Kapitel 33 Wanzen Rote Listen Sachsen-Anhalt 2020
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Rote Listen Sachsen-Anhalt Berichte des Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt 33 Wanzen (Heteroptera) Halle, Heft 1/2020: 525–546 Bearbeitet von Peter GÖRICKE und Datengrundlagen Wolfgang KLEINSTEUBER (3. Fassung, Stand: August 2019) Beim Erscheinen der 2. Fassung der Roten Liste der Wanzen des Landes Sachsen-Anhalt mit Bearbei- tungsstand Dezember 2003 (BARTELS et al. 2004) Einführung waren in Sachsen-Anhalt 637 Arten bekannt. Seither Die Wanzen (Heteroptera) bilden eine Ordnung hemi- erfolgten umfangreiche faunistische Untersuchun- metaboler Insekten, deren Individualentwicklung vom gen und zahlreiche Prüfungen von Fundmeldungen befruchteten Ei über mehrere Larvenstadien bis zur und Belegen. GÖRICKE (2009, 2014a) und KLEINSTEUBER geschlechtsreifen Imago ohne ein zwischengeschaltetes (2014) fassten Erkenntnisse zu neuen und verschol- Puppenstadium erfolgt. Ihr lateinischer Name bezieht lenen Wanzenarten zusammen und legten mit Stand sich auf die Ausprägung der Deckflügel, die in der Regel Dezember 2011 erstmals eine Bestandssituation vor aus einem undurchsichtigen Basalteil (Clavus, Corium) (GÖRICKE & KLEINSTEUBER 2016). Dafür wurden sowohl und einer häutigen Spitze (Membran) bestehen. Die historische als auch aktuell ermittelte faunistische Nahrung wird über schnabelartige, stechend-saugende Daten einer kritischen Auswertung unterzogen und Mundwerkzeuge aufgenommen. Die meisten Arten er- Belege in Museums- und Privatsammlungen durch- nähren sich von Pflanzensäften. Weit verbreitet ist eine gesehen. Die Revisionen führten u.a. zur Streichung räuberische Lebensweise (An- und Aussaugen anderer von 11 im vorläufigen Artenverzeichnis von GRUSCHWITZ Tiere, auch der gleichen Art). Oft kommt Zoophytopha- & BARTELS (2000) enthaltenen Taxa. Die Überprüfung gie (Aufnahme pflanzlicher und tierischer Nahrung) von Funden mit deutschlandweiter Bedeutung durch vor, seltener Parasitismus (Saugen von Wirbeltierblut). RIEGER bzw. GÖRICKE bestätigte die historischen Belege Wanzen weisen eine außerordentlich große Formen- im Museum für Naturkunde Magdeburg von Kleido- und Farbenvielfalt auf. Es gibt Arten, die wie Käfer, cerys ericae aus Gernrode von POLENTZ (1954) und von Mücken oder Ameisen aussehen. Es treten auch extrem Aelia rostrata aus Stendal von KUPKA. Insgesamt stieg flache, stabartige und kugelige Formen auf. Neben häu- die Artenzahl zu diesem Zeitpunkt auf 677 Taxa. fig unauffälligen Tarnfärbungen kommen auch bunte Insbesondere in den letzten 15 Jahren erlebte die Signalfarben vor. Wanzen haben im Laufe der Evolution Wanzenfaunistik in Sachsen-Anhalt einen enormen die unterschiedlichsten Lebensräume erobert. Das Aufschwung. Neben langjährig arbeitenden Spezialis- besiedelte Spektrum reicht von extrem trockenen bis ten wandten sich Bearbeiter anderer Insektengruppen zu ausgesprochen feuchten oder sogar aquatischen Bio- der Heteropterologie zu oder stellten vermehrt Wan- topen. Verschiedene heimische Arten zeigen eine enge zenbeifänge zur Bearbeitung zur Verfügung (siehe Bindung an ganz bestimmte Umweltparameter (Nah- Danksagung). GRUSCHWITZ bearbeitete zwischen 1998 rungspflanzen, Salzgehalt, Temperatur, Luftfeuchtigkeit, und 2013 vor allem die Wanzenfauna des Staßfurter Habitatstruktur, Sauerstoffgehalt im Wasser). Sie eignen Raumes aber auch weiterer Gebiete Sachsen-Anhalts sich damit hervorragend als Indikatororganismen für die (GRUSCHWITZ 1998 ff., 2003a, b, 2012, GRUSCHWITZ, DIETZE & Bearbeitung naturschutzfachlicher und landschaftspla- SCHORNACK 2000). W. und K. BÄSE machten den heteropte- nerischer Fragestellungen (siehe auch DECKERT & HOff- rologischen Teil ihrer Sammlung für Artengruppenspe- MANN 1993). Weitere Angaben zur Ökologie finden sich zialisten zugänglich und veröffentlichten selbst mehre- bei WACHMANN et al. (2004, 2006, 2007, 2008, 2012). Eine re Wanzenpublikationen (K. BÄSE 2011, 2012, 2018, W. Übersicht zu den Wanzen der paläarktischen Region BÄSE 2010, 2017a, 2017b, 2018, W. BÄSE & K. BÄSE 2016, geben AUKEMA & RIEGER (1995, 1996, 1999, 2001, 2006) W. BÄSE & GÖRICKe 2010, GÖRICKE 2015a, 2018). JUNG pub- sowie AUKEMA et al. (2013). lizierte ebenfalls Erstnachweise und Wiederfunde ver- Weltweit wurden bisher ca. 42.300 Wanzenarten schollener Arten in Sachsen-Anhalt (JUNG 2009, 2012, beschrieben (HENRY 2009). In Mitteleuropa kommen 2016, GÖRICKE & JUNG 2010, 2011, 2018). RIEGER hat sich etwa 1.100 Arten vor (GÜNTHER & SCHUSTER 2000). Für nicht nur durch die Nachprüfung taxonomisch schwie- Deutschland werden derzeit 911 Arten angegeben riger Arten bleibende Verdienste erworben sondern be- (SIMON et al. im Druck). Die Checkliste in der Bestands- fasste sich auch mehrfach direkt mit der Wanzenfauna situation Sachsen-Anhalts (Stand: Dezember 2011) Sachsen-Anhalts (RIEGER & GÖRICKE 2012, 2016, BRÄNDLE enthält 677 Arten (GÖRICKE & KLEINSTEUBER 2016). Nach- & RIEGER 1999, GÖRICKE & KLEINSTEUBER 2013b). Umfang- dem in den letzten acht Jahren erneut zahlreiche reiches Material stellte WITSACK zur Auswertung zur Ver- Erstnachweise erfolgten, sind inzwischen 706 Wan- fügung. MARTEN hat bei Untersuchungen im National- zenarten (646 Landwanzen, 60 Wasserwanzen) aus park Harz ebenfalls Wanzen in seinen Aufsammlungen Sachsen-Anhalt bekannt. Das entspricht 77,5 % der berücksichtigt (GÖRICKE & MARTEN 2017, 2018). Zahlrei- gesamtdeutschen Artenzahl. che weitere Kollegen trugen mit ihren Publikationen zur Kenntnis der Wanzenfauna Sachsen-Anhalts bei: 525 Wanzen MELBER & SPRICK (1993), JENTZSCH & DIETZE (2005), HOffmANN Trotz der in den letzten Jahren intensivierten Bearbei- (2008), STROBL & HEINZE (2008), ESSER (2009), GÖRICKE & tung der Wanzenfauna ist der Kenntnisgrad sowohl STARK (2012) und GÖRICKE & KARISCH (2018). bei einzelnen Wanzenfamilien als auch hinsichtlich der Einen bedeutenden Beitrag zum derzeitigen Besiedlung bestimmter Naturräume in Sachsen-Anhalt Kenntnisstand leisteten die faunistischen Projekte nach wie vor unterschiedlich groß und oft verbesse- der Entomologen-Vereinigung Sachsen-Anhalt (EVSA). rungsbedürftig. Als Gründe dafür sind vor allem Defizi- Hierbei wurden die Wanzenbearbeiter durch Fallen- te bei der Erfassung des Artenspektrums wie fehlende material des Landesamtes für Umweltschutz (LAU) Wiederholungen einmaliger Untersuchungen sowie sowie durch Beifänge anderer Artengruppenspezia- unzureichende Berücksichtigungen jahreszeitlicher As- listen unterstützt. Folgende Publikationen gingen dar- pekte oder spezieller Erfassungstechniken zu nennen. aus hervor (Zeitraum, Untersuchungsgebiet, Anzahl Zur Determination der einheimischen Wanzen- Wanzenarten, Veröffentlichung): arten wird auf die Bestimmungswerke von ANDERSEN (1996), DERJANSCHI & PÉRICART (2005), HEISS & PÉRICART − 2002–2004 Umgebung Zichtau / Altmark 98 Arten (2007), JANSSON (1986, 1999), PÉRICART (1972, 1983, (GRUSCHWITZ & GÖRICKE 2005) 1984, 1987, 1990, 1999a,b,c, 2010), SAVAGE (1989) und − 2006–2008 Ohre-Aller-Hügelland (Flechtinger WAGNER (1952, 1961, 1966, 1967) verwiesen. Für Was- Höhenzug) 230 Arten (GÖRICKE, GRUSCHWITZ & KLEIN- serwanzen liegt ein aktueller Bestimmungsschlüssel STEUBER 2009, GÖRICKE 2011) von STRAUSS & NIEDRINGHAUS (2014) vor. Zudem ist eine − 2009–2012 Südöstliches Harzvorland 217 Arten CD von STRAUSS (2018) mit ausgezeichneten Habitus- (GÖRICKE & KLEINSTEUBER 2013) fotos und in vielen Fällen mit dargestellten Details − 2012–2014 Genthiner Land 237 Arten (GÖRICKE 2015) wie der Genitalien verfügbar, an Hand derer erfolgte − 2015–2017 Dübener Heide / Teil Sachsen-Anhalt Bestimmungen überprüft werden können. 416 Arten (GÖRICKE 2018, KLEINSTEUBER 2018) Die Nomenklatur folgt HOffmANN & MELBER (2003) und berücksichtigt Ergänzungen entsprechend SIMON Im Rahmen weiterer, hauptsächlich im Auftrag des et al. (im Druck). Landesamtes für Umweltschutz Sachsen-Anhalt, durchgeführter faunistischer Untersuchungen wur- Bemerkungen zu ausgewählten Arten den im Huy, in der Colbitz-Letzlinger Heide, auf der Binnendüne Aken und weiteren acht Binnendünen Aphelocheirus aestivalis (FABRICIUS, 1794) – im Urstromtal der Elbe, auf zehn Streuobstwiesen Fam. Aphelocheiridae Sachsen-Anhalts sowie in der Annaburger Heide Die rheophile Grundwanze besiedelt aufgrund ihrer umfangreiche Daten erhoben (GÖRICKE & JUNG 2018, Plastronatmung nur Fließgewässer mit gutem Sauer- GÖRICKE 2015b, 2015c, 2016b, im Druck a, im Druck b, stoffhaushalt. Für die bisher als „gefährdet“ einge- in Vorb.). Durch GÖRICKE wurden zudem Erkenntnisse stufte Art wurde bereits in der vorigen Roten Liste zum Auftreten einzelner Arten in Sachsen-Anhalt eine beginnende Ausbreitung vermutet (BARTELS et al. publiziert (siehe Literaturverzeichnis). Einige Arbei- 2004) und in den Folgejahren bestätigt (KLEINSTEUBER ten beinhalten Angaben zur Wasserwanzenfauna 2010, GÖRICKE & KLEINSTEUBER 2016). Aktuell liegen Nach- (KLEINSTEUBER 2013, 2014, 2017, KLEINSTEUBER et al. 2010, weise aus über 40 Gewässern, darunter aus allen gro- HOHMANN et al. 2012, 2014) des Landes. Vor allem hin- ßen Flüssen, vor. Die Art ist derzeit nicht gefährdet. sichtlich des Vorkommens rheophiler Wasserwanzen lieferten auch die langjährigen, durch den Gewässer- Sigara falleni (FIEBER, 1848) [Abb. 1] – Fam. Corixidae kundlichen Landesdienst (GLD) des Landesbetriebs Die taxonomische Abgrenzung der Art von S. iactans für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft (LHW) ist aufgrund von zwischen beiden Arten auftretenden zur Umsetzung des Gewässerüberwachungspro- Bastardierungen morphologisch nicht immer eindeutig gramms Sachsen-Anhalt (GÜSA) ermittelten Daten möglich. Nach den bisher vorliegenden Untersuchungs- wertvolle