Analyse & Alternativen Utopie & Wirklichkeit Reine Lehren 165/166
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Monatliche Publikation, . herausgegeben von der 165/166 Juli/August 2004 Rosa-Luxemburg-Stiftung VorSatz 579 Essay GERHARD WAGNER »Ich weiß, daß wir diesmal gewinnen«. Hollywood, Casablanca und die Befreiung von Paris 581 Gesellschaft – Analyse & Alternativen MARIO CANDEIAS Erziehung der Arbeitskräfte. Rekommodifizierung der Arbeit im neoliberalen Workfare-Staat 589 WOLFGANG WEISS Tragfähigkeit – ein Begriff der Regional-Demographie mit politischen Implikationen 602 Utopie & Wirklichkeit RICHARD SAAGE Wie zukunftsfähig ist der klassische Utopiebegriff? 617 JAN VOGELER, HEINRICH FINK Heinrich Vogeler und die Utopie vom neuen Menschen 637 Reine Lehren MICHAEL BRIE Welcher Marxismus und welche Politik? Uwe-Jens Heuers Buch »Marxismus und Politik« kritisch gelesen 648 WOLFRAM ADOLPHI Wohlfeile Keule und geistige Selbstverstümmelung. Zwei neue Bücher mit »linkem« Antiamerikanismus-Vorwurf 662 MAX BRYM Die serbischen Cˇetniks einst und jetzt 672 Wieder gelesen Wandlung und Wahrhaftigkeit. Franz Fühmann zum 20. Todestag 680 PDS – strategische Debatte DIETMAR WITTICH In welcher Gesellschaft leben wir? 689 THOMAS FALKNER Herausforderungen für sozialistische Politik 701 ELKE BREITENBACH, KATINA SCHUBERT Opposition und Regierung – Partei und Bewegung – Widersprüche? Überlegungen zur PDS-Strategiedebatte 715 FRIEDRICH W. SIXEL Die PDS und die Krise der heutigen Gesellschaft 726 Standorte ULI SCHÖLER Der unbekannte Paul Levi? 737 Festplatte WOLFGANG SABATH Die Wochen im Rückstau 752 Bücher & Zeitschriften Wolfgang Ruge: Berlin – Moskau – Sosswa. Stationen einer Emigration (HELMUT BOCK) 754 Albert Scharenberg, Oliver Schmitke (Hrsg.): Das Ende der Politik? Globalisierung und der Strukturwandel des Politischen (FRIEDHELM WOLSKI-PRENGER) 756 Massimiliano Andretta, Donatella della Porta, Lorenzo Mosca, Herbert Reiter: No Global – New Global. Identität und Strategien der Antiglobalisierungsbewegung (ARNDT HOPFMANN) 757 Tanja Busse, Tobias Dürr (Hg.): Das neue Deutschland. Die Zukunft als Chance, (ULRICH BUSCH) 758 Volker Perthes: Geheime Gärten. Die neue arabische Welt (HENNER FÜRTIG) 760 Summaries 764 An unsere Autorinnen und Autoren Impressum 768 3 VorSatz »Alles für das Volk. Alles mit dem Volk. Nichts um den Dank des Volkes«, forderte einst ein Teilnehmer des Wartburgfestes von 1817, später ein liberaler Hochverräter und langjähriger Zuchthaus- insasse sowie 1848 Abgeordneter des Paulskirchenparlamentes: der Mediziner Gottfried Eisenmann (1795-1867) aus Würzburg. Obwohl der Mann nicht einmal ein richtiger Demokrat war – eine konstitu- tionelle Monarchie wäre ihm schon ein großes Glück gewesen –, hätte er mit seinem Credo bei den jüngsten Wahlen wohl in kaum einer Partei des deutschen Bundes die Chance auf einen sicheren Listenplatz gehabt; als williger Wahlzettelverteiler würde er viel- leicht gerade noch geduldet. Alles für das Volk? Alles mit dem Volk? Nichts um den Dank des Volkes? »Guter Mann, wo leben Sie?« wäre noch die freundlichste Form, in der jemandem, der es heute wagte, solch unvorsichtiges Wort zu führen, mit großer Selbstverständlichkeit Unzurechnungs- fähigkeit attestiert werden würde. Dabei wird gerade in jüngster Zeit eigentlich alles für das Volk getan; Stichwort Agenda 2010. War das Volk bisher unmündig und vollständig schutzlos dem Sozialstaatsfürsorgeterror ausgeliefert – unter anderem mit dem völlig inakzeptablen Ergebnis nicht enden- wollenden Rentenbezuges –, werden die Frühverendungsverweigerer der Zukunft endlich selbst ihr Leben in die Hand nehmen können: indem sie dieselbe entweder in die vorsorglich aufgestellte Specki- tonne bewegen oder an sich legen – ganz in freier Selbstbestimmung und ohne jegliche Bevormundung durch das Diktat vor sich hin- schnöselnder Gewerkschaftsbosse, die ja nicht mal ein Abitur, son- dern bestenfalls eine Villa vorweisen können. Keineswegs weniger gut steht es um den zweiten Eisenmannschen Glaubenssatz. Es ist beinahe unglaublich, was alles mit dem Volk ge- tan wird. Denn: Es gab bisher nichts, was das Volk – zumindest das deutsche – nicht mit sich hätte tun lassen; sogar in den Krieg ist es 1999 wieder gezogen, und im Moment läßt es die Vorbereiter künfti- ger Kriege beim Ausbau der EU zur waffenstarrenden Kriegsmacht gewähren. Ein schönes Volk. Bei Lichte besehen, wird auch nichts um den Dank des Volkes ver- richtet. Zumindest jene, die – im Zeichen eines als Neoliberalismus drapierten Sozialdarwinismus’ – ihr gemeinwesenzerstäubendes Wirken Aufsichtsratsposten wie andere werthaltige Briefmarken sammeln läßt, sind derart geschäftig beschäftigt, daß gar keine Zeit bleibt, dem Volke nach dem Maule zu reden. Auch wenn die, in ihren weniger guten Teilen an Melvin Lasky und seine (zum Zwecke der Spaltung der deutschen Linken von USA- Geheimdiensten bezahlte) Zeitschrift »Monat« gemahnende, anti- nationale »Linke« beim Aufrufen des Topos’ »Volk« pawlowartig nach einer pol-pot-gestählten Gesinnungspolizei zu flehen pflegt – sieht sie doch den ostischen Untermenschen mit seinen nationali- stisch-antisemitischen Unterwanderstiefeln den in jeder Hinsicht reichlich ausgestatteten Herrenmenschengarten des Anti-Deutsch- tums zertrampeln –, wollen wir mit, im marxistisch-leninistischen Grundlagenstudium eingeübtem Sadismus noch ein wenig am Be- griff des Volkes festhalten und in Gottfried Eisenmann ausdrücklich keinen Wegbereiter für Auschwitz sehen. (Diplomatischere Dar- legungen zum Thema der USA-vergötzenden germanischen Simu- lations-Linken finden sich im vorliegenden Heft übrigens beim gelernten Diplomaten Dr. Wolfram Adolphi.) Nicht um den Dank des Volkes Politik zu treiben, deutet gewöhn- lich auf bevorstehendes Harakiri – zumindest wenn man nichts Ver- nünftiges gelernt hat und/oder nicht wenigstens jemanden kennt, der jemanden kennt. In dieser Hinsicht haben natürlich Gerhard Schrö- der und Wolfgang Clement rein gar nichts zu befürchten: Für sie ist selbst und gerade nach dieser Europawahl ein kommodes Plätzchen in einer kapitalistischen Wärmestube stets reserviert. Falls ich mich nicht irre. Vielleicht lieben ja die Bosse – ganz wie einst Josef Wis- sarionowitsch Stalin – nur den Verrat und nicht den Verräter. An die- ser Frage wird sich möglicherweise erweisen, wie totalitär das heu- tige System schon geworden ist. Grundsätzlich anders sieht das mit den Wahlverlusten freilich für die vielen SPD-Hinterbänkler aus. Für sie droht der 13. Juni jene Bedeutung anzunehmen, die vor fast fünfzehn Jahren der Mauerfall für das schnauzende und rückgratentfernte SED-Personal hatte: das Aus. Worüber der Rest des politischen Personals aber nicht in Häme verfallen sollte. Jedem einzelnen von ihnen ist sehr zu raten, sich vertrauensvoll auf der Couch eines Analytikers über die Bedeutung der Zahl 43 auszusprechen; in den jeweiligen Parteivorständen wird das wohl kaum noch möglich sein. 57 Prozent des Wahlvolks blieb am 13. Juni 2004 im Bett oder auf der Datsche; da könnte man sich Wahlen künftig ja gleich ganz schenken. Besser wäre das wahrscheinlich sogar, denn wenn die heutigen Nichtwähler wieder wählen gehen sollten, haben nur die- jenigen von den bisherigen Politikern allen Grund, glücklich drein- zuschauen, die nicht vergessen hatten, daß man in Deutschland seine Volksverbundenheit manchmal am nachdrücklichsten mit eini- gen Jahren Exil nachweist. Allerdings besteht im Moment noch keine Gefahr. Bislang wird in Deutschland der Super-Star nur gesucht. Gnade uns jedoch Gott, wenn er gefunden sein wird. Denn eines ist klar: Bezahlen werden die Zeche andere. Sie, liebe Leserin, und Sie, lieber Leser. Bis dahin wollen wir weiterhin unbequem bleiben – was natürlich unbequem ist, im Land der Bequemen. JÖRN SCHÜTRUMPF UTOPIE kreativ, H. 165/166 (Juli/August 2004), S. 581-588 581 GERHARD WAGNER »Ich weiß, daß wir diesmal gewinnen«. Hollywood, Casablanca und die Befreiung von Paris Die »Casablanca«-Werbung verheißt seit nunmehr rund sechzig Jah- ren vor allem eine »Schicksalsbegegnung« zwischen Ilsa Lund, Rick alias Richard Blaine und Victor Laszlo, »Kino der großen Gefühle«, also eindringliche Bilder der romantisch entgrenzten Liebe, der schmerzenden Ambivalenz, des würdevollen Unglücklichseins. All- jährlich geraten darum auch Tausende Urlaubshungrige beim Blät- tern in Nordafrika-Reiseprospekten immer wieder in Verzückung. Denn unverdrossen und farbintensiv wird ihnen eine nostalgische Filmkulisse versprochen. Vor Ort aber, im exklusiven Hyatt-Hotel, finden sie lediglich eine Ricks »Café Américain« nachempfundene Szenerie mit Klavier vor. Denn die wichtigste marokkanische Hafenstadt Dar al Beida mit ihrem (allerdings nur noch im Zentrum spürbaren) orientalischen Flair, ihren weißen Häusern mit Terras- sendächern, ihren vielen Theatern und Kabaretts war nie Drehort Gerhard Wagner – Jg. 1948, dieser Hollywood-Produktion. Dipl.-Kulturwissenschaftler, In den tourismus- und medienindustriellen Werbekulten drohen Dr. phil. habil., Wissen- deren geschichtliche Konturen und Dimensionen unterzugehen. Bes- schaftspublizist und -berater in Berlin. ser als von Casablanca lernt man den Streifen daher von anderen Veröffentlichte zuletzt: Handlungsräumen und -orten aus verstehen. Neben Lissabon, New Walter Benjamin – Moderne York, Pearl Harbour und Moskau sind das vor allem die französi- und Faschismus, Berlin schen Städte Marseille, Paris und Vichy. Sie können in das Bewußt- 2004 (»Helle Panke« e. V.; sein rufen, daß in den Filmbildern mehr aufgehoben ist als eine Pankower Vorträge, H. 61); Sammlung romantischer Augenblicke: Die Zeiten, die Lagen und in UTOPIE kreativ: Ursprung ihre Deutungen sprechen in ihnen mit;