Die Revolution Entlässt Ihre Kinder“
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456_44_52_Leonhard_Interview 25.10.2007 12:35 Uhr Seite 44 Ein Gespräch „Die Revolution über den Kommunismus, entlässt ihre Kinder“ die DDR und die Entwicklungen in Russland Wolfgang Leonhard Die Politische Meinung: Herr Professor Le- Asiens und Lateinamerikas. Aber mein onhard, Sie haben eine Vielzahl von Büchern, Hauptziel war, meine Leser in der dama- vorwiegend über die DDR, die Sowjetunion ligen DDR und in den damaligen kom- und Ihr eigenes Leben veröffentlicht. Nach munistisch regierten Ländern Osteuro- dem Büchlein von 1952 unter dem Titel pas zu erreichen. Den Vorschlag des Ver- Schein und Wirklichkeit in der Sowjet- lages, ob ich bereit wäre, Die Revolution union erschien Ende 1955 Ihr zweites Buch, entlässt ihre Kinder in der DDR illegal in der Weltbestseller Die Revolution entlässt Tarnumschlägen vertreiben zu lassen, ihre Kinder. Nach weiteren zehn Büchern habe ich sofort mit Zustimmung beant- über die Sowjetunion, die DDR, die ersten wortet. In wenigen Jahren erreichte die Jahre der Kommunistischen Internationale Auflage des Buches Die Revolution entlässt unter dem Titel Völker hört die Signale so- ihre Kinder 600 000, später 800 000 und wie die Reformströmungen in der kommunis- schließlich eine Million Exemplare. Aber tischen Weltbewegung unter dem Titel Der besonders gefreut hat mich, dass es auch Eurokommunismus ist kürzlich ein neues in der DDR vertrieben wurde. Bis zur Ber- Buch von Ihnen erschienen: Meine Ge- liner Mauer im August 1961 erhielt ich schichte der DDR. Darin erwähnen Sie, dass viele Briefe von DDR-Bürgern, die sie mir Sie nach der Wende 1989 vielfach „Erster Dis- bei Besuchen in Westberlin – bis zur Er- sident der DDR“ genannt wurden. Was war richtung der Berliner Mauer mitunter et- das treibende Motiv Ihres Schreibens über was schwierig, aber durchaus möglich – diese vielen Jahrzehnte? übersandt haben. Dieser Kontakt war für mich besonders wichtig. Wolfgang Leonhard: Aufklärung. Mir lag und liegt vor allem daran, ein diffe- Die Politische Meinung: Galt das auch für renziertes Bild der Entwicklung in der Menschen in der Sowjetunion? kommunistischen Welt zu vermitteln. Das bedeutete vor allem, einseitige posi- Wolfgang Leonhard: Durchaus. Ich ha- tive Verherrlichungen genauso zu ver- be erfahren, dass mein Buch sogar höhere meiden wie einseitige Pauschalverur- Funktionäre exklusiv in einer hektogra- teilungen. Es war mein Ziel, die Wider- fierten Ausgabe erhalten haben. sprüche in der Entwicklung und bei den Menschen, die diese Entwicklungen erle- Die Politische Meinung: Und woher haben ben, aufzuzeigen, so wie ich das in Sie das erfahren? meinem meistverbreiteten Buch Die Re- volution entlässt ihre Kinder 1955 getan Wolfgang Leonhard: Nach 1985, zur Zeit habe. Meine Bücher erschienen in West- Gorbatschows in Moskau 1987, besuchte deutschland sowie in Übersetzungen und ich wiederholt die Sowjetunion, lernte in fast allen westlichen Ländern Europas, Gorbatschow persönlich kennen, und er Seite 44 Nr. 456 · November 2007 456_44_52_Leonhard_Interview 25.10.2007 12:35 Uhr Seite 45 „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ berichtete mir über die hektografierte Zeit, wo er selbst durch Krankheit oder Ausgabe meines Buches für höhere Funk- Tod oder beides außer Gefecht gesetzt tionäre. würde. Wer würde dann die Macht über- nehmen? Welche Richtung würde die Die Politische Meinung: Es wird behauptet, Sowjetführung einschlagen? Könnte er dass sich bei der großen Säuberung von 1936 sicher sein, dass sein Kurs, seine Unter- bis 1938 in der Sowjetunion der Hauptschlag drückung, seine Diktatur wirklich fortge- gegen kommunistische Parteimitglieder und setzt werden würden? Darüber sprach er gläubige Parteifunktionäre richtete, weit stär- öffentlich nur einmal, aber mit einem ker als gegen Nichtkommunisten. Wie kam es, interessanten Hinweis. Stalin sagte: Ihr dass sich der kommunistische Terror so häufig seid ja alle so naiv wie kleine Katzen. Was gegen die eigenen Leute richtete? wird passieren, wenn ich nicht mehr da bin? Stalin fürchtete, dass dann eine kom- Wolfgang Leonhard: Ja, das stimmt. Ich munistische Führung von der Parteielite habe als Jugendlicher, als 15- und 16-Jäh- auserwählt und die Macht übernehmen riger, die große Säuberung in der Sow- würde, aber dann etwas völlig anderes jetunion von 1936 bis 1938 erlebt, darun- machen würde als das, wofür Stalin Jahr- ter auch die Verhaftung meiner Mutter zehnte gestanden hatte. Stalin hatte am 25. Oktober 1936 und vieler meiner Angst, dass seine Nachfolger einen ande- Freunde. Die Mehrzahl der Verhafteten, ren Kurs steuern würden. die mir persönlich bekannt waren, waren damals keineswegs Gegner des Regimes, Die Politische Meinung: War die Angst sondern überzeugte Parteimitglieder – Ihrer Meinung nach berechtigt? teils von westlichen kommunistischen Parteien, teils von der sowjetischen KP. Wolfgang Leonhard: Ja, durchaus. Die Nachfolger Stalins nach dessen Tod am Die Politische Meinung: Wie kam es, dass 5. März 1953, Malenkow, Mikojan, Beria, Stalin seinen Terror vor allem gegen die eige- Shukow sowie vor allem Parteiführer nen Leute, Parteimitglieder und Funktionäre Nikita Chruschtschow, vollzogen einen richtete? War das eine groteske Fehleinschät- weitreichenden Kurswechsel: offene Kri- zung, oder machte es, vom Standpunkt Sta- tik an Stalin, am Stalin’schen Terror, an lins aus gesehen, einen Sinn? den Massenverhaftungen, der Allmacht des Staatssicherheitsdienstes, an dem Wolfgang Leonhard: Zunächst das Of- Führerkult um Stalin. Seine Nachfolger fensichtliche: Stalin war zutiefst von ei- leiteten eine große Amnestie ein: Viele nem Misstrauen durchdrungen – auch Haftentlassungen, eine offene Kritik am und gerade gegenüber Parteifunktionä- Staatssicherheitsdienst, die Abkehr vom ren, die treu die Parteilinie vertraten und Primat der Schwerindustrie, die Verstär- sich offen und wiederholt, ja ständig be- kung der Konsumgüterproduktion und geistert zu Stalin bekannten, in der Mehr- die flexiblere Außenpolitik gegenüber zahl der Fälle übrigens damals aus inners- dem Westen gehören zu den wichtigsten ter Überzeugung. Das konnte Stalin sich Wandlungen nach Stalins Tod. schwer vorstellen, und er witterte überall Gegner. Die Politische Meinung: Die Entwicklung Der zweite Grund, der viel seltener er- nach Stalins Tod am 5. März 1953 schildern wähnt wird, der mir jedoch sehr plausibel Sie in Ihrem letzten Buch Meine Geschichte erscheint, ist, dass Stalin besorgt an die der DDR. Sie beschreiben sehr deutlich und Zukunft der Sowjetunion dachte, an die plastisch, wie die Sowjetführung, bereits un- Nr. 456 · November 2007 Seite 45 456_44_52_Leonhard_Interview 25.10.2007 12:35 Uhr Seite 46 Wolfgang Leonhard mittelbar nach dem Tode Stalins, den Versuch am 5. März 1953 einen großen Gedenkar- machte, Stalin möglichst schrittweise aus dem tikel für Stalin veröffentlichte. Während Verkehr zu ziehen. Sein Name wurde immer dies bei früheren Stalin-Ereignissen, also weniger in den Zeitungen erwähnt. Schon re- bei seinem 50. Geburtstag am 21. Dezem- lativ bald nach seinem Tode, erstmals bereits ber 1929, am 60. Geburtstag 1939 und am Ende April 1953, begann man, Stalin zu- 70. Geburtstag 1949 zu den Höhepunkten nächst vorsichtig, aber dann nach wenigen der Stalin-Ära gehörte. Nun aber, nach Monaten immer deutlicher offen zu kritisieren seinem Tode am 5. März 1953, gab es und nicht erst, wie viele Menschen im Westen nichts Ähnliches in der Sowjetunion. annehmen, beim 20. Parteitag im Februar 1956. Galt das gleichermaßen in der Sowjet- Die Politische Meinung: Und wie war das union und in der DDR? in der DDR? Wolfgang Leonhard: Nein, die Kritik an Wolfgang Leonhard: Völlig anders. Wo- Stalin und seine Zurückdrängung began- chenlang wurde in der DDR in außer- nen in der Sowjetunion bereits im späten gewöhnlicher Aufdringlichkeit öffentlich Frühjahr 1953, während in der DDR Stalin getrauert. Die Medien quollen über von noch mit Lobpreisungen überschüttet Nachrufen auf den angeblich größten und grenzenlos gefeiert wurde, seiten- Helden aller Zeiten. Ulbricht wollte sogar lange und opulente Leichenreden auf aus Moskau noch eine Gedenkbüste von Stalin gehalten und Stalin-Büsten aufge- Stalin erhalten, schrieb dorthin, aber er- stellt wurden. Die Unterschiede zwischen hielt sie nicht – obwohl sie sich vielleicht, Sowjetunion und DDR traten damals sehr was man allerdings nicht an Ulbricht deutlich zutage, und erst im Mai/Juni schrieb, bereits in Müllablagen befand. 1953 wurde die DDR-Führung durch den Die weitverbreitete Auffassung, die Par- von Moskau geforderten „Neuen Kurs“ tei- und Staatsführung der Sowjetunion zu einer Revision ihrer Politik gezwun- und DDR seien immer identisch gewesen, gen. Aber in der DDR lief alles schnell aus stimmt nicht. Es stimmt häufig, aber es dem Ruder. Die Arbeiterdemonstratio- gab sehr wichtige Ereignisse, bei denen es nen gegen die DDR-Führung mündeten zwischen Moskau und Ostberlin gravie- in den Arbeiteraufstand in der DDR vom rende Unterschiede gab. Gerade diese 17. Juni 1953. Zeiten der Unterschiede markieren häu- fig wichtige Wendepunkte. Und dabei Die Politische Meinung: Der Tod von Sta- spielen natürlich die unterschiedlichen lin wurde also von der DDR-Führung zu- Reaktionen auf Stalins Tod am 5. März nächst stärker bedauert als in der Sowjet- 1953 eine sehr wichtige Rolle. union? Kann man das so sagen? Die Politische Meinung: Kann man sagen, Wolfgang Leonhard: Selbstverständlich. dass die Errichtung der Berliner Mauer am Genau das trat ein. Ich zitterte im Früh- 13. August 1961 auch eine solche Schlüssel- jahr 1953 vor Aufregung, keineswegs nur