Eine Fields-Medaille für

Manfred Einsiedler

einfachste mathematische Modell eines dynamischen Sys- tems besteht aus dem halb-offenen Intervall X =[0, 1) und der Abbildung Rα(x)=x +α, die den Punkt x auf den Nachkommaanteil der Summe x + α für ein festes α ∈ R abbildet. Einer der grundlegendsten Sätze der Ergodentheorie ist der Ergodensatz von Birkhoff: In einem ergodischen Sys- tem, welches aus einer Abbildung T : X → X auf einem Raum X und einem invarianten Maß μ auf X (in ande- ren Worten einer stationären Integrationsmethode von Funktionen auf X) besteht, gilt, dass der Grenzwert Elon Lindenstrauss XN 1 n lim f (T (x)) (1) N→∞ N Elon Lindenstrauss hat vergangenen Sommer im Rahmen n=1 der Eröffnungszeremonie der ICM 2010 in Hyderabad In- f μ x ∈ X dien eine der vier Fields-Medaillen verliehen bekommen. für jede integrierbare Funktion und -fast jedem x Die Begründung des Preiskommittee für die Entschei- existiert. Hier sollte das „fast jedes “ so interpretiert dung war „. . . for his results on measure rigidity in er- werden: Es kann zwar sein, dass es Punkte gibt, an denen godic theory and their applications to number theory“. obiger Grenzwert nicht existiert, aber statistisch gese- Wir wollen hier kurz seine wichtigsten Arbeiten erläu- hen sind solche Punkte vernachlässigbar. Boltzmanns Er- tern und auch Elon Lindenstrauss als Person vorstellen. godenhypothese besagte ursprünglich, dass die Bahn ei- nes Punktes x, T (x), T 2(x), ... jeden anderen Punkt mit Elon ist in Jerusalem als Sohn von Joram Linden- derselben Energie erreicht. Dies ist aus mengentheore- strauss, Mathematik-Professor an der Hebrew Univer- tischen Gründen (und wenn man kontinuierliche Zeit sity, aufgewachsen. Man kann fast von einer modernen zulässt aus topologischen Gründen) nicht möglich, die Mathematiker-Dynastie sprechen: Eine seiner Schwes- mathematisch korrekte Formulierung dieses grundlegen- tern und ihr Mann sind Mathematiker an der Indiana Uni- den Konzeptes ist folgendermaßen: Falls es keine nicht- versity in Bloomington. trivialen invarianten Teilmengen gibt (d. h. alle messbaren Elon hat an der Hebrew University in Jerusalem studiert invarianten Teilmengen von X haben bezüglich μ Maß 0 μ μ und 1999 mit Benjamin Weiss als Betreuer promoviert. oder 1), dann sagt man, is ergodisch. FallsR ergodisch Elons erste Arbeiten beschäftigen sich mit dem Gebiet ist, dann ist der Grenzwert von (1) durch fdμ gegeben, der Ergodentheorie. und man erhält in diesem Sinn, dass das Mittel über die Zeit gleich dem Mittel über den Raum ist. Zum Beispiel In der Ergodentheorie geht es um statistische Fragen im ist die Abbildung Rα genau dann ergodisch bezüglich dem Gebiet der Dynamischen Systeme und unter anderem um Lebesgue-Maß falls α eine irrationale Zahl ist. die mathematischen Grundlagen (und korrekte Formulie- rung) von Boltzmanns Ergodenhypothese. Die einfachs- Obwohl dieser Satz sehr allgemein ist und sehr viele ver- te Form eines dynamischen Systems erhält man, indem schiedene Fälle für den Raum X, die Abbildung T oder man eine Abbildung T : X → X auf einem Raum X das Maß μ zulässt, gibt es doch Anwendungen (sowohl betrachtet. Eine typische Frage besteht dann darin, die in der Physik und der Zahlentheorie), die Verallgemeine- Bahn x, T (x), T 2(x), ... eines Punktes x ∈ X zu be- rungen benötigen. Eine verallgemeinerte Theorie erhält schreiben. Hier wird X der Zustandsraum (oder Pha- man, wenn man anstatt einer einzigen Transformation T senraum) genannt; z. B. könnte X aus der Menge aller eine ganze Gruppe G von Transformationen auf X zu- Positionen und Geschwindigkeiten von Sonne, Erde und lässt. Zum Beispiel könnte G =∼ Rd sein, und statt ein Mond bestehen. In einer ersten Näherung, ohne Eigenro- Zeitmittel von 1 bis N wie in (1) zu betrachten, könn- tationen einzubeziehen, ergibt sich in diesem Beispiel ein te man über einen d-dimensionalen Würfel [0, L]d der 18-dimensionaler Raum für X. Ein weiteres Beispiel für X Länge L mitteln. Der Ergodensatz von Birkhoff gilt auch besteht aus Positionen und Geschwindigkeiten von allen für G =∼ Rd und ist in diesem und auch anderen Spezial- Atomen in einem abgeschlossenen Raum. In beiden Bei- fällen seit Langem bekannt. Nicht in jeder Gruppe kann spielen ist die Abbildung durch die Zeitentwicklung ge- man solche Zeitmittel betrachten, aber eine sehr natür- geben: Für einen derzeitigen Zustand x ∈ X ist T (x) liche Klasse von Gruppen, auf denen man das Zeitmittel der Zustand nach einer (fest gewählten) Zeiteinheit. Das mit ähnlichen Eigenschaften definieren kann, ist die Klasse

22 FOKUS MDMV 19 / 2011 | 22–24 der mittelbaren Gruppen. Elon hat in einer seiner ersten wir zeigen, dass die Menge der Paare, die die Vermutung Arbeiten [8] den allgemeinen Ergodensatz für jede mit- nicht erfüllt, höchstens Hausdorff-Dimension null haben telbare Gruppe bewiesen. muss. Die leere Menge ist hier nicht ausgeschlossen, und Kurz nach seinem Studium ging Elon in die USA, wo die Vermutung ist trotz dieses Teilerfolges noch offen. er zuerst als Postdoc am Institute for Advanced Studies Das für mich beste Beispiel einer solchen Verknüpfung (IAS) in Princeton, dann in Stanford, am Courant Insti- von Ideen aus verschiedenen Gebieten der Mathema- tute an der NYU in New York, und schlussendlich von tik sind die Arbeiten von Elon und Jean Bourgain an 2004 bis 2009 an der als Professor der Quantum Unique Ergodicity Vermutung von Rudnick tätig war. Am Institute for Advanced Studies begann Elon und Sarnak. Es geht hier um die elementaren Schwin- sich mit Quantum Chaos und Starrheitssätzen für invari- gungen auf hyperbolischen Flächen (die Verallmeinerun- ante Maße zu beschäftigen. Im gleichen Jahr ging ich auch gen der Sinus-Schwingungen auf einem Intervall), genauer in die USA, genauer gesagt an die Penn State, und auch gesagt die Eigenfunktionen des hyperbolischen Laplace- ich arbeitete gemeinsam mit an derartigen Operators. In Sinne der Quantum Physik interpretiert Starrheitssätzen. Elon und ich haben uns dann an der ETH man |φ|2 für eine Eigenfunktion φ als die Dichteverteilung in Zürich während einer Konferenz erstmals getroffen, eines Quantum-Teilchens. Die Vermutung besagt, dass und er hat mich eingeladen, ihn in Stanford zu besuchen. die Verteilung gegen die Gleichverteilung auf der Fläche Dort haben wir unsere langjährige Zusammenarbeit be- strebt, wenn der Eigenwert (die Energie des Teilchens) gonnen. gegen unendlich strebt. Elon beweist diese Aussage in sei- Elon ist in der Mathematik sehr zielstrebig. In unserer Zu- ner Arbeit [9] unter der zusätzlichen Annahme, dass die sammenarbeit hält er oft hartnäckig an seinem Glauben Eigenfunktionen auch Eigenfunktionen der zahlentheore- fest, dass sich etwas Neues zu dem gegebenen Problem tischen Hecke-Operatoren sind. Er erreicht dies, indem beweisen lässt, selbst wenn wir uns schon wochenlang er die oben erwähnte („low entropy“) Form der Starr- (oder jahrelang) die Köpfe zerbrochen haben. Sein Be- heit der invarianten Maße zeigt und dann die notwen- weis für die Starrheit der invarianten Maße für den geo- digen Vorraussetzungen für diesen Satz beweist, eine der däsischen Fluss („low entropy“ method) in [9]ausseiner Vorrausetzungen ist in der gemeinsam Arbeit [2]mitJean Zeit am IAS kann nur aus dieser Hartnäckigkeit resul- Bourgain gezeigt. Hier spielt jedes der Gebiete Darstel- tieren. Ich kann mich gut errinnern, wie ich zum ersten lungstheorie, Zahlentheorie und eben Ergodentheorie ei- Mal diesen Beweis durchgelesen habe und es lange nicht ne entscheidende Rolle, siehe auch [7]. glauben konnte, dass sich am Ende der Knoten auflö- sen wird. Aber zu guter Letzt war ich überzeugt. Kurz Ich will noch zwei Beispiele für solche Verknüpfung von nach dieser Arbeit haben wir die Methode gemeinsam Ideen aufführen. In der gemeinsamen Arbeit [1]vonJean mit Anatole Katok von SL2(R) auf SLn(R) verallgemei- Bourgain, Alex Furman, Elon und Shahar Mozes verwen- nert, siehe [4]. Die endgültige Version der Methode (die den die Autoren Sätze aus Additiver Kombinatorik (sum- technisch nochmals anspruchsvoller war) erschien dann product-phenomenon), um einen Satz in Ergodentheorie 2008 in einer gemeinsamen Arbeit [5] von Elon und mir. zu beweisen. In der gemeinsamen Arbeit [6] von Elon, In diesen Arbeiten geht es darum, invariante Maße für Philippe Michel, und mir verwenden den geodäsischen Fluss oder allgemeineren Gruppen von wir wiederum den Starrheitssatz aus [4] und bekann- Transformationen auf homogenen Räumen zu beschrei- te Subkonvexitätssätze der Dedekind ζ-Funktionen eines ben. Idealerweise will man beweisen dass das untersuchte Zahlenkörpers, um die Gleichverteilung von Idealklassen invariante Maß das Volumenmaß ist. Siehe [3]fürweitere von kubischen Zahlenköpern zu beweisen. einführende Erläuterungen zu dem Thema Starrheit der In 2009 trat Elon eine Professur an der Hebrew Univer- invarianten Maße. sity in Jerusalem an. Er lebt jetzt dort gemeinsam mit sei- Ein weiteres Kennzeichen von Elons Arbeiten sind die ner Frau und drei Töchtern in seinem Haus in der Nähe zahlreichen Verknüpfungen von Ideen aus verschiedenen der Universität und nur wenige Gehminuten von seinem Teilgebieten der Mathematik. In unserer gemeinsamen Elternhaus entfernt. Arbeit [4] mit Anatole Katok haben wir zum Beispiel die Starrheit der invarianten Maße verwendet, um folgendes Resultat in dem Gebiet der Diophantischen Approxima- tion zu beweisen. Littlewood hat um 1930 vermutet, dass Literatur man für je zwei reelle Zahlen α1,α2 ∈ R rationale Ap- p p proximationen 1 , 2 finden kann, so dass das Produkt q q [1] J. Bourgain, A. Furman, E. Lindenstrauss, S. Mozes. Stationary p p measures and equidistribution for orbits of nonabelian semigroups q3 |α − 1 ||α − 2 | 1 q 2 q on the torus. J. Amer. Math. Soc. 24 (2011), no. 1, 231–280. [2] J. Bourgain, E. Lindenstrauss. Entropy of quantum limits. Comm. beliebig klein gemacht werden kann. Es ist relativ leicht Math. Phys. 233 (2003), no. 1, 153–171. (α ,α ) zu zeigen, dass (Lebesgue-)fast alle Paare 1 2 dies [3] M. Einsiedler. What is . . . measure rigidity? Notices Amer. Math. erfüllen. Mit der Starrheit der invarianten Maße konnten Soc. 56 (2009), no. 5, 600–601.

MDMV 19 / 2011 | 22–24 FOKUS 23 [4] M. Einsiedler, A. Katok, E. Lindenstrauss. Invariant measures and Prof. Dr. Manfred Einsiedler, ETH Zürich, the set of exceptions to Littlewood’s conjecture. Ann. of Math. (2) Departement Mathematik, Rämistraße 101, 8092 Zürich 164 (2006), no. 2, 513–560. [email protected] [5] M. Einsiedler, E. Lindenstrauss. On measures invariant under dia- gonalizable actions: the rank-one case and the general low-entropy method. J. Mod. Dyn. 2 (2008), no. 1, 83–128. [6] M. Einsiedler, E. Lindenstrauss, Ph. Michel, and A. Venkatesh. Manfred Einsiedler hat 1999 in Mathe- Distribution of periodic torus orbits and Duke’s theorem for cubic matik an der Universität Wien pro- fields. To appear, Annals of Math. moviert. Schwerpunkt seines Studiums war die Theorie der mehrparametri- [7] M. Einsiedler, T. Ward. Arithmetic Quantum Unique Er- schen Dynamik. Von 2001 bis 2009 godicity for Γ\H. http://math.arizona.edu/~swc/aws/10/ arbeitete er an mehreren Universitä- 2010EinsiedlerNotes.pdf ten (Penn State University, Washing- [8] E. Lindenstrauss. Pointwise theorems for amenable groups. Elec- ton State University, Princeton Univer- tron. Res. Announc. Amer. Math. Soc. 5 (1999), 82–90 (elec- sity, ) in den USA. tronic). 2009 kehrte Manfred Einsiedler nach [9] E. Lindenstrauss. Invariant measures and arithmetic quantum uni- Europa zurück, um eine Professor an que ergodicity. Ann. of Math. (2) 163 (2006), no. 1, 165–219. der ETH Zürich anzutreten.

Eine Fields-Medaille für Cedric Villani

Felix Otto

lung widmet, hat mich schon beeindruckt, als ich ihn kurz nach seiner Promotion kennenlernte.

Die Boltzmanngleichung und der Trend zum Gleichgewicht

Ein fundamentales Modell, anhand dessen Villani diese Frage studiert hat, ist durch die Boltzmanngleichung ge- geben. Die Boltzmanngleichung liegt auf halbem Wege zwischen den Newton’schen Bewegungsgleichungen für Cedric Villani (Foto: Pierre Maraval) die Fluidpartikel und den Navier-Stokes-Gleichungen für viskose Fluide. In Letzteren ist die Reibung (d. h. inne- re Reibung oder Viskosität) und damit die Irreversibilität Angefangen mit der Dissertation über die Habilitation und der Trend zum Gleichgewicht explizit eingebaut. bis hin zu der Arbeit, für die Cedric Villani mit der Fields-Medaille ausgezeichnet wurde, zieht sich ein The- Zunächst scheint es so, als wäre die Boltzmanngleichung ma wie ein roter Faden durch die meisten seiner Veröf- ein getreues Abbild der Newton’schen Mechanik – nur fentlichungen: Was ist der Ursprung und das Wesen von auf einer anderen Beschreibungsebene: Statt den Zustand Reibung in Flüssigkeiten, Gasen und Plasmen? Diese Fra- durch die Positionen {Xi }i=1,··· ,N und die Geschwindig- ge ist gleichsam von philosophischem Interesse: Obwohl keiten {Vi }i=1,··· ,N der (idealisiert kugelförmigen und die einzelnen Partikel, z. B. Gasmoleküle oder Elektro- identischen) N  1 Teilchen zu beschreiben, wird der nen, der zeitumkehrbaren Newton’schen Mechanik (oder Zustand durch eine Anzahldichte F(t, x, v) dx dv im gar der Quantenmechanik) genügen, verhält sich das ge- Phasenraum von Orts- und Geschwindigkeitskoordina- samte Medium effektiv so, als wäre die Zeit nicht um- R3 × R3 tenR beschrieben: Durch Integration der Dich- kehrbar. Zum Beispiel streben räumlich lokal gemittel- te A F(t, x, v) dx dv erhält man also die Gesamtzahl te Größen, etwa die Geschwindigkeitsverteilung, einem der Teilchen zu einem Zeitpunkt t mit Position und Ge- Gleichgewicht entgegen. Aus mathematischer Sicht stellt schwindigkeit in einer Teilmenge A des Phasenraums. Die sich die Frage wie folgt: Wie entsteht aus einem zeitum- Boltzmanngleichung hat die einfache Form: kehrbaren (riesigen) System von gewöhnlichen Differen- tialgleichungen ein effektiv irreversibles Verhalten für ge- ∂t F(t, x, v)+v ·∇x F(t, x, v) mittelte Größen? Die mathematische Phantasie und hart- ` ´ = Q F(t, x, ·), F(t, x, ·) (v). näckige Konsequenz, mit der sich Villani dieser Fragestel- (1)

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