<<

6 Experimentelle Textstädte im Zeichen des „vórtice simultáneo“ in Guillermo de Torres Hélices

6.1 „“: Der Rhythmus der modernen Bilderflut

Guillermo de Torre gehört zu den Schlüsselfiguren der spanischen Avant- garde. Er ist Gründungsmitglied des Ultraísmo, einer der ersten ästhetischen Strömungen, die in Spanien unter dem Einfluß der italienischen Futuristen dezidiert für einen Aufbruch in die Moderne einstehen.1 Die Gedichte in Torres Sammlung Hélices (1923), die teilweise bereits vorher in Zeitschriften veröffentlicht wurden, spiegeln die ultraistische Begeisterung für die moderne urbane Welt deutlich wider. Torre ist zugleich einer der führenden Avantgar- detheoretiker Spaniens und verfaßt zahlreiche Artikel über die neuesten Ent- wicklungen im Bereich der Literatur, der Malerei und des Films, die nicht lediglich die weitverbreiteten Topoi der damaligen Diskussionen aufgreifen (wie z.B. die Abkehr von einer mimetischen Darstellung, Verfremdungseffek- te, Bruch mit sprachlichen Konventionen usw.), sondern von einer intensiven Auseinandersetzung mit den internationalen Avantgardebewegungen zeugen. Die Beschäftigung mit den zeitgenössischen Theorien wirkt sich nachhal- tig auf seine eigenen lyrischen Texte aus, die hochgradig metapoetisch sind. Zum einen geht Torre in den Gedichten implizit und explizit auf verschie- dene literarische Avantgardeströmungen ein und erwähnt namentlich , Pierre Reverdy, Blaise Cendrars, Gómez de la Serna, Jorge Luis Bor- ges ; Marinetti und Guillaume Apollinaire gehören zu seinen wichtigsten li- terarischen Bezugspunkten. Zum anderen greift Torre mit dem Titel seiner Gedichtsammlung sowohl thematisch als auch programmatisch auf das Bild L’Hélice (1923) von zurück,2 dem Torre darüber hinaus das program matische Gedicht „TorrEiffel“ widmet. Neben Delaunay und seiner Frau Sonia bezieht Torre noch weitere zeitgenössische Maler und deren Oeu- vre in seine Gedichte ein, wie z.B. Juan Gris, Rafael Barradas und Norah Bor- ges. Die Avantgardemalerei bildet darüber hinaus das thematische Zentrum einiger Gedichte, wie z.B. in „Arco Iris“. Des weiteren ist die Filmästhetik – insbesondere Jean Epstein s Begriff fotogénie – von zentraler Bedeutung für

1 Zur Zielsetzung des Ultraísmo sowie den zentralen Inhalten seiner Manifeste im Kontext der europäischen Avantgardebewegungen vgl. Videla 1963, Fuentes Florido 1989, S. 11- 72, López de Abiada 1991, Ehrlicher 2001, S. 328-368. 2 Vgl. hierzu Kapitel 6.2. 210 TORRE: EXPERIMENTELLE TEXTSTÄDTE

Torres Gedichtband; das einleitende Motto der „Poemas fotogéni cos“ aus Hé- lices verweist ausdrücklich auf Epsteins Cinéma (1921)3. Die Gedichte in Hélices sind Kaleidoskope der avantgardistischen Experi- mente. Auch die Versuche mit der konkreten Poesie – vor allem in „Paisaje plá- stico“, „Cabellera“, „Girándula“ sowie „Sinopsis“ – stehen im Kontext der zeit- genössischen Erpro bung innovativer Ausdrucksmöglichkeiten.4 Dabei kreist Torres Auseinandersetzung mit den Avantgardeströmungen in der Literatur und den Bildmedien stets um einen Aspekt: die Inszenierung dynamischer Wahrnehmungsprozesse, die mit einer beschleu nigten Zeitlichkeitserfahrung verbunden sind. Um dies im Medium der Literatur angemessen ausdrücken zu können, strebt Torre eine Erneuerung der lyrischen Ausdrucksweise an. Wie im folgenden gezeigt wird, erfolgt die Neubestimmung der Lyrik bei Torre im Spannungsfeld von Film und Malerei. Einerseits definiert er die Ästhetik des „poema novimorfo“ ausgehend von der Rhythmik der filmischen Bilderflut, die er im Anschluß an Epstein s Begriff photogénie beschreibt; andererseits aber orientiert er sich bei der konkreten ästhetischen Umsetzung der filmischen Dynamik an der Avantgardemalerei. In diesem Kontext kommt den Stadtge- dichten eine zentrale Bedeutung zu. Die Großstadt ist zum einen das zentra- le Motiv auf der Darstellungsebene und dient als Ex perimentierfeld für die Erprobung neuer Gestaltungsformen; zum anderen wird die Stadt selbst zur zentralen Allegorie der neuartigen lyrischen Verfahren. In dem Gedicht „Ma- drid“5 wird eine imaginäre Stadt entworfen, die zugleich die Verkörperung ei- ner innovativen Metaphorik darstellt. In „Madrid“ – so die These der folgen- den Ausführungen – ist die Konstruktion einer avantgardistisch verfremdeten Textstadt an den Entwurf einer neuen Bildästhetik im Medium der Sprache gekoppelt.

3 Torre 2000, S. 100, vgl. auch Epstein 1993, S. 33. Torres „poemas fotogénicos“ wurden bislang in der Forschung kaum untersucht. Albersmeier ist einer der wenigen, der sich aus- führlicher mit der Rezeption Epstein s bei Torre und den „poemas fotogénicos“ beschäftigt; vgl. Albersmeier 2001, S. 37-47. 4 Vgl. hierzu Bohn 1986. Bohn gibt einen guten Überblick über die visuelle Poesie in der spanischen Avantgarde. Er geht zunächst auf die Lyrik in Katalonien ein (vgl. Kapitel 6 und 7, S. 103-145) und weist auf die Pionierrolle von Vicenç Solé de Sojo, Joaquim Folguera, Carles Sindreu i Pons und vor allem Joan Salvat-Papasseit hin. Kapitel 8 „The advent of Ultra“, (S. 146-171) beschäftigt sich mit den Ultraisten. Bohn geht ein auf Juan Larrea, Federico de Iribarne , Luis Mosquera und Adriano del Valle . Kapitel 9 beschäftigt sich aus- schließlich mit Guillermo de Torre (S. 172-184). 5 „Madrid“, in: Torre 2000, S. 90-91.