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Ein Gespräch „Die Revolution über den Kommunismus, entlässt ihre Kinder“ die DDR und die Entwicklungen in Russland Wolfgang Leonhard

Die Politische Meinung: Herr Professor Le- Asiens und Lateinamerikas. Aber mein onhard, Sie haben eine Vielzahl von Büchern, Hauptziel war, meine Leser in der dama- vorwiegend über die DDR, die Sowjetunion ligen DDR und in den damaligen kom- und Ihr eigenes Leben veröffentlicht. Nach munistisch regierten Ländern Osteuro- dem Büchlein von 1952 unter dem Titel pas zu erreichen. Den Vorschlag des Ver- Schein und Wirklichkeit in der Sowjet- lages, ob ich bereit wäre, Die Revolution union erschien Ende 1955 Ihr zweites Buch, entlässt ihre Kinder in der DDR illegal in der Weltbestseller Die Revolution entlässt Tarnumschlägen vertreiben zu lassen, ihre Kinder. Nach weiteren zehn Büchern habe ich sofort mit Zustimmung beant- über die Sowjetunion, die DDR, die ersten wortet. In wenigen Jahren erreichte die Jahre der Kommunistischen Internationale Auflage des Buches Die Revolution entlässt unter dem Titel Völker hört die Signale so- ihre Kinder 600 000, später 800 000 und wie die Reformströmungen in der kommunis- schließlich eine Million Exemplare. Aber tischen Weltbewegung unter dem Titel Der besonders gefreut hat mich, dass es auch Eurokommunismus ist kürzlich ein neues in der DDR vertrieben wurde. Bis zur Ber- Buch von Ihnen erschienen: Meine Ge- liner Mauer im August 1961 erhielt ich schichte der DDR. Darin erwähnen Sie, dass viele Briefe von DDR-Bürgern, die sie mir Sie nach der Wende 1989 vielfach „Erster Dis- bei Besuchen in Westberlin – bis zur Er- sident der DDR“ genannt wurden. Was war richtung der Berliner Mauer mitunter et- das treibende Motiv Ihres Schreibens über was schwierig, aber durchaus möglich – diese vielen Jahrzehnte? übersandt haben. Dieser Kontakt war für mich besonders wichtig. Wolfgang Leonhard: Aufklärung. Mir lag und liegt vor allem daran, ein diffe- Die Politische Meinung: Galt das auch für renziertes Bild der Entwicklung in der Menschen in der Sowjetunion? kommunistischen Welt zu vermitteln. Das bedeutete vor allem, einseitige posi- Wolfgang Leonhard: Durchaus. Ich ha- tive Verherrlichungen genauso zu ver- be erfahren, dass mein Buch sogar höhere meiden wie einseitige Pauschalverur- Funktionäre exklusiv in einer hektogra- teilungen. Es war mein Ziel, die Wider- fierten Ausgabe erhalten haben. sprüche in der Entwicklung und bei den Menschen, die diese Entwicklungen erle- Die Politische Meinung: Und woher haben ben, aufzuzeigen, so wie ich das in Sie das erfahren? meinem meistverbreiteten Buch Die Re- volution entlässt ihre Kinder 1955 getan Wolfgang Leonhard: Nach 1985, zur Zeit habe. Meine Bücher erschienen in West- Gorbatschows in Moskau 1987, besuchte deutschland sowie in Übersetzungen und ich wiederholt die Sowjetunion, lernte in fast allen westlichen Ländern Europas, Gorbatschow persönlich kennen, und er

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berichtete mir über die hektografierte Zeit, wo er selbst durch Krankheit oder Ausgabe meines Buches für höhere Funk- Tod oder beides außer Gefecht gesetzt tionäre. würde. Wer würde dann die Macht über- nehmen? Welche Richtung würde die Die Politische Meinung: Es wird behauptet, Sowjetführung einschlagen? Könnte er dass sich bei der großen Säuberung von 1936 sicher sein, dass sein Kurs, seine Unter- bis 1938 in der Sowjetunion der Hauptschlag drückung, seine Diktatur wirklich fortge- gegen kommunistische Parteimitglieder und setzt werden würden? Darüber sprach er gläubige Parteifunktionäre richtete, weit stär- öffentlich nur einmal, aber mit einem ker als gegen Nichtkommunisten. Wie kam es, interessanten Hinweis. Stalin sagte: Ihr dass sich der kommunistische Terror so häufig seid ja alle so naiv wie kleine Katzen. Was gegen die eigenen Leute richtete? wird passieren, wenn ich nicht mehr da bin? Stalin fürchtete, dass dann eine kom- Wolfgang Leonhard: Ja, das stimmt. Ich munistische Führung von der Parteielite habe als Jugendlicher, als 15- und 16-Jäh- auserwählt und die Macht übernehmen riger, die große Säuberung in der Sow- würde, aber dann etwas völlig anderes jetunion von 1936 bis 1938 erlebt, darun- machen würde als das, wofür Stalin Jahr- ter auch die Verhaftung meiner Mutter zehnte gestanden hatte. Stalin hatte am 25. Oktober 1936 und vieler meiner Angst, dass seine Nachfolger einen ande- Freunde. Die Mehrzahl der Verhafteten, ren Kurs steuern würden. die mir persönlich bekannt waren, waren damals keineswegs Gegner des Regimes, Die Politische Meinung: War die Angst sondern überzeugte Parteimitglieder – Ihrer Meinung nach berechtigt? teils von westlichen kommunistischen Parteien, teils von der sowjetischen KP. Wolfgang Leonhard: Ja, durchaus. Die Nachfolger Stalins nach dessen Tod am Die Politische Meinung: Wie kam es, dass 5. März 1953, Malenkow, Mikojan, Beria, Stalin seinen Terror vor allem gegen die eige- Shukow sowie vor allem Parteiführer nen Leute, Parteimitglieder und Funktionäre Nikita Chruschtschow, vollzogen einen richtete? War das eine groteske Fehleinschät- weitreichenden Kurswechsel: offene Kri- zung, oder machte es, vom Standpunkt Sta- tik an Stalin, am Stalin’schen Terror, an lins aus gesehen, einen Sinn? den Massenverhaftungen, der Allmacht des Staatssicherheitsdienstes, an dem Wolfgang Leonhard: Zunächst das Of- Führerkult um Stalin. Seine Nachfolger fensichtliche: Stalin war zutiefst von ei- leiteten eine große Amnestie ein: Viele nem Misstrauen durchdrungen – auch Haftentlassungen, eine offene Kritik am und gerade gegenüber Parteifunktionä- Staatssicherheitsdienst, die Abkehr vom ren, die treu die Parteilinie vertraten und Primat der Schwerindustrie, die Verstär- sich offen und wiederholt, ja ständig be- kung der Konsumgüterproduktion und geistert zu Stalin bekannten, in der Mehr- die flexiblere Außenpolitik gegenüber zahl der Fälle übrigens damals aus inners- dem Westen gehören zu den wichtigsten ter Überzeugung. Das konnte Stalin sich Wandlungen nach Stalins Tod. schwer vorstellen, und er witterte überall Gegner. Die Politische Meinung: Die Entwicklung Der zweite Grund, der viel seltener er- nach Stalins Tod am 5. März 1953 schildern wähnt wird, der mir jedoch sehr plausibel Sie in Ihrem letzten Buch Meine Geschichte erscheint, ist, dass Stalin besorgt an die der DDR. Sie beschreiben sehr deutlich und Zukunft der Sowjetunion dachte, an die plastisch, wie die Sowjetführung, bereits un-

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Wolfgang Leonhard

mittelbar nach dem Tode Stalins, den Versuch am 5. März 1953 einen großen Gedenkar- machte, Stalin möglichst schrittweise aus dem tikel für Stalin veröffentlichte. Während Verkehr zu ziehen. Sein Name wurde immer dies bei früheren Stalin-Ereignissen, also weniger in den Zeitungen erwähnt. Schon re- bei seinem 50. Geburtstag am 21. Dezem- lativ bald nach seinem Tode, erstmals bereits ber 1929, am 60. Geburtstag 1939 und am Ende April 1953, begann man, Stalin zu- 70. Geburtstag 1949 zu den Höhepunkten nächst vorsichtig, aber dann nach wenigen der Stalin-Ära gehörte. Nun aber, nach Monaten immer deutlicher offen zu kritisieren seinem Tode am 5. März 1953, gab es und nicht erst, wie viele Menschen im Westen nichts Ähnliches in der Sowjetunion. annehmen, beim 20. Parteitag im Februar 1956. Galt das gleichermaßen in der Sowjet- Die Politische Meinung: Und wie war das union und in der DDR? in der DDR?

Wolfgang Leonhard: Nein, die Kritik an Wolfgang Leonhard: Völlig anders. Wo- Stalin und seine Zurückdrängung began- chenlang wurde in der DDR in außer- nen in der Sowjetunion bereits im späten gewöhnlicher Aufdringlichkeit öffentlich Frühjahr 1953, während in der DDR Stalin getrauert. Die Medien quollen über von noch mit Lobpreisungen überschüttet Nachrufen auf den angeblich größten und grenzenlos gefeiert wurde, seiten- Helden aller Zeiten. Ulbricht wollte sogar lange und opulente Leichenreden auf aus Moskau noch eine Gedenkbüste von Stalin gehalten und Stalin-Büsten aufge- Stalin erhalten, schrieb dorthin, aber er- stellt wurden. Die Unterschiede zwischen hielt sie nicht – obwohl sie sich vielleicht, Sowjetunion und DDR traten damals sehr was man allerdings nicht an Ulbricht deutlich zutage, und erst im Mai/Juni schrieb, bereits in Müllablagen befand. 1953 wurde die DDR-Führung durch den Die weitverbreitete Auffassung, die Par- von Moskau geforderten „Neuen Kurs“ tei- und Staatsführung der Sowjetunion zu einer Revision ihrer Politik gezwun- und DDR seien immer identisch gewesen, gen. Aber in der DDR lief alles schnell aus stimmt nicht. Es stimmt häufig, aber es dem Ruder. Die Arbeiterdemonstratio- gab sehr wichtige Ereignisse, bei denen es nen gegen die DDR-Führung mündeten zwischen Moskau und Ostberlin gravie- in den Arbeiteraufstand in der DDR vom rende Unterschiede gab. Gerade diese 17. Juni 1953. Zeiten der Unterschiede markieren häu- fig wichtige Wendepunkte. Und dabei Die Politische Meinung: Der Tod von Sta- spielen natürlich die unterschiedlichen lin wurde also von der DDR-Führung zu- Reaktionen auf Stalins Tod am 5. März nächst stärker bedauert als in der Sowjet- 1953 eine sehr wichtige Rolle. union? Kann man das so sagen? Die Politische Meinung: Kann man sagen, Wolfgang Leonhard: Selbstverständlich. dass die Errichtung der Berliner Mauer am Genau das trat ein. Ich zitterte im Früh- 13. August 1961 auch eine solche Schlüssel- jahr 1953 vor Aufregung, keineswegs nur situation gewesen ist? Denn da hat die Sow- wegen des Ablebens von Stalin, sondern jetführung Ulbricht erlaubt, diese Mauer zu vor allem, weil ich zum ersten Mal einen bauen. entscheidenden Unterschied in den Re- aktionen der Sowjetischen KP und der Wolfgang Leonhard: Ja, aber Moskau hat SED-Führung wahrgenommen hatte. In lange, sehr lange gezögert, ehe es diese der Sowjetunion gab es kein Mitglied des Mauerbauerlaubnis gab. Heute, nachdem Politbüros, das nach dem Tode Stalins in den letzten vier Jahren die oft ausführ-

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„Die Revolution entlässt ihre Kinder“

Der Kommunismusexperte Wolfgang Leonhard erhielt im September 2004 den Europäischen Wissenschafts-Kulturpreis. © picture-alliance/dpa/dpaweb, Foto: Frank Rumpenhorst

lichen und interessanten Memoiren ehe- seine engsten hohen Mitkämpfer, vor allem maliger sowjetischer Berater der SED vor- auch von den Blockparteien, auf seine Datscha liegen, wissen wir, dass Ulbricht bereits eingeladen, um sie daran zu hindern, recht- 1960 die Sowjetführung vor die Situation zeitig von der Errichtung des „antifaschisti- stellte: Ich kann, so Ulbricht damals wört- schen Schutzwalles“ zu erfahren. In Ihrem lich, den Bestand der DDR nicht länger Buch erwecken Sie den Eindruck, als hätte der garantieren, die Leute laufen uns davon. Westen möglicherweise auf den Bau der Berli- Ohne eine Mauer kann ich dieses System ner Mauer anders reagieren sollen: einerseits nicht mehr retten. Niemand hatte das – eine harsche Reaktion, vor allem im Bereich der was damals natürlich nicht veröffentlicht Wirtschaftsbeziehungen zur DDR-Führung, wurde, heute aber in den sowjetischen andererseits ein Entgegenkommen, falls die Memoiren bestätigt wurde – so krass ge- DDR-Führung bei einem Einlenken im Sinne sagt wie Ulbricht 1960 vor dem Mauer- des Verzichtes oder der Verzögerung der Ber- bau. Damit stellte er die Sowjetführung liner Mauer bereit gewesen wäre. vor die Alternative: Wir brauchen eine physische Absicherung der Grenzen. Wolfgang Leonhard: Ja, dieser Meinung bin ich. Ich hatte mir damals sehr ge- Die Politische Meinung: Als es dann am hei- wünscht, dass der Westen vor der Errich- ßen 13. August 1961 so weit war, hat Ulbricht tung der Berliner Mauer der Chruscht-

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Wolfgang Leonhard

schow-Führung auf diplomatischem We- Dies wurde übrigens kürzlich in den Er- ge übermittelt, er wäre bereit, dies oder je- innerungen von Dimitrow bestätigt. Also, nes zu tun, wenn der Osten die Bereit- Ulbricht war nicht, wie häufig behauptet, schaft zu Verhandlungen über die Ber- immer unangefochten, sondern es gab liner Mauer signalisierte. Ich wünschte vor 1945 wiederholt Zweifel an seiner mir ein politisches Handelsangebot mit Position und Glaubwürdigkeit. Entgegenkommen und umgekehrt einen Hinweis, dass, falls kein Einlenken er- Die Politische Meinung: Ulbricht war, folgt, unsere Gangart härter würde – also glaube ich, kein angenehmer Mann. Sie haben nicht die damalige Losung „Wandel ihn ja gut gekannt, und er kannte auch Sie. Er durch Annäherung“, sondern „Annähe- war nicht gebildet, so ein richtiger Apparat- rung bei Wandel, mit Wandel und nach schik, und hatte Schwierigkeiten, Reden zu Wandel“. Eine Zusage, die dann natürlich halten. Wenn er Reden halten musste, dann eingehalten werden muss, und umge- hat er lange geredet und in einer ermüdenden kehrt, falls kein Entgegenkommen er- Form zumeist alles abgelesen. folgt, die Fortsetzung der härteren Gang- art. Wolfgang Leonhard: Ulbricht war ein äußerst effizienter Bürokrat, der die Ka- Die Politische Meinung: Sprechen wir über derpolitik – westlich gesprochen die einige führende DDR-Personen, die Sie alle Personalentscheidungen im Apparat – persönlich gut gekannt haben, zum Beispiel völlig beherrschte. Er hatte keine Aus- Ulbricht. Wie hat er es geschafft, Spitzen- strahlung, war aber ein treues, verläss- funktionär zu werden und eine längere Ära zu liches Instrument der Sowjetführung. prägen als Grotewohl? Erst in den letzten Jahren seines Regimes, gegen Ende seines Lebens, entwickelte er Wolfgang Leonhard: Ulbricht hat dies – eine gewisse Eigenständigkeit. abgesehen von den letzten acht Jahren seines Lebens – geschafft durch eine ein- Die Politische Meinung: Warum hatte Wil- deutige, absolut glaubwürdige Bereit- helm Pieck eigentlich so schlechte Karten, an schaft, alle Direktiven Moskaus zu erfül- die Spitze vorzustoßen? Er war formal Staats- len, ohne zu zögern oder etwa neugierige oberhaupt der DDR und besaß Bildung, Elo- Fragen zu stellen. Seine Maxime war, die quenz und Charme. letzten Jahre ausdrücklich ausgenom- men: Ihr sagt, was ihr wollt, und ich Wolfgang Leonhard: Bei werde es machen. Dabei hat Ulbricht den gab es offensichtlich gewisse Bedenken Eindruck erweckt, als wäre er schon im- Stalins. Er war Stalin nicht hart genug, mer der entscheidende Mann der Sowjet- nicht scharf genug. Pieck zeigte mitunter union gewesen – eine Behauptung, die Schwächen für manche Funktionäre, die nicht stimmt, aber leider auch im Westen später in Ungnade fielen. Das machte ihn manchmal kritiklos übernommen wurde. bei misstrauischen Funktionären ver- Unvergesslich für mich war der 9. April dächtig. Ich habe Wilhelm Pieck einiges 1939 – ich war damals 18-jährig in der zu verdanken. 1947 bei einer Begegnung Sowjetunion –, als in der Prawda zu lesen bat er mich: „Schreib mir doch mal auf, war, der sowjetische Nachrichtendienst was mit deiner Mutter ist. Vielleicht kann habe große Bedenken gegenüber Ulb- ich bei den ,Freunden‘ (ein Synonym für richt, dem man nicht mehr völlig ver- Sowjetunion) wirksam sein und mithel- trauen könne, ob er vielleicht mit aus- fen, dass sie wieder zurückkommt.“ ländischen Agenturen zusammenarbeite. Meine Mutter war nach zehn Jahren im

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Lager Workuta, von 1937 bis 1947, in ei- len würde, unter den Parteifunktionären nen kleinen Ort in Ostkasachstan in Ver- Freunde zu erkennen, aber zwei Funktionäre bannung. Das habe ich für Wilhelm Pieck schildern Sie mit gewissen positiven Zügen: aufgeschrieben, und er hat sich tatsäch- Hans Mahle und . lich für meine Mutter eingesetzt. Durch seine Einwirkung kehrte sie dann im Wolfgang Leonhard: Ich würde heute Sommer 1948 aus der sowjetischen Ver- konzedieren, dass es gewisse positive bannung nach zehn Jahren zurück Akzente gibt, aber bin weit davon ent- und erklärte mir, noch völlig aufgewühlt, fernt, diese Aspekte zu übertreiben. Hans bei unserer ersten Begegnung: „Die Sow- Mahle und Anton Ackermann würde ich jetunion ist kein sozialistisches Land.“ allerdings nicht in dieselbe Rubrik ein- Stalins kritische Meinung über Pieck ordnen wie die eiskalten Stalinisten Otto führte dazu, dass er Pieck wiederholt um- Winzer oder Kurt Fischer. Mir lag daran, ging und die Dinge mit Hans Mahle und Anton Ackermann besprach, wenn er etwas Neues mit der gegenüber den anderen hohen SED- KPD-Führung vorhatte. Wilhelm Pieck Funktionären wie etwa Ulbricht oder ließ er einfach außen vor und informierte Winzer gemäßigter und flexibler darzu- ihn nicht. Das galt auch für die besonders stellen. Aber selbstverständlich waren wichtigen Gespräche zwischen Stalin und auch sie Funktionäre, die die Stalin’sche der KPD-Führung Anfang 1946 in Mos- Politik durchsetzten – allerdings ruhiger kau. Stalin lud Ulbricht für die Zeit vom und sachlicher. 26. Januar bis 4. Februar ein und führte lange Gespräche mit Ulbricht, darunter Die Politische Meinung: Sie haben sich nach auch über den Termin der geplanten Ver- der Wende im Herbst 1989 das ungewöhnli- einigung von SPD und KPD zur SED. Bei che Vergnügen gegönnt, in Berlin die alten Ka- diesen geheimen Gesprächen mit Ul- meraden aus Moskau oder den Jahren 1945/46 bricht legte Stalin Anfang Februar 1946 in der Sowjetzone wieder aufzusuchen. Wer fest, dass die Vereinigung von SPD und hat Ihnen denn da am besten gefallen? KPD vor dem 1. Mai 1946 stattzufinden habe. Vor dem 1. Mai 1946, das hieß also Wolfgang Leonhard: Schwer zu sagen. am 22. und 23. April 1946 – genau das war Tief beeindruckt hat mich keiner. Aber ja das Datum des Vereinigungsparteita- ich bleibe dabei, dass, wenn ein Umden- ges von SPD und KPD zur SED. ken bei hohen DDR-Funktionären über- Stalin hat also in ausführlichen Gesprä- haupt hätte erfolgreich sein können, chen mit Ulbricht nicht nur die Vereini- dann am ehesten in den ersten zwei Mo- gung von SPD und KPD festgelegt, son- naten, also zwischen September und No- dern sogar das Datum. Die Hinweise über vember 1989. In diesen ersten zwei Mo- das Gespräch Stalins mit Ulbricht gingen naten, die man damals – was heute leider dann schriftlich in einem zunächst nicht häufig vergessen wird – als „friedliche veröffentlichten Bericht an alle sowjeti- Revolution“ bezeichnete, die dann erst schen Kommandanturen in der Sowjet- Monate später zur „Wende“ degradiert zone Deutschlands. Damit wussten nun wurde, gab es zunächst die Bereitschaft, die Kommandanten eindeutig, dass Ulb- auch unter höheren Funktionären, vieles richt „unser wichtigster Mann“ in der neu zu überdenken. sowjetischen Zone ist. Die Politische Meinung: Sie denken jetzt Die Politische Meinung: Sie erwähnen in wohl an Mischa Wolf, mit dem Sie sich ja in Ihrem letzten Buch, dass es Ihnen schwerfal- der Wendezeit häufiger getroffen haben?

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Wolfgang Leonhard: Nein, nicht nur, es zelne Täter ergreifen wollte, dann hätte gab auch andere. Zunächst den damals die tschechische Regierung vor allem die als Stalinist bekannten hohen DDR-Funk- Auslieferung von Wolf und Florin verlan- tionär namens Peter Florin. Ein vertrau- gen sollen, denn beide haben einen enswürdiger Stalinist mit durchaus ge- Staatsverrat nach allen Regeln begangen. wandtem diplomatischen Benehmen – Sie haben während des „Prager Früh- sonst hätte er ja nicht viele Jahre führend lings“ von 1968 Kontakt zu den Gegnern bei den Vereinten Nationen in New York der tschechoslowakischen Regierung sein können. Da musste man schon über und der Mehrheit der Bevölkerung ge- ein flexibleres Benehmen verfügen. Aber habt und mit diesen Kräften die Beset- gleichzeitig war er bekannt als harter zung des Landes vorbereitet. Funktionär. Während der Wende war er der Einzige der führenden Funktionäre, Die Politische Meinung: Sie haben die teil- der mir in einem Gespräch sagte: „Es ist weise erzwungene und manipulierte Vereini- ein Wunder, dass die DDR 40 Jahre lang gung von SPD und KPD in den Jahren gehalten hat. So viele Fehler kann man ja 1945/1946 unmittelbar in führender Position wirklich gar nicht begehen, wie wir sie be- erlebt sowie seit 1990 die Wandlung von der gangen haben.“ SED zur PDS beobachtet und in den letzten Monaten die jüngste Vereinigung mit der Die Politische Meinung: Das sagte Florin WASG zur Partei „Die Linke“. Einer der bei- damals? den Vorsitzenden der Partei, Lafontaine, spricht von der Notwendigkeit des System- Wolfgang Leonhard: Ja. In dem wun- wandels und stellt damit das parlamentari- dersamen Herbst 1989 sagte das sogar sche System infrage. Ähnliches geschieht auf Florin. Er fügte hinzu, man müsse sich der anderen Seite des politischen Spektrums auch überlegen, ob es nicht zwischen der seitens der NPD. Wie ernst sind diese He- Marktwirtschaft und der Planwirtschaft rausforderungen? Wie beurteilen Sie die Vor- einen dritten Weg gebe, bei dem man schläge zum eventuellen Verbot der radikalen von beiden Seiten bestimmte Elemente Parteien von links und rechts? übernimmt. Solche Äußerungen gab es in den ersten Monaten bei Florin in der Wolfgang Leonhard: Ich würde sehr Wendezeit von 1989/90, und das stand vor einem Parteienverbot warnen. In im krassen Widerspruch zu seinem Ver- Deutschland ist man meiner Meinung halten in der Tschechoslowakei im Früh- nach zu schnell mit der Meinung bei der jahr 1968, während des Prager Frühlings. Hand: verbieten. In allen demokratischen Sowohl Peter Florin, damals offiziell Ländern Europas gibt es nicht nur Links- DDR-Botschafter in der Tschechoslowa- parteien wie die PDS bis vor Kurzem kei, als auch Mischa Wolf, Beauftragter und die heutige Linkspartei, die in un- des Geheimdienstes, unterhielten wäh- terschiedlichen Regionen Deutschlands rend des „Prager Frühlings“ von 1968 im unterschiedlichen Ausmaß teils noch engste Kontakte zu den Gegnern der kommunistisch, in zunehmendem Maße tschechoslowakischen Regierung und bereits linkssozialistisch ist. Das erscheint bereiteten mit diesen Kreisen die Beset- mir durchaus normal für die meisten Län- zung des Landes durch die Ostblock- der Europas zu sein. In vielen Ländern truppen vor, wie es dann am 21. August Europas heißen diese Parteien auch noch 1968 auch geschah. heute „Kommunistische Partei“. Die Wenn man nach dem Zusammenbruch Menschen des demokratischen Spek- von 1989 wirklich Maßnahmen gegen ein- trums leben mit ihnen und setzen sich mit

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ihnen auseinander. Ich kenne kein euro- Wolfgang Leonhard: Dieser Ansicht päisches demokratisches Land, in dem würde ich nur dann zustimmen, wenn ernsthafte Kräfte fordern würden, man es in Russland noch nie demokratische solle diese Parteien verbieten. Ansätze gegeben hätte. Aber das stimmt Auch ich bin gegen ein Verbot und meine, nicht. Unter der Führung Michail Gor- es kommt vielmehr darauf an, die geistige batschows, des sowjetischen Partei- und und politische Auseinandersetzung mit Staatsführers von 1985 bis 1991, erfolgte diesen Parteien zu führen. Das gilt übri- der Übergang von einer jahrzehntelangen gens auch für die NPD – diese Partei ist harten kommunistischen Diktatur zu be- mir persönlich in vieler Hinsicht höchst trächtlichen Lockerungen mit weitrei- unangenehm, aber trotzdem ist es völlig chenden Diskussionen unter dem Motto unmöglich, sie zu verbieten. In allen an- Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Um- deren europäischen Ländern gibt es solche gestaltung). Parteien, sogar in musterdemokratischen Anschließend von 1990 bis 1999 bildeten Ländern wie Dänemark. Trotzdem habe sich unter Jelzin in Russland zum ersten ich nirgends gehört, dass man in Däne- Mal in der Geschichte gewisse demokra- mark oder anderen traditionsbewussten tische Tendenzen heraus. Erst Putins demokratischen Ländern auf den Gedan- Machtantritt Ende 1999 hat diese außer- ken käme, solche Parteien zu verbieten. gewöhnliche Situation beendet. Ich kann Ich verstehe, dass man nach alldem, was das deshalb bestätigen, weil ich in diesen in Deutschland geschehen ist, besonders zehn Jahren sechsmal als OSZE-Wahlbe- vorsichtig ist. Aber seit Ende der Nazi- obachter in Russland tätig war. Ich habe diktatur sind inzwischen drei Generatio- alle Wahlen unter Jelzin beobachtet und nen vergangen. Ich glaube, man sollte aktiv miterlebt: Es waren die einzigen sich auch in Deutschland an die europä- wirklich freien Wahlen, denn vorher gab ische Durchschnittserfahrung gewöhnen. es keine, nachher auch nicht mehr. Ich ge- Gewiss ist es eine höchst unangenehme hörte zu den Hunderten ausländischer Angelegenheit, dass es in parlamentari- Wahlbeobachter, wir haben alles genau schen Demokratien teilweise linksextre- beobachten können. Wir konnten auch mistische oder rechtsextremistische Par- Berichte über Fälschungen untersuchen, teien gibt – oder gar beide auf einmal –, und niemand hat uns gehindert. Das Ein- und die demokratischen Kräfte sollten zige, was wir nicht durften, war, bedeu- sich überlegen, wie man diese möglichst tende Erlebnisse unter dem Begriff „Fäl- klein hält, aber man sollte nicht gleich in schungen“ zu veröffentlichen, weil wir Panik verfallen, wenn die irgendwo mal als OSZE-Wahlbeobachter dem Rechts- sechs, sieben oder acht Prozent in einem staat verpflichtet waren und daher nichts Landtag erhalten. öffentlich vertreten durften, was man nicht beweisen konnte. Statt „Fälschun- Die Politische Meinung: Sie sind ein erfah- gen“ sprachen wir daher von „Unre- rener Russlandexperte und verfolgen die Poli- gelmäßigkeiten“, aber jeder verstand, tik dieses Landes seit mehr als sechzig Jahren. was das heißt. In den zehn Jahren unter Vor einigen Jahren hat Schröder den russi- Jelzin hat es einige Wahlen ohne „Un- schen Staatschef „lupenreiner Demokrat“ ge- regelmäßigkeiten“ oder nur in geringem nannt. Mittlerweile mehren sich die Stimmen, Ausmaß gegeben. Zuweilen gab es örtli- die sagen, es sei eine Überforderung, Russland che Fehler, aber die jeweils verantwort- in eine funktionierende parlamentarische De- lichen Personen haben sich sogar – in mokratie überführen zu wollen. Würden Sie Russland höchst ungewöhnlich – dafür dieser Ansicht zustimmen? entschuldigt. Von keiner Seite der OSZE

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wurde bezweifelt, dass es sich damals in System. Im Rückblick wird Jelzin von der Russland im Großen und Ganzen um heutigen Putin-Führung bekämpft und echte Wahlen gehandelt hat. Die zehnjäh- verunglimpft. Es tut mir weh, dass die rige Jelzin-Periode – noch einmal: von deutsche Öffentlichkeit diesen Wechsel, 1990 bis 1999 – war politisch und mensch- diesen grauenvollen Rückschritt nicht lich das Beste, was Russland je erlebt hat oder nur sehr unvollständig wahrgenom- – und deswegen werden Jelzin und sein men hat, vor allem auch durch die Be- Jahrzehnt heute von der Putin-Führung hauptung, eine Demokratie sei eben unter mehr bekämpft und verleumdet als russischen Bedingungen unmöglich. irgendeine andere Periode Russlands. Die Verharmlosung des autoritär-büro- kratischen Systems unter Putin seit 1999 Die Politische Meinung: Und wie ist es in auf der einen Seite und vor allem die Ver- Russland mit der Rechtsstaatlichkeit? Hat sie unglimpfung der zehn Jelzin-Jahre, der zugenommen? Es gibt Kommentatoren, die relativ freiesten Periode der gesamten die Meinung vertreten, der Parlamenta- russischen Geschichte, scheint mir eine rismus sei zwar etwas abgesenkt worden, aber tragische Fehlbeurteilung der russischen in Kompensation dazu habe die Rechtsstaat- Realität zu sein. Ich hoffe sehr, dass es so lichkeit zugenommen. bald wie möglich zu einer gerechteren Beurteilung der Entwicklungen seit Gor- Wolfgang Leonhard: Nein. Weder das batschow kommen wird – der Jelzin-Pe- eine noch das andere. Die Behauptung, der riode auf der einen und des autoritär-dik- Parlamentarismus sei „etwas abgesenkt tatorischen Systems Putins auf der ande- worden“, ist für mich eine unglaubliche ren Seite. Dies ist natürlich mit der Hoff- Verharmlosung. Was sich seit der Putin- nung verbunden, dass die russische Be- Periode Ende der 1990er-Jahre vollzogen völkerung in der Zukunft eine rechts- hat, ist ein entsetzlicher Rückschritt weg staatliche und demokratische Entwick- von den zehnjährigen beginnenden de- lung erleben wird. mokratischen Tendenzen unter Jelzin hin Das Gespräch führte Wolfgang Bergsdorf am zum heutigen autoritär-diktatorischen 13. August 2007.

Wolfgang Leonhard wurde 1921 in Wien geboren. 1935 emigrierte er mit seiner Mutter Susanne, einer engagierten Kommunistin, in die UdSSR. Sie wird 1936 anlässlich einer stalinistischen Säuberungsaktion verhaftet und für zwölf Jahre in einen Gulag deportiert. Leonhard beginnt 1942 eine Ausbildung in der KOMINTERN-Schule, einer Kader- schmiede für nichtrussische Kommunisten. Am 30. April 1945 kehrt er als jüngstes Mitglied der Gruppe Ulbricht nach Deutschland zurück, um den Kommunismus in Deutschland zu verankern. Er arbeitete in Berlin für das Zentralkomitee der KPD und später SED und für die Parteihochschule . Nach seinem Bruch mit dem Stalinismus flieht er 1949 über Prag nach Belgrad und arbeitet dort für den Rundfunk. Ab 1950 lebt er als Journalist in Köln. Nach Studienaufenthalten in Eng- land und in den USA lehrt er bis 1987 in Yale Geschichte des Kommunismus. Leonhard ist mit der langjährigen Bundestagsabgeordneten Dr. Elke Leonhard verheiratet und lebt in Manderscheid/Eifel.

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