuheften, was ich zurückweise als einen irre­ führenden Begriff. Ich nenne ja auch nicht die Anwälte, die Herrn Graf Lambsdorf verteidigt haben, Steuerhinterzieheranwälte. Ich gehe noch einen Schritt weiter: Der von mir sehr geschätzte Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat auch in einem Terroristenprozeß verteidigt, nämlich seinen Vater in den Kriegsverbrecherprozessen seinerzeit nach 1945, ohne daß das ihm irgendwie ein Etikett eingetragen hat dieser Art. Ich glaube, daß gerade ein Rechtsstaat sich dadurch auszeichnet, daß in einem Verfahren, in dem sehr harte Vorwürfe zur Debatte stehen, eine rechtstaatliche Verteidigung garantiert ist. Eine selbstbewußte, aufrechte Verteidigung in einem Verfahren, in dem es um terroristische Straftaten geht, ist nicht nur wichtig zur Verteidigung des einzelnen Menschen - und ich sage, ich verteidige und habe keine 29 Terroristen verteidigt, ich habe zunächst nur Menschen verteidigt, und das Urteil hat dann darüber zu befinden, ob der Vorwurf berechtigt ist oder nicht - sondern gewissermaßen ist diese Tätigkeit auch ein Element der Verteidigung des Rechts­ staates.

Arno Bamm£: Das war ein sehr schöner Satz, fast schon ein Schlußwort. Obwohl wir noch einen Themenkomplex offen haben, der mir am Herzen liegt, würde ich mich jetzt ganz gerne zurücknehmen und dem Auditorium die Gelegenheit geben, direkt Fragen an Rolf Henrich oder Otto Schily zu stellen.

Publikumsfrage: Ich möchte noch einmal auf die Frage der wirtschaftlichen Ent­ wicklung der DDR, die die beiden Herrn Rolf Henrich und Otto Schily recht positiv sehen, zurückkommen. Darf ich zunächst mit einer kleinen Geschichte starten und dann meine Frage anschließen? Mein Bruder, Lehrer an einem wirtschaftlichen Gymnasium in Stuttgart, erzählte mir vor vier Wochen folgende Geschichte: Einer seiner Schüler hat zur Volljährigkeit 5.000 Mark bekommen. Um das Geld gewinn­ bringend anzulegen, kaufte er sich ein Haus für 5.000 Mark in Leipzig. Er ist dort gleich hingefahren, hat sich das angeschaut und ist drauf gekommen, daß dieses Haus sehr renovierungsbedürftig ist, und er sich das nicht leisten kann. Also hat er das Haus wieder verkauft, und zwar um 10.000 Mark an einen anderen West­ deutschen. Meine Frage, die ich jetzt habe: Vielleicht ist, volkswirtschaftlich gesehen, tatsächlich so viel Geld da, daß man dieses Geld im Gebiet der DDR investieren kann und daß dadurch insgesamt, DDR und Westdeutschland zusammen gesehen, das Bruttosozialprodukt steigt. Nun frage ich mich aber, was passiert mit den jetzt freien Gütern dieses Landes, den Fabriken, den Gebäuden, in denen ja Menschen wohnen? Bedeutet diese Wirtschaftshilfe, daß dann auch der Besitz dieser Güter an diejenigen wechselt, die das Kapital haben? Und, um auf die Dritte-Welt- Problematik überzugehen, wird man es jetzt gar nicht mehr nötig haben, seine überflüssigen Gelder in die Dritten-Welt-Länder zu investieren, sondern investiert man sie da, wo man eigentlich dieses Investieren auch als Hilfe verkaufen kann. Wir helfen ja unseren Brüdern im Osten, hieß es früher mal. Ist das nicht eine kleine Umverteilung im Sinne einer neuen Zwei-Drittel-Gesellschaft, wobei dann die Bundesrepublik ihr Drittel schon gefunden hat?

Rolf Henrich: Erlauben Sie mir, daß ich erst einmal etwas zur ersten Geschichte sage. Juristisch ist das nicht möglich, was Sie eben gesagt haben. Dieser Herr, von dem Sie erzählten, konnte in juristisch wirksamer Weis in der Vergangenheit kein Eigentum erwerben. Das muß ich einfach so sagen: Sie können nicht daher kommen 30 und sagen, ich kauf das. Denn dann, das sage ich Ihnen einmal ganz deutlich, wäre der gesamte Rand von West-Berlin schon längst in West-Berliner Hand. Das ist klar, daß bei den Grundstückspreisen, die wir im Moment haben, die sich so zwischen 20 und 70 Pfennig pro Quadratmeter bewegen, natürlich schon jeder DDR-Bürger die DDR aufkaufen kann und erst recht jeder Westdeutsche. Die Rechtslage ist im Moment tatsächlich noch so, daß das nicht möglich ist, was Sie gesagt haben. Aber dahinter verbirgt sich ein Problem, und was Sie sagten, das ist durchaus ernst zu nehmen. Was geschieht jetzt eigentlich perspektivisch? Gehen jetzt im Grunde genommen die volkseigenen Betriebe in, sagen wir westdeutsche Hand über? Und damit letztendlich in irgendeiner Form auch der Grund und Boden? Das Problem existiert tatsächlich. Das ist ein Problem, das in der zukünftigen Entwicklung auf jeden Fall beachtet werden muß. Meiner Meinung nach besteht unser Problem in folgendem: Wir haben, wenn Sie einmal die volkswirtschaftliche Struktur der DDR etwas genauer betrachten, in den letzten zwanzig Jahren vor allem in sehr schwergewichtige Produkte investiert. Wir produzieren Lokomotiven, Krane, Schiffe, also Produkte, die äußerst materialintensiv sind und, gemessen am Materialeinsatz wenig Ingenieursleistung verlangen, und das als rohstoffarmes Land. Dem rechnen Sie bitte hinzu, daß wir einen großen Teil unseres Nationaleinkommens eingesetzt haben, um die Braunkohle zu verwerten und kombinieren Sie das noch mit der Entwicklung des Ölpreises auf dem Weltmarkt und mit der ganzen Umweltproblematik. Das bedeutet: Unser Problem ist im Moment nicht so sehr diese Eigentumsfrage. Unser Problem ist, wie können wir jetzt die Arbeitskräfe umgruppieren, wie können wir sie aus diesen Strukturen oder aus diesen Betrieben heraus nehmen und umsetzen? Denn es kann ja nicht so sein, daß die wenigen Betriebe, die tatsächlich noch einen Gewinn erwirtschaften, immer nur abgemolken werden und der Gewinn in die Strukturen geht, die ich eben genannt habe. Daß wir immer tiefer in die Krise hineinfahren, so kann es ja nicht sein. Dabei wird es auch zu Umverteilungen des Eigentums kommen, wobei ich davon ausgehe, daß es jetzt zu Interessenabwägungen kommen muß. Die Konstruktion einer Treuhandstelle, die das, was jetzt so unter dem Begriff Volkseigentum rangiert, verwaltet und in die neuen Gesellschaftsformen miteinbringt, das finde ich gar nicht so schlecht. Zumindest fällt mir persönlich keine bessere Lösung ein. Man müßte aber den DDR-Bürger tatsächlich in irgendeiner Weise daran auch beteiligen. Wie man das macht, ob man zum Beispiel Anteile ausgibt, das ist eine ganz andere Frage. Aber ich meine schon, daß das Eigentum im Hinblick auf die Produktions­ mittel an den DDR-Bürger gehen soll. Es soll nicht einfach so verkauft werden, daß der Kaufpreis an eine anonyme Staatskasse geht. Es müssen da Rechtsbeziehungen gefunden werden, die diese vierzig Jahre Geschichte in irgendeiner Weise berück- 31 sichtigen. Meine Hoffnung, was den Grund und Boden angeht, ist, daß der nicht in den Spekulationsverkehr hineingerissen wird. Da würde ich schon Wert darauf legen. Wer einen neuen Betrieb gründen will, der soll natürlich Grund und Boden be­ kommen, das ist überhaupt keine Frage. Von daher ist ja die derzeitige Rechtslage, daß der Grund und Boden nicht im freien Verkehr ist, ein Vorteil. Und dieselbe Position sollte man auch im Hinblick auf die Ergebnisse der Bodenreform ein­ nehmen. Das darf man nicht verwechseln mit einer ganzen Palette anderer juri­ stischer Sachverhalte. Die muß man jeweils gesondert betrachten. Ich vertrete zum Beispiel einen Schriftsteller, dem sein Hausgrundstück einmal abgepreßt wurde. Er ist in einen politischen Prozeß hineingeraten und hat eine langjährige Freiheitsstrafe bekommen. Irgendwann einmal erschien dann ein Kollege von uns und sagte zu ihm: den Rest der Strafe kannst du ausgesetzt bekommen, wenn du auf dein Hausgrund­ stück verzichtest. Die Notarin stand natürlich schon vor der Tür. Das ist natürlich eine klassische Situation der Erpressung, die muß man anders behandeln. Was diese Fälle angeht, muß man zu anderen Lösungen kommen. Aber im übrigen meine ich, wie gesagt, daß der Grund und Boden möglichst nicht in den Spekulationsverkehr hineingerissen werden sollte. Die Frage der Dritten-Welt-Problematik ist jetzt ein bißchen kurz gekommen. Aber da müßte man dann wahrscheinlich sehr viel mehr dazu sagen.

Publikumsfrage: Noch eine Zusatzfrage zur Eigentumsregelung. Was geschieht jetzt wirklich oder wird vermutlich mit jenen Altbesitzern geschehen, die in der Bundes­ republik leben und wieder große Teile von ihrem in der DDR zurückgelassenen Vermögen für sich reklamieren.

Rolf Henrich: Welches meinen Sie? Das müßten Sie genauer sagen, denn da gibt es eine Palette von Sachverhalten. Es sind Leute in die BRD gegangen und die sind Eigentümer geblieben. Diesen Sachverhalt gibt es en masse. Dann wurde zum Beispiel der Grund und Boden in eine Genossenschaft eingebracht, die ihn bearbeitete. In diesem Fall ist das Eigentum ja zunächst erhalten geblieben, genau so wie bei den einzelnen Genossenschaftsbauern. Die Frage ist, ob sie den Grund und Boden wieder aus der Bewirtschaftung herausnehmen wollen. Und da besteht im Moment kein Überblick darüber, wie groß diese Fläche insgesamt ist, oder ob eine Herausnahme die landwirtschaftliche Nutzfläche in größerem Umfang beeinträchtigen würde. Ich meine nicht. Da spreche ich auch aus eigener Erkenntnis. Ich hab eine Vielzahl von Genossenschaften juristisch in einem Betreuungsvertrag enger betreut. Also der größte Teil der Ländereien in diesen Genossenschaften ist ganz normal eingebracht worden, wie immer da auch die Vergenossenschaftlichung gelaufen ist. Da wollen 32 auch wieder welche raus. Aber es ist übrigens erstaunlich, daß die Mehrheit der Genossenschaftsbauern mit ihrem Grund und Boden in den Genossenschaften bleiben wollen. Die wollen nur zu anderen Formen kommen. Da muß man jeden Einzelfall, meine ich, dann gesondert behandeln. Ein Grundsatz muß gelten: man kann altes Unrecht nicht durch neues Unrecht wiedergutmachen, deshalb muß man da jetzt wirklich jeden Einzelfall bearbeiten.

Otto Schily: Es kann sein, daß Sie diese Antworten insofern nicht zufrieden stellen, weil sie keine einfache Formel anbieten. Aber ich glaube, Rolf Henrich hat recht. Das ist ein sehr komplexes Thema, das man mit einem griffigen Konzept nicht beantworten kann. Ich würde mal folgendes sagen. Zunächst wende ich mich gegen diesen Ausdruck, der auch die Runde gemacht hat: Ausverkauf der DDR. Bei aller Kritik an manchen Erscheinungsformen, daß da einige jetzt mit ihrem kaufkräftigen Geld hingehen und die Läden leer kaufen oder, eine Etage höher, meinen, das große Schnippchen machen zu können. Aber, genauso wie die Bundesrepublik nicht ohne fremdes Kapital aufgebaut worden ist, braucht die DDR fremdes Kapital und das muß sich auch irgendwo ansiedeln. Heute wird sogar gesagt, daß es ein Signal für wirtschaftliches Wohlergehen ist, wenn die Auslandsinvestitionsquote hoch ist. Zweitens glaube ich, wir sollten uns nicht täuschen, daß Eigentumsformen in jedem Falle für die wirtschaftliche Prosperität sehr wichtig und entscheidend sein müssen. Mein Paradebeispiel dafür ist die Porzellanmanufaktur in Meißen. Das ist ein hervor­ ragend funktionierender Staatsbetrieb. Die machen sehr gute Geschäfte, haben ein gutes Produkt anzubieten und es ist letztendlich egal, ob die im Staatseigentum sind oder im Privateigentum. Wir haben das in West-Deutschland erlebt mit dem Volks­ wagenwerk. Da war über lange Jahre die Eigentumsfrage völlig ungeklärt und trotzdem hat der Betrieb hervorragende schwarze Zahlen geschrieben. Ich könnte Ihnen noch andere Beispiel dafür anbieten, daß die Eigentumsfrage die kuriosesten Seiten hat. Weil Sie hier eine kleine Geschichte erzählt haben, will ich auch eine kleine Geschichte erzählen. Bei der Firma Siemens sprach vor kurzem ein DDR-Abgesandter vor und meinte, den Siemens-Konzern daran erinnern zu sollen, daß es ein Grundstück irgendwo in der Gegend von Berlin gebe, das früher im Besitz des Siemens-Konzerns war. Und dann hat der Siemens-Vertreter gesagt: na gut, wir gucken uns einmal an, was das ist, und kommen Sie in einer Woche wieder. Das geschah dann auch. Das zweite Gespräch verlief so, daß der DDR-Abgesandte fragte: na, was ist nun? Und der Siemens-Vertreter antwortete: Ja, es täte ihm furchtbar leid, aber an diesem Grundstück hätten sie kein Interesse. Das sei völlig verfallen, da müßten sie so viel Geld investieren, das lohne sich nicht. Worauf der DDR- Abgesandte sagte: Na ja, wir können uns ja auch was einfallen lassen; wir tragen 33 sie einfach wieder ins Grundbuch ein. Es war dann also nicht eine Frage der Enteignung, der Rückgängigmachung einer Enteignung, sondern eine Beeignung, um einen finanzstarken Konzern in eine bestimmte Verpflichtung hineinzubringen. Das zweite Beispiel, von dem ich hörte, ist, daß eben die IG-Farben-Nachfolger, die es ja bei uns gibt, Höchst, BASF usw., daß die wohl wenig Interesse haben, in Bitter­ feld Betriebe fast umsonst zu übernehmen, die mit hohen Altlasten versehen sind, bei denen die Kosten in der ersten Phase sehr hoch sein werden. Die Medaille hat sehr viele Seiten, nicht nur zwei. Die letzte Bemerkung dazu - die Dritte-Welt-Problematik können wir vielleicht nochmal in einem anderen Zusammenhang diskutieren. Daß wir die überflüssigen Gelder investieren, so ist es leider nicht, selbst wenn wir die DDR einmal völlig ausblenden. Heute gibt es einen Nettokapitalfluß von den Dritten-Welt-Ländern, den ärmsten Ländern in die Industrieländer. Das ist etwas, was uns eigentlich besonders betroffen machen sollte. Was die DDR angeht, Rolf Henrich hat davon gesprochen, ist die Produktivität einerseits sehr, sehr niedrig und andererseits der Energiever­ brauch sehr hoch, um 35% höher als bei uns. Die Umstellungsnotwendigkeiten sind gewaltig hoch und dementsprechend auch der Investitionsbedarf. Und so darf man es einem Investor nicht verübeln, daß er das sehr genau prüft, inwieweit sich das rentiert. So funktioniert die Wirtschaft. Was die DDR-Seite eigentlich leisten muß, und ich hoffe, daß das auch so verstanden wird, ist, daß die sozialen und öko­ logischen Rahmenbedingungen so sind, daß aus der DDR nicht nur eine bloße Kopie der Bundesrepublik wird, sondern quasi ein Modell für ökologische und soziale Marktwirtschaft. Dazu hat die DDR sogar großartige Chancen, weil sie gewisser­ maßen wieder bei Null anfängt. So viel Anfang war nie, hieß eine Veranstaltung der SPD, bezogen auf die DDR.

Publikumsfrage: Weil ich das Mikrofon gerade in der Hand hab, möchte ich doch noch in Dritte-Welt-Fragen weiter bohren. Da hat es ja eine völlig unterschiedliche Ausrichtung gegeben, in der Art, wie die DDR und wie die Bundesrepublik in der Dritten Welt agiert haben. Und da stehe ich nicht an, ein kleines Loblied auf die alte DDR-Entwicklungshilfe zu singen, die nämlich ohne Hintergedanken und Inter­ essen ökonomischer Art in den Ländern, wo sie Entwicklungshilfe gemacht hat, sehr, sehr viel an medizinischer Hilfe geleistet hat zum Beispiel, oder sehr, sehr viel Positives im Transportwesen verändert hat und das alles ohne dann große Dinge zurück zu bekommen. Während zumindest der Bundesrepublik unterstellt worden ist,

34 daß sie lieber in Schwellen-Ländern investiert hat, um etwas zurückzukriegen. Und wie wird das jetzt weiter ausschauen? Die neue DDR wird das nicht mehr machen wollen, nehme ich an, oder nicht mehr machen können aufgrund der ganzen ökono­ mischen Schwierigkeiten, die da ins Haus stehen.

Otto Schily: Ich glaube, sie zeichnen da ein zu rosiges Bild von der Ent­ wicklungshilfe der DDR. Wir müßten das im Projekt jeweils prüfen. Ich glaube, daß die DDR sich sehr genau angesehen hat, was sie davon hat, mindestens eine poli­ tische Rendite, abgesehen davon, daß auch die DDR die ökonomischen Komponenten bestimmter Entwicklungsvorhaben nicht außer acht gelassen hat. Ich glaube, das ist ein allgemeines Problem. Auch die Bundesrepublik muß sich viel Kritik dabei gefallen lassen. Ich denke, man kann dieses Dritte-Welt-Problem - das wäre aber ein ganzer Abend für sich - eigentlich nur unter die Überschrift stellen: wir brauchen eine gerechte Weltwirtschaftsordnung. Das heißt, daß wir als Bezieher bestimmter Pro­ dukte aus der Dritten Welt zum Beispiel dafür sorgen, daß dort einigermaßen ge­ rechte Löhne in den Preis eingehen. Nehmen Sie einmal den lächerlichen Hunger­ lohn, den eine Teepflückerin bekommt, und dann den Preis, den wir für einen Tee bezahlen. Oder nehmen Sie zum Beispiel die Rohstoffprodukte. Sie könnten das auf viele Bereiche ausdehnen. Es sprengt jetzt etwas den Rahmen, aber ich möchte noch einmal wiederholen: Wir sollten die Gewichtung richtig sehen, nämlich, daß die DDR und auch die gesamteuropäische Entwicklung eigentlich in ihren Fragestellungen sehr bescheidene Dimensionen gegenüber den großen Herausforderungen des Verhält­ nisses der Industrieländer zu den Dritten-Welt-Ländern hat.

Rolf Henrich: Ich fühle mich jetzt auch so ein bißchen hin und her gerissen, ob wir nun in diese Problematik einsteigen sollen. Dann müßten wir sie wirklich vom Grundsatz her lösen. Das würde ich dann doch mit der Ökologieproblematik verbin­ den wollen und dann wäre, wenn wir es wirklich konsequent zu Ende denken, mein Ausgangspunkt der, daß wir uns zunächst folgendes fragen müssen: Wieviel Industri­ alisierung verträgt ein Quadrat-Kilometer dieser Erde. Das denke ich, muß letztend­ lich für jede Politik zukünftig der Ausgangspunkt werden. Wie man das dann er­ rechnet, oder wie man das umrechnet, ob man den Energiedurchsatz und ähnliches zum Maßstab nimmt, das ist jetzt eine ganz andere Frage. Letztendlich müßte man jedem auf dieser Erde den selben Industrialisierungsgrad zubilligen. Da brauchen wir uns nur einmal eine Sekunde lang fragen: Was würde aus diesem Erdball, wenn 300 Millionen Sowjetbürger auch nur annähernd so effektiv produzieren oder so "reiße­ risch" produzieren würden wie vergleichsweise die BRD oder die DDR oder die USA? Und dann kann man noch weiter denken. Was wäre wenn die 1 Milliarde Chinesen 35 auch dieselbe Produktionsleistung oder denselben Industrialisierungsgrad hätten wie die Japaner oder die Süd-Koreaner? Also ich denke, dann wäre die Erdoberfläche in kürzester Zeit dreimal umgewühlt. Was ich damit sagen will ist folgendes: Letzt­ endlich müssen wir irgendwo einen Maßstab für die Industrialisierung finden. Und da wäre ein Maßstab etwa die Frage - ich will das bloß mal in die Debatte werfen- ob wir berechtigt sind, das Artensterben weiterhin zu verursachen, durch unsere Form der Industrialisierung, ja oder nein? Wenn wir sagen, wir sind nicht berech­ tigt, auch nur eine Art auf dieser Erde zu vernichten, dann würde dies bedeuten, wir müssen eine Form der Industrialisierung finden, die dies nicht mehr weiter verursacht. Das sind so Ausgangspunkte für mich, von denen her man dann einzelne Politikmaßnahmen umsetzen müßte. Aber ich denke auch, das würde den Rahmen heute Abend sprengen, wenn wir darauf eingehen, oder wir bleiben dann wirklich sehr an der Oberfläche. Von daher wäre es vielleicht gut, wenn wir uns doch auf die andere Problematik beschränken würden.

Publikumsfrage: Meine erste Frage: Herr Schily, es hat mich verwundert, daß die SPD im Gleichschritt mit der CDU gegangen ist, Arm in Arm mit Kanzler Kohl. War das jetzt schon Wahltaktik zum einen, oder war zum andern, der wirtschaftliche Druck so stark, daß man nicht anders konnte? Die zweite Frage: Wenn man die Geschichte genauer betrachtet, so kann man feststellen, daß militärische Ereignisse Strukturen verändert haben. Jetzt habe ich den Eindruck, daß wirtschaftliche Ereignisse Strukturen verändern, und eigenartigerweise verhält sich der Warschauer Pakt relativ ruhig und auch die NATO mischt sich nicht ein. Es scheint so, als ob es ein stilles Abkommen gäbe, daß man sich zurückhält. Wie wird sich jetzt diese wirtschaftliche Veränderung auf die beiden Bündnisse auswirken? Was kann man da im nachhinein noch erwarten?

Otto Schily: Ich will mal mit der letzten Frage anfangen. Diese Frage kann man relativ einfach beantworten. Daß die wirtschaftlichen Zusammenhänge ihre eigene Dynamik haben, das ist unverkennbar. Das ist übrigens gar nicht so schlecht, denn ich war immer der Auffassung, daß wir die politischen Sicherheitselemente schärfer in Blick nehmen sollten als die militärischen. Ich glaube, daß wirtschaftliche Koope­ ration vielmehr dem Frieden dient als militärische Konfrontation. Im Zuge der sich jetzt anbahnenden Entwicklung haben wir in Europa eine riesige Chance, daß sich dieser Prozeß der kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit im Rahmen auch des KSZE-Prozesses beschleunigt. Die beiden Bündnisse werden ein unterschiedliches Schicksal haben. Der Warschauer Pakt ist praktisch tot. Ich glaube, daß davon nicht mehr viel übrig geblieben ist. Ob der sich jetzt formal auflösen 36 wird demnächst oder nicht, spielt dabei weniger eine Rolle. Und die NATO wird zunehmend einen politischen Charakter bekommen und weggehen von der militä­ rischen Bedeutung, auch das liegt in der Entwicklung. Nun haben Sie mich zunächst einmal gefragt, was ist denn mit der SPD, wieso ist sie Arm in Arm mit Bundes­ kanzler Kohl gegangen. Da weiß ich jetzt nicht, welche Phase Sie meinen, also nach der Wahl oder vor der DDR-Wahl, oder meinen Sie beide Zeitpunkte.

Publikumsfrage: Hätte man nicht selber gerne den politischen Deal gemacht?

Otto Schily: Welchen Deal?

Publikumsfrage: Anstelle Kohls, wäre man nicht gerne selber dort gewesen?

Otto Schily: Ja, wo?

Publikumsfrage: Ja, bei den Verhandlungen, beim Modrow und wo auch immer, oder mcht?

Otto Schily: Naja, daß die SPD die Absicht hatte, die Bundesregierung abzulösen, das stimmt, ja. Das wäre auch gut und ich glaube zum Beispiel, Herr Modrow wäre nicht so unhöflich in behandelt worden, wie es schäbigerweise bei seinem kürzlichen Besuch der Fall war. Was ich insofern als sehr abstoßend empfunden habe, weil man ja vorher noch vor Honecker tiefe Diener gemacht hat. Aber lassen wir das auf sich beruhen. Es ist in der Tat so, daß die SPD es, durchaus ähnlich wie die Regierungs­ fraktion, begrüßt hat, daß dieser Vereinigungsprozeß stattfindet. Das ist ein Urteil der Geschichte, das man akzeptieren muß, und ich glaube, daß es nicht mehr um das Ob der Neuvereinigung, wie ich sage, sondern um das Wie geht. Auch das ist keine neue Formel, auch das ist schon häufig durchdekliniert worden. Daß es für die DDR nach meiner Überzeugung besser gewesen wäre, wenn sie sich nicht für die alte Blockpartei CDU, sondern für die neugegründete SPD entschieden hätte, will ich damit begründen, daß ich glaube, daß die Menschen in der DDR aus der Geschichte und aus der Situation heraus, in der sie sich heute befinden, eine Interessenge­ meinschaft bilden. Das ergibt sich aus der Natur der Sache heraus. Deshalb brauchen sie eine Partei in der politischen Führung, die diese Interessen selbstbewußt in dem Vereinigungsprozeß vertritt und auch gegenüber der Übermacht der Bundesrepublik behaupten kann. Das mag auch die Veranlassung dafür gewesen sein, daß jetzt die SPD in die Koalitionsregierung eintreten wird. Da gibt es sehr viele Einwände, das zu tun. Gerade nach einer Wahlniederlage ist es immer etwas schwierig, mit ge- 37 schwächter Kraft in eine Regierung mithineinzugehen. Abgesehen davon, ist es dann häufig in einer solchen Konstellation so, daß man die Erfolge, die eine solche Re­ gierung erringen wird, der CDU gutschreiben wird, und daß man gleichzeitig die Haftung für die Fehler übernehmen muß. Das ist eine schwierige Konstellation. Auf der anderen Seite, in der Opposition nun quasi in eine Front neben die PDS gesetzt zu werden, ist auch nicht ganz angenehm. Also die SPD hat hier, wie so häufig, nur die Wahl zwischen zwei Übeln. Es ist aber noch nicht ausgemacht, wie dieser Prozeß endgültig verlaufen wird. Es gab ja auch ein hin und her, einmal hat man ja gesagt, einmal nein, einmal DSU ja, einmal nein. Jetzt hat es ein großes Versöh­ nungtreffen gegeben. Rolf Henrich wird ja vielleicht auch noch etwas dazu sagen. Eines sollten wir nicht übersehen, die gegenwärtige Situation der DDR ist so beschaffen, daß selbst die CDU - die noch einen anderen Charakter hat als die bundesrepublikanische CDU - zunehmend erkennen läßt, daß sie nicht etwa sich unter das Diktat Bonns stellen will, sondern auch weiß, daß sie völlig den Boden in der DDR unter den Füßen verlieren würde, wenn sie nun alles, was an Interessen seitens der Menschen in der DDR vorhanden ist, den Wünschen der Bonner Regie­ rung opfert.

Publikumsfrage: Eine Frage an Herrn Henrich. Die Gruppierung, der das Neue Forum angehört, hat doch zwölf Mandate in der Volkskammer erhalten. Wieviel entfallen da aufs Neue Forum?

Rolf Henrich: Nach meiner Auffassung alle, aber dazu muß ich eine Anmerkung machen, formal, nicht inhaltlich. Die Gemeinschaft, das Bündnis 90, besteht ja aus dem Neuen Forum, der Initiative für Friedens- und Menschenrechte und der Demo­ kratie Jetzt. Und darüber, daß dieses Bündnis in dieser Form zustande gekommen ist, ist ja die Mehrheit der Landesverbände sehr unglücklich gewesen. Das Neue Forum ist ja wirklich eine Massenbewegung gewesen. Also die Leute, die jetzt in der SPD sind, sind ja zum größten Teil im Neuen Forum gewesen, das muß man ja mal sagen. Dieses Bündnis 90 besteht also aus dem Neuen Forum, der Initiative für Friedens­ und Menschenrechte - ist wiederum im Vergleich zum Neuen Forum eine Gruppe, die, wenn überhaupt, allenfalls hundert Mitglieder, also Mitstreiterinnen oder Mitstreiter gehabt hat - und Demokratie Jetzt. Demokratie Jetzt soll auf einige Tausend gekommen sein. Das ist aber auch gar nicht so sicher, so daß die im Grunde genommen vom Neuen Forum da mit reingezogen wurden, also die Mandate hat ihnen schon das Neue Forum gebracht. Nur bin ich der Meinung, wie ich es früher versucht habe anzudeuten, daß das Neue Forum keine Partei ist, und auch als Partei keine Überlebenschance hat. Ich gehe sogar soweit und sage, das Neue Forum 38 hat eigentlich die Aufgabe, die es gehabt hat - und das war wirklich eine histori­ sche Aufgabe, diesen Panzer der Verkrustung aufzubrechen - die hat es erfüllt. Ich wäre glücklich darüber gewesen, wenn sich das Neue Forum als Bürgerbewegung gefestigt hätte. Da hätte es auch eine Überlebenschance gehabt. Ich persönlich habe ja auch zwei Angebote bekommen: einmal stellvertretender Justizminister zu werden, und ein zweites Mal wurde ich gebeten, Präsident des obersten Gerichts zu werden. Das habe ich nicht gemacht. Das geht auf diese Auffassung zurück, daß ich der Meinung war, wir sollten eine Bürgerbewegung bleiben.

Publikumsfrage: Gibt es, jetzt von Ihnen abgesehen, solche Persönlichkeiten, von denen man annehmen kann, daß sie wirtschaftswissenschaftlich, sozialwissenschaftlich und juristisch so weit versiert sind, daß sie zum Beispiel den Impuls der Treuhand­ verwaltung auf sachliche Weise zu vertreten imstande sind?

Rolf Henrich: Von der sozialen Zusammensetzung geht das Neue Forum quer durch alle Bevölkerungsschichten. Also von Professoren, wie zum Beispiel Jens Reich, bis hin zum Gastwirt dann auf der anderen Seite. Also ich sag das deshalb, weil für mich das Attraktive oder der Charme des Neuen Forums einmal darin bestand, daß es wirklich - was aber nur eine Bürgerbewegung kann, das kann halt eine Partei nur bis zu einem gewissen Grade - ein sehr breites Spektrum an Interessen, an poli­ tischen Strömungen in sich vereinigt und ausgehalten hat. Das waren nicht nur, ich sage es mal so, der linke Rand, das waren auch Menschen, die sich bis dahin politisch nicht betätigt haben. Das hat für mich dem Neuen Forum seinen Charme gegeben. Ich weiß nicht, ob Sie die DDR kennen. Also in Kreisstädten ist, politisch gesehen, nie was los gewesen. Und auf einmal ging da wirklich eine Welle auch zum großen Teil qualifizierter Diskurse durch das Land und da haben sich viele Menschen dran beteiligt und das ist für mich auch das, was das Neue Forum wirklich gemacht hat.

Arno Bammg: Wir haben unsere Zeit bei weitem überschritten. Ich würde deshalb vorschlagen, daß wir zum Schluß kommen und bedanke mich für Ihre Aufmerksam­ keit. Vor allem danke ich Otto Schily und Rolf Henrich, daß sie beide nach Klagen­ furt gekommen sind.

39 Anmerkung

Das Gespräch bezieht sich unter anderem auf folgende Texte:

- Rolf Henrich: Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus. Reinbek: Rowohlt 1989. - Otto Schily: Vom Zustand der Republik. Berlin: Wagenbach 1987. - Otto Schily: Politik in bar. Flick und die Verfassung unserer Republik. München: Beck 1986.

- : Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus. Köln und am Main 1977. - Joschka Fischer: Der Umbau der Industriegesellschaft. Plädoyer wider die herr­ schende Umweltlüge. Frankfurt am Main: Eichhorn 1989. - Joschka Fischer: Jenseits von Mauer und Wiedervereinigung. Auszüge aus den Thesen zu einer neuen grünen Deutschlandpolitik für den Strategiekongreß in Saarbrücken. In: TAZvom 16.11.1989 - Cees Notteboom: Deutscher November. In: TAZ vom 18.11.1989 - Die Kunst des Rückzugs. Auszüge aus der Bundestagsrede von Antje Vollmer zur deutschlandpolitischen Depatte. In: TAZvom 19.1.1990. - "Feuert's Magazin leer bis zur letzten Mumpel!" Bericht aus Leipzig von A. Smoltczyk. In: TAZ vom 24.11.1989 - "Grüne Jutta kandidiert im roten München", Meldung in der TAZ vom 29.3.1990.

40 Biografische Anmerkungen

Rolf Henrich, geb. 1944 in . Studium der Rechtswissenschaften in Jena und Berlin. Seit 1973 selbständiger Rechtsanwalt. Ab 1964 Mitglied der SED. Von 1973 bis 1983 Parteisekretär des Kollegiums der Rechtsanwälte im Bezirk Frankfurt/Oder. Nach der Veröffentlichung des Buches "Der vormundschaftliche Staat - Vom Ver­ sagen des real existierenden Sozialismus" wurde Rolf Henrich aus der SED aus­ geschlossen und seine Anwaltslizenz entzogen. Rolf Henrich ist Gründungsmitglied des "Neuen Forums".

Otto Schily, geb. 1932 in Bochum. Studium der Rechtswissenschaft in München, Hamburg und Berlin. Rechtsanwalt seit 1963. Mitglied des Bundestages 1983 bis 1986 und 1987 bis 1989 in der Fraktion "Die Grünen im Bundestag". Seit November 1989 Mitglied der SPD. Mitglied des Beirats der Humanistischen Union. Mitglied des Kuratoriums der Martin-Niemöller-Stiftung. Veröffentlichungen: "Vom Zustand der Republik" 1986; "Politik in bar. Flick und die Verfassung unserer Republik" 1986; gemeinsam mit Gollwitzer u.a. "Ein anderes Deutschland. Grün- alternative Bewegung und neue Antworten auf die deutsche Frage" 1985.

Arno Bamme*, Prof.an der Universität Klagenfurt, Leiter der Arbeitsgruppe "Technik und Wissenschaftsforschung" am Interuniversitären Forschungsinstitut für Fernstudien in Klagenfurt.

Die Grenzberichte wurden von der Philosophischen Gesellschaft Klagenfurt mit Unterstützung des ORF veranstaltet. Organisation und Konzeption: Klaus Ratschiller und Hubert Wank. Eine Zusammenfassung aller vier Veranstaltungsabende erscheint am 7. Juni 1990 in der "Zeitmitschrift" Bollmann Verlag, Düsseldorf. 41