Frank-Loeb-Gastprofessur 2009

Alfred Grosser

60 Jahre Leitkultur der Bundesrepublik

Vorlesung im Rahmen des Festaktes zur Verleihung der Frank-Loeb-Gastprofessur am 23. Juni 2009 im Kulturzentrum Altes Kaufhaus Landau

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INHALT:

Die Frank-Loeb-Gastprofessur 3

Laudatio Prof. Dr. Ulrich Sarcinelli Alfred Grosser. Wissenschaftler der Politik, kritischer Zeitgenosse und politischer Pädagoge 4

Vorlesung Prof. Dr. h.c. Alfred Grosser 60 Jahre Leitkultur der Bundesrepublik 10

Vita Alfred Grosser 23

Impressum 24

2 Die Frank-Loeb-Gastprofessur Die Frank-Loeb-Ehrenprofessur wird vom Frank-Loeb-Institut an der Universität Koblenz- Landau in diesem Jahr zum ersten Mal an den Wissenschaftler und Publizisten Prof. Dr. Alfred Grosser (Paris) verliehen. Die Frank-Loeb-Ehrenprofessur soll als Gastprofessur in Zukunft jährlich an herausragende Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Publizistik vergeben werden. Zu ehren gilt es dabei eine Persönlichkeit, die sich in der Öffentlichkeit engagiert und mit hoher Glaubwürdigkeit besondere Verdienste um Politikvermittlung und internationale Verständigung erworben hat. Mit der Ehrenprofessur setzt das Frank-Loeb-Institut als besondere wissenschaftliche Einrichtung der Universität ein weithin sichtbares Zeichen für die Verbindung zwischen Universität und Öffentlichkeit in Stadt, Region und darüber hinaus.

Das Frank-Loeb-Institut Das Frank-Loeb-Institut Landau an der Universität (FLI) besteht seit 1998. Gegründet wurde es als institutioneller Ausdruck der besonderen Verbindung von Universität, Stadt und Region. Das Haus aus dem ursprünglichen Besitz von Sophie Frank und dem Bankier Leo Loeb (aus der Familie von Anne Frank) steht für die leidvolle Geschichte der Juden in Landau und in der Südpfalz. Das FLI arbeitet als „Forschungsstelle für Politikvermittlung und internationale Verständigung“ mit Schwerpunkten im Bereich der politischen Kommunikationsforschung und in den internationalen Beziehungen. Darüber hinaus versteht es sich im Rahmen von Veranstaltungsreihen („Akademiegespräche“, „Semesterpolitikum“, „Hambacher Gespräche“) als Forum für den Diskurs über die großen gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Fragen der Zeit.

3 Ulrich Sarcinelli Alfred Grosser: Wissenschaftler der Politik, kritischer Zeitgenosse und politischer Pädagoge

Sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete des Deutschen Bundestages und des Rheinland- Pfälzischen Landtages, sehr geehrter Herr Präsident unserer Universität und Herr Oberbürgermeister, sehr geehrter Herr Staatssekretär, verehrte Herren Dekane, liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Studierende, verehrte Gäste – vor allem aber hoch verehrter Herr Prof. Dr. Alfred Grosser!

Die Übertragung einer Gastprofessur gehört normalerweise zu den akademischen Routinen einer Universität. Sie dient dem Austausch von Lehrenden und Forschenden. Sie gibt Studierenden die Gelegenheit, mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern anderer Hochschulen in Kontakt zu kommen. Sie macht mit Wissenschaftskulturen und Wissenschaftsansätzen vertraut, bietet Abwechslung im Studienbetrieb der eigenen Universität, kurz: sie weitet den akademischen Horizont. – Das alles kennen wir aus dem universitären Alltag. Insofern müsste man um eine Gastprofessur kein besonderes Aufheben machen.

Wenn wir dennoch die erstmalige Übertragung einer Frank-Loeb-Gastprofessur an unserer Universität in feierlicher Weise begehen, dann hat das seine guten Gründe. Diese Gründe hängen natürlich in erster Linie mit der Person unseres heute zu ehrenden Gastprofessors zusammen. Und sie hängen damit zusammen, dass es dann doch keine ganz normale Gastprofessur ist, so wie auch das Frank-Loeb-Institut Landau an der Universität kein ganz normales Institut ist. Vor nunmehr 11 Jahren auf Inititative des Präsidenten unserer Universität und des Oberbürgermeisters der Stadt Landau gegründet sollte mit dem Frank- Loeb-Institut in der Stadt ein Zeichen der Verbundenheit zwischen Universität, Stadt und Region gesetzt werden. Mit dem Abzug der französischen Garnison war eine lange, freilich nicht immer friedliche, zum Schluss aber dann doch jahrzehntealte freundschaftliche deutsch- französische Koexistenz in der Stadt zu Ende gegangen. Nicht mehr Garnisonsstadt galt es ein neues Kapitel aufzuschlagen, ein Kapitel als Universitätsstadt und das mit einer Einrichtung mitten in der Stadt, im architektonisch-historischen Kronjuwel, dem Frank-Loebschen Haus; einem Haus, in dem sich wie in keinem anderen in der Region die dramatische jüngere Geschichte unseres Landes, die Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der jüdischen

4 Bevölkerung aus der Region verbinden. Allerdings gab es auch Zeiten, in denen dort Menschen zusammenarbeiteten und lebten, unabhängig von Herkunft und Religion. Schließlich gingen in jüngerer Zeit bemerkenswerte Versuche der Erinnerung und Versöhnung vom Frank-Loebschen Haus aus. Ein Haus, dessen Namen unser Institut trägt. Frank-Loeb-Institut Landau an der Universität. Es hat den Auftrag als „Forschungsstelle für Politikvermittlung und internationale Verständigung“ zu arbeiten; zu wirken nicht nur im akademischen Elfenbeinturm, sondern durch Angebote auch in die nichtuniversitäre Öffentlichkeit hinein. Dass der Senat der Universität diesem Institut erstmals für die Universität Koblenz-Landau den Status einer „besonderen wissenschaftlichen Einrichtung“ verliehen hat, ist eine Verpflichtung für alle, die sich hier engagieren und als Lehrende und Forschende arbeiten.

Als wir uns mit dem Gedanken trugen, erstmals und fortan jährlich eine Frank-Loeb- Gastprofessur auszuloben und das im 60. Jahr des Bestehens unseres Staates sowie 20 Jahre nach der deutschen Einheit, galt es eine geeignete Persönlichkeit zu finden. Sie sollte diese Jahrzehnte deutscher Zeitgeschichte in besonderer Weise biographisch, durch wissenschaftliche Leistungen und mit entsprechender publizistischer Resonanz zu verkörpern in der Lage sein. Diese Persönlichkeit zu finden, war gar nicht so schwer, denn so viele Kandidatinnen und Kandidaten, mit denen man alle diese Erwartungen verbinden kann, gibt es nicht. Diese Persönlichkeit dann für die Frank-Loeb-Professur auch tatsächlich zu gewinnen, war schon etwas schwerer, handelt es sich doch um einen hochdekorierten französischen Kollegen. Dass es uns dann doch gelang, Herrn Prof. Dr. Alfred Grosser dies anzutragen, erfüllt uns als Universität und als Frank-Loeb-Institut natürlich mit Stolz. Als Träger des Friedenspreises des deutschen Buchhandels, ausgestattet mit dem Bundesverdienstkreuz mit Stern und Schulterband, als Träger der Theodor-Heuss-Medaille, des Schiller-Preises der Stadt Mannheim, des Humanismus-Preises sowie des Abraham- Geiger-Preises und nicht zuletzt des Grand Prix de l'Académie des Sciences morales et politiques stellen wir uns bescheiden hintenan und freuen uns einfach, Sie nun in unserem Kreis zu wissen; dankbar vor allem auch deshalb, weil uns sehr wohl bewusst ist, dass dies mehr Ehre für uns als für Sie ist. – Unter der Last der vielen Ehrungen müssten Sie schon fast gebeugt daher kommen. Dem ist ja Gott sei Dank nicht so.

Nun sind Sie ja auch noch Namensgeber des Alfred-Grosser-Schulzentrums in Bad Bergzabern. Mit Ihnen als Träger der ersten Frank-Loeb-Gastprofessur werden also ihre

5 Verbindungen zu Region Südpfalz nunmehr auf Stadt und Universität ausgeweitet und vertieft. – Sie müssen jetzt aber nicht befürchten, dass das so weitergeht und demnächst auch der Kreis Südliche Weinstraße oder die Stadt nach Ihnen benannt wird.

Wir ehren mit Prof. Alfred Grosser einen Repräsentanten der politischen Wissenschaften, der international hohes akademisches Ansehen genießt; einen europäischen Bürger, der sich als streitlustiger Publizist immer wieder und vor allem dann in Deutschland und in Frankreich in die Debatte einmischt, wenn es um zentrale Belange unserer beiden freiheitlichen und demokratischen Gemeinwesen geht. Und wir ehren in Professor Grosser zum dritten einen Menschen, der – ohne Pädagoge oder Didaktiker im engeren Sinne zu sein – in hohem Maße politisch-pädagogische Orientierung gibt. Kurz: Wir ehren in Ihnen, lieber Herr Kollege Grosser eine Persönlichkeit, die das verkörpert, was uns im Frank-Loeb-Institut besonders am Herzen liegt: „Politikvermittlung und internationale Verständigung“.

Zunächst zu Alfred Grosser als Repräsentanten der politischen Wissenschaften.

(1) Wahrgenommen wird er als Politikwissenschaftler. Tatsächlich ist Alfred Grosser gelernter Historiker und Germanist und insofern ein Vertreter der Generation von politikwissenschaftlichen Lehrstuhlinhabern, die von anderen Disziplinen kommend dem Fach die ersten Konturen gegeben und sich primär auch als umfassende akademische politische Lehrer in Sachen Politik begriffen haben. Herr Kollege Grosser begleitete zahlreiche hohe nationale und internationale Positionen in unserem Fach. Dabei verkörpert er gerade nicht das, was es in Frankreich wie in Deutschland gibt. Ich meine den zurückgezogenen Intellektuellen, der sich eingeschlossen in sein Wissenschaftssystem um die Welt nicht kümmert. Nein, er mischt sich ein, will nicht nur Politik beschreiben und erklären. Frei vom modernen Fachjargon weiß er nicht nur in seinen zahlreichen Büchern Geschichte und Politik zu erzählen. Er kann Menschen fesseln, etwas, was unserer Fachdisziplin zunehmend abgeht, was akademisch kaum mehr prämiert wird und was das Fach in die Gefahr bringt, sich mehr und mehr an politisch-administrativer Verwertungslogik zu orientieren.

Alfred Grosser ist ein politischer Wissenschaftler. Er weiß, dass Politik keine Wissenschaft ist, sondern eine Kunst. Politik sei das Edelste, was sich eine Gesellschaft gibt, sagt er. Für

6 ihn ist politische Wissenschaft nicht Selbstzweck. Sie macht nur Sinn, wenn sie Antworten auf die Fragen nach der Gestaltung der Zukunft gibt und wenn sie die Bürger herausfordert und einbezieht. Im politischen Sinne Bürger sein, bedeutet für ihn vor allem, „sich betroffen fühlen von der sozialen Ungerechtigkeit“ und „für andere handeln wollen“, Verantwortung zu übernehmen und zu verantwortlichem Handeln anstiften. In seinen Worten: „Penser justement, donc avec justesse et justice“. Richtig denken, mit Logik und Gerechtigkeitssinn, man kann auch sagen: mit Verstand und Herz, das ist seine Maxime. Alfred Grosser ist kein distanzierter Interpret politischer Herrschaft und Machttechnik. Vielmehr begreift er sich als Vertreter einer Demokratiewissenschaft, bei der sich – ganz in der aristotelischen Tradition – Politik und Ethik nicht trennen lassen. Ihn treibt die Sorge um, Politik könnte durch Management ersetzt werden. Er befürchtet, an die Stelle verantwortlicher und vorausschauender politische Eliten könnten Sozialtechnokraten treten. Denn allein mit dem Wissen, wie man politische Kampagnen bestreitet, auf demoskopische Daten reagiert und kurzfristig politische Stimmungen folgt, können Gegenwart und Zukunft nicht gemeistert werden. Verantwortliche Politik verlangt mehr als clevere Machttechniker.

(2) Alfred Grosser ist nicht nur ein Vertreter der Wissenschaft, sondern auch ein kritischer Zeitgenosse, ein Bürger, der sich einmischt. Kritische Zeitgenossenschaft war für ihn biographisch Schicksal und Auftrag. Als deutscher Jude in am Main geboren, im Jahre der Machtergreifung Hitlers 1933 achtjährig mit den Eltern der Nazi-Barbarei noch entkommen findet er in Frankreich eine neue Heimat. Das mentale Leben in unterschiedlichen kulturellen Welten, Ausbildung als Germanist und Historiker in Frankreich, über Jahrzehnte Brückenbauer und politischer Übersetzer nach beiden Seiten, anstoßend und keine Scheu auch mal als anstößig empfunden zu werden, wenn kulturelle Borniertheit oder nationale Selbstgefälligkeit – hier wie dort oder auch anderswo – überhand zu nehmen drohen, das kennzeichnet seine publizistischen Interventionen bis in die Gegenwart. Über mehr als 50 Jahre wird die Verständigung zwischen den Kulturen, zwischen Deutschen und Franzosen zu seinem Lebenswerk. Wie oft ist er als unermüdlicher Wegbegleiter der Annäherung, Aussöhnung und Freundschaft zwischen Franzosen und Deutschen belobigt worden! Das ist richtig. Es macht aber noch nicht den Kern seiner kritischen Zeitgenossenschaft aus. Er will nicht nur zusammenführen und erklären. Er will aufklären, will den Deutschen Frankreich und die Franzosen und den Franzosen Deutschland und die Deutschen begreiflich machen. Glaubwürdig ist er dabei vor allem deshalb, weil seine Beschäftigung mit aktuellen

7 gesellschaftlichen und politischen Fragen immer auch verankert ist in der französischen und deutschen Kultur, der Geschichte, der Literatur und vor allem auch der Kunst, im europäischen Kontext. Für ihn sind gerade Musiker historische Beispiele für ein Europa, dessen Grenzen erst in der jüngeren Vergangenheit errichtet inzwischen nach und nach das Trennende verlieren.

Alfred Grosser ist Grenzgänger. Das ist typisch für seine kritische Zeitgenossenschaft. Um Verständnis für die Länder und Kulturen beiderseits des Rheins zu wecken, bedient sich der Humanist immer wieder eines bewährten Prinzips: Er schildert, erklärt, erzählt und mahnt dann stets, doch bitte schön auch die Perspektive der jeweils anderen Seite einzunehmen. Perspektivenwechsel, das ist übrigens ein bewährtes Prinzip der politischen Bildung und schützt vor Selbstgefälligkeit und nationalen Borniertheiten. Geißelt er die Franzosen wegen ihres Hanges zur Selbstüberschätzung, so kritisiert er im Gegenzug die Deutschen wegen ihrer Fähigkeit zum kollektiven Selbstmitleid.

Wer kritische Zeitgenossenschaft pflegt, sitzt nicht selten zwischen den Stühlen. Bequem ist dies nicht. Aber unverzichtbar für eine lebendige demokratische Streitkultur.

(3) Schließlich verdient Professor Grosser als politischer Pädagoge gewürdigt zu werden. Von ihm gibt es keine Einführung in die politische Bildung. Wer jedoch nach Orientierung sucht, wer fragt, was Bürgersein bedeutet; wer fragt, was Identität in einer immer unübersichtlicher werdenden Welt heißt; was gutes Leben in komplexen, mehr und mehr auch durch das Neben- , Mit- und oft auch Gegeneinander der Kulturen gekennzeichneten Gesellschaften ausmacht, der kann sich von seinem Werk anregen lassen. Identität? Pfälzer, Rheinland-Pfälzer, Deutscher, Franzose, Christ, Jude, Moslem oder Atheist, Europäer oder Weltbürger? Alfred Grosser würde antworten: es gibt nicht die Identität, keine deutsche oder französische, keine christliche oder jüdische. Es gibt allenfalls Identitäten. Man sollte nie den bestimmten Artikel im Plural gebrauchen, schreibt er in einem seiner Bücher: die Deutschen, die Franzosen, die Christen, die Araber, die Juden, die gibt es nicht. Denn jede Nation, jede Gruppe, jede Person hat viele Identitäten. Sich dieser selbst und mit Blick auf den oder die Gegenüber bewusst zu werden, Toleranz zu üben und dabei nicht gleichgültig zu werden, darum geht es ihm. Kritische Distanz zu sich selbst, Respekt vor den Identitäten jedes einzelnen, das sind für ihn Maximen einer europäischen Leitkultur.

8 Alfred Grosser wollte sich nie auf die Pflicht zur Wissensvermittlung beschränkt wissen. Er habe sich immer auch als Moralpädagoge verstanden, sagte er einmal in einem Interview. Mir ist kein zeitgenössischer Politikwissenschaftler bekannt, der sich mit einer solchen Leidenschaft mit normativen Fragen beschäftigt; keiner, der sich so mit unseren weltanschaulichen, religiösen und nicht religiösen Wertefundamenten auseinandersetzt. Wer sich einer der beiden christlichen Kirchen zugehörig weiß, wird mit Beschämung sein Buch über „Die Früchte ihres Baumes“ lesen. Es ist ein, wie er selbst sagt, atheistischer Blick auf die Christen. Doch dieser Blick hat nichts von der Kälte einer distanziert-intellektuellen Kritik am organisierten Christentum. Das Buch enthält eine beeindruckende Auseinandersetzung mit existentiellen theologischen Fragen. Da schreibt der ungläubige Bibelliebhaber, wie er in der kirchlichen Liturgie Rührung und spirituelle Anteilnahme empfindet. Oder er schildert, wie er in der religiösen Musik eine Quelle des inneren Lebens entdeckt. Er erzählt, wie intensiv er die kontemplative Dichte einer romanischen Kirche spüren kann. Und er berichtet über seine zahlreichen Kontakte zu Vertretern der beiden Kirchen. Spätestens hier wird dann der Leser von dem gefangen, was man als spirituellen Humanismus bezeichnen könnte.

Alfred Grosser sorgt sich um das Wertefundament einer „Erziehung zur Freiheit“. Genau genommen hat er dabei zwei Freiheiten im Blick. Zunächst die Freiheit, die in jedem Kind und Jugendlichen vorhanden ist. Diese zu erweitern ist für ihn Aufgabe der Erziehung; einer Erziehung zur Freiheit, die er mit Passion, mit Kopf und Herz betrieben wissen will. In der Analyse und Kritik eher pessimistisch setzt er als politischer Pädagoge dann aber doch auf Optimismus, verfolgt ein ethisches Programm: Bürger sein heißt für ihn, sich betroffen fühlen von sozialen Ungerechtigkeiten; heißt Distanz zu sich selbst und seinen eigenen Zugehörigkeiten einzunehmen; heißt schließlich, sich der Freiheit und der damit verbundenen Verantwortung bewusst zu werden.

Als Wissenschaftler der Politik, als kritischer Bürger und Publizist sowie als politischer Pädagoge verkörpert Prof. Dr. Alfred Grosser das, was man einen europäischen Republikanismus bezeichnen könnte; ein Vorbild für „Politikvermittlung und internationale Verständigung“. Deshalb sind wir ihm sehr dankbar dafür, dass wir ihm hier an der Universität Koblenz-Landau die Ehre der Frank-Loeb-Gast-Professur 2009 antragen zu dürfen.

9 Alfred Grosser 60 Jahre Leitkultur der Bundesrepublik Deutschland

Liebe alle, als ich das Thema „60 Jahre Leitkultur der Bundesrepublik“ bekannt gegeben habe, kam sofort die Reaktion, dass wir diese Debatte schon vor ein paar Jahren geführt hätten. Ich habe geantwortet, das war eine falsche Debatte, das war eine Debatte zwischen einem schwarz-rot- goldenem Leitkultursystem und einer, bei der den hessischen Farben noch schwarz hinzugefügt wurde, das heißt schwarz-weiß-rot. Ich habe damals mit dem Ministerpräsidenten Koch über die Art, wie diese Diskussion entstanden war, sehr gestritten, aber auch später, um die Frage, wie man Menschen behandelt, die Deutsche werden wollen. Natürlich weiß jeder von Ihnen, was Caspar David Friedrich auf der Insel Rügen gemalt hat – das stand in Baden- Württemberg im Fragebogen, den die Immigranten auszufüllen hatten, um gute Deutsche zu werden. Außerdem mussten junge Türken wissen, wann das „Wunder von Bern“ stattgefunden hat. In meiner Erinnerung war das übrigens kein Wunder, denn die Deutschen hatten in der Vorrunde den Ungarn die Beine eingeschlagen und haben dann in der Endrunde die geschwächten Ungarn besiegt.

Ich glaube, dass diese Art, Kultur aufzufassen, falsch ist. 60 Jahre Leitkultur stimmt nicht ganz: Es ist doppelt falsch. Es müsste einerseits 64 Jahre heißen, ich werde nämlich mit 1945 beginnen und andererseits spreche ich nicht gerne von 60 Jahren Bundesrepublik, denn es sind 40 plus 20 Jahre. Ich gebe Ihnen nur ein ganz einfaches Beispiel: Als im März 2001 50 Jahre deutsches Außenministerium gefeiert wurde, lud mich Joschka Fischer in ein, um darüber zu sprechen. Vorher war ich bei Wolfgang Thierse und der fragte, was ist eigentlich diese Sache von 1951, das war nicht seine Geschichte, es war nicht die Geschichte der Bürger der DDR, also 40 plus 20, aber sagen wir 60. 1945 hat es angefangen und da entsteht sofort die Frage, die dann von den Kritikern der Bundesrepublik später ausgerufen worden ist: Ist diese Demokratie eigentlich deutsch entstanden, ist sie nicht von anderen auferlegt worden? Vor allem war das jemand wie Walter Jens, der ständig darauf rum ritt. Beides ist richtig: Teilweise ist die Bundesrepublik auferlegt worden - nicht nur, dass sich die Alliierten eingemischt haben in die Definition des Föderalismus und ich immer den französischen Ministern erklären muss, warum Sie keinen deutschen Kulturminister mehr vor sich haben in Berlin, sondern einen Ministerpräsidenten der 16 Länder vertritt. Aber die Frage ist, kann man Demokratie von außen verordnen? Ich bin immer sehr erstaunt, wenn zum

10 Beispiel beim Irak gesagt wird, wie kommt man dazu, demokratische Strukturen oktroyieren zu wollen oder in Afghanistan, was hat man denn in Tokio gemacht und in Bonn? Man hat dort auch demokratische Strukturen von außen angeordnet. Den Ländern, die aber wie im Fall Bundesrepublik eine demokratische Vergangenheit haben und eine Leitkultur, erlaubte dies, dass sich die deutsche Demokratie ausbreitete. Und da muss man zurückblicken zu den Wurzeln. Gestern Abend haben wir eine der Hauptwurzeln der deutschen Demokratie in Hambach gefeiert, die bis zum Jahr 1832 zurückgeht. Hambach ist kein Mythos, Hambach ist das Symbol eines schwarz-rot-goldenen Deutschlands. Schwarz, rot, gold das haben die Brüder oft gesungen. Schwarz wie Pulver, rot wie Blut, gold wie die aufgehende Sonne der Freiheit. Und damals auf Hambach ist es auch international wichtig gewesen, denn Siebenpfeiffer beruft sich in seiner Rede absichtlich erstens auf die Franken unter der Bedingung, dass sie uns nicht bevormunden, und auf der anderen Seite auf den „wackren Pol“, der sich, ich zitiere das Lied von Hambach, „vor dem finsteren Zaren“ nicht beugt. Damals wurden die Flüchtlinge aus Polen aufgenommen, man sorgte für sie. Heute hat man Angst vor den vertriebenen Flüchtlingen und ich sage jetzt schon, dass eine der Schwächen des Grundgesetztes heute ist, dass der Artikel 16 so verändert wurde, dass man das Asylrecht kaum wieder erkennen kann. Also Hambach, das war sehr schön, schwarz-rot-gold, die Freiheit und die Einheit und dann kommt die absurde Diskussion, eine Diskussion, die eigentlich seit einem schönen Buch meiner Kollegin Helga Grebing „Der Sonderweg Deutschlands“ fertig sein sollte, nämlich Deutschland sei unfähig zur Demokratie. Die Revolution von 1848/49 ist geschlagen worden, in Frankreich ist mehr Blut geflossen und dann kam der berühmte Demokrat Napoleon III. Die Demokratie entsteht in Deutschland nur nach Niederlagen. 1870 ist aber die französische Republik durch die Niederlage entstanden, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sind ermordet worden – ich bedaure es, es waren nicht viele. 45.000 Menschen sind bei der Repression der Kommune 1871 von der Republik getötet oder deportiert worden. Der Unterschied ist, dass die pluralistische Demokratie erst spät in Deutschland eingeführt worden ist. Sie wurde ganz am Schluss des Kaiserreichs im Oktober 1918 durch Wilhelm II. eingeführt, weil man wollte, dass die Parteien die Niederlage tragen. Die Verantwortung vor dem Reichstag kam im Oktober 1918 und dann ließ man noch die Parteien in die Regierung rein und so entstand die Legende, dass Weimar und Versailles identisch seien und das man im Rücken erdolcht worden sei, so sagte der Generalfeldmarschall Hindenburg. Ich glaube, dass diese Weimarer Erfahrung wichtig ist, denn es war eine zaghafte Demokratie. Beispiel Artikel 2 der Verfassung von Weimar, die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen linken Ecke. Das ist

11 für mich so ein Zeichen wie eingeschüchtert Weimar von Anfang an gewesen ist. Und doch hat man sich wacker zur Demokratie bekannt bis dann eine Krise ausbrach, wo viele kapituliert haben. Es wird in Deutschland immer die Frage gestellt, die mich eigentlich gar nicht interessiert, wer wusste was, wann von Auschwitz. Mich interessiert, wer dankte wann ab und die erste große Abdankung war die des Reichstages am 23. März 1933. Wenn ich vor Leuten spreche, die was mit der Industrie zu tun haben, mit der Wirtschaft, Randbemerkung: es gibt Wörter, die man nicht in die andere Sprache übersetzen kann, la republique kann man nicht auf Deutsch übersetzen, es hat nicht diesen moralischen Klang, sonst würde sich die extreme Partei nicht Republikaner nennen dürfen. Man kann auch nicht Wirtschaft ins Französische übersetzen. Wirtschaft sind bei uns Mechanismen des Wirtschaftslebens. Bei Ihnen ist Wirtschaft eine Summe von Menschen, vor denen sich noch vor wenigen Wochen das Handelsblatt und die FAZ jeden Morgen verbeugten. Und wenn ich in solchen Kreisen spreche, sage ich immer, bitte erinnern sie sich an den 23. März 1933. Da haben alle Parteien, die für die freie Marktwirtschaft waren abgedankt und Hitler die Macht gegeben, alle Freiheiten abzuschaffen. Nur die Kommunisten gab es nicht mehr im Reichstag, nur die Sozialdemokraten haben nein gesagt im Namen von Freiheit und Sozialismus. Beides Wörter, die nachher als unvereinbar gelten sollten. Dann kam die Abdankung nachdem Hitler da war. Ich glaube, es gibt die Abdankung der Kirche, das war ein Dolchstoß in den Rücken des Zentrums, das dann abgeschafft wurde. Ich gebe ihnen nur ein Beispiel: Ich hatte die Ehre 1994 in Wiesbaden auf einem Kongress der Internisten zu sprechen und verlangte von ihnen Archivdokumente. Sie haben auf deutsche Art sofort alle Dokumente geschickt, in Frankreich wäre das undenkbar, dass alle Dokumente geschickt würden. Bereits im Kongress vom April 1933 erklärte der neue Präsident, dass es schön sei, dass eine Rassenkunde eingeführt worden sei und einiges mehr und es auch gute jüdische Ärzte gäbe, die was geschafft haben z.B Paul Ehrlich, aber vielleicht, weil sie in einer arischen Umgebung gearbeitet haben. Ich könnte dann eine ganz andere Reihe von Beispielen geben von den Abdankungen hintereinander, dass muss man auch in Deutschland publik machen. Ich hatte am 1. September 1989 die Ehre, an einem Abend in der katholischen Kirche in Köln zu sprechen und ich wies darauf hin, was die Kirche 1933 verbrochen hat und am nächsten Tag war ich in der Westfallenhalle beim DGB und wies darauf hin, dass der ADGB damals am 1. Mai 1933 total kapituliert hat. Wenn ich den Katholiken gesagt hätte, wie böse die DGB gewesen wäre, wäre das demagogisch gewesen nicht pädagogisch. Glücklicherweise hat es auch die andere Seite gegeben, nämlich den Widerstand. Und da bin ich immer ein bisschen unglücklich, wenn zu viel vom 20. Juli gesprochen wird. Erstens weil ein guter Teil der Männer, wenige Frauen vom 20. Juli keine

12 Demokraten waren, einige wollten nur, dass die Katastrophe ein bisschen geringer sei, als wie sie sich ankündigte und vor allen Dingen hat der Widerstand 1933 angefangen. Ich habe bedauert, dass jemand, den ich sehr verehre, nämlich Richard von Weizsäcker, vor zwei Jahren in der FAZ einen Artikel veröffentlicht hat, immer im Sinn die Rettung der Ehre seines Vaters, dass man vor der Nacht der langen Messe am 30. Juni 1934 nicht habe erkennen können, dass es ein Unrechtregime sei. Da war Kurt Schumacher über ein Jahr im Konzentrationslager, da war Julius Leber, von dem gleich die Rede sein wird, schon nieder geprügelt worden, da waren die KZs schon offen und so weiter. Da sind schon jüdische Geschäfte zerstört worden und so weiter.

Nein, es hat von Anfang an Widerstand gegeben, es ist unwahrscheinlich schwierig in einer Diktatur Widerstand zu leisten und dann im Krieg, dass muss ich in Frankreich ununterbrochen erklären, war man ja Vaterlandsverräter, wenn man die Niederlage erwünschte. Und wenn Sie die Texte und Briefe des wunderbaren Films, „Die letzten Tage der Sophie Scholl“ sehen, sie wollte nicht einmal Lebensmittel und Kleider an die Ostfront schicken, damit die Niederlage schneller kommen würde. Jene waren Vaterlandsverräter im Sinne von Hans Filbinger oder von Kurt Waldheim, das heißt von denen, die gesagt haben „Ich habe doch nur meine Pflicht getan“. Ich bin stolz darauf, die junge Union aufgepeitscht zu haben, als Sie die Entfernung des Ministerpräsidenten Filbinger forderten. Und ich hätte die Trauerrede anders gehalten. Ich glaube, man muss sehen, was dieser Widerstand bedeutet hat und wie er bei allen Kategorien von Menschen vorhanden war. Das ist die Grundlage der Bundesrepublik. Ich nehme ein Beispiel: Volker Rühe Christdemokratischer Verteidigungsminister spricht am 5. Januar 1995 zur Einweihung der ersten Bundeswehrkaserne in Berlin. Bis dahin durften ja keine deutschen Soldaten in Berlin sein. Er taufte sie auf den Namen des Sozialdemokraten Julius Leber und sagte, der Widerstand sei die Grundlage der Bundeswehr. Übrigens sagte er auch, das sag’ ich in Frankreich immer, in Deutschland weniger, aber heute Abend sage ich es, er sagte Julius Leber sei Elsässer, also auch französischer Kultur. In Frankreich sage ich immer, ich würde sterben, bevor ein französischer Minister sagte, er war Elsässer, also auch deutscher Kultur. Nun hat am 9. Oktober des selben Jahres Volker Rühe in Erfurt für 40 Jahre Bundeswehr und 5 Jahre vereinte Bundeswehr gesprochen und sagte: „Junge Soldaten aus Thüringen dienen in Rheinland Pfalz, Wehrpflichtige aus Niedersachsen in Mecklenburg, sie alle stehen für unsere demokratische Verfassung ein und übernehmen Mitverantwortung für Freiheit und Menschenwürde.“ Das Wort Vaterland fällt nicht, das Wort Nation fällt nicht. Es gibt eine

13 Ethik, die Ethik nämlich der doppelten Ablehnung des Nationalsozialismus in der Vergangenheit und des Stalinismus in der Nachbarschaft. Auf dieser Ethik wurde die Bundesrepublik aufgebaut. Das ist auch die Tradition von Hambach, das ist auch die Tradition von 1848, das ist jenseits des Nationalismus oder diesseits des Nationalismus und ist etwas, was glaube ich, in Europa Platz finden müsste. Ich glaube, dass diese doppelte Ablehnung wesentlich ist, denn dann kommt die Frage der Aufarbeitung. Sie wissen seit 1990, dass sie zwei Aufarbeitungen zu machen haben. Hier vielleicht doch ein Wort nur zur Aufarbeitung der Vergangenheit im anderen Deutschland, d. h. in der ehemaligen DDR. Da gibt’s eine riesige Schwierigkeit, die hier nicht genügend hervorgehoben wird: Ich hatte einmal eine Buchvorstellung mit Schirrmacher von der FAZ in Potsdam über das Schwarzbuch des Kommunismus gemacht. Das Publikum bestand, glaube ich, fast nur aus ehemaligen SED- Mitgliedern. Aber keiner von Ihnen wusste, was in der Sowjetunion geschehen war, sie wussten nichts von der Diktatur der DDR, von Gefängnissen, von Foltern, von Berufsverboten, von Universitätsverboten für die Kinder. Sie wussten wenig über das Ausmaß des stalinistischen Verbrechen, das Ausmaß der Hungerkatastophe, des Holodomors der Jahre 1932-33 in der Ukraine. Sie wussten wenig, wer hätte es Ihnen sagen sollen und nach der Wende hat es Ihnen auch niemand gesagt. Da ging es ausschließlich um die Vergangenheit der DDR, die weniger schlimm war, als die der Tschechoslowakei mit den Prozessen in Prag, weniger schlimm als die Repression in Budapest und doch eine stetige Komplizenhaft mit den schlimmsten Verbrechen außer dem Nationalsozialismus war. Wen kann man verurteilen? Mein Glück ist es, Franzose zu sein und in keiner Kommission in einer Universität in Ostdeutschland zu sitzen, um mit zu entscheiden, wer bleiben darf und wer nicht bleiben darf. Ich kann mich nur erinnern als ich 1990 in Leipzig war traf ich oft die ASTA-Vorsitzenden der Universität. Die waren sehr zurückhaltend, aber als Franzose waren sie nett zu mir, ich bekam dieselben Fragen wie in der Bundesrepublik 1947/ 48/49. Unsere Professoren werden geschätzt, aber was sind dann unsere Diplome wert, was können wir mit unserem Universitätsstudium in der Zukunft anfangen und so weiter. Das ist auch von Westdeutschland nicht behutsam behandelt worden und ich glaube etwas zu sehr bevormundet worden, aber sonst gibt es von der Bundesrepublik sehr positiv zu bewertende Auffassungen darüber, was die Vergangenheit zu bedeuten hat, ich werde gleich sagen, etwas zu gut. In dem deutsch-französischen Geschichtsbuch, das letztes Jahr erschienen ist, habe ich im ersten Band sehr kritisiert, dass das Wort Schuldfrage nicht vorkommt. Denn die Schuldfrage beschäftigt die Bundesrepublik seit 1945. Hier sage ich immer, geht nach Warschau und seht gegenüber des Ghettomonuments das kleine schöne Monument des

14 Kniefalls von Willy Brand, das gegenüber steht und das von den Polen gemacht worden ist. Warum? Weil Willy Brandt 1933 geflohen ist, weil er als junger Linkssoziallist verfolgt wurde und dann gegen Hitler gekämpft hat und weil er als Kanzler der Bundesrepublik nicht die Schuld, nur die Last der Vergangenheit auf seine Schultern nimmt. Das Wort Schuld sollte nicht ausgesprochen werden und von Anfang an, sogar in Nürnberg, gab es nie eine Kollektivschuld. Das ist die eine Seite, die andere Seite ist, ich möchte sagen, ganz hart in der Übertreibung, die deutsche Einstellung zu Israel. Frau Merkel, die ich sehr verehre, hat eine sehr schlechte Rede vor der Knesset gehalten, die hätte jeder Likudführer genauso gehalten. Der Bundespräsident hat eine bessere Rede gehalten und ich glaube, er hat genau gewusst, was er damit meint. Er sagte nämlich vor der Knesset am 2. Februar 2005: „Die Würde des Menschen zu schützen und zu achten ist ein Auftrag an alle Deutsche. Dazu gehört, zu jeder Zeit und an jedem Ort für die Menschenrechte einzutreten, darin will sich die deutsche Politik messen lassen.“ Mein Kommentar hier in den Medien war, er wusste doch, dass die Palästinenser auch Menschen sind und das ist auch nicht konträr zu dem, was Joschka Fischer in Yad Vashem sagte, dass Deutschland mit den Menschheitsverbrechen und der Shoah untrennbar verbunden ist und bleibt und dass wir uns der historisch moralischen Verantwortung für Auschwitz niemals entziehen können. Nur sage ich, völlig im Sinne der Friedenspreisrede von , es darf keine Keule gegen Deutschland geschwungen werden. Jedes Mal, wenn Israel zu Recht kritisiert wird, möchte ich etwas Wesentliches reflektieren. Es ist in Berlin vor drei, vier Tagen etwas geschehen, was mich sehr skandalisiert hat. Da wurde ein neuer Platz eingeweiht, der Herod Platz. Herod ist der Name dieses Dorfes in Israel, auf das die Hamas Raketen abwirft, die manchmal auch einige Menschen töten. Wenn ich nun das Buch von Heiko Flottau, „Die eiserne Mauer“ über Palästinenser und Israelis in einem zerrissenen Land nehme und ich es bei der Bilanz von Gaza aufmache, dann ist dort zu lesen, dass es mehr als 1300 Tote gab, bis auf 13 Israelis alles Palästinenser, darunter 400 Kinder. Familien haben bis zu 30 Mitglieder verloren, es gibt 20.000 beschädigte Häuser, 100.000 Obdachlose, dazu Phosphorbomben, neu entwickelte Explosionsgaranaten usw. Ich habe dann in Berlin gefragt wo, ist der Gaza Platz in Berlin? In Frankreich in den Cevennen liegt ein kleiner protestantischer Ort, der sich seit dem 16. Jahrhundert im Widerstand übt und die haben während des Krieges Hunderte von jüdischen Kindern eingeschult, versteckt und gerettet. Dafür kam der israelische Botschafter 1990 und brachte Ihnen die Medaille der Gerechten unter den Völkern . Der Vorsteher der protestantischen Gemeinde antwortete am Schluss seiner Dankesrede, „eine solche Auszeichnung zu verleihen verpflichtet ebenso sehr wie sie zu empfangen. Da der Botschafter

15 den Staat Israel vertritt und da dieser Ort heute dafür Dank erhält, dass er ehemals Kinder eingeschult, Häuser geöffnet, Menschen aufgenommen hat, auf die in ganz Europa und in Ihrem Vaterland Jagd gemacht wurde, wünschen wir uns, dass die Aushändigung dieser Auszeichnung einer Verpflichtung entspreche, dass es keine geschlossenen Schule für junge Palästinenser gebe, keine durch Dynamit zerstörten Häuser, keine Menschen, die vom Grund und Boden der Vorfahren vertrieben werden und durch Siedler ersetzt werden und die eine andere Antwort auf Steine als Kugeln finden.“ In diesem Sinne ist immer die Frage nach dem jüdischen Gerechten und es trifft sich das Gerechteste vielleicht in einer Frau, die einen furchtbaren Namen trägt, einen deutschen Namen hat, sie ist Jüdin und Israelin, hat bis jetzt in Gaza gelebt, wurde aus der Haft entlassen, unter der Bedingung, dass sie verspricht, nicht nach Gaza zurückzugehen. Sie heißt Amira Hass, sie ist genau der Inbegriff des Gegenteils dieses Hasses. Es gibt ein Buch von ihr über Gaza, in dem sie die Gerechten vertritt, die versuchen, dass alle gerecht behandelt werden. Ich finde, das hier ist die Grundlage, auch in Deutschland eine wirkliche Diskussion zu führen. Und eigentlich sollte die Streitkultur zur Leitkultur gehören. Die Streitkultur ist im Schreien untergegangen, man beschimpft sich, man diskutiert nicht und das gilt vor allen Dingen wenn, von Israel die Rede ist 1. Man drückt sich vor mutigen Entscheidungen und so sehr ich den Germanisten Claudio Magris ehre, der jetzt den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekommt, wir waren Hunderte und ich als ehemaliger Friedenspreisträger besonders energisch, um zu verlangen, das Daniel Barenboim den Friedenspreis bekommt. Aber das wäre eine zu mutige Entscheidung gewesen. Zurück nun zum Beginn der Bundesrepublik und wie sie entstanden ist für diese Grundwerte.

Ich glaube, Sie müssen sehen, dass die ersten Männer, die zwei Männer die wirklich große Arbeit geleistet haben und der, der daraus Profit gezogen hat, Arbeiter waren: Carlo Schmidt und . Profit hat Konrad Adenauer daraus gezogen. Aber der parlamentarische Rat hat gut gearbeitet, so dass das Grundgesetz bis heute noch ziemlich intakt geblieben ist. Was ist die Grundlage des Grundgesetzes? Es ist der Gedanke der Freiheit und es muss betont werden, dass die Bundesrepublik und DDR beide gleichermaßen legitim sind, wenn man von 1945 ausgeht. Jeder von Ihnen, der Bruder und Schwester hat und nach dem Tod der Eltern vergeblich versucht, aus der Gemeinschaft auszutreten, weiß, ob einer austritt oder drei austreten, ist das genau dasselbe. Um noch mal böse zu sein, die drei Sieger und Frankreich haben zusammen die Souveränität der Bundesrepublik aufgenommen, in Besitz genommen

1 Siehe auch: Alfred Grosser: Von Ausschwitz nach Israel, Rowohlt Verlag, Reinbeck, 2009.

16 und haben dann teilweise langsam jeder an sein Deutschland etwas zurückgegeben und die drei anderen an das andere Deutschland. Was war nun die Grundlage? Das war die Freiheit. Die war im Westen und nicht im Osten. Und die Grundlage der Bundesrepublik ist die Freiheit, das ist ein bisschen vergessen worden als ein Teil der Sozialisten und ein großer Teil der evangelischen Kirche das Wort Freiheit nicht mehr aussprechen wollte, um die andere Seite nicht zu kränken in der Zeit der Annäherung 1985, 1988. Und sogar die Ökumene in Genf hatte verkündet, dasselbe was in Stuttgart verkündet worden ist von der EKD, Frieden plus Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Keines der drei Worte konnte im Osten stören. Das Wort Freiheit ist nicht ausgesprochen worden, ich habe das damals sehr kritisiert. Am 8. Januar 1988 war Erich Honecker in Paris und wurde von François Mitterrand Elysée- Palast empfangen. Mitterrands Tischrede im Elysée war fantastisch, er sagte, ich fasse zusammen: „Wir ehren Sie Herr Präsident, Präsident der DDR, weil Sie im Widerstand gestanden haben“. Wir kämpften damals alle für die Freiheit, aber im Westen haben wir diese Freiheit beibehalten und in der Zeit, da in Deutschland immer die Rede vom Dach Europas war, sagt Mitterand: „Was wäre ein vereintes Europa ohne die Freiheit?“ Das war auch eine leise Kritik an einem Teil der deutschen Öffentlichkeit in diesen Jahren 1985 bis 1988, die diese Freiheit etwas vernachlässigte. Vor allem aber ist die Vereinigung im Zeichen der Freiheit erfolgt, was bedeutet laut Artikel 23, das nur die Bundesrepublik legitim war und das alle anderen Deutschen dazukommen konnten in das freie Deutschland. Artikel 146 hätte bedeutet, es gibt eine Synthese zwischen gleich legitimen Verfassungen und in diesem Sinne hat Jacques Delors, der dann Dank bekam von Richard von Weizsäcker, im Gebäude des Reichstages argumentiert, als er dann sagte: „Dies ist die erste Osterweiterung des freien Europas“. Die zweite kam dann 2004. Robert Schuman hatte das vorausgesagt, indem er in seinem letzten Artikel, der im Oktober 1963 erschien schrieb: „Wir wollen das freie Europa nicht nur für uns, wir wollen, dass wir alle Länder, die heute unterdrückt werden und sobald sie dieser Unterdrückung entkommen sind, sollen sie aufgenommen werden und moralisch unterstützt werden. So geschehen 2004. Und in diesem Sinn ist die Bundesrepublik gewissermaßen immer ein Hort der Freiheit gewesen, die allerdings oft in Frage gestellt wird. Ich gebe hier nur zwei Zitate: Ein Zitat ist vom ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichtes Winfried Hassemer vom Juni 2008: „Das Spannungsverhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit hat sich eindeutig zugunsten der Sicherheit verändert.“ Daraufhin hat Wolfgang Schäuble, ich muss gestehen, ein Freund, aber in diesem Punkt sind wir nicht einig, gesagt, dass beide Werte Freiheit und Sicherheit immer wieder neu, je nach sich veränderten Bedingungen, ins Gleichgewicht gebracht werden müssen. Ich finde, dass

17 das Gleichgewicht sich doch sehr verschoben hat und dass der Grundgesetzartikel über die Wohnung, die nicht penetriert werden darf, durch die neuen Methoden nicht mehr gilt.

Ich sagte, die Freiheit ist die Grundlage dieser Leitkultur, was ist Kultur? Da muss ich einen Moment verharren. Kultur das sind drei Dinge: Erstens ist es die schöne Musik, die Literatur usw. Dazu zitiere ich immer gerne wieder eine Untersuchung, die im stern erschienen war. Dort wurde gefragt: Was ist für Sie Kultur? 95 % sagten, „Goethe lesen“, 98 % sagten, „Mozart hören“ und 11% gaben Fernsehen sehen an. Die zweite Frage war, „Was tun sie in Ihrer Freizeit?“ Da sagten dann 80 % Fernsehen sehen. In diesem Sinn ist Kultur etwas, das man ausübt, indem man es anderen anvertraut. Aber ich komme nun auf die zwei Definitionen später. Kultur ist in Gefahr in ihrem ersten tiefen Sinne, und das hat niemand besser gesagt als Horst Köhler in einer wunderbaren Rede, die völlig untergegangen ist, die Presse hat sie kaum erwähnt, ich erkläre gleich warum, fürs Schillerjahr 2005. Köhler sagte: „Stellen sie sich mal vor, man nimmt ein Bild von Caspar David Friedrich, es wird völlig schwarz bedeckt und man schneidet nur kleine Löcher aus, das man ein paar Punkte sehen kann. Was bleibt dann? Genau das machen die Regisseure mit den Theaterstücken und den Opern.“ Meine Rede zum Mozartjahr in Stuttgart ist nicht zitiert worden, denn ich sagte auch, das ist ein ständiger Skandal, dass Blut und Sperma auf der Bühne fließen müssen, damit es schön ist, so dass alles entstellt ist. Und gleichzeitig gilt dies immer als neu, obwohl sich das seit 10 Jahren ununterbrochen wiederholt. Und ich glaube, das ist Kulturzerstörung. Ich wage nicht, meine Enkelkinder in die Oper zu führen, ich weiß ja nicht, was gezeigt wird und ob das überhaupt noch einen Bezug zu dem Werk hat, wie jetzt in einer neuen Aufführung, von Verdis Othello. Wer ist der Bruder, natürlich Jago. Anders kann es ja gar nicht sein, schlecht sind die anderen, Jago ist der Gute, usw. ich könnte also endlos Beispiele geben. Ich habe mit meiner Frau in Berlin eine Zauberflöte gesehen, die spielt in so einer Art Bordellzimmer mit Dusche und Badewanne. Ich glaube, es geht um Folgendes, ich nehme ein musikalisches Beispiel: Nehmen Sie mal an, es kommt jemand und spielt Klavier, mein Lieblingsstück am Klavier, die letzte Sonate D160 von Franz Schubert und plötzlich ersetzt er ein Stück durch Rockmusik, der wird rausgeschmissen. Das heißt, der Interpret ist nicht der Komponist. Wenn jemand Jazz in Klassik einführt, so ist es der Komponist Maurice Ravel in seinen beiden Klavierkonzerten. Ich hätte nichts dagegen, wenn man sagt, Othello nach verdi. Aber heute wird Verdi klein geschrieben, groß geschrieben wird der Name des Regisseurs. Ich glaube, da sind wir bei einer Nicht-Kulturvermittlung, die katastrophal für die Zukunft ist, denn das klassische Theater, das kann ja nur langweilig sein, weil man es als langweilig darstellt.

18 In Wirklichkeit gibt es noch zwei andere Definitionen der Kultur. Die zweite ist der Glaube, die Überzeugung von Werten, die eine Gemeinschaft hat und die dritte, die gute natürlich, ist in der Fragestellung der zweiten enthalten. D.h., was ist die Ethik, die darauf hinweißt, dass man Distanz zu sich selbst nimmt, so wie es Kant in den ersten Sätzen seines Aufsatzes über die Aufklärung fordert. Da müssen wir uns Fragen stellen über die Bundesrepublik und über die Gesellschaft, denn diese Gesellschaft ist weitgehend dabei, auseinander zu brechen, ohne dass dies diskutiert wird. Und doch ist die Frage von Marx im Kapital gestellt worden, nämlich von Marx, Erzbischof von München. Dieser hat darüber ein Buch geschrieben (Reinhard Marx, Das Kapital) und dass ein Hinweis darauf ist, dass die Sozialethik der Kirche sehr weit links von der CDU ist und sehr links von den Zeitschriften der Konrad-Adenauer Stiftung und sehr eindrucksvoll. Und ich glaube, sie müssen sehen, wie sehr heute diese Gesellschaft in der Bundesrepublik, auf die Leitwerte bezogen, auseinander bricht, wenn sie sehen wie der Abstand zwischen immer mehr ganz oben und immer mehr ganz unten wächst. Heute ist in der FAZ ein Leitartikel über die Wirtschaftszeit, wo beschrieben wird, dass sich die Bankiers überhaupt nicht verändert haben, dass selbst da, wo große Verluste gemacht worden sind, also wo schlecht verwaltet worden ist, man noch Gehälter und Abfindungen hat, die überdimensioniert sind. Es gibt Abfindungen von beispielsweise fünf Millionen Euro, das sind 400 Jahre Durchschnittseinkommen und das wird als Lohn gezahlt. Diesen Abstand zu den Durchschnittseinkommen, das gibt es in Frankreich übrigens genauso, müsste zu einer ständigen Revolte führen. Die Manager bekommen Lohnerhöhungen, obwohl Verluste gemacht wurden und schlecht verwaltet wurde, das ist doch absurd. Ich bin kein großer Wirtschaftsexperte, ich kann mich aber auch nicht mehr irren als die Experten. Ich glaube, Sie müssen wahrnehmen, dass wir langsam in beiden Ländern eine dreischichtige Gesellschaft haben, ich lasse viele aus. Auf der einen Seite die ganz oben, deren Kinder Senkrechtstarter sind, denn sie sind in solchen Bedingungen, dass sie nur eine steile Karriere machen können. Immer mehr Arbeitslose oder ungenügend Bezahlte stürzen ab in die Armut. Dazwischen sind Abertausende von Menschen Krankenschwestern, Lehrer, Sozialarbeiter, die immer mehr den Eindruck haben, nicht nur, dass sie schlecht bezahlt werden, sondern dass sie nur dafür da sind, dass es oben ruhig sein kann, damit die unten ruhig bleiben. Ich habe auch Verständnis, wie einige Politiker für das, was bei Ihnen bei den Schließungen der Kinderhorte geschieht. Nun diese Unterschiede sind nicht nur deutsch, sie sind in England und Amerika genauso.

19 Da müssen wir uns die Frage stellen, was sind dann noch unsere Werte. Ein Wert, der uns allen gemeinsam ist, ist Verständnis für das Leiden der anderen. Das ist etwas, was ich versucht habe, einer der beiden Frauen zu erklären, die in Deutschland einen Ruf haben, und die nicht sind, von dem sie sagen, sie seien es. Die eine ist Lea Rosh und die andere Frau Steinbach. Ich hab versucht, Frau Steinbach zu überzeugen, wenn sie sagt, die Polen haben auch gelitten, dass das ein Skandal an sich ist, so etwas zu sagen und ich habe versucht, ihr zu sagen, dass sie mir nicht zu erklären braucht, was die Deutschen gelitten haben. In meinem ersten Deutschlandbuch ( L’Allemagne de l’Occident 1945-1952 , erschienen im Januar 1953) sprach ich ausführlich von den Verbrechen der Bomben auf Dresden und auf Hamburg und von den 12 Millionen Flüchtlingen, von denen Hunderttausende nie angekommen sind. Warum? Weil man von keinem jungen Deutschen verlangen konnte, das Ausmaß der deutschen Verbrechen zu verstehen, wenn man nicht ein Minimum von echtem Verständnis zeige für das Leiden der seinen. Genauso sage ich, heute kann man von keinem jungen Palästinenser verlangen, dass er das Ausmaß der fürchterlichen Bombenattentate versteht, wenn man nicht ein Minimum an Verständnis gezeigt hat für das Hungern und Leiden, der immensen Hoffnungslosigkeit in Gaza und in den „Gebieten“. Das ist das Eine, das uns verbindet. Um Ihnen zu zeigen, was das Gegenteil davon ist, hab ich zwei Beispiele. Nach meinem Buch „Verbrechen in Erinnerung“ bekam ich zwei Briefe von einem katholischen kroatischen Priester und von einem orthodoxen serbischen Priester. Beide warfen mir bitter vor, nicht genügend von Verbrechen gesprochen zu haben, die die anderen gegen die Seinen ausgeübt hatten. Ich habe beiden sehr entschieden geantwortet: Besonders, wenn ihr wähnt, Christ zu sein heißt, müsst ihr euren Leuten erklären, was in deren Namen von Verbrechen an den anderen ausgeübt worden ist. Nur so macht man Frieden. Ich habe einmal in Ankara auf Einladung des französischen Botschafters gesprochen. Dieser sagte mir, „Wir wissen, Sie sprechen, sehr offen. Wenn Sie nur zwei kleine Wörtchen vermeiden könnten, keine drei, nur zwei kleine Wörtchen, nämlich Armenier und Türken“ und ich erwiderte: „Einverstanden“ und sagte zu meinem türkischen Publikum: „Sie müssen verstehen, dass die kerneuropäische Gemeinschaft ein Ort ist, wo jeder von den Verbrechen der anderen sprechen darf und wo jeder von seinen eigenen Verbrechen sprechen soll.“ Also brauchte ich nicht Armenier und Türken zu sagen. Aber das Sprechen darüber findet auch in der Türkei langsam statt. Es gibt nun die Zusatzfrage, in wessen Namen geschieht das? Mit oder ohne Gott? Für mich ist das eine Randfrage, aber für die Gläubigen ist das sehr wichtig. Warum? Erstens, weil sich, wenn es Christen unter Ihnen geben sollte, ich meine bei Christen Leute, die aus dem Glauben leben und nicht nur die Kirchensteuer bezahlen, ihr Gott hat sich ja sehr verändert. Es ist nicht

20 mehr der zürnende Gott, der strafende Gott, so wie es die Gemeinschaft der Piusbrüder heute noch will oder wie es der amerikanische vorherige Präsident wollte und die Fundamentalisten, Gott ist der leidende Mensch geworden. Ich weiß nicht, ob sie den schönen Filme „Joyeux Noël“ gesehen haben, auf altem Deutsch hätte er „Fröhliche Weihnachten“ genannt werden müssen, im modernen Deutsch ist er unter „Merry Christmas“ gelaufen. Darin gibt es zwei Priester, einen schottischen Priester, der die Mitternachtsmesse für alle zwischen den Schützengräben, französische, schottische und deutsche Soldaten, liest und sagt, das ist der schönste Tag seines Lebens, Frieden zu stiften. Und dann kommt sein Bischof, schimpft ihn schickt ihn weg, bestraft ihn, hält eine flammende Hasspredigt, wie alle deutschen und französischen Bischöfe 1914, mit Ausnahme des Papstes, Benedikt des XV., der versuchte, friedlich zu sein. Und all’ diese Hassausdrücke „Gott mit mir, der andere ist total böse“, das hat glücklicherweise eine schöne Rede von Obama weitgehend kaputt gemacht, dass der andere systematisch böse ist, wir sind verbunden und ich habe immer nicht verstehen können, wie der von mir sehr verehrte Kardinal Lehmann, einen Text ablegen konnte, der eigentlich doch für jeden Christen hätte gut sein soll. Ich bin, um etwas persönlich am Schluss zu sein, ich bin innerhalb zweier menschlicher Gemeinschaften präsent, denen ich nicht angehöre, d.h. ich leide mit denen, die dort leiden und ich freue mich mit denen, die sich dort freuen, als Franzose in Deutschland und als Atheist im französischen Katholizismus. Ich glaube, es ist heute kein Problem mehr, im Sinne von dem, was ein befreundeter Erzbischof geschrieben hat, er hat, also ich habe das Buch geschrieben über den Atheismus und meinen Blick auf die Christen. Er machte die Besprechungen brüderlich in der katholischen Zeitung, in der ich seit 1975 schreibe, La Croix , und er lobte mein Buch sehr, warum? Er hat ein Buch geschrieben, in dem er sagt: „Dieses Problem heute ist doch nicht ein Kreuzzug der Gläubigen gegen die Ungläubigen, es ist der gemeinsame Blick auf den leidenden Menschen. Das kann ein Christ genauso praktizieren wie ein marxistischer Humanist. Das haben viele deutsche Bischöfe nicht verstanden, ich rede nicht einmal von Köln, wenn sie immer noch glauben, man muss eine christliche Erziehung gehabt haben, um moralisch zu sein. Das übrigens besagt, dass 90 % der Einwohner der neuen Länder unmoralisch sind. Nein, ich glaube im Gegenteil, dass man in Berlin besonders moralisch ist. Das habe ich durch einen Artikel deutlich gemacht, in dem ich den Bürgermeister Wowereit gegen die Kirchen unterstütze: Denn, wo wird eine muslimische Schülerin erfahren, wo in der 1948er Menschrechtserklärung der UNO steht: Die Frau will den Mann genauso wie der Mann die Frau will, nämlich gleichberechtigt und jeder darf seine Religion verlassen oder seine Religion verändern. Das steht in dieser Erklärung. Im Islam-Unterricht hören junge Muslim/innen nie davon und vielen katholischen Schüler/innen

21 würde es ebenfalls gut tun, zu wissen, wie Entscheidungen aus Rom in den Augen der anderen aussehen mögen. Das ist glaube ich etwas, was sich in Deutschland auch langsam entwickelt, wenn auch mein jüngerer Kollege Ratzinger in Regensburg so gesprochen hat, wie ich acht Tage später nicht gesprochen habe. Er kam als Professor und ich glaube, er wusste nicht, was wesentlich ist. Jeder steht zu der Vergangenheit. Wenn er gesagt hätte, meine Kirche hat Jahrhunderte lang gefoltert gemartert, Massaker gemacht, dank Vatikanum II ist seit 1965 jeder Zwang verboten, aber das war Vatikanum II, dann hätte es keinen Aufruhr gegeben über den Satz wegen dem Islam. Da bin ich beinahe bei meinen letzten Betrachtungen, nämlich über die Toleranz. Ich bin mit diesem Wort aufgewachsen und das schönste Kompliment, das mir gemacht worden ist, war nicht heute Abend, das war in einer Zeitung an einem meiner Geburtstage, ich sei ein Sohn Nathans. Nathan der Weise, das ist wirklich ein schönes Beispiel. Ich bin in diesem Sinn erzogen worden, aber heute schrecke ich zurück von dem Wort Toleranz, denn es bedeutet für viele, für viel zu viele, mir ist egal, was du tust, vorausgesetzt, es ist dir egal, was ich tue. Wenn das ein Lehrer oder ein Vater sagt, du bist nicht tolerant, dankst du als Erzieher ab und das ist eine große Gefahr der Verlust der Werte, dass sie nicht vorgelebt werden, übermittelt werden durch Moral. Ich bin von meinen Kollegen oft kritisiert worden, weil ich immer Moral einfügte, ich habe immer gesagt: Wir sind doch nicht nur da, um Wissen zu vermitteln: Wir in den Sozialwissenschaften, wir sind auch dafür da, etwas anderes zu vermitteln als reines Wissen. Dazu stehe ich, dafür bin ich vorhin sehr schön gelobt worden und ich glaube, wir können sehen, dass die nachfolgenden Generationen nur zu dem kommen, was wir übermitteln. Die Erinnerung an die alten Kämpfe von 1968, ich war auch Präsident eines Studenten-Professoren-Ausschusses, die eine Reform gemacht hat, die heute noch andauert, aber da ist so viel Unsinn damals gesagt worden, u.a. über die Erziehung und die Erziehung ist ein Element der Tradition der guten Tradition der Leitkultur, sie haben in der Bundesrepublik hervorragend pädagogischen Institutionen gehabt, haben noch und diese Pädagogik sollte nicht unterschätzt werden. Und: wir sind die letzte Generation, die an diese Grundwerte glauben, also rufe ich sie dazu in diesem Sinne auf. Vielleicht war das eher eine Predigt als eine Vorlesung, aber das war Absicht.

22 Vita Alfred Grosser

Geb. 1925 in Frankfurt am Main Lebt seit 1933 in Frankreich Franzose seit 1937 Prof.em. am Institut d’études politiques, Paris Präsident des CIRAC (Centre d’information et de recherche sur l’Allemagne contemporaine) Politischer Kolumnist für La Croix und Ouest-France Friedenspreisträger (1975) des deutschen Buchhandels als «Mittler zwischen Franzosen und Deutschen, Ungläubigen und Gläubigen, Europäern und Menschen anderer Kontinente «

Neuere Veröffentlichungen auf dem deutschen Büchermarkt Verbrechen und Erinnerung, Hanser 1990, Dtv 1993 Mein Deutschland, Hoffmann & Campe 1993, Dtv 1996 Wie anders sind die Deutschen? C.H.Beck, 2002 Wie anders ist Frankreich? C.H.Beck, 2005 Die Früchte ihres Baumes. Ein atheistischer Blick auf die Christen. Erw.Übersetzung. Vandenhoeck & Ruprecht, 2005 Von Auschwitz nach Jerusalem. Über Deutschland und Israel. Rowohlt 2009

Jüngste Bücher auf französisch Les identités difficiles, 1996( erw.Neuausgabe 2007) Une vie de Français. Mémoires, 1997 Les fruits de leur arbre. Regard athée sur les chrétiens, 2001 L’Allemagne de Berlin. Différente et semblable. Alvik, 2002 (erw. 2007)

Zusätzliches - Prof. am Inst. d’ét.pol.+ Studien-und Forschungsdirektor an der Fondation nationale des Sciences politiques ( 1956-1992) - Visiting prof. an amerikanischen Univ. (Stanford, Johns Hopkins) - Unterricht an den Univ. Peking (1987), Keio (Tokyo, 1992), Singapur (1994) - Vize-Präs. der International Political Science Ass. (1970-1973) - Theodor-Heuss- Medallie (1978) - Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt (1986) - Wartburg Preis (1994) - Schiller Preis der Stadt Mannheim ( 1996) - Grand Prix de l’Académie des Sciences morales et politiques (1998) - Dr.h.c. (2001) in Birmingham (UK) und in Minsk (Belarus) - Humanismus-Preis der Altphilologen (2002) - Preis des Abraham-Geiger-Kollegs der Rabbinerausbildung (2004) - Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen (2004) - Honorarprofessor Uni.Koblenz/Landau (2009)

- Großes Verdienstkreuz mit Stern und Schulterband - Grand Officier de la Légion d’Honneur - 2004: Namensgebung Centre européen der Uni Metz - 2006 Alfred-Grosser-Schulzentrum Bad Bergzabern (Gymnasium.Realschule.Gesamtschule) - A.G. Lehrstuhl 1992 - Uni Frankfurt 2009

23 Impressum

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Redaktion: Annette Knaut

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