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Internationale Presse Unschlagbar in Selbstzerfleischung Vor der Brexit-Abstimmung nimmt sich die britische Politik selbst auseinander

Henning Hoff | Wenn sich Großbritan- nig Understatement später als „kei- niens Boulevard- und seriöseren Zei- ne gute Woche“ bezeichnete. Diese tungen in ihren empörten Bra­chial- „Enthüllung“ nimmt sich, bei Lichte Schlagzeilen einig sind, heißt das für betrachtet, allerdings eher banal aus den Gegenstand der Berichterstat- und kann nur diejenigen überrascht tung meist nichts Gutes: so auch am haben, die in den zehn Jahren, in de- 8. April, als die ganze Fleet Street nen Cameron an der Spitze der Kon- Premierminister ins servativen Partei steht, noch nicht Visier nahm. „Die geheimen 30 000 mitbekommen haben, dass der briti- Pfund des Premiers, versteckt in der sche Premier aus einer einigermaßen Steueroase“, kreischte der linke Daily wohlhabenden Familie stammt. Mirror; „Premier: Ja, ich HABE von Camerons 2010 verstorbener Vater Steueroase profitiert“, druckte die Ian, ein Börsenmakler, war seit den rechte Daily Mail in größten Lettern. achtziger Jahren einer von fünf Di- „Cameron gibt endlich zu: Ja, ich habe rektoren des in Panama gegründeten aus Offshore-Fonds meinen Nutzen und auf den Bahamas registrierten gezogen“, hieß es beim linkslibera- Investmentfonds Blairmore Holdings. len Guardian­ , „Ich HATTE Offsho- An diesem Fonds hielten auch Came- re-Geld“, beim konservativen Daily ron und seine Frau Samatha Antei- Telegraph. Nur das auflagenstärkste le, die sie allerdings für etwas mehr Blatt, die Sun aus dem Hause Rupert als 30 000 Pfund verkauften, bevor Murdoch, fand eine angeblich Pro- Cameron in Nummer 10 Downing minente involvierende Sexgeschich- Street einzog. Gewinne versteuer- te, über die nicht berichtet werden ten sie, wie auch der Rest der Familie darf, noch bedeutender. Aber auch sie ­Cameron, stets korrekt. brachte auf Seite eins noch die Zeile Die eigentliche „Verfehlung“ des „Cams 31 000-Steueroase“ unter. Premierministers, seiner Pressespre- Das Schlagzeilen-Fegefeuer war cher und Spindoktoren war, fünf Höhepunkt der Cameron’schen Ver- Tage lang darauf beharrt zu haben, wicklung in die „“, dies sei eine Privatangelegenheit. was der Premierminister mit ein we- (Am Ende veröffentlichte Cameron

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sogar seine Steuererklärungen der nigreichs, votierten Schottland, Wa- vergangenen sechs Jahre, Finanzmi- les und Nordirland mit 60:40-Mehr- nister George Osborne und Oppositi- heiten für einen Verbleib, in England onsführer von der La- dagegen eine 53:47-Mehrheit für den bour Party folgten auf dem Fuße.) So Austritt – ausgenommen das kosmo- erst konnte der Medientsunami, der politische London, wo die Proeuropä- eher ein Sturm in der sprichwörtli- er ebenfalls deutlich in der Überzahl chen Teetasse war, überhaupt entste- seien. hen – und auch deshalb, weil sich in Die fast ausschließlich englische der britischen Politik derzeit alles um Tory-Fraktion spaltet sich in der Mit- die für den 23. Juni anberaumte Bre- te: 150 der 330 Abgeordneten haben xit-Volksabstimmung dreht. bereits erklärt, für den Die Schlagzeilen dürften der Kam- Brexit zu stimmen; es bro- Nicht nur das König- pagne für den Verbleib („Remain“) in delt unter den Konservati- reich, auch die Tories der EU, die Cameron anführt, zumin- ven. Mit Arbeits- und So- dest nicht geholfen haben – und sei es zialminister Iain Duncan sind gespalten nur insofern, als sie Proeuropäer ab- Smith trat im März ein halten, zur Wahl zu gehen. „Animo- Pro-Brexit-Kabinettsmitglied zurück sitäten gegenüber dem Establishment, – angeblich über (zuvor mitgetragene) zumindest unter den politisch Akti- Einschnitte bei Sozialleistungen für ven (zugegebenermaßen eine große Behinderte. Einschränkung), sind weit verbrei- tet“, schrieb der „Bagehot“-Kolum- Innerparteilicher Bürgerkrieg nist des Economist auf seinem Blog „Die Tories führen Bürgerkrieg“, (10. April) und wies darauf hin, dass konstatierte das linke Wochenmaga- sich nicht nur die Labour-Opposi­ zin New Statesman (8.–14. April) und tion hämisch gefreut hatte, sondern schilderte, „wie Cameron die Kont- besonders Camerons EU-feindliche rolle über seine Partei verlor“. „Der Gegenspieler in den eigenen Reihen, Kampf dürfte noch unangenehmer, die die „Leave“-Kampagne unterstüt- schmutziger und mörderischer wer- zen. Am Ende sprangen Cameron mit den“, schrieb der Autor der Titelge- Bildungsminister Michael Gove und schichte, Simon Heffer, und zitier- mit Boris Johnson, dem für sein ko- te ein proeuropäisches Kabinetts- mödiantisches Talent beliebten Bür- mitglied, das anonym bleiben wollte: germeister Londons, zwei prominen- „Wenn wir für den Austritt votieren, te „Brexiteers“ bei. treten wir aus. Das war’s dann, auch Die Brexit-Frage spaltet das Land für Cameron. Aber das wahre Alb- wie keine andere, besonders aber die traumszenario ist eine knappe Mehr- Tories. „Die Europa-Frage ist anders“, heit für den Verbleib. Dann wird es schrieb der Präsident des Umfragein- wirklich hässlich.“ stituts YouGov, Peter Kellner, im Ma- Die Europa-Debatte rufe bei den gazin Prospect (April-Ausgabe), „hier Tories nicht nur deshalb so große bestehen ungewöhnlich tiefe Gräben Leidenschaft hervor, weil grundle- in der öffentlichen Meinung.“ Schaue gende nationale Fragen berührt sei- man zum Beispiel auf die Bestandtei- en, schrieb Andrew Gimson, Bio- le des gar nicht so Vereinigten Kö- graf Boris Johnsons und konservati-

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ver Kommentator, in den Op-Ed-Spal- Karrieren in der Parteizentrale der ten der (25. März), Konservativen Partei am Smith Squa- „für viele Teilnehmer ist es auch ein re arbeiteten, kümmerten sich nicht Kampf gegen die persönliche Unbe- allzu sehr um die Sorgen der Abgeord- deutsamkeit“. neten. Beide litten „unter der defor- Mit William Hague, Iain Duncan mierenden Selbstsicherheit des politi- Smith und Michael Howard hätten schen Beraters, ungeduldig gegenüber sich die Tories nach dem Machtver- Widerspruch“; seit dem Wahlsieg von lust 1997 drei euroskepti- 2015 sei die Regierung „noch zen- Die bemitleidens- sche – und zugleich schwa- tralistischer“ geworden, das „Duo- werte Opposition ist che – Parteiführer geleis- pol aus Nummer 10 und Nummer 11 tet, bis sie mit Cameron Downing Street“ (dem Amtssitz des keine Alternative den Weg zurück in die Re- Finanzministers) regiere das Land, gierung gefunden hätten. nicht das Kabinett. Das Referendum – „ein seltsamer Dass sich die Konservativen wie Weg übrigens, die Souveränität des schon Anfang der neunziger Jahre zu Parlaments zu verteidigen“ – und das Zeiten Premierministers John Major Werben für den Brexit sei für viele der die Köpfe gegenseitig einschlügen, Nie-zum-Zuge-Gekommenen die letz- liege aber auch an dem bemitleidens- te Chance auf die Karrierewende, und werten Zustand der Labour-Opposi- sei es nur, um nach einem knappen tion und ihrem schwachen altlinken Sieg der „Remain“-Kampagne zur Be- Parteiführer Corbyn, so Forsyth – ruhigung der innerparteilichen Lage ein Punkt, in dem sich praktisch alle mit einem guten Posten belohnt zu politischen Beobachter einig sind. werden. „Die Grabenkämpfe der neunziger Jahre wurden von der Einsicht be- Fleischfressender Virus feuert, dass die nächste Wahlnieder- „Frische Sporen des alten fleischfres- lage unausweichlich war. Gegen Tony senden Virus haben sich tief in poli- Blair konnte man nicht gewinnen, tische Körper der Tories eingenistet“, da konnte man genauso gut sich ge- urteilte FT-Politikkommentator Jan- genseitig schlagen“, schrieb Forsyth. an Ganesh (21. März). „Der nächste „Dieses Mal geschieht es aus dem Parteiführer oder die nächste Partei- Gefühl heraus, dass man die nächste führerin muss über Managementqua- Wahl gar nicht verlieren kann, egal litäten verfügen, die über die eines was passiert. Die Tories schauen auf Major oder Cameron hinausragen. Corbyn und ziehen den Schluss, dass Und die Briten müssen hoffen, dass sie einander gefahrlos zu Klump hau- die Nation trotz ihrer Politik pros­ en können.“ perieren kann.“ Es sind nur eine Handvoll La- „Niemand beherrscht politische bour-Abgeordneter – darunter aus- Selbstzerfleischung so gut wie die gerechnet die aus Bayern stammende Tories“, pflichtete auch der Politik- Gisela Stuart –, die offen für den Bre- chef der konservativen Zeitschrift xit eintreten. Doch auch von Partei- The Spectator, James Forsyth, bei führer Corbyn weiß man, dass er kein (26. März). Cameron und Osborne, Freund der EU ist (aber der IRA, der die vor dem Beginn ihrer politischen Hamas und Wladimir Putins Russ-

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land), auch wenn er am 14. April EU zu verlassen. Boris Johnson ge- über seinen Schatten sprang und sei- winnt in zweiter Runde gegen Ge- nen Parteianhängern empfahl, die EU orge Osborne die Führerschaft der „mit all ihren Fehlern“ („warts and Konservativen und wird Premiermi- all“) zu unterstützen. nister.“ Im Cabinet Room bringt Sir Corbyns „Fähigkeit“, selbst von Jeremy Heywood, Britan- Steilvorlagen der Regierung verläss- niens oberster Staatsdie- Sollte es zum Brexit lich nicht profitieren zu können, hat ner, Johnson schonend kommen, sieht die legendäre Züge angenommen. „Der bei, dass die beiden gro- Labour-Chef hat den Ball nicht, wie ßen Versprechen der „Le- Zukunft gruselig aus manche meinen, über die Latte ge- ave“-Kampagne – Rückge- setzt“, urteilte der politische Kom- winnung der Kontrolle über die eige- mentator der Sonntagszeitung The nen Grenzen, weil man die EU-Frei- Observer, Andrew Rawnsley, nach zügigkeit von Personen nicht länger dem geräuschvollen Rücktritt Dun- mittrage, und weiterhin freien Zu- can Smiths, aus dem Corbyn kein Ka- gang zum EU-Binnenmarkt – einan- pital schlagen konnte (27. März). „Er der ausschließen. ist noch nicht mal mit dem Fuß an „Boris“ fliegt nach Berlin, um „die den Ball gekommen. War er zu sehr wahre Anführerin Europas“ für sich damit beschäftigt, Listen von Verrä- zu gewinnen. Angela Merkel emp- tern in den eigenen Reihen aufzustel- fängt ihn herzlich und verspricht, len? War er im Schrebergarten zu sehr bei einem fairen Deal für Großbri- mit seinen Kürbissen beschäftigt, um tannien zu helfen; danach hört der die Nachrichten zu verfolgen?“ neue Premierminister lange nichts. „Wir haben es mit einer Feed- Dann ein Anruf von „Aunt Angela“: back-Schleife zu tun, bei der die Zer- Deutschland würde Großbritanni- würfnisse innerhalb der Labour-Par- en ja gern verbesserten Zugang zum tei die bei den Konservativen vertie- Binnenmarkt gewähren, aber die fen und umgekehrt“, so Rawnsleys EU-Kommission sage, das sei illegal, Fazit. „Es ist möglich, dass wir vor das EU-Parlament wolle davon nichts Jahresende Versuche innerhalb der hören, und die Franzosen erst … Und beiden großen Parteien erleben, den als Johnson den Hörer sinken lässt Anführer zu stürzen.“ Großbritan- und sich ein großes Glas Whiskey ein- niens politische „terra“ werde immer schenken will, sagt Merkel, es gebe da mehr „incognita“. schon eine Sache. Und nach einer lan- gen Pause: „Würden Sie 200 000 syri- „Nightmare on Downing Street“ sche Flüchtlinge aufnehmen?“ Die unterhaltsamste – und zugleich gruseligste – Zukunftsvision („Night- Dr. Henning Hoff mare on Downing Street“), im Stile ist Redakteur von Inter- des Schriftstellers P.G. Wodehouse, nationale Politik und Berlin Policy Journal. entwarf der außenpolitische Kom- mentator Gideon Rachman in der Fi- nancial Times (12. April): „Der Mor- gen des 24. Juni. Die Briten haben sich knapp dafür entschieden, die

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