Rundbrief |1 BAG Antifaschismus der Partei DIE LINKE 2018 INHALT

EDITORIAL ...... 3 Julia Wiedemann

AKTUELLES ZUM ANTIFASCHISMUS . THEORIE UND PRAXIS

AfD und Gewerkschaften ...... 4 Rüdiger Lötzer

Der Nahost-Konflikt in der Ära Trump ...... 6 Tsafrir Cohen, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro in Israel

Hajo Funke: Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz . . . . . 8 Rezension: Dr . Roland Bach

»Ein aufhaltsamer Aufstieg«. Alternativen zu AfD & Co. . . . . 15 Vorwort des Buches Dr . Gerd Wiegel

Die Saboteure der Aufklärung ...... 18 Nach über 430 Tagen endete der NSU-Prozess vor dem OLG München: Bundesanwaltschaft, Verfassungsschutz und Gericht haben Merkels »lückenlose Aufklärung« verhindert Friedrich Burschel

»Linke Gewalt« als politisches Konstrukt ...... 22 Interview mit Friedrich Burschel

Partikularismus oder Universalismus? ...... 26 Neue Veröffentlichungen zur christlichen Rechten machen Kulturkampf innerhalb der Kirchen deutlich Helge Meves

GESCHICHTLICHES . TEXTE UND REZENSIONEN

Russischer Emigrantenfaschismus in Deutschland zwischen 1918–1933 ...... 28 Prof . Dr . Karl-Heinz Gräfe

Marga Voigt : . Die Briefe 1914 bis 1933 ...... 36 Rezension: Dr . Hartmut Henicke

Erika und Gerhard Schwarz: Das Rittergut Garzau und jüdische Zwangsarbeit ...... 38 Rezension: Dr . Horst Helas Das »andere Deutschland« oder »die unbekannte DDR«? Siegfried Prokop wagt einen differenzierten Blick von links auf den zweiten deutschen Staat ...... 40 Rezension: Dr . Holger Czitrich-Stahl

Hartmut König: Warten wir die Zukunft ab. Autobiografie . . . 43 Rezension: Dr . Horst Helas

Jürgen Israel Löwenstein (1925–2018) ...... 45 Dr . Horst Helas

Der lange Weg zur Gerechtigkeit. Siegfried Grundmann: Der lange Weg bis zur Rückgabe und Entschädigung. Albert Einsteins von den Nazis konfisziertes Eigentum...... 47 Rezension: Dr . Günter Wehner

Der lange Schatten der NS-Vergangenheit Manfred Görtemaker/Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit ...... 48 Rezension: Dr . Günter Wehner

Ursula Suhling: Wer waren die 999er? Strafsoldaten in Wehrmachtsuniform – deportiert vom Hannoverschen Bahnhof ...... 50 Rezension: René Senenko

Rundbrief ISSN 1864-3833 Der Rundbrief erscheint bei Bedarf, mindestens zweimal im Jahr, und wird herausgegeben von der AG Antifaschismus beim Bundesvorstand der Partei DIE LINKE . V .i .S .d .P . Julia Wiedemann

Adresse: Kleine Alexanderstraße 28, 10178 Telefon: 030 24009-216 E-Mail: julia .wiedemann@die-linke .de

Gegenstand der Rundbriefe sind Analysen, Erfahrungen, Nachrichten, Rezensionen und Untersu­chungen zum Thema Rechtsextremismus und rechter Zeitgeist . Damit soll die antifaschistische Arbeit demokratischer Organisationen und ­interessierter Personen unterstützt werden . Der Rundbrief ist über die AG zu beziehen . Zuschriften und Beiträge sind willkommen .

Titelbild: Frank Schwarz/Bundestagfraktion DIE LINKE Redaktionsschluss: August 2018 Layout und Satz: MediaService GmbH Druck und Kommunikation EDITORIAL

Dieser Rundbrief ist etwas besonderes . Er erinnert mit mit Geschichte« war und ist uns besonders wichtig . Kri- seinem Titelfoto – Gruppenporträt aller 67 Bundestags- tische Sichten auf verschiedene historische Ereignisse abgeordneten der LINKEN – an eine vor einiger Zeit auf- und Prozesse sowie selbstkritische Bewertungen dazu gekommene Metapher für die Befindlichkeit der Partei: sind für Linke seit langem ein Grundzug des Wirkens . das strategische Dreieck: Patei, Bundestagsfraktion Dabei ist vieles differenzierter und tiefschürfender zu und Rosa-Luxemburg-Stiftung . behandeln, aber die Grundrichtung stimmt .

Für den Rundbrief der Bundes-AG Antifaschismus ge- Die Themenvielfalt und die unterschiedlichen persön- hört es zu den Prinzipen, über alle drei Seiten dieses lichen Sichtweisen, die die LINKE auszeichnen, noch Dreirecks zu berichten, das spezifische Gewicht jeder beser widerzuspiegeln, das war bisher ein zentrales der drei und die Beziehungen zueinander zu dokumen- Kennzeichen unseres Rundbriefes . Alle sind aufgeru- tieren . Dabei geht es darum, mit dem Rundbrief die Viel- fen, diese Tradition fortzusetzen . falt der Ansichten zu zeigen, um die Leser anzuregen, sich selbst ein Bild zu machen . Noch eines . Das recht späte Erscheinen dieses Hefes 1/2018 erinnert an ein oft bemängeltes Problem, die Die aktuelle Bundestagsfraktion hat erstmals mehr in Redaktion des Rundbriefes muss möglichst langfristig den westlichen Bundesländern gewählte Abgeordnete . in jüngere Hände gelegt werden, ohne früher geborene Stolz sind wir darauf, dass Sören Pellmann in Leipzig ein Genossen zu verprellen . Direktmandat gewonnen hat . Das Schlagwort von der Im 2 . Halbjahr 2018 sollte es mit der Neuwahl des Spre- politischen Kleinarbeit bestimmt das Leben vieler Ge- cherrates unserer Bundes-AG gelingen, mit einem ver- nossen . Weniger wichtig ist wohl eine Bewertung, wie jüngten Redaktionsteam dem gerecht zu werden . gut die Partei gerade »geführt« wird . Das antifaschistische Engagement so vieler jüngerer Im Alltag unserer antifaschistischen Bemühungen ha- Mitlieder und Sympathisanten unseer Partei, das wir ben wir es jetzt auch mit der AfD zu tun, die in den mit Freude und Genugtuung sehen, ist eine wichtige Bundetag mit einer lautstarken Fraktion eingezogen ist . Strömung praktischen Handelns, es ist seit langem eine Eine qualitativ neue Herausforderung, der es kontinuier- erklärte Grundrichtung des Wirkens in unserer Partei . lich und kreativ zu begegnen gilt . Mit diesem Rundbrief werden dafür Anregungen vermittelt .

Aus verschiedenen Gründen spiegelt dieses Heft mehr Julia Wiedemann, als andere ein Grundanliegen unserer Arbeit seit Bildung Sprecherin der BAG Antifaschismus der Bundes-AG Antifaschismus wider . »Linker Umgang der Partei DIE LINKE

3 AKTUELLES ZUM ANTIFASCHISMUS . THEORIE UND PRAXIS AfD und Gewerkschaften

Das Thema Rechtspopulismus bzw . »Rechtsextremis- Es ist wirklich schade, dass diese gute Regelung bis mus und Gewerkschaften« gewinnt aktuell an Aufmerk- heute nur wenig Nachahmung in anderen gesellschaft- samkeit . Das ist gut . Je mehr Menschen sich dem Vor- lichen Bereichen gefunden hat . Und es ist ein bleiben- dringen der AfD entgegenstellen, umso besser . Um die der Skandal, dass nur in den Betrieben alle Beschäftig- Rechtsentwicklung in der Gesellschaft zu stoppen und ten, gleich welcher Nationalität, selbstverständlich das umzukehren, die braune Brut maximal zu isolieren und aktive und passive Wahlrecht zum Betriebsrat haben, zu bekämpfen, sind Betriebe und Gewerkschaften ein während noch immer etwa ein Zehntel aller Erwachse- wichtiges Feld . Da ist jede Mithilfe bei der Gegenwehr nen – in Großstädten wie Berlin, München, Hamburg, erwünscht . Und sie ist – wenn diese kleine Stichelei er- usw . sogar 20 bis 30 Prozent – gar kein Wahl- laubt ist – sicher nützlicher als das derzeit anscheinend recht zu irgendeinem Parlament haben . beliebte öffentliche Toterklären von Bündnisoptionen, ständige Talkshows mit AfD-Funktionären und gemein- Aber zurück zum Ausgangsthema . Mehrere »Risikoge- sames Fußballspielen im Sportclub des Bundestags . biete« sahen Hauptamtliche wie Ehrenamtliche in der IG Metall schon Anfang 2016: Dass wir mit der AfD ein »Thema« haben werden, um es – Erstens große Konzerne wie Daimler, Airbus, ZF, wo im »IG Metall-Sprech« zu sagen, war dem Verfasser die- sich angeblich »Unabhängige« oder »christliche« Kan- ses Aufsatzes und den Verantwortlichen in der IG Metall didaten zum Betriebsrat am ehesten einnisten und spätestens Anfang 2016 klar, als die AfD in den Land- antreten . Bei Daimler gibt es traditionell an vielen tagswahlen in Baden-Württemberg in Mannheim ein Di- Standorten »Listenwahlen«, bei denen die IG Metall rektmandat errang und mit 15,1 % der Stimmen die SPD gegen andere Listen antritt – linke und rechte »Oppo- im »Ländle« deutlich hinter sich ließ . Seitdem standen – sitionelle« ebenso wie »christliche« Listen von CGM auch und gerade mit Blick auf die nun laufenden Be- (»Christliche Gewerkschaft Metall«) & Co . triebsratswahlen – alle Warnlampen auf »rot« . – Zweitens Konzerne wie Siemens und andere, die zur Schon ein halbes Jahr davor hatte sich der neu gewählte Schwächung der DGB-Gewerkschaften zum Teil aktiv Vorsitzende der IG Metall, Jörg Hofmann, klar positioniert, sog . »Unabhängige« protegieren . Wer sich nicht mehr als er (FAZ, 25 10. .2015) die Unternehmen aufforderte, kei- erinnert: Siemens hatte jahrelang eine sog . »Aktions- ne Fremdenfeindlichkeit zu dulden . Seine Aufforderung gemeinschaft unabhängiger Betriebsangehöriger« »Wer hetzt, der fliegt« bezog sich auf den öffentlich wenig (AUB) unter Wilhelm Schelsky mit fast 30 Millionen bekannten § 75 des Betriebsverfassungsgesetzes . Darin Euro gefördert, die bei Betriebsratswahlen regelmäßig heißt es: »Arbeitgeber und Betriebsrat haben darüber zu gegen die IG Metall antrat, bis der Schwindel aufflog wachen, dass . . jede Benachteiligung von Personen aus und Schelsky wegen persönlicher Bereicherung und Gründen ihrer Rasse oder wegen ihrer ethnischen Her- Betrug ins Gefängnis kam (siehe Spiegel, 3 11. 2014. ) . kunft, ihrer Abstammung oder sonstigen Herkunft, ihrer – Drittens sog . »Familienunternehmen«, bei denen der Nationalität, ihrer Religion oder Weltanschauung . . oder Eigentümer seinen »Herr-im Haus«-Standpunkt da- wegen ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Identität durch abzusichern sucht, dass er Tarifverträge und unterbleibt «. In § 104 wird darauf aufbauend geregelt, Gewerkschaften fernhält und von ihm gesteuerte Be- dass Verstöße dagegen zur »Entfernung« aus dem Betrieb triebsräte installiert usw . Ein Beispiel dafür ist Heinz führen können . So geschehen zum Beispiel in Berlin vor Hermann Thiele, Eigentümer von Knorr Bremse und ein paar Jahren, als in einem Autozulieferwerk eine Na- Vossloh, dessen Vermögen »Forbes« auf 13 Milliarden zi-Zelle durch Hakenkreuzschmierereien in den Toiletten US-Dollar schätzt . Wer auf »Youtube« dessen Namen auffiel . Zwei Personen wurden »dingfest« gemacht, wie eingibt und als Datum 2 4. .2016, kann sich einen Auf- man so sagt, und flogen in gemeinsamer Aktion von Ge- tritt dieses Herrn im feinen Münchner Ifo-Institut anse- schäftsführung und Betriebsrat sofort raus . hen . Wer einen Unterschied zu AfD-Positionen findet,

4 soll sich gerne melden . Solche »Familienunternehmer«, raus . In der Daimler-Zentrale errang die IG Metall die nicht alle so reich, gibt es nicht wenige in der Republik . Mehrheit im Betriebsrat, das Zentrum bekam keinen – Viertens Betriebe in Ländern wie Sachsen, wo die AfD Sitz, dafür 3 Unabhängige und 1 Christlicher . Insge- bei der letzten Bundestagswahl stärkste Partei wurde . samt sind das beunruhigende Einbrüche, und es ist Dass das nicht ohne Folgen auf die Stimmung in den nur ein schwacher Trost, dass die rechten Ergebnis- Betrieben bleibt, dürfte klar sein . se bei Daimler schlechter sind als die der AfD bei der Landtagswahl zwei Jahre zuvor . Dabei bedient sich der braune Sumpf so ziemlich aller – Bei Porsche in Leipzig versuchen die Rechten eben- Methoden – von direkten Attacken auf Gewerkschaftsver- falls Fuß zu fassen, ebenso bei Airbus in Bremen und anstaltungen, speziell am 1 . Mai, über die Gründung sog . Siemens in München – mit welchen Ergebnissen, ist »Arbeitnehmerflügel« wie »AVA« (»Alternative Vereinigung noch nicht bekannt . der Arbeitnehmer« in NRW), »AiDA« (sog . »Interessenge- – Im Berlin sind dieses Jahr keine rechte Listen in IG meinschaft der Arbeitnehmer in der AfD«), das Stuttgar- Metall-Betrieben aufgetreten, und bisher flogen auch ter »Zentrum Automobil« (Badische Zeitung, 13 .2 .2018, erst zwei oder drei sog . »Unabhängige« als in der Wol- und Stuttgarter Nachrichten, 6 3. .2018) bis hin zum Ein- le gefärbte AfD-Kandidaten auf . Hier konnte die AfD sickern als angeblich »gute Gewerkschafter«, die über IG sich anscheinend kaum festsetzen . Metall-Listen in den Betrieben Fuß zu fassen suchen . Das Vokabular und die Stereotypen, mit denen dabei Wie auch immer die Ergebnisse am Ende ausfallen wer- »Zentrum« & Co auftreten, klingt bekannt: »Wir da un- den: Die IG Metall wird sie ebenso wie alle anderen ten« gegen »Die da oben«, Pöbelei gegen vermeintliche DGB-Gewerkschaften auswerten und über Konsequen- »Mauscheleien« und »Co-Management« der »Betriebs- zen nachdenken müssen . Verharmlosen, bagatellisieren ratsfürsten« und »Gewerkschaftsbonzen« mit dem Ma- und »einbinden« als etwas »randständige« Betriebsräte nagement, Auftreten als die angeblich neue »Basisge- wird nicht gehen . Das ist unvereinbar mit den antifa- werkschaft«, die sich endlich mal für den »kleinen Mann« schistischen Grundsätzen der Gewerkschaften und einsetzt usw . usf . Offene Fremdenfeindlichkeit wird sel- auch unvereinbar mit Artikel 1 unseres Grundgesetzes, ten vorgetragen – die Risiken der schon erwähnten der – siehe Art . 75 BetrVG – auch in den Betrieben wirk- §§ 75 und 104 Betriebsverfassungsgesetz sind bekannt . sam verteidigt werden muss . Es kann sein, dass am En- Eine seriöse Bilanz, wie weit es dem rechten Rand ge- de eine Art »Unvereinbarkeitsbeschluss« des nächsten lungen ist, sich in den Betrieben und Betriebsräten fest Gewerkschaftstages – bei der IG Metall findet er Ende zu setzen, kann erst nach Abschluss der Betriebsrats- 2019 statt – stehen muss . wahlen, also nach Ende Mai, gezogen werden . Allein im Bis dahin werden Anregungen aus der Politik, wie eine Bereich der IG Metall wird in ca . 11 000. Betrieben um erfolgreiche Gegenwehr gegen rechts in den Betrieben 78 000. Betriebsratsmandate gekämpft . aussehen sollte, gerne entgegengenommen . Aktuell ist dieses Feld allerdings kaum bestellt, um es mal höflich Erste Ergebnisse aber gibt es schon . auszudrücken . Hier nur in Stichworten: Aber es gibt Verbündete . Die Kirchen stehen fest gegen – Bei Daimler sind rechte Listen unter verschiedenen jede Form von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Namen in fast allen Werken im Süden angetreten . In Anti-Islamismus usw . Ebenso zahlreiche Sportvereine, Untertürkheim mit seinen fast 30 000. Beschäftigten kleinere wie der SV Babelsberg oder St . Pauli, größere erreichte die IG Metall 37 der 47 Sitze im Betriebsrat, wie Eintracht Frankfurt, Werder Bremen, HSV, Hertha drei mehr als bei der letzten Wahl . Das »Zentrum Au- BSC Berlin und viele andere mehr . Mit ihnen arbeiten tomobil«, seit 2014 mit 4 Sitzen im Betriebsrat und die Gewerkschaften schon lange gut zusammen – frü- dieses Mal von Jürgen Elsässer, Compact & Co . ge- her bei Kampagnen wie »Mach meinen Kumpel nicht fördert, erreichte nun 6 Sitze, sein Zugewinn ging auf an!«, heute bei »Respekt!« . Daran gilt es anzuknüpfen, Kosten »unabhängiger« und »christlicher« Betriebs- um Fremdenfeindlichkeit und Rechtspopulismus auch räte . Wobei anzumerken ist, dass nicht nur bei Daim- in Zukunft so klein wie möglich zu halten . ler immer wieder auch rechte migrantische Kandida- ten und Strömungen auftreten, türkische graue Wölfe, griechische »Morgenröte« usw . In Rastatt (knapp un- Rüdiger Lötzer, ter 9 000. Beschäftigte) erreichte die IG Metall 29 der Bezirksverordneter in Berlin-Mitte für die LINKE, 35 Sitze, das »Zentrum« 3 Sitze, die »Christen« flogen Gewerkschaftssekretär bei der IG Metall in Berlin

5 Der Nahostkonflikt in der Ära Trump1

In den 1967 besetzten Palästinensergebieten etablierte en der jüdischen Bevölkerung und die Kontrolle über die sich allen Friedensgesprächen zum Trotz ein Projekt der Palästinenser*innen aufzugeben . permanenten israelischen Herrschaft . In jenen 60 Pro- zent der Westbank, die Israel direkt unterstellt sind, und Deshalb ist es spätestens nach dem Trumpschen Positi- im von Israel annektierten Ostjerusalem wurden über onswechsel notwendig, die bisher verwendeten Mecha- eine halbe Million israelische Staatsbürger*innen völ- nismen zu überdenken, um eine Regelung zu finden, die kerrechtswidrig angesiedelt, während die dort lebenden auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung beruht Palästinenser*innen in dicht bevölkerte Enklaven ver- und die Völker einer historischen Aussöhnung näher drängt werden . Die Palästinenser*innen verwalten zwar bringt . Drei Akteure müssten dabei handeln: Vor allem diese Enklaven, doch das Eigenständigkeit simulierende müssten die Palästinenser*innen sich einigen und ihren Gebaren der im bitterarmen Gazastreifen herrschenden Widerstand effektiv gestalten . Denn koloniale Prozesse Hamas oder der Präsidententitel von Mahmud Abbas, enden fast immer durch den Widerstand der indigenen der der Palästinensischen Autonomiebehörde vorsteht, Bevölkerung . Außerdem müsste sich eine innerisraeli- die die Westbank-Enklaven verwaltet, können nicht dar- sche Opposition zu einer echten Alternative entwickeln über hinwegtäuschen, dass diese Enklaven in allen we- und einer noch friedenswilligen Bevölkerungsmehrheit sentlichen Aspekten von Israel abhängen . reinen Wein einschenken . Dem Ausland schließlich, al- len voran Israels Alliierten USA und EU, fiele angesichts Zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan gibt es al- der tiefen Asymmetrie des Konflikts eine gewichtige so de facto nur einen Souverän, den israelischen Rolle zu . Das hieße einerseits eine viel klarere Sprach- Staat . Israels Regierung möchte die Kontrolle über die regelung als bisher zu finden, andererseits müssten die Palästinenser*innen behalten und die Ausweitung der völkerrechtlichen Beziehungen zu den Konfliktparteien Siedlungen ermöglichen . Zugleich fürchtet sie um die vertieft werden . Das bedeutet vor allem die Klarstel- Vorrechte der jüdischen Bevölkerung, wenn alle Men- lung, dass die Vorteile bi- und multilateraler Abkommen schen im Land gleiche Rechte genössen . Denn schon mit Israel weder für die völkerrechtswidrigen Siedlun- heute gibt es hier keine jüdische Mehrheit mehr . Folg- gen noch für ihre Einwohner*innen gelten können . lich wurde ein verschlungenes System entwickelt, in dem die Einwohner*innen je nach Staatsbürgerschaft, Doch für Rechtspopulist*innen und illiberale Demo­ Wohnort und ethnisch-religiöser Zugehörigkeit unter- krat*innen wie Trump oder Orbán treten Völker- und schiedliche Rechte besitzen – mit dem vorrangigen Bürgerrecht zugunsten der Macht des Stärkeren zurück, Ziel, den Palästinenser*innen Bürger- und andere Rech- und alte antisemitische Ressentiments werden um eine te vorzuenthalten . Einige Beobachter*innen definieren imaginäre Front zur Verteidigung eines jüdisch-christ­ dieses System als eine Art Apartheid . lichen Abendlands gegen den Islam ergänzt . Israels he- gemoniale Rechte gilt dabei als Verbündete ersten Ran- ges . Bisherige Mechanismen überdenken Angesichts dessen werden auf beiden Seiten vermehrt alternative Ansätze zur Zweistaatenlösung diskutiert, Europäische Linke sind gefragt etwa der eines binationalen Staats oder neue Konföde- Die zugespitzte Lagerbildung führt in den USA gleichzei- rationsmodelle, die es erlauben, kollektive Identitäten tig dazu, dass linke und liberale Kräfte – auch innerhalb und individuelle Rechte zu berücksichtigen . Doch die- der großen jüdischen Gemeinden – Israels Regierungs- se Lösungen stehen vor den gleichen Hindernissen wie politik zunehmend in Frage stellen und erheblichen die Zweistaatenlösung: dem Unwillen Israels, Privilegi- Druck zugunsten einer gerechten Konfliktlösung for-

6 dern . Auch in Europa findet ein Umdenken statt – hin dauern, doch sie wäre das schlechtest mögliche Er- zu einer eigenständigen Außenpolitik, auch in Nahost . gebnis, da sie ein höchst instabiles, wirtschaftlich und Da es momentan kaum um eine endgültige Konfliktlö- politisch vom Ausland abhängiges palästinensisches sung geht, sollten die Europäer*innen, die für Völker- Gemeinwesen zurückließe, das kaum Chancen auf Ent- und Bürgerrecht stehen, allen voran die europäische wicklung und weniger emanzipatorisches Potenzial hät- Linke, dazu beitragen, dass der Weg zu künftigen Lö- te, als es heute ohnehin hat . Da sie ungerecht ist, be- sungen nicht völlig verbaut wird . Hier ist auch die Linke endete sie auch die Gewalt kaum, und auf Gewalt folgt im größten europäischen Staat, Deutschland, aufgrund bekanntlich Gegengewalt . Die israelische wie palästi- ihrer historischen Verantwortung und der weitverzweig- nensische Gesellschaft gerieten damit in einen weite- ten Beziehungen zwischen Deutschland und Israel be- ren Abwärtsstrudel schrumpfender emanzipatorischer sonders gefragt . Potentiale und demokratischer Räume .

Gelingt das nicht, so wäre die Bühne frei für Israels Rechtsnationalist*innen, einseitig festzulegen, wie eine Tsafrir Cohen, Lösung auszusehen hat . Diese Lösung nimmt langsam Rosa-Luxemburg-Stiftung, Leiter des Büros in Israel Gestalt an: die Annexion von Teilen der Westbank . Die Palästinenser*innen verwalteten dann innerhalb kom- plett von Israel kontrollierten Enklaven, die sie unter Umständen Staat nennen dürften, höchstens das eige- ne Elend . Eine solche Lösung könnte viele Jahre über- 1 Der Text wurde ursprünglich veröffentlicht in: taz, 6 /7. .1 .2018, S . 11 .

7 Hajo Funke: Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz Staatsaffaire NSU: Das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss VSA-Verlag Hamburg 2018, 238 Seiten

In einer Zeit, da die neue Bundesregierung versucht, Und schon im Jahre 2000 wusste man über die zuneh- auch in ihrer Innenpolitik Boden zu gewinnen und der mende Gefahr des rechtsterroristischen Kleingruppen- NSU-Prozess in München in seine letzte Phase tritt, einsatzes Bescheid . greift Hajo Funke, emeritierter Professor an der FU Ber- Auch das Trio Bönhardt, Mundlos und Zschäpe hatte lin, mit seinem Buch erneut in die in diesem Zusammen- man bald auf dem Bildschirm, kannte seinen Weg nach hang stehenden Debatten ein . Sein Buch stellt eine Er- der Flucht von Thüringen nach Chemnitz und dann weiterung und Aktualisierung seiner 2015 erschienenen nach Zwickau, umgab es mit einem ganzen Spinnen- Publikation dar . netz von V-Leuten . Man kannte dessen Verbindungen zu Blood & Honour, zu den Hammerskins, zum Ku-Klux- Ausgangspunkt und Hintergrund seiner Ausführungen Klan, zu allen relevanten Vertretern der Neonaziszene, sind zwar die Verbrechen des NSU, Funkes Anliegen ihre zeitweiligen Arbeitstellen, Ihre Wünsche nach Waf- geht jedoch weit darüber hinaus, stellt vor allem die Fra- fen und Pässen sowie möglichen Fluchtwegen ins Aus- gen nach den Ursachen, nach der Verantwortung und land . Nach der Übersicht von Hajo Funke in Auswertung dem Versagen der gesellschaftlichen Akteure bis hin zu auch der bisherigen Prozessberichte und der Berichte den notwendigen Folgerungen . der parlamentraischen Untersuchungsausschüsse be- Im (umfangreichsten) Kapitel I (Der NSU, S . 19–131) fanden sich im Umfeld des NSU vor und während der schlägt der Autor anfangs noch einmal den Bogen von Mordserie etwa 40 hochrangige Spitzel . den Vorstufen der Radikalisierung der rechten Szene in Thüringen Anfang der 90er Jahre bis zu deren Übergang Die Morde begannen im September 2000 in Nürnberg . in den Terror . Er zeigt, dass der Verfassungsschutz Thü- Sie setzten sich 2001 wiederum in Nürnberg, dann in ringen von Anfang an sich dabei als Brandstifter betä- Hamburg und in München fort . Es folgten die Morde im tigt hat, nicht aufklärte, sondern diese Szene anheizte . Februar 2004 in Rostock, das Nagelbombenattentat in Das Treiben des sogenannten »Thüringer Heimatschutz« Köln im Juni 2004 und genau ein Jahr später ein weite- und weiterer Neonazigruppierungen, personell auch in rer Mord in Nürnberg . Im selben Jahr wurde auch der der Figur des Tino Brandt herausragend sichtbar, wären griechische Gewerbetreibende Boulgarides erschossen . ohne die zahlreichen V-Leute in dessen Umgebung un- denkbar gewesen . Schlimmer noch: Indem Polizei und Im Jahre 2006 setzte sich die Mordserie in Dortmund Staatsanwaltschaft intensiv ermittelten, wurden sie und in Kassel fort . Michele Kiesewetter starb als letztes durch den Verfssungsschutz unter Druck gesetzt und Opfer des NSU im April 2007 in . indirekt bedroht . Die SOKO REX wurde ausgeschaltet, Die konkrete Vorstellung einer ganzen Reihe der in die- das juristische Verfahren wegen Bildung einer kriminel- se Verbrechen verwickelten Personen, ihre Gewinnung len Vereinigung wurde unterbunden, Durchsuchungs- und Führung als V-Leute und Agenten des Verfassungs- maßnahmen wurden ausgesetzt . Schon am 3 . Februar schutzes macht die Schrift von Hajo Funke außeror- 1997 warnte das Bundeskriminalamt in einem eige- dentlich lebendig . nen offiziellen Schreiben an das Bundesamt für Ver- fassungschutz nach wiederholten Hinweisen auf die Es macht mehr als betroffen, es macht wütend zu wis- Radikalisierung der rechten Szene vor einem »Brandstif- sen, dass sie hinsichtlich ihrer Informationen, die sie ter-Effekt« des Amtes mit dessen eingesetzten Leuten . hatten und ihrer Beteiligung an Terrortaten und am Ter-

8 rornetzwerk NSU bzw . den anderen Terror-Netzwerken, deren Aussagen und Hinweise, die auf Täter aus dem durch das BfV selbst vor Legislative und Judikative ge- NSU-Netzwerk hindeuteten, wurden trotz des Wissens schützt wurden . um alle anderen rechtsextremen Verbrechen in NRW in Dabei wurde bei allen Versuchen, Erklärungen zu den den Jahren zuvor, ignoriert . Morden in diesem ersten Teil der Serie an türkischen und einem griechischen Bürger (in Nürnberg, Hamburg . Mün- Auch das BfV hatte offenbar die Terrorspur im Blick ge- chen, Rostock, Dortmund) zu finden, sofort jede Über- habt und dennoch die Gefährdungslage herunterge- legung zu einem rechtsextremen Tatmotiv ausgeschlos- spielt . Letztlich war es also eine Verheimlichung der sen . Es wurde keine Untersuchung in diese Richtung eigenen Recherchen mit allen sich daraus ergebenden angestrengt . In seltener Einmütigkeit von Behörden, Po- Folgen für die Aufklärung des Nagelbombenattentats, lizei, Verfassungsschutz und auch Medien wurden sofort ein Verhalten, das mit dem Begriff des Statsversgens einseitige Ermittlungen in Richtung der türkischen bzw . nur unzureichend charakterisiert werden kann . griechischen Familien, Freundes- und Geschäftskrei- se angesetzt . Mit der Verdächtigung der Immigranten, Ungeklärt ist auch das Geschehen um die Ermordung mit der Verfolgung der sogenannten »türkischen Spur« von Halit Yozgal in einem Internetcafe in Kassel am wurden nicht nur die entscheidende Richtung für die Er- 6 4. .2006 geblieben . Ermittlungen der Polizei, die auch mittlungen ausgeschlagen, sondern auch ein ausländer- den Miarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz feindliches Klima und rasistische Vorurteile angeheizt . Andreas Temme betreffen, der zur selben Zeit im Cafe surfte und sich trotz Aufforderung tagelang nicht mel- dete, wurden vom LfV Hessen und vom Landesinnenmi- »Drei Kernrätsel« nister (Volker Bouffier, der heute Ministerpräsident in Hessen ist) gegen jede rechtsstaatliche Regel mit dem In einem weiteren Unterabschnitt behandelt der Au- Hinweis auf das »Staatswohl« blockiert . Temme wur- tor illustrierend »drei Kernrätsel« der Mord- und Atten- de zweifelsfrei von Zeugen gesehen, die ihn unmittel- tatsserie: das Nagelbombenattentat in der Kölner Keu- bar nach dem Mord aus dem Cafe wegrennen sahen . pstraße, den Mord an Halit Yozgat in Kassel und das In den späteren Befragungen hat er offensichtlich gelo- Attentat auf Michele Kiesewetter und Martin Arnold in gen, geleugnet, dass er den Toten gesehen haben muss . Heilbronn . An diesen Beispielen werden exemplarisch Die Staatsanwaltschaft aber deckt ihn, hält seine Aus- die Grenzen der Ermittlungen – die auch aus einer Mi- sagen unter Verschluss . Im Raum bleibt die Frage, ob er schung von Vorurteilen und Alltagsverhalten von Polizei möglicherweise sogar Wissen über die bevorstehende und Geheimdiensten und ihren Wirkungen auf die be- Tat oder eine bevorstehende Aktion besaß . Zumindest troffenen Millieus bestanden – dargestellt . ist Temme nachgewiesen worden, dass er dienstliche Kenntnisse über die Mordserie der NSU besaß, H . Fun- Am 9 . Juni 2004 detonierte in der Köln-Mühlheimer ke ergänzt das Bild mit zahlreichen Hinweisen auf die Keupstraße­ eine Nagelbombe, ein Terrorakt mit über 20 Vorgeschichte dieses Agenten, sodass auch in diesem zum Teil schwer Verletzten . Dass das Attentat erfahrbar Falle Grund genug für eine Anklage gegen das hessi- nach dem Muster des rechtsextremen Terrorismus von sche Amt für Verfassngsschutz wegen Aufklärungver- Blood & Honour und von Combat 18 (Großbritannien) weigerung und Strafvereitelung im Amt vorhanden ist . ausgeführt worden war, wurde den Verantwortlichen im LKA Nordrhein-Westfalen schnell klar . Sie schrieben in Besonders tragisch und zugleich besonders schwierig einem ersten Bericht von einem Akt »terroristischer Ge- hinsichtlich der Aufdeckung der Verwicklungen ist das waltkriminalität« . Aber schon eine Stunde danach ver- Schicksal der jungen Polizistin Michele Kiesewetter, die fügte man aus dem Innenministerium in Düsseldorf, am 25 . April 2007 in ihrem Polizeiauto auf der Theresi- diesen Begriff zu streichen, eine Streichung, die dann enwiese in Heilbronn ermordet wurde . Auch ihr Kollege maßgebend für alle weiteren Erklärungen des Innenmi- Martin Arnold wurde von den aus nächster Nähe abge- nisteriums und auch der Bundesegierung wurde . In den feuerten Kugeln getroffen, überlebte jedoch . Dem Au- folgenden drei Jahren wurde wesentlich nur im Umkreis tor Funke, der dem Fall gleich 16 Seiten seiner Schrift der Opfer und ihrer Angehörigen ermittelt – nach dem (S . 77–93) gewidmet hat, ist das Geschehen besonders Motto, daß nicht sein kann, was nicht sein darf . Alle an- nahegegangen und er hat sich persönlich jahrelang an

9 Hand der Quellen und Dokumente mit um Wahrheitsfin- ril noch einmal zugespitzt hatte . Michele Kiesewetter dung bemüht . Dennoch bleiben viele Rätsel, vor allem sei, ob gewollt oder nicht, ein zum Abschuss freigege- weil auch in diesem Fall Verschweigen, Vertuschen, Lü- bener Lockvolgel gewesen . Es habe an elemenarster gen und Verdrehungen vieler Behörden und Dienststel- Fürsorgepflicht und Verantwortungsgefühl insbesonde- len eklaltant vorhanden sind . re durch die unmittelbaren Vorgesetzten gefehlt . Ent- sprechend hat diese Einheit dann dafür gesorgt, dass Gesichert ist zunächst, daß M . Kiesewetter, die aus wesentliche Dokumente wie der E-Mail-Verkehr der Ge- Oberweißbach in Thüringen stammte, von frühester Ju- töteten den ermittelnden Beamten nicht zur Verfügung gend an die Mischszene in Ostthüringen aus Rechts- standen . Hinzu kamen offensichtliche Lügen über den terroristen, organisierter Kriminalität und V-Leuten Aufenthalt des Einsatzführes am Tatort . Vermutungen kennengelernt hatte, daß ihr Entschluß, Polizistin wer- unter Freunden und Bekannten aus der Thüringer Sze- den zu wollen, mit ihrem Willen zusammenhing, sich ne, dass es sich bei dem Mord um einen Racheakt aus von dieser Szene fernzuhlalten und durch ihren Onkel, dem Millieu früherer Bekanntschaften gehandelt haben selbst Polizist und Kenner der Szene, bestärkt wurde . könnte, vor allem auch weil Kiesewetter in den Tagen Er war ihr Vorbid . Gesichert ist auch, daß es von Anfang vor dem Mord noch einmal einige Urlaubstage in Ober- der 90er Jahre an in Baden-Württemberg spiegelbildli- weißbach verbracht hatte, kommen sicher der Wahrheit che neonazistische Strukturen gab, dass es auch im- näher als irgendwelche Polizeiberichte . Am deutlichsten mer viele Verbindungen zwischen solchen Strukturen hatte sie wohl der Onkel von Michele Kiesewetter aus- nördlich und südlich der ehemaligen Staatsgrenze der gesprochen, mit dem Begriff »Dönermorde« ausgehend DDR gab, schließlich auch geheime Verbindungswege- von den Morden an den türkischen Geschäftsleuten . nach Tschechien zum Transport von Drogen (Chrystal Es könnte sich um eine konzentrierte Aktion von orga- Meth) und dass die Russenmafia überall ihre schmutzi- nisierter Kriminalität im Drogen- und Prostituiertenbe- gen Hände im Spiel hatte . reich und den Rechtsextremisten um Tino Brandt, Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt gehandelt haben . Das Wissen von Mike Wenzel, dem Onkel von Michele Kiesewetter, über die rechsextreme Szene und die or- Die blutverschmierten Gestalten, die in verschiedener ganisierte Kriminalität in seinem Kreis aus dem seine Richtung nach dem Mord davonrannten (blutig, weil Nichte stammte, ist nicht verwertet worden und nach sie den Raub der Dienstwaffen von Kieseweter und Ar- all den Morden an möglichen Zeugen, die bereit waren, nold nur unter großen Anstrengungen zu Wege brach- ihre genauen Einzelkenntnisse zu offenbaren, hat er sei- ten) sind Beweisstücke dazu . Die Todesfälle von Florian ne konkreten Äußerungen zu den möglichen Ursachen Heilig und seiner Freundin im Jahre 2013 haben die Lö- und Motiven nicht wiederholt . Unbestreitbar ist auch, schung von Spuren des Mordes auf die Spitze getrie- daß Michele Kiesewetter durch ihre Diensteinheit, die ben . Der Neonazi F . Heilig hatte behauptet zu wissen, Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) 523 in wer Michele Kiesewetter ermordet hat und verbrann- Böblingen, regelrecht »verheizt« wurde . Sie hatte sich te einen Tag vor seiner erneuten Vernehmung durch stets schon in Thüringen und nun noch mehr bei zahlrei- die »Einsatzgruppe Unmfeld« der Sicherheitsbehörden chen sehr brisanten Einsätzen im süddeutschen Raum in Baden-Württemberg in seinem Auto . Angeblich ha- sehr mutig verhalten, kannte schließlich auch selbst ih- be er Liebeskummer gehabt und wurde ohne weitere re Gefährdung bei Einsätzen verdeckter Ermittlungen Untersuchungen seines Zimmers, seiner Kommunikati- ohne ausreichenden Schutz durch Kollegen und hat- onsdaten nach dem Brand zur Obduktion freigegeben, te wohl wegen ihrer Enttarnung schon um Versetzung der Vorgang eingestellt . Die Freundin von Heilig, Melis- gebeten . Aufgefallen wegen ihrer blauen Augen, den- sa, die enge Kontakte zur kroatichen Heimat ihrer Ver- noch immer wieder eingesetzt beim Kampf gegen Dro- wandten gehalten hatte, wurde angeblich wegen einer gendeals und gegen Neonazimärsche ging man den- Embolie kurz nach ihrer Vernehmung im Stuttgarter Un- noch mit ihr »volles Risiko« . Auch bei der Russenmafia tersuchungsuschuss von ihrem Freund Sascha tot auf- war sie aus Razzien bekannt . Funke forrmuliert, daß gefunden . Dieser starb einige Monate später ebenfalls . es ein böses, tödliches Spiel »organisierter Verantwor- Einem Nachbarn hatte er noch mitteilen können, seine tungslosigkeit« war, daß die jugendliche Kollegin miss- Feundin sei bedroht worden . Es herschte in diesem Um- braucht wurde und dass sich das offenbar am 25 . Ap- feld regelrechte Todesangst .

10 Das Sterben von Uwe Bönhardt und Uwe Mundlos und sarkastischen Bemerkungen abgewehrt wurden . In Am 4 November. 2011 wurden Bönhardt und Mundlos in diesen Zusmmenhang gehört die Frage, in wieweit das Eisenach in ihrem Wohnwagen tot aufgefunden . Der offi- geheim gehaltene Wissen verwendet wurde oder nicht . ziellen Version nach haben sich beide selbstmörderisch Tatsache ist, dass der BfV seit 2002 vom NSU wußte, gegenseitig erschossen . Auch hier existieren zahlreiche aber ab 2003 das Trio nicht mehr im gemeinsam ver- offene Fragen, Unstimmigkeiten, die mit dem Verhalten fassten Bericht von BKA und BfV über rechtsextreme der Sicherheitsorgane zusamenhängen . Funke hat eine und Terrorgefahr auftaucht . Bönhardt, Mundlos, Zsch- Reihe davon aufgelistet (Seiten 94 bis 96) . Sie betreffen äpe und der V-Mann Richter wurden aus dem Bericht unter anderem den Wohnwagen, der in einer Wohnsied- »wegjustiert« . Dem weiteren Vorgehen fielen auch Aus- lung abgestellt wurde, der dann brannte und in dem die sagen eines mutigen Polizeibeamten zum Opfer, dem beiden tot aufgefunden wurden, der aber völlig ungenü- man bedeutete, daß bei einem Einsatz in Jena, wo man gernd durchsucht und dann sehr schnell in eine private offenbar Bönhardt auf die Spur kam, »nichts raus krie- abgeschleppt wurde . gen« solle . Gegen ihn wurde gehetzt, er wurde als »Ver- räter« bedroht, Anfangsermittlungen wurden abgebro- Woher wussten die Ermittler so schnell, dass es sich chen und ein veanntwortungsloser Abshluss-»Bericht« um Bönhart und Mundlos handelte, wie kamen Kiese- des LKA Thüringem verfasst . Wichtige Akten sind nicht wetters Waffe, Kinderspielzeug und das ganze Geld der auffindbar . Funke kommt nicht umhin, hier den Begriff Bande in den Wohnwagen? Waren sie auf der Flucht, »bewusste Sabotage« zu verrwenden . war der Doppelmord vielleicht kein Selbstmord? Hät- ten einige andere Personen aus der Umgebung der Heute ist bekannt, dass auch das Landesamt für Verfas- NSU nicht auch befagt werden müssen? Nicht geklärt sungsschutz Baden-Württemberg vom Mördertrio des ist auch das ungewöhnliche Verhalten von Beate Zchä- NSU bereits ab 2003 wusste und dass im September pe in Zwickau in den Tagen vor dem Selbstmord, hat sie 2003 von vier befreundeten ausländischen Diensten tatsächlich den Wohnungsbrand dort selber ausgelöst? hochoffizielle Warnungen eingingen (darunter Schwe- Und was war mit dem Rechtextremisten Andre K ., der den und Italien .) am Tag des Selbstmordes in Eisenach nicht weit von dem Wohnmobil entfernt war, mit seinem Handy Beate Das BfV wusste durch einen V-Mann bereits 2005 von Zschäpe den Tod der beiden mitgeteilt haben soll? Fra- der Existenz der rechtsextremistischen Terrorgruppe gen über Fragen . NSU . Wieso das Trio erst nach dem Banküberfall 2011 in Eisenach aufflog, die Ermittler der Polizei und die Spezi- Zwischenfazit alisten des Verfasungsschutzes bis dahin scheinbar im In seiner Zwischenbilanz (S . 115) kommt H . Funke Dunkeln standen, ist anzuzweifeln, immerhin hatte der deshalb bereits zu klaren Aussagen, dass das Vorge- V-Mann Thomas Richter (Deckname »Corelli«) seinem hen der Sicherheitsbehörden nicht nur wie bereits er- Quellenführer beim Verfassungsschutz bereits 2005 wähnt Opfer und insbesondere die türkische Mino- eine CD mit rechtsextremem Material und eine Datei rität in Deutschland zu (potentiellen) Tätern gemacht mit Namen »NSDAP/NSU« übergeben . Dieser Hinweis hat, sondern dass die tiefe Verstrickung der Geheim- blieb aber 10 Jahre unentdeckt . Noch 2012 behaupte- dienste und teilweise der Polizei gleichwohl vorhande- te der damalige Staatssekretär im Bundesinnenminis- nes Wissen und die vielfache Weigerung, dieses Wis- terium und heutige Koordinator der Geheimdienste im sen (aus Gründen des Quellenschutzes) den Etrmittlern Bundeskanleramt, Klaus-Dieter Fritsche, von Staats we- mitzuteilen, zum beherrschenden Konsens wurde . Die- gen gebe es keine Informationen über den NSU . Der ser überlagerte alle Anstrengungen zur offenen Ermitt- Quellenschutz habe Vorrang, es dürften keine Staats- lung, führte zur Abwendung von der Realität . Fatal wur- geheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshan- de sie, weil sie von den Zuständigen und von einem Teil deln unterbinden . der Medien im Sinne eines rassistischen Vorurteils ge- sichert wurde . Die rechte Spur wurde schlicht geleug- In den Kapiteln 2, 3 und 4 wird von Funke konzentriert net . Dabei gab es durchaus auch Mitarbeiter, die ver- das unheilvolle Wirken des Bundesamtes für Verfas- langten, den Blick der Ermitttlungen auch mal in eine sungsschutz beleuchtet . Er beginnt mit der Feststel- andere Richtung zu nehmen, die abe mit lächerlichen lung, dass das Bundesamt eigentlich ein »Dienstleister

11 der Demokratie« sein sollte, jedoch ohne jede Kontrolle Auch im dritten Kapitel (S 143. bis 159) fasst Funke existiert und funktioniert . Das unterstreicht er an Hand die Ergebnisse in vier Thesen zusammen, überschreibt von vier Thesen . sie »NSU-Resultate – zwischen Aufklärung und Blo- Zunächst hält er fest, dass das Bundesamt ein Eigen- ckade« . In einer ersten These stellt Funke fest, dass es leben ohne funktionierende rechtsstaatliche Kontrolle sich um einen Machtkampf von Teilen der Sicherheits- führt . Dem Bundesamt sind das BKA und die Bundesan- behörden, vor allem der Verfassungsschützer, gegen waltschaft durch halbgeheime »Zusammenarbeitsricht- Aufklärung und Wahrheit handelt . Dieser Kampf tobt linien« seit langem untergeordnet . seit einem Vierteljahrhundert – früher verdeckt, heute Es ist dem BfA vorbehalten, Ermittlungen schlicht an- offen – in und zwischen den Institutionen und der Öf- zuhalten . Das verschafft dem Verfassungsschutz einen fentlichkeit . Dieser Machtkampf zur Eindämmung eines ungeheuren Spielraum . Im Falle des NSU-Komplexes Staates im Staat ist nicht entschieden, aber das Auf- führte das dazu, dass naheliegende Ermittlungsschrit- klärungsinteresse wächst, je stärker es blockiert wird . te z .B . in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen un- Einen wesentlichen Fortschritt haben dabei die Unter- terblieben . Und angesichts von Pannen gerade bei der suchungsausschüsse des Bundestages und der Landta- Unterstützumg von Verbrechern liegt es dann im Inte- ge zu den NSU-Morden gebracht . In der zweiten These resse des Selbsterhalts solcher Institutionen und der werden die Zuständigen, vor allem im Bundesamt, als besonders beteiligten Personen, möglichst nicht – we- eine staatliche Seilschaft charakterisiert, die durch ih- gen Strafvereitelung im Amt oder gar wegen Beihilfe zu re Strategie der Infiltration so in Wissen und (indirekte) schweren Verbrechen und Mord – belangt zu werden . Beteiligung an den Morden verstrickt waren, dass jede Dazu gehört auch das Schreddern brisanter Akten . weitere Information sie näher an den Offenbarungseid In einer zweiten These bemängelt Funke (und beweist gebracht hätte . Eine dritte These weist darauf hin, dass das an Beispielen) die Analyseschwäche des Amtes die Bundesanwaltschaft sich vor allem auf drei Perso- und den Vorrang von Quellenschutz vor Quellenkritik, nen, das Trio, fixiert und so ihre Beweisführung selbst So bleiben »Erkenntnisse« in der Gefahr, empirisch und geschwächt hat . Offenbar war es ihr Interesse, in der analytisch ungedeckt zu sein, es kommt zu einer schlim- Analyse jede Art von Weiterungen auf weitere Mittä- men Selbstimmunisierung vor Kritik und Fehlerkultur, ter und Unterstützer und vor allem auf V-Leute auszu- analytischer Übrprüfng . schließen . Fehlende Ermittlungen zum Beispiel zu Ralf In einer dritten These bennennt Funke unter »Täuschun- Marschner, der sieben Jahre in der gleichen Neonazi- gen« resümierend das Bundesamt als »überzeugendes szene wie das Mördertrio tätig war und der unmittel- Beispiel« für die Struktur der Lügen und des Schred- bar in der Nähe in Zwickau wohnte, waren ein Skandal . derns auf der Basis großen Wissens (Funke erinnert hier Schließlich wurde in einer vierten These festgehalten, an Hannah Arendt, die an Hand der Lügen der Ameri- dass der Münchener NSU-Prozess durch das Verhalten kaner im Vietnamkrieg das eine »Verschiebung des Tat- des Bundesamtes für Verfassungsschutz und der Bun- sächlichen« genannt hat) . desanwaltschaft geschwächt worden ist . Autor Funke zweifelt natürlich nicht an der Verurteilung der zentral Schließlich spricht Funke in seiner vierten These von Beschuldigten, aber sie wird ein unzureichender Beitrag der »verselbständigten Macht« . Was früher einmal als zum Rechtsfrieden bleiben . In der Phase der Schluss- Konsquenz aus der Verselbständigung der Gestapo zur plädoyers tobt ein Kampf um die Deutungshoheit . Abtrennnung des Verfassungsschutzes von der exeku- tiven Funktion der Polizei geführt habe, habe sich weit- Im Kapitel 4 »Autoritäre Erbschaft« erinnert der Autor gehend in das Gegenteil verkehrt: in die systematische noch einmal an die Skandale aus 60 Jahren Geschichte Unkontrollierbarkeit, Verfassungswidrigkeit und damit der Bundesrepublik . Ein kurze Rückblick macht deut- die Vermeidung (Abtrennung) jener Kontrolle, die duch lich, dass das aktuelle Geschehen um die Morde des das Abtrennungsgebot einmal herbeigeführt werden NSU und die mangelhafte Aufklärung kein Ausnahmefall sollte . Man wisse nie, ob der Verfassungsschutz etwas in der langen Geschichte des Verfassungsschutzes war . weiß, vor allem aber nicht, ob er selbst die Dinge wie im Er hängt vielmehr mit einer unaufgeklärten Kette von Ir- Fall Thüringen angestachelt hat oder tatsächlich der Si- ritationen und Skandalen zusammen, die insbesondere cherheit dient . Selbst im Amt gab es gegeneinander ab- auf die Entstehung des Verfassungsschutzamtes selbst geschottete Gruppen und Abteilungen . zurückweist . Auch wenn die damaligen Verhältnisse

12 nicht mit den heutigen vergleichbar sind, so haben wir ziellos erschienen und Anschläge auf Asylunterkünfte es doch mit einer Erbschaft aus einer autoritären nach- entsprechen einer entsetzlichen Logik . Der Höhepunkt nationalsozialstischen Geschichte bis heute zu tun . dieser Jahre des rechten Terrors war das Attentat auf das Oktoberfest in München am 26 . September 1980 . In diesen Kontext gehören zunächst eine Reihe unmit- Durch die mit Nägeln und Schrauben gefüllte Bombe in telbar nach Verkündung des Grundgesetzes erlassene einem Papierkorb starben 13 Menschen, 211 wurden Gesetze und Verordnungen (Straffreiheitsgesetz, das verletzt, 68 davon schwer . Angeblich handelte es sich den Weg für Angehörige der Gestapo und mörderische nach den Angaben der Behörden auch hier nur um ei- Einsatzgruppenführer frei machte, Bundesamnestien, nen »Einzeltäter«, obwohl alle Verbindungen zur Wehr- Abschluss der Entnazifizierung, das sogenannte 131er spotgruppe Hoffmann offen lagen . Die Vertuschung Gesetz zur Entlastung des Berufsbeamtentums) . führte der höchste Verfassungsschützer Bayerns Hans Von der ersten Stunde an gab es in der Bundesrepub- Langemann an . Verdeckte Waffenarsenale in der Umge- lik Anzeichen des Terrors von rechts und von gewaltbe- bung und Vorbreitungen für andere Sprengstoffanschlä- reiten Neonazis . Als Beispiele werden das Sammelbe- ge wurden nicht aufgeklärt . cken solcher Kräfte in der Sozialistischen Reichspartei Selbst im Untersuchungsausschuss zum NSU-Prozess unter Otto Ernst Remer und Fritz Dorls, die Gründung des Bundestages wurde hinsichtlich der Verbindungen der »Reichsjugend« und in der Folge der »Wikingju- der Teroristen bei der Aktion weiter gemauert . Immer- gend« (Roul und Wofgang Nahrath), die erst 1994 ver- hin wurde 2017 klar, dass das BfV wichtige Akten zum boten wurde, der »Bund Heimatttreuer Jugend« und spä- Oktoberfestattentat nicht an die Ermittlungsbehörden ter dann die Nationaldemokrtische Partei Deutschlands weitergegeben hat . (NPD), gegründet 1964, genannt, die noch heute exis- tiert . Schließlich hat Funke den Zusammenhang zu dem Ka- Parallel gab es eine von US-Gehimdiensten unterstütz- pitel Verfassungsschutz und RAF/LinksradikalerTerror te Widerstandsgruppe, die im Falle eines russischen in jenen Jahren hergesellt . Auch hier und zum Teil bis Angriffs Sabotageakte gegen die Sowjtes duchführen in die Gegenwart (Schweigen zum Buback-Mord, Rolle sollte . Dazu sind sowohl »Gladio« als auch der »Bund von Verena Becker) ist es wieder dasselbe Schema . Es Deutscher Jugend« mit seiner Untergrundorganisation geht um »Quellenschutz«,um Verrtuschen, Lügen, um »Technischer Dienst« zu zählen . Mitschuld des Verfassungsschutzes bei ungeklärten To- In der Bundesrepublik der 1950er Jahre wurde vieler- desfällen, um Blockaden der Aufklärung . Wieder wer- orts ein Personal eingesetzt, das in den ruchlosen Teror- den Ermittlungsbehörden an der Nase herumgefürt . strukturen des Nationalsozialismus sozalisiert worden Im Ergebnis ist festzuhalten, so dieThese von Funke auf war . Alte Seilschaften aus SS-SD und NSDAP machten Seite 199, sowohl links- als auch rechtsterroristische sich nun auch im BfV breit . Die Abbeufung von Hubert Gruppen wurden von verdeckten Ermittlern, Personen Schrübbers, eines aktiven früheren Faschisten, als Lei- des Staatsschutzes und Miarbeitern des Verfassungs- ter ändete daran nichts . schutzes nicht nur observiert, sondern teils systema- tisch durchsetzt . Die zuständigen Institutionen – ohne Einen Aufschwung gewaltbereiter und potentiell terro- rechtstaatliche Kontrolle – trugen bzw . tragen eine Mit- ristscher Strukturen gab es seit Ende der 1960er Jahre schuld an tödlichen Verbechen . auch im Zusammenhang mit der Entwicklung zu mehr Auf den Seiten 201 bis 206 wendet Funke schließlich Liberalität, vor allem im Kontext der Studentenbewe- diese Erkenntnisse auf den Fall des Breitscheidplatz-At- gung und der umstrittenen Entspannungs- und Annä- tentats 2016, den Fall Amri an . [S . 201 bis 206) . 12 Tote heungspolitik unter Willy Brandt . und 50 Verletzte waren die Bilanz des verheerendenAt- Immer neue Staatsaffairen um V-Leute zum Beispiel in tentats am 19 . Dezember im Herzen . Hätte es im Niedersachsen (ein Höhepunkt dann der vorgetäuschte Vorfeld nach monatelangen Observierungen, nach den Anschlag gegen die JVA Celle 1978) erschüterten auch vielen vorliegenden Erkenntnissen über den Terroristen die Geheimdienste . Amri, nach Dutzenden von Treffen der Geheimdienst- Die 1980er Jahre bezeichnet Funke dann als »brau- ler und auch nach konkreten Warnungen ausländischer ne Terrorjahre« . Unter den Rechtsextremen gab es ei- Dienste nicht die dramatische Verantwortungslosigkeit ne fast mystische Verehrung der Gewalt, Attentate, die von LKA, BND und BfV gegeben, könnten die Opfer heu-

13 te noch leben . Es gab genügend Gründe mit dem Wis- eine effektive unabhängige Kontrolle kann es nicht wei- sen um die Anschlagspläne, Amri unverzüglich festzu- tergehen . nehmen . Aber mit einem Wall von Vertuschungen dieser Behörden unterblieb das mit tödlichen Folgen . Umstrukturierungen zugunsten polizeilicher Funktionen in Staatsschutz und Bundeskriminalamt sind notwen- Im abschließenden Kapitel 5 seines Buches behandelt dig, die Aufdeckung aller Staatgeheimnisse im Zusam- Funke einige Konsequenzen für die demokratische menhang des NSU-Skandals bieten noch einmal die Ge- Kontrolle. Unter Vermeidung agitatorischer Oberfläch- legenheit für Politik und Gesellschaft, die Lehren aus lichkeit unterbreitet er eine Reihe unabdingbarer Vor- Rassismus und organisiertem Verbrechen zu ziehen, für schläge und Forderungen, die sich mit großer Selbst- eine »Reinigung« . Das Verprechen der Bundeskanzlerin verständlichkeit aus den dargelegten Zuständen im vom 23 . Februar 2012 gegenüber den Hinterbliebenen Sicherheitsbereich im allgemeinen und beim Verfas- der Opfer, alles zu tun, um die Morde aufzuklären, die sungsschutz im besonderen ergeben . (S . 207 bis 217) . Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken sowie alle Am Anfang steht die Notwendigkeit, die Aufklärungs- Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen, könnte so noch blockade des Bundesamtes für Verfassungsschutz über erfüllt werden . seine eigene Tätigkeit ebenso wie über seinen Quel- lenschutz für Spitzel, verdeckte Ermittler und Doppel- Abrundend verweist Funke dann noch einmal auf die- agenten zu beseitigen . Aufgebrochen und ausgeschlos- Notwendigkeit, gegen die Schwächung der Funktionen sen werden muss,was mit den Notstandsegesetzen von des Rechtsstaates durch die Kräfte eines neuen Rechts- 1968 und später mit den ineffektiven Kontrollen, die die terroismus, eines realen »Neonationalsozialistischen Konferenz der Innenminister 2013 in ihrem Abschluss- Untergrunds« anzukämpfen . bericht zu Rechtsterrorismus sanktioniert wurde und zur Institution außerhalb der Legalität wurde . Daneben muss Lobenswet an der Schift ist auch ein reichhaltiger aus- das Bundesamt für Verfasungsschutz überzeugend un- sagekräftiger Anhang (S . 222 bis 236) . Er umfasst ein ter demokratische Kontrolle gebracht werden . Der bis- Verzeichnis der Abkürzungen, ein Literaturvrzeivchnis herige Einsatz von V-Leuten hat schweren Schaden an und Zeittafeln . der Sicherheit vor und während de Mordserie gebracht . Diese Praxis muss deshalb genauso abgeschafft werden wie das Amt in den entsprechenden Strukturen . Ohne Rezension: Dr. Roland Bach, eine Reform an Haupt und Gliedern, ohne ein Ende der Mitglied des Sprecherrates der BAG Antifaschismus Inlands-Geheimorganisation im Ausnahmezustand und der Partei DIE LINKE

14 Ein aufhaltsamer Aufstieg. Alternativen zu AfD & Co.1

Der Aufstieg einer radikalen politischen Rechten in den zender Kandidat wie Emmanuel Macron zur einzigen Al- Ländern des Westens hat 2016 enorm an Fahrt gewon- ternative zu Le Pen wird, dann zeigt sich hier das ganze nen und nichts deutet darauf hin, dass dieser Prozess Desaster einer Linken, die ihre Stellung als grundsätzli- in Kürze an sein Ende kommt . Mit der Amtsübernahme che gesellschaftspolitische Alternative verloren hat . Die von Donald Trump als US-Präsident hat diese hetero- soziale Frage wird so einer Rechten überlassen, die mit gene und schillernde radikale Rechte die weltpolitisch der Ethnisierung dieser Frage seit Jahren einen wichti- zentrale Position eingenommen . Nach Ungarn und Po- gen Teil ihres Aufstiegs begründet . len ist es einer an Nation und Ethnozentrismus orien- tierten Rechten im Kernland des westlichen kapitalisti- Die Wahl von Donald Trump in den USA hat dieses Di- schen Modells gelungen, die Schaltstellen der Politik zu lemma noch einmal verdeutlicht . Vor allem seinem Er- erobern . Ob sie dabei tatsächlich die Macht erlangt hat folg in den ehemaligen Industrieregionen des »Rust oder nur an die Regierung gekommen ist, muss sich in Belt« bzw . der krachenden Niederlage der vermeintlich jedem Einzelfall erweisen . Der Blick auf die Ausübung »linken« Kandidatin Clinton hat er den Sieg bei den Prä- der Regierungsgewalt dieser Rechten in Ungarn und Po- sidentschaftswahlen zu verdanken . Abgehängte und len zeigt, dass man sich hier offenbar auf mehr als nur vom Abstieg bedrohte Wählerinnen und Wähler sahen eine zeitweilige Regierungsübernahme eingestellt hat . in Trump den einzigen Kandidaten, der für sie sprach . Ohne Zweifel spielte die soziale Frage in dieser Wahl Ohne jeden Zweifel hat der gesellschaftspolitische eine Rolle . Aber diese Frage stellte sich in einem sehr Einfluss der Rechten zugenommen . Wie immer er zu viel umfassenderen Sinne als »nur« auf der Ebene von quantifizieren ist – in der seit 2015 vor allem in Euro- Arbeit und Einkommen . Repräsentanz, Kultur, Bildung pa geführten Debatte zu Flucht und Zuwanderung ist es sind Stichworte der Erklärung des rechten Erfolgs, in diese Rechte, die den Ton des öffentlichen Diskurses den USA wie in Europa . Und damit verbunden und als bestimmt und damit auch die Politik in ihrem Sinne be- Motiv häufig zentral, die Ablehnung politischer und kul- einflusst . In Österreich konnte die Wahl eines Bundes- tureller Eliten, die als Ausdruck all dessen gesehen wer- präsidenten von der Freiheitlichen Partei Österreichs den, was sich mit der Entwicklung des letzten Viertel- (FPÖ) in drei Wahlgängen nur äußerst knapp verhindert jahrhunderts verbindet und was für die meisten dieser werden . In den Niederlanden hat sich der Einfluss der Menschen mit Verunsicherungs- und Abstiegserfahrun- Rechten um Geert Wilders und seine »Partei für die Frei- gen zu tun hat: eine neoliberal fundierte Form der kapi- heit« (PVV) trotz des verfehlten Sieges bei den Wahlen talistischen Globalisierung . 2017 deutlich vergrößert und in Frankreich bedarf es zur Verhinderung einer Präsidentin Marine Le Pen der Die radikale Rechte in Europa und den USA bezieht sich Unterstützung eines anderen Kandidaten durch alle po- vor allem auf den Teil der Bevölkerung, der sich nicht als litischen Lager . Offenbar ist die radikale Rechte in ein- Gewinner dieser Art der Globalisierung sieht . Und dieser zelnen Ländern inzwischen so stark, dass nur ein Bünd- Teil ist, auch wenn uns die tägliche Medienberieselung nis aller anderen ihren Sieg verhindern kann . anderes suggerieren will, nicht klein, vielleicht nicht ein- Das Beispiel Frankreich verweist dabei auf ein generel- mal minoritär . Er umfasst äußerst heterogene kulturelle les Problem, das eng mit dem Aufstieg der Rechten ver- und soziale Gruppen der Bevölkerung . Vom mittelstän- bunden ist: das Fehlen einer überzeugenden und mas- dischen Familienunternehmer/in über Selbstständige senwirksamen radikalen Linken . und mittlere Angestellte zu abhängig Beschäftigten und Wenn zunächst ein konservativer Rechter wie François Erwerbslosen . Die Rechte bietet diesen heterogenen An- Fillon und danach ein sich explizit nach links abgren- hängern und Anhängerinnen vor allem zwei Antworten

15 auf die Krise des neoliberalen Kapitalismus: Sie benennt stellation der Zwischenkriegszeit des 20 . Jahrhunderts politisch Verantwortliche und macht ein Lösungsange- enorm . Während damals die soziale Frage als Klassen- bot für die von der Krise Betroffenen . Verantwortlich frage offen zu Tage lag und durch die subalternen Klas- sind die liberalen politischen und kulturellen Eliten, die sen und ihre Parteien auf die Tagesordnung gesetzt die Globalisierung mit all ihren Begleiterscheinungen wurde, ist diese Frage heute nur vermittelt als Klassen- vorangetrieben haben . Die von diesen Eliten verkünde- frage gegenwärtig . Der postfordistische Kapitalismus te Alternativlosigkeit der Entwicklung wendet sich jetzt und die neoliberale Durchdringung aller gesellschaftli- als Bumerang gegen diese selbst . Wer jede Alternative chen Verhältnisse haben zu einer weitgehenden Auflö- ausschließt befördert geradezu die Suche nach radika- sung kollektiver Selbstwahrnehmung geführt, durch die len Änderungen durch diejenigen, die sich als Verlierer die Anrufung gemeinsamer, sozial fundierter Interessen und Verliererinnen der Entwicklung sehen . Die aggressi- äußerst schwer geworden ist . Der Individualisierungs- ve Wendung gegen das Establishment (zu dem die rech- schub ist nicht nur ein Moment neoliberaler Ideologie, ten Führungsfiguren in vielen Fällen selbst gehören) hat sondern macht sich an der Entwicklung des modernen eine Ursache in genau dieser immer wieder beschwore- Kapitalismus und den veränderten Strukturen der Ar- nen Alternativlosigkeit der Entwicklung . Das Lösungs- beitswelt selbst fest . Die immer stärkere Aufspaltung angebot besteht in einer nationalistischen, ethnischen, der abhängig Beschäftigten in die verschiedenen Zonen teils völkischen Definition der Teilhabe am gesellschaft- der Arbeitsgesellschaft (Robert Castel), die Unterschei- lichen Reichtum (ökonomisch und kulturell) . Niemals dung von prekären, gefährdeten und gesicherten Zonen wird von dieser Rechten über die Ausweitung des ge- in diesem Prozess, macht die Wahrnehmung und Artiku- sellschaftlichen Reichtums, über Fragen der Umvertei- lation kollektiver sozialer Interessen schwieriger . Für ei- lung von oben nach unten gesprochen . Hier steht die ne Linke, die genau hier ihr zentrales Feld hat, ergeben radikale Rechte ganz auf dem Boden des privatkapitalis- sich daraus nachhaltige Probleme . tischen Gesellschaftssystems und in Übereinstimmung mit den herrschenden Eliten . Auf die soziale Frage als Während es also der Linken, soweit sie die Themati- Klassenfrage antwortet die Rechte mit der Ethnisierung sierung der sozialen Frage als Verteilungs- und letzt- der sozialen Frage und ist damit erfolgreich . Über die lich als Machtfrage nicht völlig aufgegeben hat, kaum Frage einer bescheidenen sozialen und kulturellen Teil- noch gelingt, kollektive soziale Interessen zu bündeln habe soll nach Zugehörigkeit entschieden werden und und zum Ausdruck zu bringen, gelingt dies der Rech- die Rechte verspricht, den Teil der Bevölkerung, der ten mit dem Thema Zugehörigkeit – vermittelt über Na- partizipieren darf, möglichst klein zu halten . In Zeiten tion, Kultur und »Rasse« – nach wie vor . Was macht die von Massenmigration, Fluchtbewegungen und globalen Attraktivität von Nation, Kultur und »Rasse« gegenüber Arbeitsmärkten heißt das Abschottung vor Zuwande- Klasse aus? Diese Frage muss die Linke beantworten, rung und Geflüchteten . Rassismus, Fremdenfeindlich- um die Klassenfrage selbst wieder attraktiv machen zu keit und Ethnozentrismus werden somit zum wichtigs- können . Dabei ist die rechte Mobilisierung über Nati- ten Versprechen dieser Rechten und garantieren ihren on, Kultur und »Rasse« heute an wichtigen Punkten von gegenwärtigen Erfolg . Die Linke hat – und das ist die der Mobilisierung der Rechten in der Zwischenkriegs- bedrückendste Feststellung – diesem Konzept von Aus- zeit zu unterscheiden . Der biologistisch begründete grenzung und Rassismus nichts auch nur annähernd so Rassismus, der klar nach Höher- und Minderwertigkeit Attraktives und vor allem in den Augen der Wählerinnen unterschied, wurde durch das Konzept des Ethnoplura- und Wähler der Rechten Erfolg versprechendes entge- lismus ersetzt, der Biologie durch Kultur ausgetauscht genzusetzen . und Unterschiede kulturell erklärt . Die aggressive »Aus- Der historische Faschismus hatte in einer Krisenphase merzung« minderwertiger »Rassen« ist heute zu einem des Kapitalismus die das System gefährdende Klassen- Schutz unterschiedlicher Kulturen in ihrer ursprüngli- frage in eine Rassenfrage umgedeutet und war damit er- chen Form geworden . Voraussetzung dafür sei es je- folgreich im Sinne der Stabilisierung gesellschaftlicher doch, die Vermischung von Kulturen möglichst zu ver- Herrschaftsverhältnisse . Auf den ersten Blick könnte es meiden, vor allem dann, wenn es sich um vermeintlich so scheinen, als vollzöge sich gegenwärtig eine abge- völlig verschiedene und inkompatible Kulturen handelt . schwächte Wiederholung dieses Prozesses . Doch bei Was sich im historischen Faschismus als offensive Be- genauerer Betrachtung sind die Unterschiede zur Kon- gründung imperialistischer Eroberung nach außen und

16 absoluter Feindmarkierung nach innen zeigte, stellt sich Ethnozentrismus basierenden Kritik der Globalisierung heute als defensiver Schutz und Erhalt der eigenen Kul- und einem Elitenbashing macht den gegenwärtigen Er- tur dar . Niemand soll beherrscht werden, nur möchte folg der AfD aus . Dabei scheint für die Anhängerinnen man gerne von fremden Einflüssen frei bleiben, was und Anhänger der Partei weniger das, was die AfD in- man schließlich auch den anderen zubilligt . Erhalten haltlich will als vielmehr das, wogegen sie steht, ihre und ein Wesensmerkmal rechter Ideologie bleibt der Attraktivität auszumachen . Das macht die Auseinander- Essenzialismus, der sich früher auf die »Rasse«, heute setzung mit der AfD besonders schwer, weil jede noch auf die Kultur bezieht . Der Nationalismus der Rechten so stichhaltige Kritik an Inhalten und Argumenten der tritt heute zumeist in defensiver Form auf und will nicht AfD am Kern dessen vorbeizielt, wofür sie mehrheitlich als Legitimation von Eroberung und imperialem Macht- bisher gewählt wird . Den Anhängerinnen und Anhän- streben verstanden werden . Trump, Le Pen und andere gern geht es weniger um eine »Alternative für« als um wenden sich gerade gegen den globalen Ordnungsan- eine »Alternative gegen« etwas . spruch, sei es der USA oder der EU . Nicht die faschisti- Insofern richtet sich die Frage, wie der scheinbar unauf- sche Expansion steht im Zentrum ihres Nationalismus, haltsame Aufstieg der AfD (und der radikalen Rechten sondern der Rückzug und die Abschottung des eigenen generell) gestoppt werden kann, weniger auf die AfD nationalen Rahmens . als vielmehr auf die gesellschaftspolitischen Zustän- de, die die AfD hervorgebracht haben . Wenn der Auf- In dieser Wandlung der Rechten liegt ein Grund, warum stieg einer radikalen Rechten in Europa und den USA ihre Anhänger mit dem Verweis auf die Erfahrung des Ausdruck der Krise des gegenwärtigen kapitalistischen Faschismus nicht (mehr) abgeschreckt werden können Gesellschaftsmodells ist, dann muss der Kampf gegen und warum viele voller Überzeugung sich vom Verdacht diese Rechte an diesem Gesellschaftsmodell ansetzen . des Rassismus distanzieren . Wer, wenn nicht eine radikale Linke, sollte diesen Kampf In Deutschland war der Bezug auf oder die unterstell- führen können? Aber der Zustand dieser Linken ist nicht te Nähe zum historischen Faschismus ein besonderes so, dass sie dazu ohne Weiteres in der Lage wäre . Al- Hindernis für eine erfolgreiche und modernisierte radi- so gilt es, bescheidener auf die eigenen Möglichkeiten kale Rechte . Während sich in zahlreichen europäischen zu schauen, um auszuloten, welchen spezifischen Bei- Nachbarländern spätestens seit Beginn der 2000er Jah- trag eine (radikale) Linke leisten kann, um den weiteren re erfolgreiche Parteien der modernisierten radikalen Aufstieg der Rechten und im Speziellen der AfD zu ver- Rechten etablierten, dauerte es in der Bundesrepublik hindern . bis zum Jahr 2013, bis sich eine solche erfolgreiche Par- tei rechts der Union festsetzte . Ohne Zweifel steht die Alternative für Deutschland (AfD) in der Tradition der Dr. Gerd Wiegel, modernisierten radikalen Rechten, wie sie oben skiz- Referent für Rerchtsextremismus/Antifaschismus ziert wurde . Als Neugründung hat sie ihre Wurzeln, an- der Bundestagsfraktion der Partei DIE LINKE; ders etwa als der Front National (FN), nicht im histori- Mitglied des Sprecherrates der BAG Antifaschismus schen Faschismus . Die in der ersten Hälfte der 2000er der Partei DIE LINKE Jahre beobachtbare Aneignung neoliberaler Ideolo- giemomente durch die modernisierte radikale Rechte stand auch bei der Gründung der AfD Pate . Die Vermi- 1 Nachdruck der Einleitung: Gerd Wiegel: EIN AUFHALTSAMER AUF- STIEG . Alternativen zu AfD Co ., PapyRossa Verlag, 2017 schung dieser Elemente mit einer auf Ausgrenzung und

17 Die Saboteure der Aufklärung1 Nach über 430 Tagen endete der NSU-Prozess vor dem OLG München: Bundesanwaltschaft, Verfassungsschutz und Gericht haben Merkels »lückenlose Aufklärung« verhindert

Obwohl der 6 . Strafsenat, der Staatsschutzsenat, des Hand lag und liegt . Beifang einer solchen Aufklärung wä- Oberlandesgerichtes München, wo über fünf Jahre lang re aber die Offenlegung einer tiefen Verstrickung staatli- der NSU-Komplex in Form einer Anklage gegen fünf Be- cher Stellen in die und eine Mitverantwortung des Staa- schuldigte verhandelt wurde, von Nazi-V-Leuten, Ge- tes an den Verbrechen des NSU gewesen, was im Sinne heimdienstaktivitäten, irregulärer Aktenvernichtung einer zu schützenden Staatsräson mit allen Mitteln zu und anderen Formen der Vertuschung nicht nur durch verhindern war, denn – so wird der Zeuge Klaus-Dieter Verfassungsschutzbehörden wusste, hat er sich um die Fritsche, während der Mordphase des NSU Vizepräsident Jahresmitte 2015 offensichtlich entschieden, diesen des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), aus einer Aufklärungsstrang, die Fragen also nach Duldung, Be- Zeugenbefragung vom 18 10. .2012 vor dem ersten NSU- günstigung und Ermöglichung mörderischen rechten Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages Terrors durch eben diese Inlandsgeheimdienste zu kap- zitiert: »Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt wer- pen . Dieser recht abrupte Schwenk des Spruchkörpers den, die ein Regierungshandeln unterminieren« . und das Downgraden der Causa NSU von einem bizar- Woher aber kam dieser Sinneswandel des Münche- ren Geheimdienstskandal und dem staatlichen betreu- ner Senats nach zweieinhalb Jahren Beweisaufnahme? ten Aufwuchs eines viele Dutzend, wenn nicht Hunder- Denn zuvor hatte sich Richter Götzl – sehr zum Leid- te Unterstützer_innen umfassenden Netzwerkes hin zu wesen der Sitzungsvertreter_innen des anklagenden einem überschaubaren Kriminalfall mit einem aus dem Generalbundesanwalts – durchaus auf Abwege bege- Ruder gelaufenen bewaffneten Arm einer Thüringer Na- ben . Nach anfänglich häufigen polternden Zwischen- zi-Kameradschaft, bestehend aus exakt drei Personen rufen, man sei hier schließlich kein Untersuchungsaus- und einer überschaubaren Zahl von Helfer_innen, ist bis schuss, und allfälligem Pochen auf das strafprozessuale heute nicht nachvollziehbar . Zu viele Fakten aus dem Beschleunigungsgebot, verstummte die Bundesanwalt- eigentlich geheimen Bereich des Agierens von Geheim- schaft (BAW) für etwa zwei Jahre fast völlig, während diensten im NSU-Komplex sind im Laufe der Zeit zutage derer das potentielle Netzwerk des NSU zumindest in gekommen, nicht durch Ermittlungen staatlicher Behör- Sachsen und Thüringen ausgeleuchtet werden sollte den jedoch, sondern im Wesentlichen durch unabhän- und fast das gesamte Hessische Landesamt für Verfas- gige Recherchen investigativer Journalist_innen, durch sungsschutz (LfV) bis hinauf zum damaligen Präsidenten Antifa-Arbeit oder – nota bene! – die Nebenklage im Irrgang vorgeladen wurde, um herauszufinden, welche NSU-Prozess, als dass der Aspekt ohne Glaubwürdig- Rolle sein Mitarbeiter, der V-Mann-Führer Andreas Tem- keitsverlust tatsächlich ausgeblendet werden könnte . me, bei der Ermordung Halit Yozgats am 6 . April 2006 Nichtsdestoweniger lehnte der Erkennende Senat unter in Kassel spielte, bei der er in dessen Internetcafé zu- dem Vorsitzenden Richter Manfred Götzl die überwie- gegen war . Nach der eher unambitionierten Befragung gend brillanten und die richtigen Fragen stellenden Be- von rund 60 aktiven oder ehemaligen Angehörigen der weisanträge des arbeitenden Teils der Nebenklagevertre- thüringischen und sächsischen Hardcore-Nazi-Szene tung ab Herbst 2015 im Dutzend ab und erklärte deren aus dem Umfeld des europäischen Netzwerkes »Blood Klärungsbegehren formelhaft für »tatsächlich ohne Be- & Honour« und fünfeinhalb Tagen nervtötender Verneh- deutung« für die Straf- und Schuldzumessung bei den An- mung des als Zeugen geladenen Temme, der sich wand geklagten . Das war umso verblüffender als die Relevanz und bis zum Schluss herumdruckste, er habe von dem dieser Beweisanträge für die Aufklärung des NSU-Kom- Mord nicht das Geringste mitbekommen, legte der »Ho- plexes und die Rolle der Angeklagten durchaus auf der he Senat« diese offenen Fragen ad acta .

18 Dabei gehört gerade die Causa Temme zu den em- wa in das Gespräch des damals Beschuldigten mit dem pörendsten Vorgängen des an Skandalen nicht eben so genannten Geheimschutzbeauftragten des LfV Hes- armen NSU-Komplexes . Nach der Ermordung Halit sen hinein, der das Gespräch mit folgendem Satz eröff- Yozgats mit zwei Kopfschüssen aus der »Signaturwaf- nete: »Ich sage ja jedem: Wenn er weiß, dass irgendwo fe« Ceska 83 mutmaßlich durch die beide NSU-Haupt- sowas passiert, bitte nicht vorbeifahren« . Sätze wie die- täter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt hatte sich Tem- ser, die eigentlich nur so verstanden werden können, me höchst verdächtig verhalten, sich weder bei seiner dass man im LfV schon vor der Tat vom Mordanschlag Dienststelle noch bei der Polizei gemeldet, obwohl ihm auf Halit Yozgat wusste, die aber erst Anfang 2015 ins klar gewesen sein muss, dass man ihn ausfindig ma- Verfahren eingeführt wurden, veranlassten den Senat chen würde . Als er dann als Tatverdächtiger ermittelt nicht, an der Sache dran zu bleiben . Im Gegenteil, mit und ein entsprechendes Ermittlungsverfahren eingelei- der Ablehnung entsprechender Beweisanträge stellte tet worden war, gestand er scheibchenweise ein, was er das Gericht Temme ohne Not auch ein Glaubwürdig- nicht mehr leugnen konnte . Obwohl er zunächst angab, keitszeugnis aus . Im Beschluss vom 12 . Juli 2016 erklär- das Internetcafé der Familie Yozgat gar nicht zu kennen, te das Gericht, sich durch die mehrtägige Vernehmung musste er schließlich einräumen, dass er exakt zur Tat- »einen umfassenden persönlichen Eindruck von dem zeit dort in der viel befahrenen Holländischen Straße Zeugen« verschafft zu haben, dass aber auch bei einer anwesend und in einen Erotik-Chat im Internet einge- »Gesamtbetrachtung sich keine Umstände [ergeben], loggt gewesen sei . Aber er blieb vor den Parlamentari- die den Senat an der Glaubhaftigkeit der Angaben des schen Untersuchungsausschüssen (PUA) des Bundes- Zeugen Temme zweifeln lassen« . Und das, obwohl spä- tages und des Hessischen Landtages und vor Gericht ter aus dem Hessischen PUA heraus noch eine Straf- in München bei seiner Version, dass er von der Mordtat anzeige gegen Temme erstsattet wurde, weil er die Un- nicht das geringste mitbekommen habe, nicht visuell, wahrheit über sein Vorwissen zum NSU vor der Kassler nicht akustisch und auch nicht olfaktorisch . Bis heute Tat gesagt habe, und obwohl das Forscher_innenteam konnte ihn nichts bewegen, diese offensichtliche Un- »Forensic Architecture« von der Goldsmith-University in wahrheit zu widerrufen und endlich zu erzählen, was London, das den Tathergang minutiös rekonstruiert hat, denn wirklich geschehen war . Diese Halsstarrigkeit ist nachweist, dass Temmes Version der Ahnungslosigkeit eigentlich nur so zu erklären, dass er sich der schüt- nicht stimmen kann . zenden Hand seines Dienstherren, des Staates Hessen, Aber die blutige Temme-Posse ist nur eine der zahllo- sicher sein kann . Der damalige Innenminister Hessens sen offenen Fragen bei der Aufklärung des NSU-Kom- und heutige Ministerpräsident Volker Bouffier hatte die plexes . Selbst handfeste Skandale vermochten es nicht, Befragung der damaligen V-Leute Temmes untersagt einen öffentlichen Aufschrei gegen diese Art von Ge- und auch dafür gesorgt, dass das Ermittlungsverfahren heimdienstarbeit hervorzurufen: Auch der zumindest gegen Temme schon bald ergebnislos eingestellt wurde . merkwürdige Tod eines wichtigen Zeugen, der etwa zum Und das, obwohl Temme noch kurz vor dem Mordan- Einfluss des Ku-Klux-Klans auf das Geschehen hätte aus- schlag ein Telefonat mit seinem V-Mann Benjamin Gärt- sagen können, blieb ohne Folgen für den Verfassungs- ner geführt hatte, das elf Minuten dauerte . schutz . V-Mann Thomas Richter, in seiner Heimatstadt Eine insgesamt unglaubwürdige Geschichte, die zu- Halle/Saale »HJ-Tommy« genannt und beim Geheim- nächst auch den Senat in München zu interessieren dienst als »Corelli« geführt, wird am 7 . April 2014 tot schien, wiewohl sich das Gericht andererseits bis zum in seiner Zeugenschutz-Wohnung bei Paderborn aufge- Schluss nicht dazu durchringen konnte, die damaligen funden . Zwei Jahre später werden in einem Tresor im Verfahrensakten zu Temme dem Münchener Prozess- Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) ein Handy und Aktencorpus beizuziehen . Dank umfangreicher Recher- mehrere bisher nicht ausgewertete Sim-Karten Corellis chen der Nebenklagevertretung der Familie Yozgat, und gefunden . Auch ein weiterer Zeuge verstarb auf unge- sogar Fahrten nach Karlsruhe, um bei der BAW diese klärte Weise in Stuttgart, wo er in seinem Auto verbrann- Akten einzusehen, konnten jedoch durchaus brisante te . Ebenfalls im Frühjahr 2016 wurde bekannt durch Re- Details zutage gefördert werden . So ließen die Anwält_ cherchen des Journalisten Dirk Laabs, dass es in Zwickau innen etwa die Mitschnitte der Telefonüberwachung einen weiteren V-Mann des BfV gab, der mit dem »Trio« Temmes während der Zeit des laufenden Ermittlungs- in Kontakt stand: Ralf »Manole« Marschner, der amtlich verfahrens gegen ihn neu transkribieren und hörten et- »Primus« hieß, soll in den Jahren 2000–2002 – zu einer

19 Zeit also, als die rassistische Mordserie schon begonnen ner Behörden aufgekommen . Bundesanwalt Herbert Die- hatte – das NSU-Mitglied Uwe Mundlos, vielleicht sogar mer wörtlich: »Es ist einfach nicht richtig, … dass Fehler auch Uwe Böhnhardt, unter falschem Namen in seinem staatlicher Behörden und das Netzwerk nicht aufgeklärt Baugeschäft beschäftigt haben . Möglicherweise arbei- worden seien: Fehler und Verstrickung staatlicher Behör- tete auch Beate Zschäpe bei ihm in einem seiner neo- den hat es nicht gegeben, sonst wären sie verfolgt wor- nazistischen Szeneläden . Die zahlreichen Enthüllungen den .« Schon im Mai 2017 hatte Diemer mit der Gravität dieser Art – zu nennen sind noch der ungeklärte Tat- der staatlichen Behörde und in der ihm eigenen gepfleg- Komplex von Heilbronn, die Rolle des V-Mannes »Piat- ten Rüpelhaftigkeit jene als »sogenannte NSU-Experten« to« in Brandenburg, Sachsen und Thüringen, der schon beschimpft, die »skanadalträchtige Spekulationen« in 1998 auf die Untergetauchten, ihre Suche nach Waffen die Welt setzten . In einer Art Vorwort zum Schlussvor- und bereits erfolgte Banküberfälle korrekt hingewiesen trag der Bundesanwaltschaft Ende Juli legte er noch ein- hatte, und etliche weitere »Ungereimtheiten« – blieben mal nach und bezeichnete die Kritiker_innen der BAW, ohne nennenswerte Folgen für die Ämter . die seinen nicht mehr ganz frischen, aber für ihn un- Mit dem Beginn der Plädoyers der Nebenklage Mitte No- umstößlichen Schlussfolgerungen nicht folgen wollten, vember 2017 schlug im NSU-Prozess in München noch als »Irrlichter« und »Fliegengesumme im Ohr« . Dass die einmal die Stunde der Wahrheit: Mit brillanten und auf- starren Thesen der Bundesanwaltschaft durch ständige einander abgestimmten Schlussvorträgen fächerten die Wiederholung nicht an Stichhaltigkeit gewinnen, son- Vertreter_innen der Betroffenen und Überlebenden des dern sogar vom Bundestagsuntersuchungsausschuss NSU-Terrors noch einmal den ganzen Skandal auf, den in Frage gestellt werden, stört Diemer und seine beiden der »NSU-Komplex« darstellt und zu dessen Aufarbei- Kolleg_innen im NSU-Verfahren offenbar wenig . Sie be- tung und Aufklärung der Mammutprozess nicht eben haupten einfach und kontrafaktisch, dass die »Existenz viel beigetragen hatte . 95 Betroffene der neonazisti- von rechten Hintermännern an den Tatorten, die einige schen Verbrechen des NSU hatten sich der Anklage des Rechtsanwälte ihren Mandanten offensichtlich verspro- Generalbundesanwalts gegen die fünf Angeklagten an- chen hatten, … sich bislang weder in den seit sechs Jah- geschlossen und einige wenige von ihnen meldeten sich ren laufenden Ermittlungen und der Hinweisbearbeitung, in der Plädoyerphase auch selbst zu Wort, ein Recht, das noch in der 360-tägigen Beweisaufnahme …, noch in den sie nur als Nebenkläger_innen im Strafprozess haben . breit angelegten Beweiserhebungen der zahlreichen Un- Das war keine Selbstverständlichkeit, denn die Enttäu- tersuchungsausschüsse bewahrheitet« hätte . schung gerade bei den Betroffenen ist groß, dass der Das klang damals zwar erstmal gut, stimmt nur leider Prozess es nicht vermocht hat, die wesentlichen Fra- nicht: Der zweite NSU-Bundestagsuntersuchungsaus- gen, Ungereimtheiten und Leerstellen des NSU-Kom- schuss betonte im Abschlussbericht und auch in der plexes aufzuhellen . Doch der Staat wusste jede Menge, Anhörung dazu im Bundestag genau das Gegenteil, dass drangsalierte aber über Jahre die Opfer der Verbrechen nämlich die BAW durchaus nicht ausermittelt habe, was mit rassistischen und kriminalisierenden Ermittlungen zu ermitteln gewesen wäre . Auf Seite 947 des 1 800 Sei. - und ist bis heute dabei, die eigenen Tatbeiträge zu ver- ten starken Berichts vom Juni vergangenen Jahres heißt tuschen und die Aufklärung zu behindern . es etwa, dass »der Zeitdruck, unter dem die Ermittlun- Die Bundesanwaltschaft hatte in ihrem achttägigen Plä- gen … standen, mit dazu beitrug, das Ermittlungskon- doyer Mitte 2017 zwar hohe Strafen für zumindest drei zept frühzeitig eng zu fassen . Zwar mag eine zügige An- der fünf Angeklagten, insbesondere eine lebenslange klageerhebung nicht mit langwierigen Ermittlungen zu Freiheitsstrafe für Beate Zschäpe bei besonderer Schwe- bundesweit agierenden Neonazi-Netzwerken vereinbar re der Schuld und anschließende Sicherungsverwahrung gewesen sein . Allerdings wäre nach Anklageerhebung sowie 12 Jahre wegen Beihilfehandlungen für Ralf Wohl- eine breitere Ermittlungskonzeption möglich und aus leben und André Eminger gefordert und Eminger aus Sicht des Ausschusses auch geboten gewesen . Schließ- dem Gerichtsaal heraus festnehmen lassen . Im Kern lich stand und steht nicht fest, dass es keine weiteren aber war sie bei der Version geblieben, die schon in der strafbaren Unterstützungsleistungen gegeben hat «. Anklageschrift gestanden hatte und als seien im Verlauf Es blieb dann den Nebenklagevertreter_innen in ih- des Prozesses nicht erhebliche Zweifel an ihrer These ren Plädoyers überlassen, diese sturen und falschen einer isolierten Drei-Personen-Zelle mit wenigen hand- Behauptungen noch einmal in aller Deutlichkeit zu wi- verlesenen Helfern und an der Rolle des Staates und sei- derlegen und vom »institutionellen Rassismus« als Ge-

20 neralbass der Ermittlungsbehörden ausgehend, deren den und führt weiter Fragende immer wieder zur zent- Verstrickung und die unheilvolle Rolle des Verfassungs- ralen Rolle der Bundesanwaltschaft . In der exzellenten schutz genannten Inlandsgeheimdienstes herauszuar- Arbeit von Isabella Greif und Fiona Schmidt dazu wird beiten . So hielt Nebenklageanwalt Sebastian Scharmer diese wie folgt auf den Punkt gebracht: »Das Handeln einen bemerkenswerten Folienvortrag über das Netz der BAW [torpediert] die Aufklärung von Institutionel- von V-Leuten, also Zuträgern des Staates aus der Na- lem Rassismus und staatlichen Verstrickungen im NSU- zi-Szene, welches das NSU-Kerntrio nachweislich eng- Komplex … Die BAW nutzt ihre Möglichkeiten an Ermitt- maschig umgeben hat: In bizarrem Gegensatz zu Die- lungen und Auskunftsrechten nur so weit aus, dass das mers Behauptungen lassen sich mindestens 40 solcher Handeln staatlicher Behörden nicht in den Fokus gerät . Spitzel in unmittelbarer Nähe von Mundlos, Böhnhardt Indem V-Personen und die Rolle der Verfassungsschutz- und Zschäpe ausmachen . Und diese Erkenntnisse las- behörden unter Leitung der jeweiligen Innenministeri- sen sich zusammentragen, obwohl das Bundesamt für en zum Schutze des Regierungshandelns der Strafver- Verfassungsschutz und eine ganze Reihe der eigenstän- folgung entzogen werden können, wird die Staatsräson digen Landesämter redlich bemüht waren, entscheiden- über die Aufklärung von Straftaten gestellt . In diesem de Nachweise und Akten systematisch zu vernichten Sinne schränkt die BAW informationspolitisch nicht nur oder Ermittlern, Parlamentarischen Untersuchungsaus- die Transparenz über ihre eigenen Ermittlungen und die schüssen und dem Gericht selbst vorzuenthalten . In ih- Erkenntnisse anderer Behörden ein, sondern auch ei- rem fulminanten Plädoyer zeichnete Nebenklageanwäl- ne mediale, prozessuale und politische Öffentlichkeit .« tin Antonia von der Behrens die Entwicklung des NSU Die BAW hatte von Anfang an die Aufgabe, den Staat und seines Netzwerks im »Untergrund« nach – der kei- und die geheimdienstliche Sphäre der Staatsräson vor ner war, die Untergetauchten bewegten sich lange Zeit dem Zugriff allzu Wissbegieriger zu schützen, um eben frei und offen in der Chemnitzer Naziszene – und par- zu verhindern, dass »Regierungshandeln unterminiert« allelisierte dieses Wissen mit dem, was »Sicherheitsbe- werde . Wenn es dazu die Verstrickung staatlicher Ak- hörden« zu dieser Zeit unternahmen und von den Flüch- teur_innen in rassistische Morde, Sprengstoffanschlä- tigen wussten . Sie kommt zu dem Schluss, »dass das ge und weitere brutale Verbrechen, mindestens aber Netzwerk des NSU groß und bundesweit war und dass ihr Wissen darüber, herunterzuspielen, zu leugnen und von einem abgeschottet agierenden Trio ebenso wenig zu vertuschen galt, so war das den Aufwand und vorü- die Rede sein kann wie davon, dass die VS-Behörden bergehenden Glaubwürdigkeitsverlust wert: Dem Ver- keine Kenntnisse über Ursprung und Existenz des NSU fassungsschutz, so kann man zusammenfassen, konnte hatten« . Trotz diesem Wissen hätten die Behörden nicht nichts Besseres als der NSU passieren . Er steht heute eingegriffen, um die Verbrechen zu verhindern, die vor besser da denn je, hat mehr Geld, mehr Mitarbeiter_ ihren Augen vorbereitet und begangen wurden . Im Ge- innen, mehr Kompetenzen und V-Leute genießen seit genteil, mehrere Nebenklageanwält_innen wiesen dar- 2015 Straffreiheit bei noch mehr »szenetypischen« De- auf hin, dass ohne staatliche Hilfe etwa über den Thü- likten als bisher . Und der Imageschaden war, zumindest ringer V-Mann Tino Brandt, dem für seine Spitzeldienste in den Leit- und Qualitätsmedien, trotz bis heute immer 200 000 DM. und reichlich Spesen und technischer Sup- neuer skandalträchtiger Enthüllungen und haarsträu- port zuteil geworden waren, die dortige Naziszene nicht bender Skandale, schon 2012 im Grunde vergessen . in der Weise hätte gedeihen können, so dass daraus zu- nächst der »Thüringer Heimatschutz« (THS) und dann eben der NSU haben entstehen können . Fiedrich Burschel, Warum aber lassen staatliche Stellen derartig monströ- Referent zum Schwerpunkt Neonazismus und Struk­ se Strukturen entstehen? Die Frage nach einem Motiv turen/IdIelogiien der Ungleichwertigkeit, Akademie für das Handeln der Sicherheitsbehörden sei unbeant- für Politische Bildung der Rosa-Luxemburg-Stiftung; wortet, so von der Behrens . Die dargestellten Vorgänge Mitglied des Sprecherrates der BAG Antifaschismus zeigten aber deutlich, »dass nichts für Fehler, sondern der Partei DIE LINKE . alles für gezieltes Handeln spricht« . Die Frage, warum es eine Aufklärung des NSU-Komple- xes gar nicht hat geben können, ist unterdessen schon 1 Dieser Beitrag erscheint in gekürzter Fassung auch in der Zeitung der Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gewor- Roten Hilfe e .V . »Die Rote Hilfe« .

21 »Linke Gewalt« als Politisches Konstrukt Interview mit Friedrich Burschel

In der Themenreihe »Auf Augenhöhe« beschäftigt sich vist_innen aus der Menschenrechts- oder Antifa-Arbeit jup! mit unterschiedlichen Formen von Gewalt . Doch und so genannten Multiplikator_innen besteht, also was meint »Gewalt« genau? Auch wenn ein Adjektiv vo- Leuten, die an verschiedenen Stellen und in verschie- rangestellt wird, bringt das nicht mehr Klarheit in die denen Funktionen zu diesem Themenbereich arbeiten Sache – ganz im Gegenteil . Der Begriff »Linke Gewalt« und die Ergebnisse dieser Arbeit verbreiten können . wurde und wird häufig von Rechten benutzt, um Res- Wir erarbeiten gemeinsam Bildungsbausteine, Handrei- sentiments, also Vorurteile, gegen die Linken zu schü- chungen, Unterrichtsmaterialien und leicht verständli- ren und sie in ein schlechtes Licht zu rücken . Es gilt al- che Themenhefte, die sich mit all den nicht schönen so, genau hinzusehen, WER die Begriffe nutzt und IN Phänomenen in diesem Feld beschäftigen . Es geht aber WELCHEM KONTEXT sie verwendet werden . jup! setzt nicht nur um den organisierten Neonazismus und rech- sich mit dem Begriff auseinander und hinterfragt ihn ten Terror wie den des »NSU«, wo ich z .B . seit fünf Jah- kritisch . Wir haben mit Friedrich Burschel von der Rosa- ren den Prozess gegen Beate Zschäpe und vier weite- Luxemburg-Stiftung genau darüber gesprochen . Außer- re Angeklagte vor dem Oberlandesgericht in München dem erklärt er im Interview, für was die politische Linke beobachte . Es geht auch um alle Formen von men- steht, was ihre Ziele und Ideen sind und wo man sich schenfeindlichen Ideologien, die so genannte »Grup- gegen Rechts engagieren kann . penbezogene Menschenfeindlichkeit«, institutionellen Rassismus im staatlichen Apparat, um den allgegenwär- jup!: Herr Burschel, Sie sind bei der Rosa-Luxem- tigen Alltagsrassismus, es geht um Erscheinungen wie burg-Stiftung Referent zum Thema Neonazismus Pegida, um den Aufstieg der selbsternannten »Alterna- und Strukturen/Ideologien der Ungleichwertig- tive für Deutschland« (AfD), der mit dem Erstarken neu- keit. Was bedeutet das genau? Welche Aufgaben er und alter faschistischer Strömungen und Gruppen beinhaltet Ihre Arbeit? wie den »Identitären«, der so genannten Neuen Rech- ten einhergeht, es geht um die so genannten Reichsbür- Friedrich Burschel: In meiner Arbeit geht es darum, ger, um Antisemitismus, also Hass gegen Jüdinnen und Entwicklungen im Bereich des organisierten Neonazis- Juden, um Hass auf Sinti und Roma, antimuslimischen mus zu beobachten und zu analysieren, sie in einen ge- Rassismus und alle Formen zum Teil gewalttätigen ras- sellschaftlichen Zusammenhang zu stellen – auch nicht sistischen Hasses . nur bezogen auf Deutschland, sondern u .U . auch auf EU-Europa, Europa als Ganzes oder auch internationa- In der Themenreihe »Auf Augenhöhe« geht le Phänomene . es um verschiedene Formen von Gewalt. Derzeit erleben wir ja weltweit, dass autoritär-populis- Dabei ist Gewalt ein sehr weiter Begriff. tische, nationalistische, zum Teil gar faschistische Be- Was ist Ihre Definition davon? wegungen derartigen Zulauf erleben . Sie werden nicht Gewalt ist zunächst ein unbestimmter, wenn auch und nur zu einer ernsten Gefahr für verletzliche Gruppen zurecht mit negativen Assoziationen behafteter Begriff, und Minderheiten, sie sind sogar an Regierungen betei- der die Anwendung physischer Mittel und psychischen ligt, siehe Österreich, Ungarn, Polen und letztlich auch Zwangs zur Erreichung eines Ziels oder um ihrer selbst in den USA, in Russland oder auf den Philippinen . Der Willen bezeichnet . Das kann unmittelbarer Zwang sein, Schwerpunkt meiner Arbeit liegt aber auf Deutschland . wie er zum Beispiel von der Polizei bei einer Festnahme Ich versuche ein funktionierendes Netzwerk aufzubau- angewendet wird, das kann ein kriegerischer Akt sein, en und zu pflegen, das aus Wissenschaftler_innen, Jour- der meist von einem Staat ausgeht oder sich im Bür- nalist_innen, Leuten aus der Politischen Bildung, Akti- gerkrieg gegen Gruppen innerhalb eines Landes richtet,

22 das kann Gewalt zwischen Personen oder Gruppen bis trachtet werden und waren im historischen Kontext in hin zu Mord und Totschlag sein, das kann organisierte, ihrer Gewaltförmigkeit – wie man heute so schön sagt – auch staatliche Gewalt gegen Menschen und Gruppen meist alternativlos . Das gilt übrigens bis heute, wenn sein bis hin zum Pogrom und zum Massenmord und Ge- ich zum Beispiel an die Kämpfe von indigenen Mapuche nozid, wie ihn die Deutschen historisch im Nationalso- in Argentinien und Chile nach Jahrhunderten der Un- zialismus mit der Shoah, also mit der industriellen Ver- terdrückung denke, an Schwarzen Widerstand und die nichtung der Europäischen Jüdinnen und Juden, auf die Kämpfe von Native Americans in Nordamerika, an den Spitze getrieben haben . kurdischen Befreiungskampf und viele andere auch so- Aber es geht auch um subtilere Formen von Gewalt, die ziale Kämpfe und gegen Rassismus und Unterdrückung sich etwa in Benachteiligung und strukturellen Gege- gerichtete Aktionen und Widerstände . Also ja, es gibt benheiten äußern, die nicht gleich als Gewalt oder ge- Formen legitimer Gewaltanwendung . waltförmig wahrgenommen werden . Die jahrhunderte- Es kommt aber darauf an, genau hinzusehen, wie es zu lange Unterdrückung von Frauen, die Ausbeutung durch dieser Art von Gewalt kommt und wer sie wie begründet . Arbeit, die oft rassistische Diskriminierung von Minder- heiten, die Ausgrenzung von als »anders« stigmatisier- Was denken Sie, wenn Sie den Begriff »Linke ten Menschen, von Homosexuellen zum Beispiel, oder – Gewalt« hören, um den es auf dem nächsten aktuell – von Geflüchteten gehören dazu . Das sind oft Podium von »Auf Augenhöhe« gehen soll? Formen, in denen physischer Zwang oder physische Ge- Die Benennung »linker Gewalt« ist meist ein Konstrukt, walt nicht explizit zum Einsatz kommen, für die Betrof- um andere Formen von Gewalt zu decken, um linke fenen aber extreme Gewalterfahrungen bedeuten . Auch Kämpfe mit Nazi-Terror und rassistischer Gewalt gleich- Sprache kann Gewalt sein, etwa wenn in Sozialen Me- zusetzen und damit zu delegitimieren . Natürlich gibt dien Menschen angegriffen, diffamiert, beschimpft und es auch doofe Formen von Gewalt, die von Linken aus- bedroht werden . Nazis zum Beispiel, die bekanntlich geht, die ich aber definitiv nicht meine . Ich meine vor auch vor jeder anderen Form physischer Gewalt nicht allem Formen von Notwehr und Nothilfe, wie sie ausge- zurückschrecken, nennen diese verbale Gewalt den »In- übt wurden von jungen Antifaschist_innen und alterna- fokrieg« und setzen diese Form von Gewalt gezielt ge- tiven Jugendlichen oder als »Ausländer« ausgegrenzten gen politische Gegner_innen ein . Menschen, die sich in ihren Kommunen mit extremer Nazi-Gewalt meist schutzlos konfrontiert sahen oder se- Gibt es Formen von Gewalt, die tolerabel sind oder hen und von ihren Mitbürger_innen und der Polizei im aus verschiedenen Gründen toleriert werden? Stich gelassen oder – im Gegenteil – noch als die Aus- Welche und warum? löser der Gewalt diffamiert werden . Betroffen sind aktu- Selbstverständlich würde sich jeder vernünftige Mensch ell nicht nur Linke und Antifas im ganzen Land, sondern eine ideale Welt ohne jede Gewalt wünschen . In der Re- vor allem Geflüchtete und ihre zivilgesellschaftlichen Un- alität gibt es aber Situationen, in denen Gewalt legitim terstützer_innen: Die Antwort der Bundesregierung auf und sogar notwendig sein kann: Das wohl schlagendste eine kleine Anfrage der Linken im Bundestag zu rassis- Beispiel dafür ist die Niederringung des nationalsozialis- tischen Übergriffen, Angriffen und Anschlägen umfasst tischen Mordregimes, wo »die ganze Welt«, insbesonde- 145 Seiten . Allein für das Jahr 2016 sind über 2 500. sol- re aber die Westalliierten und die sowjetische Rote Ar- cher Gewalttaten im ganzen Land aufgelistet . Es kommt mee die Deutschen in ihrem Wahn gestoppt und damit vor, dass sich die Betroffenen von einer feindseligen Be- einen Krieg beendet und weitere extreme rassistische völkerung umgeben sehen und die Staatsgewalt nicht Gewalt verhindert haben, die bereits mehr als 50 Mil- gegen die Gewalttäter_innen vorgeht . Während die paar lionen Menschen das Leben gekostet hatte . Auch Akte Aufrechten, die den Geflüchteten zur Seite stehen, diffa- des Widerstands, Sabotageakte und Angriffe von Wider- miert, isoliert und noch von derselben Polizei drangsa- standskämpfer_innen, Partisan_innen und KZ-Häftlin- liert werden, gehen viele der Täter_innen, darunter häu- gen gegen die Nazis waren legitim, jedes Mittel war ge- fig organisierte Nazis, straflos aus . Das ist eine Situation, rechtfertigt, das gegen dieses mörderische und zutiefst in der gezielte und angemessene Formen von Gegenge- unmenschliche Regime gerichtet war . walt aus Notwehr durchaus akzeptabel sein können, das Aber auch die antikolonialen Kämpfe zur Befreiung von ist meine persönliche Meinung! den imperialistischen Mächten können als legitim be-

23 Warum ist das Thema so sensibel? riestaaten dieser Welt und ist mit seiner Bevölkerung Das Problem ist doch, wie wir gesehen haben, wer defi- Nutznießer einer gigantischen und bereits Jahrhunderte niert, was Gewalt ist und ob sie legitim ist . Der deutsche währenden Ausbeutung auf Kosten von Menschen im so Staat, der das Gewaltmonopol für sich beansprucht, er- genannten »globalen Süden«, wo Menschen versklavt, klärt alle Formen von Gewalt, außer seiner eigenen, für ausgebeutet, verschleppt, vertrieben und misshandelt illegitim . So ein Anspruch muss nicht falsch sein und werden, deren Rohstoffe und Bodenschätze rücksichts- hat staatstheoretisch eine lange Geschichte . Dieser An- los für das »schöne Leben« im »globalen Norden« ge- spruch, dass nur der Staat oder ein staatsförmiges Ge- raubt und abtransportiert werden . Diesem äußersten bilde als Ordnungsgarant ein Recht haben soll, Gewalt Gewaltverhältnis sind Hunderte von Millionen Men- anzuwenden, ist durchaus nicht von der Hand zu wei- schen in den zurückliegenden 500 Jahren zum Opfer sen, vor allem wenn man den Menschen grundsätzlich gefallen und ihrer fundamentalen Rechte beraubt wor- nicht nur redliche und friedliche Ziele unterstellt . Nur, den . Dieses Gewaltverhältnis heißt Kapitalismus und ist der Staat ist vielfach eben auch Partei und parteiisch, die Grundlage des geradezu absurden Überflusses und richtet seine Gewalt gegen die einen – hier vor allem ge- Wohlstandes, in dem Menschen hier leben . Diese Ge- gen Linke, auch solche, die sich gezwungen sehen, le- walt lässt sich aber in keiner Weise mit den gerne zitier- gitime Formen von Gegengewalt z .B . gegen Naziterror ten hehren Werten von Demokratie in Einklang bringen . anzuwenden –, lässt aber andere mit ihrer Gewalt ge- Die westlichen Demokratien, die sich auch gerne als währen . Wir haben das im Nachwendedeutschland er- Hüter der Menschenrechte darstellen, beruhen auf mör- lebt, dafür stehen die Pogrome von Rostock-Lichtenha- derischer Ausbeutung und rücksichtslosem Raub auf gen, Hoyerswerda und Mannheim schlagwortartig, und Kosten des weit größeren Teils der Menschheit . Wenn wir erleben das aktuell in vielen Städten wie Wurzen, wir also von diesem globalen Gewaltverhältnis ausge- Cottbus oder Bautzen wieder und wieder . Leider bean- hen, bekommen die Proteste gegen den G20 als eine sprucht der Staat nicht nur das Gewaltmonopol, sondern Versammlung der Führer_innen der Staaten, die von auch die Definition dessen, was als Gewalt zu betrach- diesem kapitalistischen System profitieren, nochmal ten ist . Wenn wir uns zum Beispiel die Proteste von Ge- einen ganz anderen Sinn und können sich durchaus auf flüchteten gegen ihre Abschiebung anschauen, wo mit legitime Formen von Gegenwehr gegen die gewaltför- extremer Polizeigewalt gegen Menschen in hoffnungslo- mige Weltwirtschaftsordnung berufen . Dabei sage ich ser Lage vorgegangen wird, wie zuletzt in Donauwörth, gar nicht, dass es nicht streckenweise zu Gewaltexzes- Witzenhausen oder Ellwangen, und hinterher über die sen gekommen ist von Idioten, die die Gunst der Stunde »Gewalttäter« berichtet wird und ein Bundesinnenmi- für ihren Spaß an der Gewalt genutzt haben . Damit ha- nister vom »Mißbrauch des Gastrechts« schwadronie- be ich nichts am Hut . Aber Formen von Massenprotest, ren kann, da geht mir der Hut hoch! Und die meisten Blockaden, zivilem Ungehorsam und kollektivem Regel- Medien begleiten das nicht etwa kritisch, sondern wer- verstoß sind allemal gerechtfertigt gegen diese brutalen den Verlautbarungsorgane einer Staatsgewalt, die mit »Herr_innen der Welt« . völlig unverhältnismäßiger Gewalt gegen Unbewaffnete Und es hat, das ist dann ja auch später dokumentiert und Menschen in einer verzweifelten Lage vorgehen . In worden, Gewaltexzesse seitens der Polizei gegeben, die nicht einem einzigen Bericht kommen die Betroffenen zu dem Gewaltmonopol des Staates hohnsprechen . Die Wort . Aber wenn irgendwo der Pegida-Mob tobt und kra- Definitionsmacht über das Geschehen hatten indes die keelt, man dürfe seine Meinung nicht mehr sagen, sieht Polizei und der damalige Hamburger Bürgermeister Olaf er sich einem Wald von Mikrofonen gegenüber . Scholz, die so taten, als sei der Staat in einem Notstand und dürfe mit allen Mittel »die Ordnung wieder herstel- Beim G20-Gipfel in Hamburg wurden die Proteste len« . Der großartige Protest von Zehntausenden wurde in ein schlechtes Licht gerückt. Woran lag das? ausgeblendet und mit der Propaganda gegen »linke Ge- Wie schätzen Sie die Wahrnehmung der Linken in walttäter« die Beurteilung des Geschehens dominiert . der deutschen Bevölkerung ein? Wie wird diese Dabei sind auch einige Medienvertreter_innen von der Wahrnehmung gesteuert/beeinflusst und durch Polizei massiv an ihrer Arbeit gehindert oder sogar miß- was? Was ist die Rolle des Staates dabei? handelt worden . Die meisten bürgerlichen Medien sind Also, jetzt wird die Sache noch ein bisschen kompli- dabei jedoch ihrer Kontrollfunktion und ihren umfas- zierter: Deutschland gehört zu den führenden Indust- senden und unvoreingenommenen Berichterstatter_in-

24 nenpflichten in keiner Weise nachgekommen . Ich kenne kämpfen gegen Rassismus und Sexismus, sind in ihrer viele junge, auch sehr junge Leute, die in Hamburg mit- Grundausrichtung antikapitalistisch, weil sie den Zu- protestiert haben . Viele von ihnen haben die völlig in- sammenhang zwischen der herrschenden Ordnung und akzeptable Polizeigewalt beim G20-Gipfel als geradezu illegitimer Gewalt sehen . Antifa steht für kämpferische traumatisierende Entgrenzung und Missachtung ihrer Solidarität, auch internationale Solidarität . Und Antifa staatsbürgerlichen Grund- und Freiheitsrechte empfun- arbeitet mit allen Mitteln gegen die staatliche Repressi- den . Sie sind für mich der Maßstab für die Beurteilung on gegen linke Akteur_innen unter dem Siegel der »Ex- dessen, wer dort Gewalt mit welcher Begründung ange- tremismusdoktrin«, also der Gleichsetzung von rassisti- wendet hat . schem und rechtem Terror mit linken Kämpfen für eine sozialere und menschlichere Welt . Welche Positionen vertreten die linken Initiativen und welche Ziele verfolgen sie? Hat sich der Konflikt zwischen Rechts und Eine linke Position stellt immer den Menschen in den Links in den letzten Jahren verändert? Mittelpunkt und versucht auch bei der Frage nach Ge- Ich hoffe, es ist bis hierher rüber gekommen, dass ich waltanwendung die humane Orientierung nicht zu ver- diese Frage nach der Auseinandersetzung zwischen lieren . Es geht für Linke – auch nach bitteren histori- »Linken« und »Rechten« für eine Propaganda-Konstella- schen Irrwegen und Fehlern – stets um Gerechtigkeit, tion halte, mit der Kämpfe gegen Faschismus und men- Gleichberechtigung, Emanzipation . Es geht um eine schenfeindliche Ideologien an den Rand geschoben und bessere Welt und eine gerechtere Welt(wirtschafts)ord- mit dem Gegenstand dieser Kämpfe gleichgesetzt wer- nung, um eine Alternative zum alles verschlingenden den . Antifaschismus geht es ums Ganze, nicht nur um und zermalmenden Kapitalismus . Auch um Menschen- die organisierten Nazis im Lande und den applaudieren- rechte und Menschenwürde, damit es nicht einfach nur den Mob, denen wir entgegentreten, sondern um die leere Begriffe sind, die man bei Bedarf auch zur Recht- Gewalt, die von den »friedlichen« Demokratien auf dem fertigung illegitimer Gewalt gebrauchen kann, etwa bei Globus ausgeht und die sie zu Mittäter_innen, Nutz- völkerrechtswidrigen Angriffskriegen wie im Kosovo nießer_innen und Dulder_innen dieser, eben auch ras- 1999 und in Syrien vor ein paar Wochen . sistischen und faschistischen Gewalt weltweit werden lässt . Oder was für Interessen der deutschen Komfort- Wie kann man Nazis die Stirn bieten? Demokratie stecken hinter der Duldung des faschisti- Wo kann man sich gegen Rechts engagieren? schen Angriffskrieges der Türkei gegen die Kurd_innen Organisiert Euch in der Antifa, geht zu Bürger_innen- in Nordsyrien, außer wirtschaftliche und der Wunsch, bündnissen gegen rechts, tretet den Gewerkschaften die Türkei möge »uns« auch weiter fliehende Menschen bei oder engagiert Euch meinetwegen auch parteipo- vom Hals halten? litisch in den verschiedenen Initiativen gegen Rechts . Da gibt es zum Beispiel das tolle Projekt »Aufstehen ge- [Dieses Interview zum Thema »Linke Gewalt« mit dem gen Rassismus«, das von den Jugendorganisationen der Mitarbeiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Friedrich Bur- Linken (solid!), der Grünen (Grüne Jugend) und der SPD schel, wurde auf dem Portal »Jugend und Politik« (https:// (Jusos) getragen wird . Mein Herz schlägt aber für eine jup.berlin/linkeGewalt) der Jugend- und Familienstiftung antifaschistische Organisierung mit allen Facetten des- Berlin (jfsb) am 25.5.2018 veröffentlicht. Wir fragen uns sen, was Antifas so tun . Dazu gehört auch politische Bil- noch heute, warum es nach 5 Tagen wieder aus dem Netz dung, Recherche- und Archivarbeit, politische Interven- genommen wurde. jfsb-seitig hieß es offiziell, man sei tion, Straßenprotest, Ziviler Ungehorsam und auch der mit dem Ergebnis der Diskussion so zufrieden gewesen, beherzte und verantwortungsvolle Einsatz an der Sei- dass man noch am Tag einer abschließenden Podiums- te von Schutzlosen und Verletzlichen, von Minderheiten diskussion (die im Netz dokumentiert ist) bestimmte De- und menschenrechtlich Engagierten, von Betroffenen battenbeiträge des Dossiers zu »Linker Gewalt« aus dem rechter Gewalt und rechten Terrors . Antifaschist_innen Netz entfernte – #merksteselberoder

25 Partikularismus oder Universalismus? Neuere Veröffentlichungen zur christlichen Rechten machen Kulturkämpfe innerhalb der Kirchen deutlich.1

Rezensionsessay zu: Liana Bednarz: Die Angstprediger . onsfeindlichkeit, was aber nicht zwingend den Verzicht Wie rechte Christen Gesellschaft und Kirchen unter- auf einen humorvollen Umgang mit Religion und eine wandern . Droemer, München, April 2018; Lucius Teidel- grundsätzliche Religionskritik« bedeute . Ohne für Dif- baum: Die christliche Rechte in Deutschland . Struktu- ferenzen blind zu sein, gebe es bei einem Blick auf die ren, Feindbilder, Allianzen . Unrast, Münster, März 2018; bereits praktizierte Zusammenarbeit in der politischen Wolfgang Thielemann (Hrsg .): Alternative für Christen? Praxis mehr Gemeinsames als Trennendes: etwa beim Die AfD und ihr gespaltenes Verhältnis zur Religion . Kampf für ein Verbot von Rüstungsexporten, für globale Neukirchener Verlagsgesellschaft . Neukirchen, 2017 . Gerechtigkeit, dem Engagement für Asylbewerber und Flüchtlinge, gegen Kinderarmut und Menschenfeind- Gibt es Anlässe, Gründe, Überschneidungen, die Chris- lichkeit . Übrigens käme die AfD nach den aktuellen Zah- ten dazu bewegen könnten, die AfD ihrer vermeintlichen len von Allensbach bei den kirchennahen Christen auf Nähe zum Christentum wegen zu wählen? Das ist das drei bis vier, bei kirchenfernen auf 16 und bei denen oh- Thema neuer Bücher zum Komplex »christliche Rechte« . ne christliche Konfession auf 23 Prozent der Stimmen . Lucius Teidelbaum findet, dass »das Wissen über Struk- Die christliche Rechte eint der gemeinsame Bezug auf turen und Agenda der christlichen Rechten sehr gering« Werte wie die heterosexuelle Familie, Autoritarismus, sei und es »Fehleinschätzungen über ihre Wirksamkeit« tradierte Rollenbilder und Hierarchien . Diese Werte gebe . Der von Wolfgang Thielmann herausgegebene werden allerdings nur für eine spezielle Gruppe – wie Band verfolgt das Ziel, »das Gespräch mit der AfD und Volk, Nation, Rasse oder Gläubige des je eigenen Be- deren Anhängern in den Reihen der evangelischen Kir- kenntnisses – angestrebt und gegen den Rest der Welt che zu befördern« . Liane Bednarz sucht als konservative verteidigt, wozu dann auch innerkirchliche liberale und Christin die Abgrenzung zur Neuen Rechten, zum Völki- linke Positionen gehören . Daran wird auch der zentrale schen und Nationalistischen in der AfD und will eine De- Konflikt innerhalb der Kirchen deutlich: Ist die Botschaft batte anstoßen, die zu einer »Selbstvergewisserung des des Christentums exklusiv und partikularistisch oder ist Christlichen und des Konservatismus insgesamt führt« . sie prinzipiell jede und jeden einschließend und univer- salistisch? Der Umgang mit diesem Konflikt ist Thema Deutungskämpfe der beiden anderen Bücher . Lucius Teidelbaum bietet einen profunden Überblick Der von Wolfgang Thielmann herausgegebene Band the- über Themen, Überzeugungen und Feindbilder der matisiert in der Hälfte der Beiträge die Frage, wie mit christlichen Rechten . Die Darstellung rechtsklerikaler Gemeindemitgliedern umgegangen werden kann, die Strukturen, des parteipolitischen Engagements bis in Kandidaten, Mitglieder oder Wähler der AfD sind . Diese Kleinstparteien hinein und der neueren Entwicklungen Form der Auseinandersetzung folgt dem Anliegen des in einzelnen Landeskirchen runden das Bild ab . Es gibt EKD-Papiers »Konsens und Konflikt« vom August 2017 . auf derart knappem Raum keine bessere Einführung Klare Gegenpositionen kommen hier ebenso zu Wort ins Thema als dieses Buch, zumal durchgängig Konflik- wie Apologien und Zwischentöne . Von Interesse für die te deutlich gemacht werden, um die innerhalb der Re- Frage, ob die freikirchlichen Protestanten der AfD nä- ligionen bzw . Kirchen »heftige Macht- und Deutungs- her stehen als die der Landeskirchen, ist der Beitrag kämpfe« ausgetragen werden . Mit dieser Perspektive von Peter Jörgensen . Der Begriff Freikirchen ist für ihn stellt der Autor die Frage, ob Linke nicht auch in den ein Containerbegriff, in dem von Altlutheranern, Zeugen Kirchen Bündnispartner finden und unterstützen könn- Jehovas und Engelgläubigen bis zu Freireligiösen alles ten . Verzichten müssten sie dafür auf »vulgäre Religi- eingerechnet werden kann .

26 Der Band enthält auch das leicht gekürzte Berliner Kir- Es ist, wie diese Debatte zeigt, problematisch, wenn po- chentagsgespräch mit der damaligen Vorsitzenden der litisch-moralische Streitfragen allein entlang an der Kon- »Christen in der AfD«, Anette Schultner – diese hat die fliktlinie religiös-säkular debattiert werden . Die Frage AfD mittlerweile verlassen . »Die Wahrheit sagen« von pro oder contra Abtreibung lässt sich nicht ausschließ- Bischof Markus Dröge ist einer der wichtigsten Texte lich auf den Konflikt pro oder contra Religion verengen . der Debatte . In der Tradition der Bekennenden Kirche sei, so Dröge, eine theologisch-politische Auseinander- Aversion gegen den Islam setzung mit dem Rechtspopulismus notwendig . Dessen Konstitutiv für die christliche Rechte ist ohne Zweifel »Funktionalisierung des christlichen Glaubens für eine die Aversion gegen den Islam . Teidelbaum zitiert aus ei- aggressive rechtspopulistische Politik muss die Kritik nem einschlägigen Manifest, nach dem der Islam »eine der Kirchen in besonderer Weise herausfordern«, be- widergöttliche Lehre« sei . Bednarz erinnert auch an den tont er . Artikel zum Islam in der Nostra-aetate-Erklärung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1965 als einem »Muster- Fremdeln mit Franziskus beispiel dafür, wie man am Wahrheitsanspruch der Bi- Liane Bednarz gibt einen Überblick über die christliche bel festhält, ohne dabei andere Religionen herabzuwür- Rechte . Auch sie geht von einer »Spaltung« des christ- digen« . lich-konservativen Milieus aus, auch wenn für den Re- Von der Islamophobie bei rechten Christen nicht zu zensenten dabei unklar geblieben ist, was unter Konser- trennen ist daher ihre Instrumentalisierung der Chris- vatismus verstanden wird . Die Debatten um Sarrazin, tenverfolgungen . Dies beginnt mit diesem Tierhatz und Tebartz-van Elst und das Pontifikat von Papst Franzis- Hinrichtungen im römischen Kolosseum assoziierenden kus waren der Anlass für die christliche Rechte, sich Begriff . Teidelbaum und Bednarz geben einen sehr gu- von den Kirchenführungen abzusetzen . Hier zeigt sich, ten Überblick über die entsprechenden Netzwerke . Bed- dass diese Rechte nur dann gegen hierarchische Auto- narz macht den instrumentellen Umgang unter ande- ritäten polemisiert, wenn diese nicht mehr ihren Vor- rem daran deutlich, dass rechte Christen sich nicht für stellungen entsprechen . Papsttreu war sie bei Johannes die Verfolgung von Jesiden oder Muslimen interessie- Paul II . und Benedikt XVI ., radikalisiert hat sie sich aber ren . Auch der verstorbene Kardinal Lehmann hatte vor seit Franziskus, vor allem wegen dessen Haltung gegen- zehn Jahren schon darauf aufmerksam gemacht, dass über Geflüchteten . Während Teidelbaum generell auf die christliche Befreiungstheologen von anderen Christen Darstellung der theologischen Unterschiede und Diffe- verfolgt und bedrängt wurden . renzen verzichtet, um so auch dem Leser ohne theologi- So verschieden also die Anliegen der Bücher sind, leis- sches Vorwissen die Lektüre zu erleichtern, setzt Liane ten sie dennoch alle auf ihre Weise einen Beitrag zur Bednarz an diesem Punkt an . Das ist durchweg frucht- Aufklärung über die christliche Rechte . Die Konflikte, so bar, wie etwa an der Debatten um den Lebensschutz und zeigt sich, verlaufen nicht zwischen religiösen und sä- den Islam deutlich gemacht werden kann . kularen, sondern zwischen universalistischen und parti- kularen Vorstellungen . Für letztere steht die christliche Völkischer »Lebensschutz« Rechte – gegen das Menschenrecht auf Religionsfrei- Alle Darstellungen zur christlichen Rechten gehen ge- heit und damit die gegen die Menschenrechte generell . meinhin davon aus, dass die AfD für Christen eine Op- tion sein kann, weil sie etwa als einzige Partei für einen »Lebensschutz für Embryos« eintritt . Deshalb wird die Lebensschutzbewegung auch als wichtiges Bindeglied Helge Meves, zwischen der AfD und den christlichen Rechten gese- arbeitet im Bereich Strategie und Grundsatzfragen hen . Bednarz geht aber über diesen Befund hinaus und der Bundesgeschäftsstelle der Partei DIE LINKE weist darauf hin, dass die AfD diese Position im Grund- satzprogramm damit begründet, dass sie den weiteren »ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruk- tur« eindämmen will, womit sie völkisch-nationalistisch, aber nicht christlich argumentiert . 1 Siehe: junge Welt 23 4. .2018, S . 15 .

27 GESCHICHTLICHES . TEXTE UND REZENSIONEN Russischer Emigrantenfaschismus in Deutschland zwischen 1918–1933

Die im eurasischen Russland Anfang des 20 . Jahrhun- Emigrierte Lehrkräfte und Studenten an den chinesi- derts entstandenen Keim- und Frühformen des völki- schen Hochschulen in Charbin/Harbin, die im Russi- schen Faschismus konnten sich in der Sowjetunion schen Klub RK (Russkij Klub) und in der Russische Stu- nicht weiterentwickeln .1 Ganz anders war die Situation dentischen Gesellschaft RSO (Russkoe studenčeskoe hingegen in der russländischen Emigration in Europa, obščestvo) organisiert waren, gründeten 1925 nach Asien, Amerika und Australien . Von den über zwei Mio . dem Vorbild des italienischen Faschismus die Russische Flüchtlingen, die Russland nach dem Oktoberumsturz Faschistische Bewegung RFD/Russkoe Fašistskoje 1917 und bis zum Ende des Bürgerkrieges 1922 verlie- dviženie (Vorsitz von A . Pokrovskij, 500 Mitglieder) . ßen, gehörten nicht nur 250 000. Soldaten und Offizie- Sie wurde 1926 umbenannt in Russländische Faschisti- re der »weißen« Armeen, sondern auch Vertreter aller sche Organisation RFO (Rossijska Fašistkaja Organisa- politische Strömungen und Parteien von den Schwar- cija) . Aus ihr formierte sich am 26 . Mai 1931 die straff zen Hundert und Monarchisten über Rechtskonserva- nach dem Führerprinzip organisierte Russländische Fa- tive und Liberale bis hin zu Linken (Sozialrevolutionä- schistische Partei RFP (Rossijska Fašistkaja Partija) mit re, Menschewiki, Anarchisten, Bolschewiki) .2 Nur eine Sitz in Charbin . Durch ihre Kollaboration mit dem Japa- Minderheit der russländischen Emigration, besonders nischen Kaiserreich entwickelte sich die RFP zur ein- Schwarzhunderter, Anhänger des Monarchismus, der flussreichsten faschistischen Emigrantenpartei in der kleinere Teil der Kosakenschaft und Offiziere der Za- von Japan 1932 (bis 1945) okkupierten Mandschurei . renarmee organisierten sich in ihren Zufluchtsländern Die RFP organisierte in der japanischen Kvantungar- in faschistischen Bewegungen und Organisationen . Die- mee eine militärische russische Spezialeinheit (Brigade se standen – ungeachtet ihrer ideologischen und po- Asano – 4 000. Mann) und das Kosakenkorps unter Ge- litischen Zerstrittenheit – in teilweise enger Verbin- neralleutnant Ataman Georgij M . Semjonov 1890–1945 dung . Sie koordinierten nicht nur den politischen und (60 000. Mann)4 für Diversionen und Interventionen ge- militärischen Kampf gegen die UdSSR, arbeiteten mit gen die UdSSR . Den Parteivorsitz der RFP übernahm rechtsextremen, antisemitischen und rassistischen Be- General Vladimir Kos’min, Generalsekretär und eigent- wegungen vor allem in Deutschland, Japan und Italien licher Führer wurde Konstantin V . Rodzajevskij (1907– zusammen und erwiesen sich seit dem Ausbruch des 1946)5 . Die RFO vereinte sich 1934 zeitweilig mit der Zweiten Weltkrieges als Kollaborateure der faschisti- 1932 im US-Bundesstaat Connecticut von Anastasij A . schen Großmächte .3 Vonsjackij (1898–1965)6 gegründeten Allrussischen Fa- schistischen Organisation VFO zur Allrussischen Fa- Hauptzentren des russischer Emigranten schistischen Partei VFP (Vserossijskaja Fašistskaja Das größte Zentrum des »Russländischen Auslandes« in Partija) . Ihr Führer war bis zu seinem Parteiausschluss Asien war China, vor allem dessen nordöstliche Provinz 1935 Vonsjackij . Danach übernahm der bisherige Ge- Mandschurei/Mandschukuo, wo zwischen 1922–1932 neralsekretär Rodzajevskij die Führung . Die 1937 in etwa 120 000. bis 155 000. Bürger des ehemaligen Rus- Bund Russländischer Faschisten SRF (Sojuz Rossijskich sischen Reiches lebten . Allein in der vorwiegend chi- Fašistov) umbenannte zahlenmäßig größte Organisati- nesisch besiedelten Hauptstadt Charbin/Harbin waren on des russländischen Emigrantenfaschismus (23 000. von 418 000. Einwohnern 55 000. Russen, davon 29 000. Mitglieder, davon 6 000. im japanischen Satellitenstaat weiße Emigranten, unter ihnen 20 000. Angehörige der Mandschukuo) hatte 115 Filialen in 33 Ländern: Man- Zarenarmee . Weitere Emigrantenzentren in China wa- dschukuo (6000), China, Mongolei, Japan (Tokio, Ko- ren Shanghai (1925 – 19 000,. 1941: 30 000). und Tian- be), Korea, USA (bis 1942), Kanada, Brasilien, Argenti- jin (6 000). . nien, Uruguay, Paraguay, Australien, Frankreich, Italien,

28 Spanien, Schweiz, Deutschland, Estland, Finnland, Po- davon 70 000. Militärs, 1923 10 000,. 1929 – nur noch len, Jugoslawien, Bulgarien, Rumänien, Marokko, Sy- 1 400). 12. Neben Deutschland befanden sich größere fa- rien, Ägypten u .a . Dem SRF gehörten auch nationale schistische Emigrantenzentren auch in Frankreich13, Ju- faschistische Exilorganisationen der Armenier, Georgi- goslawien und Bulgarien 14. In der russländischen Dias- er, Kalmücken und Tataren (Tatarischer Faschistischer pora Asiens, Europas und Amerikas entstanden in den Bund an); er arbeitete mit der Ukrainischen Faschisti- 20er und 30er Jahren faschistische Bewegungen und schen Partei zusammen . Nach dem sowjetisch-japa- Parteien, in denen schätzungsweise insgesamt 40 000. nischen Neutralitätsvertrag (13 . April 1941) wurde die Emigranten organisiert waren15, also nur ein zahlenmä- Faschistenpartei erneut umbenannt in Bund der natio- ßig kleiner Teil der russländischen Emigranten . nalen Arbeit SNTR (Sojuz Nacional‘noj Raboty) mit Sitz in Shanghai unter Führung von Michail M . Spasovskij Russländische Emigranten in (1890–1971) 7. Alle russländischen Emigrantenorganisa- der Weimarer Republik tionen im Herrschaftsbereich Japans wurden in einem Die Errichtung der faschistischen Diktatur im Januar von Tokio eingesetzten Kollaborationsorgan unter Lei- 1933 in Deutschland war ausschlaggebend für die Aus- tung Rodzaejevskijs in der Nationalen Vereinigung Rus- wanderung linker und liberaler Emigranten . Meist An- sischer Emigranten im Kaiserreich Japan zusammen- hänger des klerikal-völkischen Monarchismus und des geschlossen . Im besetzten China gab es noch kleinere nationalistischen Rechtskonservatismus blieben, denn russische faschistische Splittergruppen 8. das »deutschfreundliche rechte Emigrantenspektrum Nach seinem Bruch mit Rodzajevskij benannte Vons- war bereit, mit jeder angebotenen Hilfe auch des ne- jatskij die von ihm in den USA gegründete faschistische gativ eingeschätzten nationalsozialistischen Deutsch- Bewegung (1932) um in Allrussische Nationalrevolutio- lands, den Kampf gegen das ohnehin als größtmögli- näre Partei VNRP (Vserossijskaja National-revoluciona- ches Übel angesehene Sowjetregime fortzusetzen .«16 ja Partija) . Sie besaß nicht nur Filialen in den USA (New Vor allem die faschistische Bewegung in Deutschland, York, Los Angeles, San Francisco, Boston, Alaska – et- die sogenannten deutschen Nationalsozialisten, er- wa 2 000. Mitglieder), sondern auch in Kanada, Latein- schienen ihnen als besonders kompromisslose Gegner amerika (Argentinien, Brasilien, Uruguay), Afrika (Ägyp- des Bolschewismus . Wie Karl Schlögel vermerkt, wur- ten, Palästina, Marokko, Syrien) Deutschland (Berlin, de der »russische Rechtsextremismus und Antisemitis- Bremerhaven), Österreich, Belgien, Jugoslawien (Bel- mus hier zum Ferment einer Ideologiebildung, die mit grad, Zagreb, Skopje) und China 9. dem Nationalsozialismus geschichtsmächtig wurde .«17 In Europa bildete in den 20 er Jahren des 20 . Jahrhun- Schon in der Weimarer Republik war es diesen Kräften derts Deutschland das Zentrum des »Russland jen- des russländischen Exils weitgehend problemlos mög- seits der Grenzen« (Rossijskoe Zarubež’e) . Hier lebten lich gewesen, sich zu organisieren und mit den Hitlerfa- 250 000. Flüchtlinge und Emigranten . Ihre Zahl stieg schisten zusammenzuarbeiten . 1920 auf 560 000. Personen, 1923 auf 600 000,. (davon Die deutsche Regierung schuf schon Anfang 1923 eine 360 000. in Berlin) und 1925 auf 650 000. (davon noch einheitliche Emigrantenorganisation, die Beratung ver- 150 000 Flüchtlinge). . Mit der großen Wirtschaftskrise einigter russischer Einrichtungen und gesellschaftlicher 1929–1932 und der Errichtung der faschistischen Dik- Organisationen in Deutschland (Soveščanie ob-edinen- tatur 1933 in Deutschland setzte die Massenabwande- nych russkich učreždenii i obščestvennych organisacii rung russischer Emigranten ein: im Frühjahr 1933 sank v Germanii) . Deren politische Aufgabe war, »die Kont- ihre Zahl auf 50 000. (davon 10 000. in Berlin), sie stieg rolle über die Tätigkeit der russischen antibolschewisti- aber 1935 wieder auf 80 000. und 1936 auf 100 000. schen Organisationen auszuüben und zu diesem Zweck an 10. In der Hauptstadt lebten sie vor allem in den Be- zusammenzuschließen«18 . Auf diese Weise konnten die zirken Charlottenburg (»Charlottengrad«), Schöneberg verschiedenen politischen Institutionen und Organisati- und Wilmersdorf . onen (1922 – 35, 1923 – 47) der russländischen Diaspo- Es folgten Frankreich (1925 – 400 000,. 1939 – 70 000). 11, ra von der deutschen Regierung schon in der Weimarer Bulgarien (1922: 36 000,. davon 17 000. Militärs; 1939 – Republik nahezu vollständig kontrolliert und gesteuert 27 000),. Tschechoslowakei (1922 – 20 000,. 1924 – werden . In der zentralen Emigrantenorganisation ar- 30 000),. Jugoslawien (1921 – 28 .000, davon 14 000. Mi- beiteten Vertreter der Organisation zur Verteidigung litärs; 1939 – 25 000). und die Türkei (1920 – 147 000,. der Interessen russische Flüchtlinge (Baron Sergej D .

29 von Botkin, A . P . Veretnikov), des Roten Kreuzes (F . V . terieführer des Gruko 4), die Hauptleute Ernst Röhm Šlimme, A . V . Bel’grad, Baron A . V . Vrangel‘) sowie sech- (Feldzeugmeister – »Maschinengewehrkönig von Bay- zehn linke (S . A . Smirnov, Kogan) und siebzehn rech- ern«) und Karl Mayr (Chef der geheimdienstliche Nach- te Gruppen (Baron A . A . Krjuder-Struve, General S . N . richtenabteilung des Gruko 4) formierten die DAP zur Šul’man – Bund für gegenseitige Hilfe ehemaliger Offi- Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei NS- ziere der ehemaligen Russischen Armee und Flotte) 19. DAP mit dem Reichswehr-V-Mann seit 1919, dem Ge- freiten an der Spitze (Juli 1921) . Dessen Nur ein kleiner Teil der damaligen russischen Emigran- ehemaliger Regimentsfeldwebel Max Aman rückte ten in Deutschland waren Anhänger des völkischen An- 1921 zum Geschäftsführer der NSDAP auf . Diese ver- tisemitismus und des militanten Antibolschewismus . fügte mit Unterstützung vor allem von Röhm seitdem Die Lüge vom »jüdischen Bolschewismus« und der »jü- auch über eine militärische Formation, die Sturmabtei- disch-bolschewistischen Weltverschwörung«, die nach lung SA mit 4 000. Mann, die in München seit Mai 1923 der Oktoberrevolution aufkam, wurde vornehmlich von Hauptmann Hermann Göring geführt wurde . »Alles seit 1919 von deutsch-völkischen Organisationen und in allem trug die Gründung der SA erheblich dazu bei, Wehrverbänden begierig aufgenommen und führte zu dass sich die NSDAP innerhalb kurzer Zeit – von 1921 einer zeitweiligen engen Zusammenarbeit mit den nach bis 1923 – an die Spitze aller extrem-rechten Organi- Deutschland emigrierten prodeutschen russischen Mo- sationen setzen konnte .«28 Bereits 1922 schloss sich narchisten und völkischen Schwarzhundertern . Diese der Führer der Nürnberger Deutschsozialistischen Par- wiederum sahen ihrerseits im aufkommenden deut- tei (DSP), der antisemitische Hetzer Julius Streicher, schen Faschismus, einen möglichen gleichberechtigen der NSDAP an . Die Nazipartei hatte zu dieser Zeit be- Partner und Verbündeten im Kampf gegen Sowjetruss- reits 35 000. Mitglieder, davon 10 000. allein in Mün- land . Diesen Zusammenhang erkundeten u .a . die His- chen .29 Röhm vereinbarte zwischen Reichswehr und toriker Walter Laquer (1965)20, Karl Schlögel und Rafail den als Wehrersatzverbände anerkannten rechtsext- Ganelin (1995)21, A . V . Okorokov (2002)22, Denis Jda- remen militaristischen Organisationen Reichsflagge noff (2003)23, Michael Kellogg (2005)24, Johannes Baur (Vors . Hauptmann Adolf Heiß, Sitz Nürnberg, Röhm als (2008)25 und O . K . Antropov (2011)26 . Das erste Zent- bevollmächtigter Vertreter in München, 4 000. Mann), rum dieser unheiligen Allianz von deutschen und russ- Bund Oberland (1921 aus dem größten bayrischen Frei- ländischen Faschisten zwischen 1919–1923 war Bayern . korps Oberland entstanden, Vors . Friedrich Weber, Sitz Der Historiker Kurt Gossweiler wies umfassend nach, München, 20 000. Mann), Vaterländischer Verein Mün- dass Bayern mit dem Untergang der Räterepublik 1919 chen (Vors . Eisengroßhändler Alfred Zeller, 30 .000 nicht nur »zur Brutstätte«, sondern auch »zum Experi- Mann) und der SA (Göring, Sitz München, 4 000. Mann) mentierfeld des sich formierenden deutschen Faschis- im Februar 1923 eine Arbeitsgemeinschaft der Vater- mus« wurde und dass »nirgendwo der Antisemitismus ländischen Kampfverbände, aus dem der Deutsche in dieser Zeit schon so in Blüte (stand) wie in Bayern «. 27 Kampfbund30 hervorging, der faktisch unter der politi- schen Leitung Hitlers stand . Dessen Führung (Luden- Völkisch-faschistische Organisationen in Bayern. dorff, Hitler, Hermann Kriebel, Weber, Hermann Göring, Unter dem Einfluss des Unternehmers Dr . Ing . Paul Max Erwin von Scheubner-Richter als Geschäftsführer) Tafel, Führungsmitglied des Bayrischen Industriel- entschieden am 7 . November 1923, die Staatsmacht lenverbandes, des völkischen Alldeutschen Verban- in München zu übernehmen und danach – ähnlich wie des und des 1918 in Bayern gegründeten Germanen- Mussolini mit seinem Marsch nach Rom – die Reichs- ordens (Thule-Gesellschaft unter Rudolf Freiherr von regierung in Berlin zu stürzen . Der Ludendorff-Hitler- Schottendorf – 1 .500 Mitglieder), entstand am 5 . Ja- Putsch am 8 /9. . November 1923 scheiterte . Einige Put- nuar 1919 die Deutsche Arbeiterpartei DAP, die Anton schisten-Führer wie Göring, Hermann Esser, Gerhard Drexler, Schlosser in den Reichsbahnausbesserungs- Roßbach flohen in das benachbarte Österreich; Hitler, werken in München, leitete . Militärs des bayrischen Röhm Wilhelm Frick (Leiter der Münchner Politischen Reichswehrkommandos (Gruppenkommando/Gruko Polizei, 1924 NSDAP-Fraktionsvorsitzender, 1933 In- 4 (ab März 1920 Reichswehrkommando VII unter Ge- nenminister der Hitler-Regierung), Ernst Plöhn (Münch- neralmajor Arnold von Möhl) wie Franz Ritter von Epp ner Polizeipräsident), Kriebel u .a . wurden verhaftet .31 (1919 700 Mann, Schützenbrigade 21, Infan- In der ersten Hälfte der 20er Jahre war Bayern, vor al-

30 lem München und Coburg auch das Zentrum rechtsex- Kirill Vladimirovič Romanov (1876–1938)41, der sich in tremer russländischen Monarchisten, die mit der frü- Coburg bei seiner deutschen Verwandtschaft nieder- hen deutschen Nazibewegung zusammenwirkten . Die gelassen hatte, bei der Durchführung des Kongres- kleine russische Kolonie in München (etwa 1 600. Per- ses russischer Monarchisten aus Europa und den USA sonen) bestand fast ausschließlich aus hochrangigen im bayrischen Bad Reichenhall vom 29 . Mai bis 7 . Juni Offizieren und Adligen (Verband Russischer in Bayern 1921 42. An der Spitze des dort gewählten Obersten Mo- lebender Grundbesitzer) . narchistischen Rates wurde einer der einflussreichsten Führer der völkisch-monarchistischen Schwarzhunder- Die erste deutsch-russländische faschistische ter, Nikolai Evgenevič Markov II (1866–1945)43, gewählt . Organisation Die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung organisierte In Bayern entstand die erste Verbindungsorganisati- durch Scheubner-Richter, General Ludendorff und Wal- on zwischen den deutschen und russländischen extre- ter Nicolai für Kirill einen politischen Nachrichtendienst, men Rechten – die deutsch-russische Wirtschaftliche der über die Geschehnisse in Sowjetrussland informier- Aufbau-Vereinigung WAV (1920–1924) . Ihr gehörten te . Seit Juli 1922 schickte Scheubner-Richter diese Be- 150 russische, ukrainische und baltendeutsche Emi- richte auch an die Leitung der NSDAP . Die WAV schleus- granten aus dem ehemaligen Russischen Reich sowie te antibolschewistisches Propagandamaterial, vor allem deutsche Monarchisten und NSDAP-Funktionäre an . die Verlautbarungen des zum Zarennachfolger gekürten Gründer und Geschäftsführer dieser elitären völkisch- Großfürsten Kirill Vladimirovič44 Romanov (1876–1938), faschistischen Organisation war der Baltendeutsche in die Sowjetunion . Die Wochenzeitschrift der Orga- Max Erwin von Scheubner-Richter(1884–1923)32 . Bis nisation Wirtschaftliche Aufbau-Korrespondenz über zu seinem Tode 1923 organisierte er von russischen Ostfragen und ihre Bedeutung für Deutschland, die Emigranten (Großfürstin Viktoria Federovna in Co- Scheubner-Richter herausgab, war gewissermaßen die burg, Russische Kommerz-, Industrie- und Handelsver- Hauptzentrale antikommunistischer, antisowjetischer band in Paris u .a .) etwa eine halbe Million Goldmark und antisemitischer Propaganda . Zu den Mitarbeitern für die NSDAP . Präsident des WAV wurde der bayrische gehörten u .a . O . von Kursell (1923–1924 Schriftfüh- Gutsbesitzer und Industrielle Freiherr Theodor II . von rer), der Geschäftsführer der NSDAP, Amann als zwei- Cramer Klett (1874–1938)33, der die völkischen Wehr- ter Schriftführer und A . Schickedanz sowie die russi- verbände (darunter auch die SA) mit 300 000. Reichs- schen Emigranten Grigorij Nemorovič Dančenko und mark finanzierte .34 Die Vizepräsidentschaft übernahm Fedor Viktorovič Vinberg (Theodor von Winberg) . Letz- einer der Protagonisten der faschistoiden russischen terer verbreitete schon 1919 das Fälscher-Dokument Schwarzhunderter und 1919 Chef der Westrussischen »Die Protokolle der Weisen von Zion«45 und verfasste Emigrantenregierung in Berlin, General Vasilii Viktorovič das antisemitische Pamphlet Der Kreuzweg Russlands Biskupskij (1878–1945)35 . Arno Schickedanz (1892– (München 1922) . Vinberg gehört zu den »Vordenkern 1945)36, Rubonia-Corpsbruder aus der Rigaer Studien- der Endlösung«46 . zeit, wurde sein persönlicher Sekretär . Weitere deut- Die Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung war ein wichti- sche Nazis waren Mitglieder der WAV: Alfred Rosenberg ger Geldbeschaffer für die frühe Nazibewegung . Finan- (1893–1946) 37, Max Hildebert Boehm (1891–1968)38, zen flossen nicht nur aus dem Vermögen des Thron- der damalige Geschäftsführer der NSDAP Max Aman anwärters Kirill und seiner Frau sowie emigrierter (1891–1957) 39 und der baltendeutsche Adlige Otto von russischer Industrieller und Bankiers dank der Aktionen Kursell (1884—1967)40 . von Scheubner-Richter und Biskupskij . Aufbau-Mitglied Hauptziel der deutsch-russländischen Faschisten-Or- Boris L’vovič Brazol‘ (1885–1963)47 organisierte eben- ganisation war, die Niederlage Deutschlands im Ersten falls von dem nordamerikanischen Industriellen und An- Weltkrieg 1914–1918 und der weißen Konterrevolution tisemiten Henry Ford beachtliche Geldsummen . Mitglie- im Interventionskrieg 1918–1920 gegen Sowjetruss- der der WAV wie Sergej Taborickij und Petr Nikolaevič land wettzumachen durch einen erneuten gemein- Popov (Pseudonym Šabelskij-Bork), ein Teilnehmer am samen ideologischen, politischen und vor allem mili- Kornilov-Putsch 1917 und später Informant des Außen- tärischen Kreuzzug gegen den Sowjetstaat . Deshalb politischen Amtes der NSDAP, sowie Biskupskij und unterstützte diese rechtsextreme Organisation die pro- Bauer organisierten Terrorakte und Auftragsmorde an deutsche monarchistische Bewegung um den Großfürst emigrierten Liberalen (Vladimir Nabokov), Sozialrevo-

31 lutionären (Alexander Kerenskij) oder an Sozialdemo- che einer eigenständigen faschistischen Bewegung in- kraten (Philipp Scheidemann) . Die Führung der Wirt- nerhalb der russländischen Emigranten in Nazideutsch- schaftlichen Aufbau-Vereinigung planten Feldzüge zur land problematisch und widersprüchlich . Zurückeroberung des Baltikums und der Ukraine vor . So versuchten Biskupskij und Scheubner-Richter 1921 mit den für die Ukraine (schon seit 1918) vorgesehenen Prof. Dr. Karl-Heinz Gräfe Thronkandidaten Erzherzog Wilhelm Franz von Habs- burg-Lothringen (1895–1948)48 in Bayern ein Heer für ei- ne Intervention gegen die Ukraine aufzustellen . Sie hat- ten dafür bereits 2 Millionen Reichsmark und 60 000. 1 Vgl . Karl-Heinz Gräfe: Die Anfänge des russischen Faschismus . Völ- kisch-monarchistischen Bewegungen und Organisationen (Schwarz- Schweizer Franken beschafft . Ebenso wurde mit Unter- hunderter) von 1905 bis zur Oktoberrevolution 1917, in: Rundbrief stützung der ehemaligen zaristischen Militär Glasenapp BAG Antifaschismus der Partei Die LINKE, 2/2017, S . 26–29 . (1882–1951)49 und Bermondt-Avalov (1884–1974)50 ei- 2 Die Schätzungen über die Zahl der schwanken von 2 bis 2,5 Mio . Flüchtlinge und Emigranten schwanken zwischen 2 und 2,5 Mio . Vgl . ne Intervention zur Rückeroberung des Baltikums vor- Karl Schlögel: Russische Emigration in Deutschland 1918–1941 . Le- bereitet .51 Nach Abschluss des Vertrages von Rapallo ben im europäischen Bürgerkrieg, Berlin 1995, S 11. und Fritz Mier- au: Russen in Berlin . Literatur Malerei Theater Film, Leipzig 1991, 1922 wurden diese Pläne weitgehend obsolet . S . 259 . Nach den Angaben des Völkerbundes 1926 hatten nach der Nach dem Tod Scheubner-Richters während des Put- Revolution 1917 1 160. 000. Menschen ihr Land verlassen, 1921–1931 sches am 9 November. 1923 war diese frühe Phase des kehrten 181 432. wieder in die Heimat zurück (allein 1921 121 .843) . Vgl . Michael Heller/Alexander Nekrich: Geschichte der Sowjetunion, Zusammengehens russischer und deutscher Faschis- Königstein/Ts . 1981, S 135. und 142 . Nach den Unterlagen des SFB ten noch nicht ganz beendet . In Berlin gründeten weiss- Russlands verließen bis Anfang der 20er Jahre 2 Mio . Menschen So- gardistische Offiziere 1924 die paramilitärische Orga- wjetrussland, darunter 250 000 Militärs,. fast die Hälfte davon diesen waren Angehörige der Vrangel-Armee; V . A . Ioncev/N . M . Lebedev nisation Russische Abteilung RO (Russkij Otrjad), die /M . V . Nazarov/A . V . Okorokov: Ėmigracija i repatriacija v Rossii, von der SA militärisch geschult wurde und seit 1928 Moskva 2001, S . 43; Russkaja voennaja ėmigraciaja 20-40-x gg ., tom 3, Moskva 2002, S . 196; O . K . Antropov: Rossijskaja ėmigracija v in ihr als Russische Hilfsabteilung integriert war . Ge- poiskach poltičeskogo ob-edinenija (1921–1939), Astrachan 2008, neralleutnant Petr Vladimirovič Glasenapp, 1918–1919 S . 24–27, S . 279–285 . Militärgouverneur des von der Freiwilligen Don-Armee 3 Zum russländischen Emigrantenfaschismus vgl . I . Ju . Beljako- va (Sostavitel‘): Russkie zarubež‘e i Vtoraja mirovaja vojna . IV besetzten Gebietes, seit 1920 Kommandeur der Nord- Kulturologičceskie Čtenija »Russkaja ėmigracija XX veka« (Moskva, west-Armee, war als Emigrant in Deutschland Vorsit- 28–29 marta 2011 goda), Moskva 2013; K . Antropov: Tretji put‘ dl- zender des Russischen Offiziersbundes mit Sitz in Ost- ja Rossii . Revoljucionye organisacii i dviženija rossijskoj ėmigracii 1920–1930-x gg ,. Astrachan 2011: Karl-Heinz Gräfe: Die völkisch-fa- preußen (Königsberg) . Er knüpfte auch Verbindungen schistische und extrem-nationalistische Rechte in Russland, in: Halb- mit der rechtsextremen deutschen Organisation Stahl- jahresschrift für südosteuropäische Geschichte, Literatur und Poli- helm und leitet seit Juli 1923 die Russländische Antiko- tik, 24 . Jg . (2012), Heft 1 und 2, S . 55–73; A . V . Okorokov; Fašizjm i russkaja ėmigracija (1920–1945 gg), Moskva 2002; Konstantin Rod- mintern, deren Ziel es war, mit allen nationalistischen zaevskij: Zaveščanie russkogo fašista, Moskva 2001 . monarchistischen Organisationen in Deutschland im 4 Vgl . Andrej Martynov: Russkoe zarubeze i dvizenii kollaboraciui v go- dy Vtoroj mirovoj vojnoj: social’nye i psychologiceskie aspekty, in: Kampf gegen das Sowjetsystem und die III . Internatio- Russkoje zaurbež‘e i Vtoraja mirovaja Vojna, S 44,. Anm . 3; E .N . Na- nale eng zusammenzuarbeiten 52. Die deutschen Antise- zemceva: Poezdka general-lejtinanta A .S . Lukomskogo na Dal’nem miten und Antikommunisten einschließlich der NSDAP Vostoke v 1924–1925 gg . I konsolidacija russkkoj voennoj emigraci- ja, in: Voenno-istoriceskij zurnal, Moskva 2013, Nr . 8, S 64–70. . bis 1924 waren zunächst keine rassistischen Russen- 5 Konstantin Vladimirovič Rodzajevskij, Sohn eines adligen Staatsbe- feinde, »im Gegenteil, fast alle – bis hin zum frühen Hit- amten . Er floh nach Abschluss seiner Schulbildung im sowjetischen ler – setzten zunächst auf eine gemeinsame deutsch- Blagovešensk in das benachbarte chinesische Charbin, studierte an der dortigen Juristischen Fakultät, wurde 1926–1931 Generalse- russische Befreiungsaktion und auf die Bildung einer kretär der Organisation Russischer Faschisten ORF, 1931–1934 Ge- Kontinentalachse als dem einzig möglichen und logi- neralsekretär der Russländischen Faschistischen Partei RFP 1935 Vorsitzender der Allrussischen Faschistischen Partei VFP, seit 1937 schen Weg des Ausbruchs aus den ›Fesseln von Ver- Russländische Faschistische Bund RFS . Er war seit 1931 Kollabora- sailles‹ . Erst als mit einem ›nationalen Russland‹ nicht teur Japans und koordinierte den politischen und militärischen Kampf mehr zu rechnen war, konnte Hitler in ›Mein Kampf‹ die- gegen die UdSSR, seit 1943 verstärkt auch mit dem deutschen Na- ziregime . Er wurde 1946 in der UdSSR zum Tode verurteilt und hin- se zentrale Hoffnungsperspektive der Antisemiten radi- gerichtet . Versuche rechter Politiker 1997, diese faschistische Füh- kal umkehren und durch seine phantastischen Visionen rungsgruppe zu rehabilitieren, wurden 1997 und 1999 vom Obersten vom ›neuen Germanenzug‹ und ›Lebensraum im Osten‹ Gericht der Russischen Föderation abgelehnt Sein antisemitisches 53 Hauptwerk Die gegenwärtige Judaisierung der Welt oder die Jüdische substituieren .« So blieben auch die weiteren Versu- Frage im 20 . Jahrhundert erschien 1943 in Charbin und 2001 als

32 Neuauflage in Russland (Konstantin Rodzaevskij: Zaveščanie russko- 12 Vgl . M . V . Nazarov: Missija russkoj émigracii, S 32;. Džon Stefan .: go fašista, Moskva 2001, S . 17–394 und S . 505–509 . Russkij fašizm . Tragedija i fars v ėmigracii, S . 58 . 6 Der 1898 in Warschau als Sohn eines Gendarmen geborene Anasta- 13 Die wichtigste russische Faschistenorganisationen war der Bund der sij Andrejevic Vonsjackij kämpfte als überzeugter Monarchist unter Jungen Russländer SM (1925, Vors . Alexander Kazem Bek, 3 .000 General Denikin in Südrussland gegen die Sowjetmacht, floh 1921 Mitglieder, 1934 umbenannt in Partei der Jungen Russländer PMR . über die Türkei nach London und Paris und schließlich in die USA, 1929 entstand der Russländischer Reichsbund (seit 1934 Nikolaj N . wo er sich im Bundesstaat Connecticut auf dem Landsitz seiner Frau, Ruzskij, Sitz in Paris, Zeitung Imperskij Klič, 14 Filialen in Frankreich, einer reichen US-Bürgerin, niederließ . 1927 erhielt er die US-Staats- Belgien, Süd- und Nordamerika, Australien, Naher Osten) . Er verei- bürgerschaft und war 1930–1935 Leutnant der Reserve . 1931 trat nigte sich 1937–1938 zeitweilig mit dem Russischer Nationalbund er der völkischen russischen Emigrantenorganisation Bruderschaft der Kriegsteilnehmer RNSUV (1936) und dem Nationaler Arbeits- von General Krasnov bei . 1933 gründete er die Allrussische Faschis- bund der Neuen Generation zum Nationalen Zentrum . tische Organisation VFO . Nach seiner Trennung von Rodzajevskij 14 Der 1924 Nationale Organisation Russischer Faschisten NORF nannte er seine in den USA gegründete in Allrussische Nationalre- Nacional’naja Organisacija Russkich Fašistov (Vors . General P . volutionäre Partei VNRP um . 1942 löste die Roosevelt-Regierung die V . Čerskij) und der Nationale Bund der Russischen Jugend NSRM Faschistenpartei auf und verurteilte ihren Anführer als deutschen (Nacional‘nyj Sojuz Russkoj Molodezi) in Bulgarien sowie Bund der Spion zu fünf Jahren Gefängnis, von Präsident Truman bereits im Fe- Russischen Nationalen Jugend SRNM in Jugoslawien vereinten sich bruar 1946 entlassen . 1930 zum Nationalen Bund der Russischen Jugend NSRM . Er wurde 7 Spasovskij alias M . Grott emigrierte nach seinem Studium 1924 in die 1931 umbenannt in Nationaler Bund der Jungen Generation NSNP, UdSSR nach Persien und 1940 nach China und war einer der führen- 1936 erneut umbenannt in Nationaler Arbeitsbund der Neuen Gene- den Ideologen des Bundes Russischer Faschisten in Charbin . 1949 ration NTSNP auch NTS . Vors .: V . M . Bajdalakov, Sekretär M . A . Geor- floh er nach Formosa (Taiwan), 1955 übersiedelt er nach Österreich . gijevskij, 3000 Mitglieder, Filialen in Frankreich, Belgien, Niederland, 8 Zu den faschistischen Organisationen russischer Emigranten zählten Deutschland, Polen, Estland, Lettland, Litauen, Ungarn, Österreich, vor allem: Jugoslawien, Bulgarien, Tschechoslowakei, China) – Bund nationaler Syndikalisten-Faschisten SNS/Sojuz 15 Vgl . A . V . Okorokov; Fašizjm i russkaja ėmigrcija (1920–1945 gg .), nacional’nych Syndikalistov) seit 1925 (Vors . M . S . Sadajev, S . 27 . 500 Mitglieder), 16 Denis Jdanoff: Russische Faschisten, S 51;. vgl . Marc Raeff: Emig- – Arbeiter-und-Bauern-Kosaken-Opposition russischer Faschisten ration – welche, wann, wo? Kontext der russischen Emigration in (Vors . P . S . Kovkan), Deutschland, in: Karl-Schlögel (Hrsg ):. Russische Emigration in – Bund der Kosaken im Fernen Ostens (Vors . Grigori M . Semjonov), Deutschland, S . 17–31 . – Schwarze Faschisten, 17 Karl Schlögel (Herausgeber): Der große Exodus .Die russische Emig- – Allrussische Völkische Partei der Nationalisten (Vors . General Ivan ration und ihre Zentren 1917–1941, München 1994, S 17. . M . Zaicev, seit 1934 Kosakenrittmeister N . A . Barsuko, in Shang- 18 Russkaja voennaja emigracija 20-40-x gg ., tom 2, S 293. . hai mit Filialen in Charbin, Tianjin, Qingdao, Mukden, Dairen), 19 Vgl . ebenda, S 293. f . und 282 f . – Zentrales Antikommunistisches Komitee in Nordchina (Vors . E . N . 20 Vgl . Walter Laquer: Deutschland, S . 104–134 . Pastuchov mit Sitz in Tianjin und Filialen in Peking, Kalgan, Qing- 21 Vgl . Karl Schlögel (Hrsg ):. Russische Emigration, S . 201–208 . dao und Yantai) .- 22 A . V . Okorokov: Fašizm i russkaja ėmigracija (1920–1945) .; ders .: 9 Zum russländischen Emigrantenfaschismus in China, Japan und Ame- Russkaja ėmigracija . Političeskie, voenno-polizeičiei i voinskie orga- rika Zum Faschismus vgl . O . K . Antropov: Tretji put‘ dlja Rossii . Re- nisacii . 1920–1940 gg . voljucionie organisacii i dvizenija rossiiskoj emigracii 1920–1930-x 23 Vgl . Denis Jdanoff: Russische Faschisten, S . 36–50 . gg ,. Astrachan 2011; Karl-Heinz Gräfe: Die völkisch-faschistische und 24 Vgl . Michael Kellogg: The Russian Roots of Nazism . White Émigrė and extrem-nationalistische Rechte in Russland, in: Halbjahresschrift für the making of National Socialism . 1917–1945, Cambridge 2005 . südosteuropäische Geschichte, Literatur und Politik, 24 . Jg . (2012), 25 Vgl . Johannes Baur: Die russische Kolonie in München, ders : Heft 1 und 2, S 55–73;. A . V . Okorokov; Fašizjm i russkaja ėmigrcija Wirtschaftliche Aufbau-Vereinigung; ders . Russische Emigran- (1920–1945 gg, Moskva 2001, ten in Bayern 1918–1945 .,in: Historisches Lexikon Bayerns, 10 Zu der russländischen Emigration in Deutschland vgl . u .a . Walter URL:< http://www .historisches-lexikon-bayernd .de/artikel/arti- Laquer: Deutschland und Russland, Berlin/Frankfurt a .M . 1965; kel_44706>(19 12. .2011) . Hans-Erich Volkmann: Die russische Emigration in Deutschland 26 Vgl . O . K . Antropov: Tretij put‘ dlja Rossii . 1919–1929, Würzburg 1966; Dodenhoeft, Bettina: »Lasst mich nach 27 Kurt Gossweiler: Kapital, Reichswehr und NSDAP . Zur Frühgeschich- Russland heim« . Russische Emigranten in Deutschland von 1918– te des deutschen Faschismus 1919 bis 1924, Köln 2012, S . 91 und 1945, Frankfurt a . M . 1993; Amory Burchard/Ljudmilla Dawido- 97 . witsch: Das russische Berlin, Berlin 1994; Karl Schlögel (Herausge- 28 Ebenda, S 204. . ber): Der große Exodus . Die russische Emigration und ihre Zentren 29 Vgl . ebenda, S 214. . 1917–1941, München 1994; Karl-Schlögel (Hrsg .): Russische Emig- 30 Vgl . Konrad Heiden: Geschichte des Nationalsozialismus . Die Karrie- ration in Deutschland 1918–1941 . Leben im europäischen Bürger- re einer Idee, Berlin 1932, S . 132 ff . krieg, Berlin 1995; Johannes Baur: Die russische Kolonie in München 31 Vgl . Kurt Gossweiler: Kapital, Reichswehr und NSDAP, S0 . 342 ff . und 1900–1945 . Deutsch-Russische Beziehungen im 20 . Jahrhundert, 381 ff; vgl . auch Harold J . Gordon: Der Hitlerputsch 1923 . Macht- Wiesbaden 1998; Denis Jdanoff: Russische Faschisten . Der natio- kampf in Bayern 1923–1924, Frankfurt/Main 1971 . nalsozialistische Flügel der russischen Emigration im Dritten Reich . 32 Ludwig Maximilian Erwin von Scheubner-Richter wurde 1884 in Digitale Osteuropa-Bibliothek Geschichte 3 (2003): Michael Kellogg: Russland) geboren . 1904–1906 Chemiestudium am Rigaer Polytech- The Russian Roots of Nazis . White Emigres and the making of Na- nikum, seit 1910 in München, 1914–1916 Kriegseinsatz als deut- tional Socialism, Cambridge 2005; Johannes Baur: Wirtschaftliche scher Staatsbürger in der Türkei – Vizekonsul in Erzerum, danach Aufbau-Vereinigung . 1920/21–1924, in: Historisches Lexikon Bay- an der Westfront, 1918 an der deutschen Gesandtschaft im deutsch erns/3 . Juni 2008 (http://www historisches Lexiko-bayerns de/ar. - besetzten Riga und Leiter der Pressestelle der deutschen Besatzer tikel/artikel_44867 . im Baltikum, 1919 Leiter der deutschen Gesandtschaft des »Reichs- 11 Nach E . E . Sedova lebten in Frankreich vor dem Kriege 1939 kommissars für die baltischen Provinzen« unter deutschen Sozialde- 175 000 Flüchtlinge. und Emigranten aus Rußland . Vgl . I . Ju . Beljako- mokraten August Winnig . Scheubner-Richter war für den Posten des va (Sostavitel‘): Russkie zarubež‘e i Vtoraja mirovaja vojna, S . 77 . Pressereferenten der geplanten Kapp-Regierung 1920 vorgesehen .

33 Als aktiver Organisator des Hitler-Ludendorff-Putsches 1923 gehör- 40 Otto von Kursell wurde 1884 als Sohn eines baltendeutschen Be- te er zu den 15 sog . »Blutzeugen der Bewegung«, deren Namen 1933 amten in St . Petersburg geboren . 1903–1905 Hochbaustudium in auf einer Gedenktafel an der Feldherrnhalle in München angebracht Riga und Mitglied der völkischen Studentenorganisation Rubonia . wurden . Vgl . http://de .wikipedia .org/w/indeex .php?title=Max_Er- Studium der Architektur in Dresden (1905–1907) und der Bildenden win_von_Scheubner-Richter&print vom 19 9. .2012 . Künste in München (1907–1911), 1916–1917 Leutnant in einer russi- 33 Der 1874 als Sohn eines deutschen Maschinenbauunternehmers schen Infanterieeinheit, 1918–1919 Mitarbeiter der Pressestelle der und Finanzkapitalisten geborene Freiherr Theodor II . von Cramer deutschen Besatzer im Baltikum (Armeeoberkommando VIII, Riga) . Klett gehört als Präsident der Wirtschaftlichen Aufbau-Vereinigung Seit 1921 deutscher Staatsbürger . Mitglied der NSDAP und der SA zu den finanziellen Förderern der NSDAP . Er war Mitglied des Bayri- (1923) . Teilnahme am Hitler-Ludendorff-Putsch . Publiziert 1921 (mit schen Reichsrates und Päpstlicher Geheimkämmerer . Dietrich Eckart u .a .) das antisemitische Hetzbroschüre Totengräber 34 Vgl . Georg Franz- Willing: Die Hitlerbewegung, Der Ursprung 1919– Russlands (32 antisemitische Karikaturen über sowjetische Partei- 1922, Hamburg/Berlin 1962, S . 191 . und Staatsfunktionäre) . 1933 Referent der Kunstabteilung im preu- 35 Vasilii Viktorovič Biskupuskij (1878–1945), Sohn des zaristischen Vi- ßischen Kulturministerium und Direktor der Hochschule für Bildende zegouverneurs von Tomsk, Offizier und Geschäftsmann, im 1 . Welt- Künste in Berlin Charlottenburg, 1934 Abteilungsleiter im Reichsmi- krieg Regiments- und Brigadekommandeur, 1916 Generalmajor, Ja- nisterium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung, 1936 SS- nuar 1917 Kommandeur der 1 . Brigade der 3 . Kavallerie-Division, Obersturmführer und seit 1944 SA-Oberführer, Träger des Goldenen 1918 Befehlshaber der Streitkräfte des ukrainischen Ataman Skoro- Parteiabzeichens und des Blutorden) . Als Nazi- und Kriegsverbre- padskij, 1919 Chef der Russischen Westregierung in Berlin, Teilneh- cher wurde von der sowjetischen Besatzungsmacht in Deutschland mer an den Putschen von Kapp (1920) und Hitler (1923), Mitbegrün- in Mühlberg und Buchenwald interniert (1945–1950) und kam da- der und Stellvertreter der Organisation deutscher und russischer nach frei . Vgl . http://de .wikipedia .org/wiki/Otto_von Kursell vom völkischer Nationalisten WAV, seit Mai 1936 Leiter der gleichgeschal- 7 Juni. 2012 . teten reichsdeutschen Verwaltung für Angelegenheit russischer Emi- 41 Der Cousin des 1918 ermordeten Zaren Nikolaus II . floh Coburg, dem granten UDRĖ (Upravlenie delami russkoj ėmigracii), Juni 1945 ver- Sitz der Familie seiner Gattin Viktoria Fjodorovna . 1924 ernannte er storben . sich in Paris zum Zaren Russlands im Exil, vor allem unterstützt durch 36 Nach Abschluss seines Chemiestudiums in Riga kämpfte Arno Schi- die rechtsextreme Organisation den Bund Jungen Russländer (Sojuz ckedanz als Freiwilliger auf Seiten Deutschlands gegen Russland und Mladorossov) . 1995 wurden seine sterblichen Überreste von Coburg war Mitarbeiter der Pressestelle Ober Ost VIII in Riga . 1923 nahm er nach St . Petersburg überführt und in der Peter-Paul-Kathedrale bei- am Hitler-Putsch teil, 1923–1933 war Leiter des Berliner Büros des gesetzt . Völkischen Beobachters . Er wurde nach 1933 einer der maßgebli- 42 Vgl M. . V . Nazarov: Missija russkoj émigracii, S . 109 . chen Nazifunktionär (seit 1933 Stabsleiter des Außenpolitischen 43 Nikolaj Evgenevič Markov II . (1866–1945), Gutsbesitzer aus dem Amtes Rosenbergs, seit 1941 Stabsleiter im Ostministeriums, 1943– Gouvernement Kursk und Duma-Abgeordneter . Er war einer der 1944 Stabsleiter beim Reichskommissar für die besetzten Gebiete Gründer des Bundes des Russischen Volkes (SNR) 1905 und Ver- Norwegens) und gehörte zu den führenden faschistischen Ideologen treter seines radikalsten Flügels . M . erhielt vom Innenministerium (1927 Das Judentum- eine Gegenrasse, 1928 Sozialparasitismus im die Genehmigung zur massenhaften Verbreitung des antisemitischen Völkerleben) . Ende April 1945 erschoss er sein Frau, seine achtjäh- Fälscher-Dokumentes »Protokolle der Weisen von Zion« . 1911 trenn- rige Tochter und sich selbst in Berlin . Vgl . http://de .wikipedia org/. te er sich von der Gesamtorganisation SNR . Als Duma-Abgeordne- wiki/Arno Schickedanz vom 6 . Juni 2012 . ter gehört er zu den radikalen Antisemiten und forderte die physi- 37 Alfred Rosenberg (1893–1946):Hauptideologie und Reichsleiter der sche Vernichtung der Juden . Während des Bürgerkrieges 1918–1920 NSDAP, 1933–1945 Leiter des Außenpolitischen Amtes (1933–1945) kämpfte M . in der weißen Judenič-Armee . 1921 emigrierte er nach und Minister für die besetzten deutschen Ostgebiete, 1946 in Nürn- Deutschland und wurde auf dem Allrussischen Kongress der Monar- berg als Hauptkriegsverbrecher gehenkt . chisten in Bad Reichenhall zum Vorsitzenden des Hohen Monarchis- 38 Im ersten Weltkrieg gehörte Boehm zu den Aktivisten der deutschen tischen Rates (bis 1927) gewählt . 1933 trat der Antikommunist und völkischen Kulturpropaganda und »Grenzlandarbeit«, 1918 war er Antisemit in den Dienst des Naziregimes . 1935 erschien in Erfurt Mitarbeiter in der »PressestelleOberost VIII unter Scheubner-Richter . sein antisemitisches Machwerk »Der Kampf der dunklen Mächte . 1919 Mitbegründer des völkisch-nationalen Juniklubs . Während der 44 Kyrill heiratete 1905 die Tochter von Herzog Alfred von Sachsen-Co- Naziherrschaft gehörte der Professor für »Volkstheorie und Volks- burg, Prinzessin Victoria Melita von Sachsen-Coburg und Gotha . Erst soziologie« (Universität Jena) zu den führenden Ideologen der sog . nach der Oktoberrevolution Floh K . zu seinen deutschen verwand- Volkstumspolitik . 1951 gründete er die Nordostdeutsche Akademie ten .1924 ernannte er sich in Paris zum Kaiser Russlands im Exil . Zu (später Ost-Akademie) in Lüneburg (BRD) und befasste sich nunmehr seinen Anhänger zählte die faschistische russländische Emigranten- mit der Geschichte und der Politik der Flucht und Zwangsaussiedlung partei Jungen Russen (Mladorossyj) unter Kassem-Bek . Nach seinem der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg . Tode 1938 wurde K . in Coburg bestattet . Bestattet . 1995 erfolgte die 39 Max Aman wurde 1891 in München geboren . 1908–1911 schloss Überführung seiner sterblichen Überreste nach St . Petersburg (Pe- er dort die Handelsschule ab, 1914–1919 Offiziersstellvertreter im ter- und Paul-Kathedrale) . Bayrischen Reserve-Infanterie-Regiment, nach seinem Eintritt in die 45 Zur Publikationsgeschichte des Fälscher-Dokumentes vgl . Norman NSDAP (Mitglieds-Nr . 3) war er bis 1923 Geschäftsführer der Nazi- Cohn: Die Protokolle der Weisen von Zion . Der Mythos der jüdischen partei und des Parteiorgans Völkischer Beobachter . Wegen Teilnah- Weltverschwörung, Baden-Baden/Zürich 1997 . me am Hitler-Putsch wurde A . zu viereinhalb Jahre Festungshaft in 46 Walter Laqueur, Der Schoss ist fruchtbar noch . Der militante Natio- Landsberg verurteilt . 1924–1933 Stadtrat in München und Finanz- nalismus der russischen Rechten, München 1993, S 64. . berater Hitlers . Er organisiert aus dem 1925 gegründet Franz-Eher- 47 Der in Poltava geboren Sohn eines Arztes wurde nach Abschluss sei- Verlag das faschistische Presse-Imperium (Völkischer Beobachter, nes Jura-Studiums Beamter im Justizministerium Russlands . Er war Das Schwarze Korps) . Wesentlich an der Herausgabe von Hitlers seit 1911 aktiv an der Inszenierung des antisemitischen Bejlij-Schau- Mein Kampf beteiligt . Als Präsident der Reichspressekammer (1933) prozesses beteiligt, Nach der Oktoberrevolution 1917 emigrierte Bra- übernahm er den Vorsitz des Vereins Deutscher Zeitungsverleger . zol‘ in die USA und wurde ein einflussreicher Staatsbeamter . Er ver- 1936 SS-Obergruppenführer . 1948 zu zehn Jahren Lagerhaft verur- breitete mit Unterstützung von Henry Ford die Protokolle der Weißen teilt, aber bereits 1953 wieder freigelassen . 1957 in München ver- von Zion und von ihm selbst produzierte Fälscher-Dokumente über storben . Vgl . http://de .wikipedia .org/wiki/Max_Amann_(Politiker) eine angebliche jüdisch-bolschewistische Verschwörung des USA- vom 19 . September 2012 . Bankier Jacob Henry Schiff (1847–1920) .

34 48 Erzherzig Wilhelm Franz von Habsburg-Lothringen erhielt von Kai- ser der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie den Auftrag, einen ukrainischen Satellitenstaat aus dem von Österreich besetzten westlichen ukrainischen Landesteil (Galizien) aufzubauen . Er führte eine militärische Spezialeinheit mit 4 .000 Mann (darunter die sog . Ukrainische Legion, später Ukrainische Sitscher Schützen) . Der uk- rainisch sprechende Erzherzog unter dem Namen Vasil Vyshyvaniyn (der Bestrickte, ob seiner ukrainischen Folklore-Tracht) war im Ki- ewer Verteidigungsministerium der bürgerlichen Westukrainischen Republik für Außenbeziehungen zuständig . 1920 verließ er die Ukrai- ne und gründete in München eine Zentralstelle für die Aufstellung ei- ner Freiwilligen Befreiungsarmee . Bis 1941 hatte er enge Verbindung zum Nazipolitiker Alfred Rosenberg, danach spionierte er für Großbri- tannien und Frankreich gegen die UdSSR . Nach dem Krieg wurde er vom sowjetischen Geheimdienst verhaftet und im Mai 1948 in Kiev zu 25 Jahren Haft verurteilt . Er starb im August 1948 in einem Kran- kenhausgefängnisse in Kiev an Lungentuberkulose . Ukrainische Na- tionalisten und Rechtsextremisten verehren Wilhelm von Habsburg noch heute als Vorkämpfer und Helden der Unabhängigkeit der Ukra- ine . Vgl . http://de wikipedia. org/wiki/Wilhelm Franz von Habsburg- Lothringen vom 22 9. .2012 . 49 Petr Vladimirovič Glasenapp war 1918–1919 Militärgouverneur des von der Freiwilligen Don-Armee besetzten Gebietes, seit 1920 Kom- mandeur der Nordwest-Armee . Als Vorsitzender des Russischen Of- fiziersbundes mit Sitz in Ostpreußen (Königsberg) knüpfte Verbin- dungen mit der rechtsextremen deutschen Organisation Stahlhelm und leitet seit Juli 1923 die Russländische Antikomintern . 50 Pavel Michailovič Bermondt-Avalov, russischer Oberst, trat 1916 für einen Frieden mit Deutschland ein und kämpfte 1919 mit seiner Rus- sischen Westarmee (15 .000 Mann) gemeinsam mit den deutschen Freikorpsverbänden (Generalkommando Baltikum) unter General von der Goltz (40 .000 Mann) gegen Sowjetrussland und die Litauisch- belorussische Sowjetrepublik Der selbsternannte Fürst und Gene- ralmajor (1919) lebte nach 1919 in Deutschland . Er gehörte zu den wichtigsten Aktivisten für den Aufbau der faschistischen Bewegung in der russländischen Emigration Deutschlands . 1941 emigrierte er in die USA, wo er 1974 verstarb . 51 Vgl . Michael Kellog: The Roots of Nazism, S . 171, 179, 181 und 189 . 52 Vgl . O . K . Antropov: Rossijskaja ėmigracija, S . 311–315 . 53 Gerd Koenen: Der Russland-Komplex . Die Deutschen und der Osten 1900–1945, München 2005, S . 276 . Zu diesem Strategiewechsel der NSDAP vgl . ebenda S . 388–420 .

35 Clara Zetkin. Die Briefe 1914 bis 1933 Marga Voigt (Hrsg.), Clara Zetkin. Die Briefe 1914 bis 1933. Band 1: Die Kriegsbriefe (1914–1918), Karl Dietz Verlag Berlin 2016, 560 S.

Marga Voigt hat, gefördert von der Rosa-Luxemburg- und religiösen Mystizismus . Dazwischen gibt’s nur ek- Stiftung, mit 200 Kriegsbriefen und 10 Dokumenten aus lektisches Flickwerk .« (37 f .) Und geradezu bewegend der Feder Clara Zetkins der Öffentlichkeit eine wichti- ist ihr Brief an Kurt Eisner vom 27 6. 1918. . Fünf Mona- ge Quelle zugänglich gemacht . Die Kriegsbriefe sind der te vor Kriegsende reklamiert dieser Brief mit höchstem erste Band einer Briefausgabe von 1 000. Korresponden- moralischem Anspruch das Menschheitsbewusstsein zen bis zum Todesjahr der Verfasserin 1933 . Und auch für die Linke . Die »ewige« Wahrheit universaler klassen- die partiell vor Jahrzehnten in verschiedenen ausgewähl- mäßig bürgerlich begrenzter Freiheitsrechte hat dem ten inhaltlichen Zusammenhängen herausgegebene Pu- nichts entgegenzusetzen . Allein hier war die Bruchkan- blizistik der unbestrittenen Gallionsfigur der Frauenbe- te des zweiten ideologischen Schismas der abendländi- wegung ist noch lange nicht erschlossen und verdient schen Welt, die die politisch-ideologische Richtung der vollständige Rezeption, selbst wenn relevante Schriften, europäischen Linken zum heute noch achtungsgebieten- so auch Briefe, schon bekannt sind . Marga Voigt ver- den Kulturträger machte, auch wenn ihr unter dem ini- weist darauf in ihren Vor- und Nachbemerkungen wie tiierten Mainstream die Öffentlichkeit wegbrach . Es ist auch auf die existierenden Zetkin-Biografien und die For- die Bruchkante Erkenntnis der materiellen Wurzeln des schungen zur Sozialismusgeschichte in diesem Kontext . Weltkrieges, der Notwendigkeit der Massenaufklärung und der konsequenteste Kampf für eine gesellschaftli- Brief- und Werkausgaben haben als authentische Quel- che Alternative außerhalb populistisch verbrämter elitä- len der Geistesgeschichte hohen Erkenntniswert . Sieht rer, religiöser, nationaler oder rassistischer Egoismen . man einmal von den antiquierten ideologischen Graben- Clara Zetkins Rolle als Nummer 1 der Frauen-Internati- kämpfen des 20 . Jahrhunderts ab und blickt auf den onale offenbarte dieser Krieg, der die Frauen in die bis- inneren Zusammenhang des neuzeitlichen Ringens um herige Männer-Domäne stellte und die »verfeindeten« das Verständnis der Dialektik von Natur, Gesellschaft Männer-Sozialisten in den Schatten ihrer politischen In- und Individuum in ihrer Geschichtlichkeit von der Re- itiative, der Berner Konferenz im März 1915 . Aber auch formation über die Aufklärung bis zu den philosophisch, ihre individuelle Position stellte Clara Zetkin als gebil- ökonomisch und sozialwissenschaftlich begründeten dete Politikerin in eine Reihe mit ihren engsten geistig revolutionären Bewegungen, dann dürfte der Gewinn verwandten Gefährten . Bereits der zweite Brief dieses auch für diejenigen nicht zu übersehen sein, die die Bandes an und vom Ideologiegeschichte mit Luther, Kant, Schopenhauer 5 8. 1914,. in dem sie den beiden eine Absage erteilte, und Nietzsche als beendet betrachten . Dennoch dreht sich öffentlich von den Kriegskreditbewilligern ihrer Par- sich jeder Erkenntnisfortschritt allein um die Erkennt- tei zu distanzieren, ist die Erhebung aus der bisherigen nis des Weltganzen in seinem Gesamtzusammenhang . scheinbar bedingungslosen Gefolgschaft gegenüber ih- Auch dieser Briefband lässt das erkennen . Clara Zetkins rer am nächsten stehenden Freundin . Clara Zetkins Brief an Bertha Thalheimer vom 11 11. 1914. greift abseits Kriegsbriefe spiegeln ihren Anteil am Zusammenhalt der von den existentiellen Fragen des drei Monate alten Fraueninternationale, ihr Eingreifen in die württember- Weltkrieges erkenntnistheoretische Probleme auf . Die gischen Parteiverhältnisse, ihr Ringen um den Gesamt- 31-Jährige, die am Stuttgarter Polytechnikum metho- überblick über die historischen Ereignisse, ihre Kommu- dische Anleitung zur Welterkenntnis suchte, tröstet sie nikation mit Freunden über den Kriegsalltag, die damit mit dem Hinweis, sich auf das Handwerk der Wissensan- verbundenen Ängste, Zweifel aber auch Zuversicht . In eignung zu konzentrieren: »Einheitliche Auffassung kön- knappen Einzelpassagen werden Zeitkolorit, Haltung nen Sie heute nur finden beim ›Modernen Marxismus‹ aber auch Politik- und Gesellschaftsverständnis erkenn-

36 bar . Die Rede ist vom »reißenden Schmutzstrom des be- voreilige Kritik der sozialdemokratischen Kriegskreditbe- schränkten Chauvinismus« und der »innere(n) Hohlheit williger an dem Versuch der Bolschewiki, unter den kon- recht vieler Redakteure und führender Genossen« (24) . kreten russischen Verhältnissen, den Krieg zu beenden Der Weltkrieg wird charakterisiert als das »furchtbarste und eine Militärdiktatur zu vermeiden . Den tiefen Sinn Verbrechen an der Menschheit, dessen sich der kapita- dahinter sah sie in der Ergänzung der am 4 August. 1914 listische Imperialismus schuldig macht« (30) . Das war vollzogenen Verabschiedung vom originären sozialdemo- die Logik des Denkens und Handelns des linken Flügels kratischen Standpunkt durch die Absage an den revo- der internationalen Sozialdemokratie von der Atlantik- lutionären Frieden . Darin unterschied sich die Bolsche- küste bis zum Finnischen Meerbusen und zur Schwarz- wiki-Kritik Clara Zetkins und Rosa Luxemburgs von der meerküste . Und es war kein Zufall, dass vier nationale rechten und gemäßigten . Beide hängten das historische Parteifraktionen mit ihrer Kriegsverweigerung das sog . Versagen der westlichen Sozialisten höher als die histori- »August-Erlebnis« 1914 relativierten und ein historisches schen Fehler der Bolschewiki . Die historische Hauptver- Beispiel gaben . Allein die gegensätzliche Beurteilung antwortung für die russische Misere und deren Folgen des Charakters dieses Krieges und die gegensätzliche verwiesen beide begründet an die sozialdemokratische Auffassung von den Notwendigkeiten seiner Beendi- Rechte im Westen . gung, erstmals 1907 vom Stuttgarter Weltkongress der Diese Zusammenhänge hätten in einem fundierten Vor- II . Internationale unmissverständlich und auf den nach- wort erörtert werden können . Demgegenüber wurde der folgenden Kongressen in Kopenhagen und Basel bekräf- Briefband 1 am Ende mit acht Pressebeiträgen von Karl tigt, war der Grund für das »Große Schisma« des Sozia- Kautsky (2), Franz Mehring, Julius Martow, Rudolf Breit- lismus . Das war auch der letztendliche Grund, weshalb scheid, Heinrich Ströbel, Wilhelm Düwell und Edwin Ho- Clara Zetkin am 5 4. 1917. hoffnungsvoll die »gewaltige ernle überfrachtet, die die verschiedenen Ansichten der Volkstat in Russland« (297) begrüßte und am 9 .2 1918. Parteirichtungen zum Demokratiedefizit der Bolschewi- gegenüber Mathilde Jacob bekannte: »Seit der Erhebung ki-Revolution reflektieren . Davon abgesehen, dass mit der Bolschewiki, glaube ich an das Leben .« (378) Mehr Ausnahme Franz Mehrings und Edwin Hoernles diese sagen die Briefe zu den Ereignissen im Osten nicht aus . Stellungnahme ebenso wenig unbekannt sind wie Clara Clara Zetkins erste konkretere Stellungnahme zur Revo- Zetkins September-Brief an die USPD-Konferenz 1918, in lution der Bolschewiki inspirierte die sie »wie ein Blitz dem sie die Parteiposition zu den Bolschewiki einer aus- aus heiterem Himmel« treffende Amtsniederlegung ih- führlichen Analyse unterzieht, wirft Jörn Schüttrumpfs rer Freundin Helen Ankersmit im Gefolge parteitakti- Anhang-Beitrag »Auf dem Weg zu den Bolschewiki« als scher Differenzen . In diesem Zusammenhang gab sie, Kommentar dazu die Frage nach dem Zweck dieser den Bedenken ihrer Freundin widersprechend, nicht nur Band-Konstruktion auf . Am Ende bleibt die simple Aus- ein meisterhaftes Beispiel undogmatischer prinzipieller sage, das während des Krieges legal erscheinende linke parteitaktischer wie auch methodischer Charakterisie- Presseorgan »Der Sozialdemokrat . Mitteilungsblatt des rung der holländischen Parteiführung, sondern auch der Sozialdemokratischen Vereins Stuttgart (USPD)« sei vom Kritiker der Bolschewiki in Persona Karl Kautskys . Indem SED-Parteiarchiv aus ideologischen Gründen unterschla- sie diesem vorhielt, »westeuropäische Entwicklungs- gen worden . Da diese Vermutung weder in den »Kriegs- schemas« mechanisch auf völlig andere Verhältnisse zu briefen« Clara Zetkins noch durch den Anhang zu diesem übertragen und damit das Wesen historischer Transfor- Briefband plausibel wird, darf an dieser Stelle darauf hin- mationen zu verkennen (386), erinnert dies an die heuti- gewiesen werden, dass Quellenbeschaffung unter den gen untauglichen Versuche des Westens, die Demokra- von Schüttrumpf beanstandeten Verhältnissen nicht zu- tie in außereuropäische Kulturen zu exportieren, ohne letzt aus Devisengründen mitunter abenteuerlich war – die historischen Voraussetzungen zu berücksichtigen . wohl auch ein Grund für mangelnde Transparenz . Das war der geschichtsphilosophische, keineswegs par- teitaktische Kern der Einwände Clara Zetkins gegen die Dr. Hartmut Henicke

37 Juden als Zwangsarbeiter in Brandenburg. Das Beispiel Garzau Erika und Gerhard Schwarz: Das Rittergut Garzau und jüdische Zwangsarbeit, Hentrich & Hentrich, Berlin 2017

Nachdrücklich zu empfehlen ist diese heimatgeschicht- 1996 begann ein Briefwechsel zwischen Frau Gottes- liche Publikation im besten Sinne . Vorgelegt wird eine mann und mir . Damals lebte sie in Israel . Bei einem Be- lokalgeschichtliche Studie über einen Ort in Branden- such in Berlin 1999 lernte ich Frau Gottesmann per- burg, die weit mehr als eine Darstellung der Entrech- sönlich kennen . Sie erzählte von ihrer Schule in der tung von Juden durch die Nationalsozialisten ist . Auguststraße . Die Mädchen aus den oberen Klssen Erika und Gerhard Schwarz gelingt eine überzeugende durften in den großen Pause auf dem begrünten Dach Präsentation ihres Gegenstandes . Lokales wird umfas- der Schule spazieren gehen . Sie zeigte mir auch ein send dokumentiert und es werden Bezüge zur allgemei- Klassenfoto . Die Namen fast aller Mitschülerinnen und nen Zeitgeschichte hergetellt, ohne dass sich letztere ihrer Lehrerin Fräulein Jacobs konnte sie auch nach vie- in den Vordergrund drängen . Für alle Interessierten gibt len Jahren noch nennen . Meine Briefe schickte ich nach es zudem zur Orientierung eine Gesamtdarstellung der Israel, in den Kibuz Dowal . Frau Gottesmann arbeitete Geschichte der NS-Zwangsarbeit von Juden in der Pro- dort täglich in der Gemeinschaftsküche vinz Brandenburg 1. Auf eine Reihe von lokalen Darstel- lungen kann ebenfalls verwiesen werden . Nach getaner Arbeit, die ihr mit über 70 Jahren be- stimmt nicht leicht fiel, erledigte sie ihrer umfangreiche Und: Betroffene Juden, die als Überlebende der zahlrei- Korrespondenz, vor allem mit Menschen in Deutsch- chen Lager in Brandenburg berichten, vermitteln in so- land . Dieses Schreiben wurde ihr zur liebsten Beschäf- genannten Zeitzeugenberichten ein zwiespältiges Bild tigung . Einem ihrer Briefe lagen Fotos von Gedenkstei- ihrer Erlebnisse . Jürgen Israel Löwenstein aus Berlin- nen für die in Bergen-Belsen ermordeten Menschen bei . Mitte zählte im Gespräch allein sechs Orte auf, an de- Auf großen Sterinquadern standen nur unvorstellbar ho- nen er vor seiner Deportation nach Auschwitz zwangs- he Zahlen . Frieda Gottesmann fragte in einem Brief, was weise arbeitete .2 das soll . Hatten die Ermordeten keine Namen? Keine Bekannt ist auch das Schicksal der Berlinerin Clara Heimatadresse? Sie fand diese Form der Erinnerung un- Grunwald die vom Hacharah-Lager Neuendorf im San- angemessen . de bei Fürstenwalde aus freiwillig und ganz bewusst ge- meinsam mit ihren jungen Schützlingen den Weg in die An die Briefe von Frieda Gottesmann mußte ich den- Deportation antrat, obwohl sie selbst vielleicht im Al- ken, als ich im Buch von Erika und Gerhard Schwarz ein ters-KZ Theresiensstadt hätte überleben können 3. ganzes Kapitel mit Reherchen zu den Biografien der jü- dischen Zwangsarbeiter in Garzau las . »In memoriam« Schließlich erhielt ich einen Hinweis von Herrn Herwig war dieses Kapitel überschrieben . Als Historiker weiß Schirmer, Ende der 80er Jahre Senatsdirektor in der ich, wie viel Mühe sich hinter solchen biografischen Re- Hansestadt Bremen . Bei einer Gedenkfeier der Stadt für cherchen verbirgt . Ausdrücklich empfehle ich zur Nach- Überlebende aus dem KZ Bergen-Belsen hatte er Frieda ahmung, den Juden einen Namen zu geben und Außen- Gottesmann kennengelent . Frieda Gottesmann wurde tstehende über ihr Schicksal zu informieren . am 15 . April 1945 aus dem KZ Bergen-Belsen befreit . Kurzbiografien jüdischer Gutsarbeiter werden vorgsellt . Zuvor war sie im September 1939 mit ihren Eltern und Besonders ausführlich wird über die Familie von Werner drei Geschwistern in das Ghetto Lodz (Litzmannstadt) Klopstock berichtet . verschleppt worden . Bei einer Selektion wurde sie von ihrer Famile getrennt . Nur sie überlebte .

38 Hermann Simon, der Gründungsdirektor der Stiftung Nach 1945 wurde Hans von Rohrscheidt einteignet, Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum, bezeichnet blieb aber in Garzau bis zu seinem Tode 1963 . in seinem Geleitwort zu dem Buch diese Passagen als »wichtigstes Kapitel« . (S . 8) Bleibt neben der Empehlung, dieses Buch zu lesen und Das sehr anspruchsvoll gestaltete Buch von Erika und ihm in einer Privatbibliothek zu brandenburgischer Hei- Gerhard Schwarz, erschien im Verlag Hentrich & Hen- matgeschichte einen Ehrepnltz zu geben trich, es weist einige Besonderheiten auf . Diese heraus- gearbeitet zu haben gehört zu den Verdiensten der Au- Erika und Gerhard Schwarz: Das Rittergut Garzau und toren . jüdische Zwangsarbeit, Hentrich&Hentrich, Berlin 2017 .

Der jüdische Dienstherr der Zwangsarbeiter Ritterguts- besitzer Hans von Rohrscheidt, mußte sich ab 1933 den Dr. Horst Helas Vorschriften für Zwangsarbeit anpassen . Er hatte ert jü- Mitglied des Sprecherrates der BAG Antifaschismus dischen Vorfanhren und mußte deshalb besonders sen- der Partei DIE LINKE sibel reagieren . Das Rittergut Garzau war kein Zwangs- arbeiterlager wie andere, es stand von Anfang an unter besonderer Aufsicht der Gestapo . Die ökonomischen 1 Siehe: Monika Nakath (Hrsg .): Aktenkundig: »Jude«! Nationalsozia- listische Judenverfolgung in Brandenburg 1933–1945 . Vertreibung – Zwänge nationalsozialistischer Wirtschaftspolitik be- Ermordung – Erinnerung, Berlin 2010 . stimmten den Alltag der jüdischen Zwangsabeiter wie 2 Siehe: Horst Helas: Juden in Berlin-Mitte . Biografien Orte Begeg- des Gutsbesitzers, der konservativ eingestellt und Mit- nungen, Berlin 2001, 2 . ergänzte und durchgesehene Auflage, Berlin 2001, S 212–219. . glied der DNVP war . Diese Grundhaltung war allseites 3 Siehe: »Und doch gefällt mir das Leben .« Die Briefe der Clara Grun- bekannt . wald 1941 bis 1943, Berlin 2016 .

39 Das »andere Deutschland« oder »die unbekannte DDR«? Siegfried Prokop wagt einen differenzierten Blick von links auf den zweiten deutschen Staat.1 Siegfried Prokop: Die DDR hat´s nie gegeben. Studien zur Geschichte der DDR. Edition Bodoni, Neuruppin/Buskow 2017, 307 S., 20 Euro.

Wer seinem Buch den Titel »Die DDR hat´s nie gege- Leitbegriffe »Unrechtsstaat« und »Diktatur« sowie die ben« verleiht, der will gewiss eine provokante Ausein- Mangelwirtschaft, ergänzt um die Machenschaften der andersetzung um Geschichtsbilder und um Geschichts- Staatssicherheit, und mündet ein in die Deutung, die politik führen . Und die ist 28 Jahre nach dem Fall der DDR sei von Anfang an nicht existenzfähig gewesen, so Mauer wirklich und unabweisbar nötig . So dominierten dass man ihre Geschichte vor allem von ihrem Ende her während der Zeit des »kalten Krieges« die die staatliche zu verstehen habe . Dass eine solche Betrachtungswei- Existenz eines zweiten deutschen Staates, der DDR, se vor allem politisch bedingt ist und die Siegerpose der leugnenden und auf prinzipielle Ablehnung bedachten kalten Kriegs-Gewinnler repräsentiert, muss hier wohl Bezeichnungen wie »Ostzone«, »SBZ«, »Pankow« oder kaum näher erläutert werden . Sie greift zu kurz und ist aus Bundeskanzler Kiesingers (CDU) Mund »Phäno- schlicht unhistorisch . men«, um dem Alleinvertretungsanspruch des Bonner Dagegen wendet sich Siegfried Prokop in seinen 23 Tex- Weststaates in seinem Innern Geltung zu verschaffen . ten aus den vergangenen 20 Jahren vehement . Der Ti- Dem entsprach bekanntlich die von Walter Hallstein tel ist einem Graffiti entlehnt, das in Berlin-Mitte an der entwickelte und nach ihm benannte außenpolitische Spree vorgefunden wurde . Der Autor selbst lehrte Zeit- »Hallstein-Doktrin«, nach welcher ein Staat, der die DDR geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin, nahm diplomatisch anerkannte, mit dem Abbruch der diplo- Gastprofessuren in Paris, Moskau und Montreal wahr matischen Beziehungen durch die BRD bestraft werden und wirkte als Vorsitzender der Alternativen Enquete- müsse, da eine Anerkennung der DDR im Denken der kommission »Deutsche Zeitgeschichte« . Insofern stellt Adenauerschen Politik der Stärke als ein unfreundlicher dieses Buch als Textsammlung auch sein Wirken im Rin- Akt gegen die BRD anzusehen sei . In diesem Kontext gen um eine nicht auf die repressive Seite der DDR redu- der Restauration und des kalten Krieges hat es die DDR zierte Geschichtsbetrachtung heraus . Demgemäß ent- tatsächlich für viele damalige Zeitgenossen und Politi- halten seine Studien und Vorträge viele Elemente einer ker nicht gegeben . Die kommunistische Partei der alten auf Differenzierung, politische Konfliktbetrachtung und BRD wiederum, die DKP, verweigerte sich lange beharr- Detailkenntnis setzenden Herangehensweise, die in der lich einer kritischen Auseinandersetzung mit der DDR Tat Prozesse innerhalb der DDR rekonstruieren, die ei- und ihren Widersprüchen und Konflikten und machte nem dichotomischen DDR-Bild zuwiderlaufen . Gleichzei- eine marxistisch orientierte und gleichzeitig kritische tig versucht Prokop, Ansatzpunkte für eine den Anforde- DDR-Analyse damit nicht leichter . rungen einer demokratischen sozialistischen Politik und Nach der vollzogenen Einheit Deutschlands durch die Vision entsprechenden Debatte zutage zu fördern . Da- Eingliederung der wieder geschaffenen Länder der bei geht der Autor kritisch mit allen Protagonisten der DDR gemäß Artikel 23 GG am 3 . Oktober 1990 leug- DDR-Geschichte um, es gibt weder prinzipielle Loyalitä- net zwar niemand mehr ernsthaft die 41jährige Exis- ten noch Aburteilungen, Stalin, Ulbricht, Honecker und tenz der Deutschen Demokratischen Republik, das of- Andere werden an ihrem jeweiligen politischen Handeln fizielle Geschichtsbild aber wird konfiguriert durch die gemessen und nicht voreingenommen bewertet .

40 In seiner Einführung gliedert Prokop die DDR-Geschich- ne zu entnehmen, die ökonomisch den westlichen Zo- te in vier Perioden . Erstens in die antifaschistisch-­ nen unterlegen war . Dadurch geriet die spätere DDR a demokratische Ordnung in der sowjetischen Besat- priori in einen wirtschaftlichen Rückstand, den sie nie zungszone bis zur Staatsgründung am 7 . Oktober 1949, wettzumachen vermochte bzw . mit ihrer Umsteuerung dann auf sie folgend die Ära Ulbricht von 1949–1970 . der Industriepolitik auf die Stärkung der Schwerindus- Nach Ulbrichts Absetzung trat die DDR in die Ära Hone- trie seit 1952 schnell – am 17 . Juni 1953 – mit schwe- cker (1971–1989) ein, um nach der »Wende« in die Pe- ren Legitimationsverlusten und Unruhen bezahlte . Dass riode des demokratischen Aufbruchs überzugehen, die diese Reparationsfestlegung auf diese Weise getroffen mit dem 3 . Oktober 1990 beendet wurde . Die meisten wurde, führt P . auf strategische Fehleinschätzungen hier einbezogenen Texte sind der Auseinandersetzung Stalins zurück . Als Gegenleistung für die Zustimmung mit der Ära Ulbricht zuzuordnen . Im Folgenden sollen der Westalliierten zur Grenzfestlegung der deutsch-pol- Beispieltexte zu allen vier benannten Perioden ange- nischen Grenze zwischen Swinemünde und der Lausit- führt werden . zer Neiße gemäß Stalins Forderung habe dieser in die »Die vier Mächte und die deutsche Frage« aus dem Jahr Schaffung von Reparationsgebieten eingewilligt, die die 1999 konstituiert die analytische und deutende Basis Westzonen bevorteilten und so die Spaltungsentwick- der Gedankengänge Prokops . So stellt er fest, dass mit lungen über die »Bizone« von 1947, die Währungsre- dem Ende des Hitlerfaschismus auch das Reich als der form von 1948 mit anschließender Berlin-Blockade und Kommunikationsraum für Klassenkämpfe und politi- Luftbrücke (1948/49) bis hin zur Trizone 1949 und der sche Auseinandersetzungen untergegangen war: »Das Gründung der BRD am 23 . Mai 1949 vorstrukturierten . Reich bot das Feld, auf dem gegensätzliche politische (S . 46–47, 58–61) Kritische Debatten über Stalins He- und soziale Kräfte, vor allem das Bürgertum und das gemonialpolitik in Ostmittel- und Osteuropa habe es in Proletariat, ihre Auseinandersetzungen austrugen« . Da- der DDR gegeben, führt P . an und nennt dabei Anton bei sei der einheitliche, seit 1871 bestehende Natio- Ackermann, Wolfgang Harich und Fritz Behrens . Doch nalstaat von der Linken nie in Frage gestellt worden . Ansätze zu einer politischen Veränderung im Sinne von (S 21). Doch nach der Niederlage des Faschismus im mehr Unabhängigkeit der Länder des RGW bzw . War- II . Weltkrieg und der gescheiterten Selbstbefreiung der schauer Vertrages von der vorgegebenen Vorbildfunk- Deutschen sei ein Vakuum entstanden, dass in beiden tion der UdSSR bzw . einer eigenen Perspektivsetzung späteren Staaten unterschiedlich gefüllt wurde, was in auf dem Weg zum Sozialismus seien spätestens zu Zei- den Jahren 1945–1949 vor der »doppelten Staatsgrün- ten Chruschtschows unterbunden worden . (S . 60/61) dung« grundgelegt wurde: »Nicht wenige Deutsche er- Dennoch zeigten spätere Diskussionen innerhalb des lagen der Versuchung, sich mit nihilistischer nationaler Kulturbundes der DDR, den »Klubs der Intelligenz« oder Selbstverleugnung in einen nebulösen Kosmopolitis- im »Forschungsrat der DDR« in den fünfziger und frü- mus oder in ein zunächst nicht näher definiertes Euro- hen sechziger Jahren, »dass in einer spezifischen Phase päertum zu flüchten . Lediglich aus dem Kampf des »an- Gremien in der DDR eine Rolle spielten, die nicht der Lo- deren Deutschlands« gegen den Hitlerismus ließ sich gik des sowjetischen Modells unterlagen «. (S . 82) Ins- ein würdiger Patriotismus begründen, der nicht im Wi- gesamt aber sei es beiden deutschen Staaten, von de- derspruch zu internationalem Denken stand .« (S . 22) nen die DDR ein von der Sowjetunion eher widerwillig So sehr diese Feststellung auch Hand und Fuß besitzt, ins Leben gerufenes Kind gewesen sei, nicht möglich irritiert doch ein wenig die sicherlich völlig unbewuss- gewesen, den von den Besatzungsmächten vorgege- te partielle verbale Anlehnung an Ausführungen Armin benen Handlungsrahmen im Kontext von kaltem Krieg Mohlers oder Bernhard Willms, beides Nationalkonser- und Systemauseinandersetzung zu überschreiten; bes- vative der »Bonner Republik« . Als mitentscheidend für tenfalls habe man ihn mehr oder weniger gut im eige- den weiteren Fortgang der politischen Grundrichtung nen Interesse ausnutzen können . (S . 94) Dies nimmt P . hin auf die Spaltung Deutschlands ermittelt P . die Re- auch für die Rolle der 2 . Parteikonferenz der SED im Ju- gelung der Reparationsfrage auf der Potsdamer Konfe- li 1952 in Anspruch, auf der »der beschleunigte Aufbau renz . Da letztlich Reparationsgebiete festgelegt wurden, des Sozialismus« beschlossen wurde, was die Konflikt- die primär den Besatzungszonen entsprachen, waren lage in der DDR verschärfte und zu den Ereignissen des die sowjetischen und polnischen Reparationsforderun- 17 . Juni 1953 führte . SED-Führung und DDR-Regierung gen größtenteils aus der sowjetischen Besatzungszo- hätten diesen Kurswechsel allerdings mitgetragen und

41 könnten nicht aus der Verantwortung für diese Staats- erlaubte, hielten die DDR-Regierung und die SED an krise entlassen werden . (S . 157) der ökonomisch kostspieligen Politik der »Einheit von Die zweite Hälfte der Ära Honecker stand zweifellos Wirtschafts- und Sozialpolitik« fest, die immer häufiger unter den Sternen einer politischen und wirtschaft- kreditfinanziert werden musste . Vor den Folgen der lichen Krise, verursacht durch die Erhöhung der Roh- Krise, also Stagnation, Unmut, Massenflucht und stoffpreise, die Vernachlässigung der Landwirtschaft Legitimationsverlust, verschloss die DDR-Führung die und der Konsumgüterproduktion sowie durch Wettrüs- Augen . Dass so das Machtmonopol der SED verfiel und tung, symbolisiert durch die atomare »NATO-Nachrüs- weder Egon Krenz noch Hans Modrow eine realistische tung« und die Stationierung der SS-20-Raketen in der Chance besaßen, die Existenz der DDR als erneuertes DDR . Infolge des massiven ökonomischen Druckes demokratisch-sozialistisches Staatswesen zu retten, ist durch die Überrüstung auf die Wirtschaft der UdSSR bekannt . Im Schlusstext bezieht sich P . erneut auf Fritz habe diese ihre Verpflichtungen gegenüber ihren Bünd- Behrens, den er aufmerksam zu studieren empfiehlt und nispartnern vernachlässigt und zu deren Krisenentwick- dessen Position er referiert, dass es sich bei der DDR lung, in Polen und der DDR besonders spürbar, beige- im eigentlichen Sinne noch nicht um eine sozialistische tragen . P . schlussfolgert: »Unter diesen Bedingungen Gesellschaft handelte, sondern um eine »neue – und wäre eine Neubestimmung außenpolitischer Grund- wahrscheinlich letzte – Variante der alten bürgerlichen konstanten der DDR erforderlich gewesen; ein Para- Gesellschaft« . (S . 300) So gesehen hat es die DDR, so digmenwechsel von der Sowjetunion weg . Erforderlich wie sich selbst gern offiziell sah, womöglich tatsächlich wäre ein prinzipiell neues Verhältnis zur Bundesrepublik nicht gegeben . Und so bleibt vieles an Prokops Analy- gewesen, was eine Modifizierung der bisherigen sen und Deutungen anregend und zur Prüfung aufru- Positionen in der nationalen Frage erforderlich gemacht fend, Widerspruch erregend und erhellend . Es ist ein hätte «. (S . 246) Wie ein roter Faden zieht sich die Buch, über das Linke kontrovers diskutieren sollten . Der Suche nach Koordinaten eines »deutschen Weges Blick in die Feinheiten des zweiten deutschen Staates zum Sozialismus« durch seine Arbeiten, beginnend und auf die Analysen eigenständiger Denker und Diskur- bei Anton Ackermann und sich fortsetzend über se kann helfen, genauer zu definieren, wie eine solida- Rudolf Herrnstadt, Fritz Behrens und Wolfgang Harich . rische, demokratische und sozialistische Gesellschaft Als sich im Zuge der Raketenkrise Erich Honecker der Zukunft anvisiert werden könnte . anschickte, mit Helmut Schmidt und später mit Franz Josef Strauß und Helmut Kohl eigene außenpolitische Akzente über die deutsch-deutsche Grenze hinweg Dr. Holger Czitrich-Stahl zu setzen, rief dies das Misstrauen Moskaus hervor . (S . 250) Doch während sich in den achtziger Jahren die außenpolitische Entspannung durchsetzte und verbesserte ökonomische Rahmenbedingungen 1 Dieser Text wurde zuerst veröffentlicht in: Sozialismus, 10/2017, S . 64–65 .

42 Warten wir die Zukunft ab. Hartmut König. Warten wir die Zukunft ab. Autobiografie, Verlag Neues Leben, Berlin 2017

Es ist eigentlich eine Zumutung, über 500 Seiten vorzu- Das jährliche Festival des Politischen Liedes war in spä- legen . Dennoch, aus reiner Neugier habe ich das Buch teren Jahren eine feste Größe in meinem Freizeitkalen- gleich von Deckel zu Deckel gelesen . der . Praktische internationalistische Solildarität konn- ten wir bei solchen Veranstaltungen nachvollziehen . Die Und ich sah meinen guten Bekannten Peter Fischer in ausländischen Sänger erweiterten unseren Gesichts- seinem Urteil bestätigt . Für ein Buch über die DDR ist kreis . Solidarität war anfassbar . es noch viel zu zeitig, auch wenn Hartmut König und ich Führende FDJ-Funktionäre hatten 1964 die Bezeich- beide schon über 70 Jahre alt sind . Ich habe dem Verle- nung »Deutschlandtreffen« und den Namen des neuen ger Frank Schumann versprochen, ich lasse es . Von mir Jugendsenders DT 64 für unpassend gehalten . Die vie- wird er nicht mit Memoiren behelligt . Vorerst . len schwer kontrollierbaren (!) politischen Diskussionen Dabei hätte ich zur Autobiografie von Hartmut König auf der Straße wurden mißtrauisch beäugt . Gerade sie manches zu sagen: Zustimung und Widerspruch zu be- gefielen uns . schriebenen Ereignissen, andere oder ähnliche Urteile Auch zu den X . Weltfestspielen der Jugend und Studen- über Personen, aufschlussreiche, ergänzende Erinnerun- ten 1973 in Berlin war das noch so . Ich wirkte daran mit, gen . Nicht so spektakulär wie Udo Lindenbergs Toilette- mir bis dahin völlig unbekannten FDJlern dabei zu hel- nerlebnisse . Aber ich kenne die Toilette wie auch andere fen, dass ihre Diskussionsbeiträge für die zahlreichen Räumlichkeiten im früheren Gästehaus des Zentralrats Konferenzen und Seminare ihre Natürlichkeit erhielten, der FDJ in der Pistoriusstraße in Berlin-Weißensee . insgesamt aber in die »ricihtige Richtung« gingen . Und natürlich habe ich eine andere Perspektive . Ich Stichwort: Biermann . In meiner Schulzeit waren in Ber- kann nicht Gitarre spielen und habe »nur« im Saal ge- lin auch das Aufkommen von »Beat-Gruppen« und die sessen, wenn Hartmut und andere gesungen haben, oft Lyrikbewegung populär . Der Name MOKKAMILCHEIS- Eigenes . Ich war ein dankbarer und engagierter Zuhörer . BAR war dafür eine Adresse wie auch die Lyrikabende »Sag mir‚ wo Du stehst und welchen Weg Du gehst!« im AUDIMAX der Humboldt-Universität . Hartmut König Dieser Aufforderung bin ich viele Jahre gefolgt, zumeist schrieb darüber und hatte an beiden seinen Anteil . ohne viel nachzudenken . Eben klassenmäßig – was das Während meiner Studienzeit (1965 bis 1969) an der immer gerade bedeutete oder wieviel Widersprüchli- Karl-Marx-Universität und meiner anschließenden Tä- ches dahinter steckte . tigkeit als hauptamtlicher FDJ-Funktionär an der Uni be- Ab September 1961 war ich in Berlin Schüler der Käthe gegnete mir Hartmut König als bekannter Vertreter der Kollwitz-Oberschule . Heftig stritten wir über den Bau Singegewegung und als Journalistik-Student, der vom der Berliner Mauer, die Antifaschistischer Schutzwall »Neuen Deutschland« delegiert worden war . Er war sich genannt wurde . Zweifel daran, ob diese Bezeichnung zu- seiner Bekanntheit bewußt, ohne damit zu kokettieren . treffend war, äußerte ich erst viel später und dann auch Damals hatten wir unterschiedliche Schlüsselerlebnis- öffentlich auf einem DDR-Historiker-Kongreß . 1961 hielt se des Umgangs der DDR mit »ihren« Künstlern . Der Ab- ich – wie andere auch – den Ausschluss von Mitschü- riß der Uni-Kirche sowie der Alten Uni mit dem Hörsaal lern aus der FDJ für folgerichtig oder respektierte ihren 30 bedauerte ich ohne zu den Protestierenden zu gehö- Austritt aus dem sozialistischen Jugendverband . ren . Diskussionen darüber, welche Personen auf dem Geprägt hat meine Schulzeit auch die Entstehung des repräsentativen Gemälde von Werner Tübke die Elite Oktoberklubs, der ursprünglich Hootenanny-Klub hieß . der Karl-Marx-Universität repräsentieren sollten, waren Der spätere Schlagersänger Jürgen Walther von der be- mir eher peinlich . Erleichtert war ich über die Entschei- nachbarten Schliemann-Oberschule hieß da noch Jür- dung, dass »führende« FDJ-Funktionäre der Uni (wie ich gen Pippig . damals) nicht abgebildet werden sollten .

43 In angenehmer Erinnerung habe ich die Debatten im Se- Ewald Kaiser, Lea Grosse und anderen . Auch Irma Thäl- kretriat der SED-Kreisleitung der Uni um das Studenten- mann und Lotte Ulbricht akzeptierten uns als Vertreter Kabarett »Die Akademixer« . Die flexiblen Positionen von des Jugendverbandes . Dietmar Keller habe ich dort gern unterstützt . Diese Seite unserer Arbeit brachte uns im Zentralrat der Im September 1973 wurde ich – wie in einem Kader- FDJ Anerkennung ein . Schließlich schärfte das auch un- perspektivplan vorgesehen – Mitarbeiter im Zentralrat seren Blick auf die Unzulänglichkeiten der deutschen der FDJ und blieb es bis Sommer 1981, zuerst in der Ab- und der internationalen Jugendbewegung in den Aus- teilung Studenten und dann der Abteilung Propaganda . eiandersetzungen zwischen den Weltkriegen . Wie die Meine Arbeitsaufgaben waren dort nicht nur von Routi- von uns betreuten Arbeiterjugendveteranen wußten wir ne geprägt, sondern hatten auch exklusiven Charakter, auch um Fehler und Defizite in der Vergangenheit . Und: was ich gern genutzt habe . wie damals üblich, wurde darüber nicht offen gespro- Mitarbeiter der Abteilung Studenten kamen mehr als chen, weder mit den Veteranen noch untereinander . die anderer Bereiche in die Lage, die FDJ international Stalinimus war für uns ein Fremdwort . mit zu repräsentieren . Schließlich gab es nicht nur den Menschen prägten die Zeiten und beeinflussten auch Weltbund der Demokratischen Jugend sondern auch meinen bisherigen Lebensweg . Ganz unterschiedliche, den Internationalen Studentenbund . vor allem positive Erinnerungen habe ich an SED-Funk- In der Abteilung Studenten war ich unter anderem für tionäre wie Hans-Joachim Hoffmann und Dietmar Keller . die FDJ-Arbeit an den Kunsthochschulen mit verant- In meiner FDJ-Zeit prägten Wolfgang Herger und Günter wortlich . Ich lernte führende Künstler der DDR kennen Schneider wesentlich mein Tun und Lassen . die diese Hochschulen als Rektoren prägten und ihr Ge- Schonungslose Selbstkritik ist hilfreich und das weitge- wicht qua Amt auch in der Öffentlichkeit repräsentier- hend unabhängig vom Urteil notorischer Kommunisten- ten . Beispielsweise erlebte ich heftige Debatten dieser hasser . Auch angeblich gutgemeinte Kritik von Leuten, Rektoren untereinander darüber, ob die Mitglieder des die sich auch »links« verorten, gilt es mit Gelassenheit FDJ-Sinfonieorchesters bei ihren Konzerten alle im FDJ- zu begegnen . Die Beschimpfung als Nestbeschmutzer Hemd im Orchester Platz nehmen sollten, unabhängig wie den nicht wirklich gutgemeinten Rat, immer daran davon, ob sie Mitglieder der sozialistischen Jugendor- zu denken, ob das eigene Urteil nicht dem »politischen ganisation waren oder deren Grundsätze billigten . Für Gegner« nutzt oder der Hinweis, »alles im größeren Zu- manche Rektoren war das eine Selbstverständlichkeit, sammenhang zu sehen«, mit all dem kann man sou- über die es nichts zu diskutieren gab . Staatsräson eben . verän leben . Unterschiedliche Sichten auf Gewesenes Ich kam nicht wie Hartmut König in Sitationen, mich bis sind legitim und oft auch produktiv . heute für naßforsche Urteile über Künstler wie Erwin Strittmatter, Heiner Müller oder Volker Braun schämen Hartmut Königs Buch streift sehr verschiedene, unter- zu müssen . Mein Feld waren da »politische« Urteile über schiedliche Bereiche des gesellschaftlichen Lebens . herausragende Wissenschaftler in der DDR mit und oh- Der Titel der Autobiografie »Warten wir die Zukunft ab« ne Parteibuch der SED . macht ein Angebot, mit allzu raschen scheinbar end- Und dann war da noch das große Feld der Erinnerung an gültigen Urteilen vorsichtig zu sein . Die Binsenweisheit, die geschichtlichenTraditionen der FDJ . Von Karl Lieb- Geschichte sei immer offen und man sollte Alternativen knecht begründet repräsentierte vor allem Ernst Thäl- zur Wirklichkeit immer mitdenken, ist als Arbeits- wie mann den ruhmreichen Weg der revolutionären Jugend- Lebensmaxime bedenkenswert . bewegung in Deutschland . Erich Honecker ermunterte den Jugendverband, diese Traditionen zu achten und un- Nicht vom Umfang abschrecken lassen, das Buch selbst ter den Mitgliedern der FDJ immer sorgsam zu pflegen . lesen und weiterempfehlen . Mit meinen Mitarbeitern im Zentralrat kam ich in per- sönlichen Kontakt mit Menschen wie Martha Globig, Erich Jungmann, Herta und Gabo Lewin, Sophie und Dr. Horst Helas

44 Jürgen Israel Löwenstein (1925–2018)

Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e . V . wurde 1994 ein Projekt beantragt und genehmigt, die Geschichte der Juden im Zentrum Berlins (im wesent- lichen des späteren Stadtbezirks Berlin-Mitte) näher zu analysieren . Dabei spielten die Ortsbestimmungen »Scheunenviertel« und »Grenadierstraße« eine zentrale Rolle . Erste allgemeine Recherchen führten dazu, sich bei den Untersuchungen auf diese geografische Lokali- sierung und auf Studien zu Lebenswegen jüdischer Fa- milien, die in diesem Kiez zeitweilig ein Zuhause gefun- den hatten, zu konzentrieren .

Quellensuche in Archiven und Bibliotheken bestimm- ten den Arbeitsalltag . Und die Projektbeteiligten ver- suchten, mit Überlebenden des Holocaust in Kontakt zu kommen . Eine erste überraschende Erfahrung war, dass sich viele Frauen und Männer auf unseren Aufruf meldeten und bereitwillig vom früheren Leben ihrer Fa- milien im Berliner Zentrum erzählten . Wir gewannen den Eindruck, dass es diesen Menschen wichtig war, an früher zu erinnern . Jürgen Löwenstein als Jüngling Quelle: Bildarchiv Horst Helas Jürgen Löwenstein lernten wir 1995 persönlich in Berlin kennen . Er erzählte uns von seiner Kindheit im »Scheu- Ende 1989, als auch viele Gesellschaftswissenschaft- nenviertel«, vom Schüleralltag in den Jahren der Weima- ler, die sich in der DDR langfristig mit ihren Forschungs- rer Republik . Ab 1933 lernte er in Vorbereitung einer er- projekten eingerichtet hatten, plötzlich ohne Arbeit wa- hofften Ausreise nach Palästina viele kleine Orte in der ren, wurden bislang wenig vertraute Begriffe wie »ABM« Umgebung Berlins kennen . Sogenannte Hachscharah- zum Rettungsanker auf der Suche nach einer neuen Lager dienten der Vorbereitung auf bislang ungewohn- dauerhaften Beschäftigung, bei der die bisherigen Er- te landwirtschaftliche Tätigkeiten . Diese Orte wurden fahrungen weiter genutzet werden konnten . Unter den schließlich oft Zwangsarbeiterlager, die unter direkter Dächern oft neugegründeter Vereine wurden ABM-Pro- Kontrolle der Gestapo standen . jekte genehmigt, die eine Perspektive verhießen . Jürgen Löwenstein wurde aus einem solchen Lager in Pa- Im Rückblick – und dies nicht nur für Historiker – wur- derborn über Berlin im März 1943 nach Auschwitz depor- de durch die ABM-Inflation im Osten Deutschlands ein tiert . 1945 wurde er befreit und lebte seither in Israel . Ab durch Massenarbeitslosigkeit drohendes gesellschaft- dieser Zeit nannte er sich Jürgen Israel Löwenstein . liches Konflktpotental aufgefangen, sozialer Zündstoff Wir waren nicht die ersten, denen Jürgen von seiner gemindert . Kindheit in Berlin und den Erlebnissen in Auschwitz berichtete . Die Liste der Aktivitäten des »Zeitzeugen« Bei der Themensuche geriet unter anderem die Ge- Jürgen Löwenstein ist beeindruckend lang und hat uns schichte der Juden in Deutschland mit in das Zentrum ermuntert, auch selbst immer wieder an jene Zeit zu der Überlegungen . Unter dem Dach des Vereins zur erinnern .

45 Aus der Chronik des Wirkens von Jürgen Israel Löwen- Zustimmung zu ungewöhnlichen Aktionen . So fand es stein hier einige Beispiele . seine Zustimmung, dass seine Erinnerungen an die wei- Jürgen Löwenstein hat immer wieder besonders bereit- marer Zeit und die Nazizeit auf großen Plakaten auch im willig jungen Menschen aus seinem Leben berichtet . Im Straßenraum in Berlin öffentlich sichtbar gemacht wur- Sommer 2004 fuhr er beispielsweise gemeinsam mit den . Antifaschisten protestierten damit nachdrücklich Schülern der Alfred-Haushofer-Oberschule aus Berlin- gegen die Tatsache, dass ausgerechnet in der Rosa-Lu- Reinickendorf nach Auschwitz . Ein Film entstand . Die xemburg-Straße ein Laden mit Nazklamotten der Marke Schüler erlebten vor Ort und gemeinsam mit ihm, wie »Thor Steinar« auf sich aufmereksam machte . es ist, Geschichte »anfassen zu können« . Wenn er in Berlin war, besuchte Jürgen gemeinsam mit Es gibt zahlreiche weitere Beiträge, in denen man die Einheimischen oder Touristen die ehemalige Grenadier- Stimme von Jürgen Löwenstein hören kann . So verdankt straße, seine letzte Wohnadresse in Berlin . 2002 wur- der ursprünglich für BBC 1996 produzierte Dokmentar- den hier drei »Stolpersteine« feierlich eingeweiht, die film mit Erinnerungen ehemaliger Schüler an ihr letztes an seine Großmutter und seine Eltern erinnerten, die in Schuljahr in Berlin (1942) Steven Spielberg seine Fer- Vernichtungslagern umkamen . tigstellung . »Lost Chldren of Berlin«, so der Titel dieses Läßt man die verschiedenen Meinungsäußerungen Jür- Films, den Jürgen auf Einladung Spielbergs in den USA gen Löwensteins Revue passieren, so fällt auf, es sind vorstellte . In seiner neuen Heimat Israel erzählte Jürgen Erlebnisberichte, keine Phantasieprodukte über frühere gern von Berlin, wenn man ihn nach dieser Zeit frag- Zeiten . Das macht jeden einzelnen dieser Texte und sie te . Im Jahre 1961, zur Zeit des Prozesses gegen Adolf alle in der Summe so sympathisch . Eichmann in Tel Aviv, waren seine Erinnerungen an Ber- lin besonders gefragt . Allzeit verfolgte Jürgen das po- litische Geschehen in Deutschland . Gern gab er seine Dr. Horst Helas

46 Der lange Weg zur Gerechtigkeit. Siegfried Grundmann: Der lange Weg bis zur Rückgabe und Entschädigung. Albert Einsteins von den Nazis konfisziertes Eigentum. Springer Verlag 2017, 165 S.

Siegfried Grundmann hat sich der Mühe unterzogen, Unter der Überschrift »Das Einstein-Haus in Caputh Ap- den langwierigen Prozess zur Entschädigung bzw . ril 1945« (S . 63) erläutert S . Grundmann, warum das Rückgabe des vom NS-Regime konfiszierten Eigentums Gebäude Ziel eines Bombenangriffs wurde . Die Alliier- von Albert Einstein und seiner Familie detailliert zu be- ten hatten per Aufklärungsflugzeug herausgefunden, schreiben . dass das Haus ein wichtiges militärisches Gebäude sein müsste . In der Tat befand sich dort der »Sitz des Ober- Im Vorwort geht der Autor darauf ein, dass das gesam- kommandos der deutschen Luftwaffe« (S . 67) . Mit de- te Eigentum der Familie von den Nazis geraubt wurde . tailliert erforschten Dokumenten belegt der Autor den Zurecht stellt S . Grundmann fest, dass die Befreiung langwierugen Prozess bei den zuständigen Behörden in Deutschlands vom NS-Regime den Weg für die sofortige Westberlin eine Entschädgung bzw . Rückgabe für die Rückgabe oder Entschädigung an Albert Einstein bzw . Famiie Einstein zu erlangen . Albert Einstein erlebte den an die Familie frei gemacht hätte . Es dauerte aber Jahr- Schritt der Entschädigung nicht mehr . zehnte ehe es zu einer Enschädigung Einsteins kam . Die Im Kapitel fünf beschreibt S . Grundmann den makabe- beiden deutschen Staaten taten sich schwer, von den ren Umgang in Bezug auf das Einsteinhaus in Caputh . Nazis geraubtes Eigentum zurüclzugeben oder eine an- Nach jahrzehntelangen Bemühungen erhielt die Familie gemessene Entschädigung zu zahlen . Einstein von der DDR keine Entschädigung, das Haus verblieb in Staatsbesitz . Ausführlich skizziert S, Grundmann das infame Vorge- Erst nach dem Untergang der DDR erhielten die Erben hen gegen Albert Einstein und seine Familie einschließ- ihr Eigentum zurück . lich der Ausbürgerung des berühmten Wissenschaft- Ein umfangreicher Quellen- und Anmerkungsapparat lers . Mit einer Fülle von Dokumenten belegt der Autor belegt die akribische Suche des Autors nach histori- die Bemühungen der Familie Einstein um Hilfeleistun- schen Quellen über das konfiszierte Eigentum der Fa- gen der Schweizer Behörden in Bezug auf ihr Eigentum mile Einstein . und verdeutlicht, dass die Schweiz Albert Einstein in keiner Weise unterstützte . Dr. Günter Wehner

47 Der lange Schatten der NS-Vergangenheit Manfred Görtemaker/Christoph Safferling: Die Akte Rosenburg. Das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit C.H-Beck, München 2016, 588 S.

Die Autoren stellten sich der komplizierten Aufgabe, das M . Görtemaker und Ch . Safferling schildern an Hand ex- verdrängte Erbe der NS-Vergangenheit im Bereich der akt recherchierter Fakten, dass sich die deutsche Jus- Justiz insbesondere im Bundesministerium der Justiz tiz in den westzonen nach 1945 nur mit Ausnahme des (BMJ) zu analysieren . Nürnberger Juristenprozesses, der noch unter alliierter Federführung efolgte, sich der eigenen Strafverfolgung Zu Beginn der Publikation gehen sie auf den Sitz des Mi- von NS-Tätern nehezu völlig entzogen hat . nisteriums ein . Es handelt sich um ein beschauliches Ge- bäude am Rand von Bonn mit dem Namen Rosenburg . Die Autoren heben hervor, dass die nahtlose Nutzung der faschistischen Funktionselite politisch gewollt war, Sie schildern detailliert, dass sich seit 2013 das BMJ begründet u .a . mit dem Artikel 131 des Grundgeetzes bemüht, ide NS-Belastung exakt zu erforschen . Im Mit- der BRD . Die Rezeption des Nurnberger Juristenprpzes- telpunkt ihres Forschungsprojekts stand in erster Li- ses in der BRD schätzen die autoren als weitgehend un- nie der Umgang des BMJ und seines Zuständigungs- beachtet ein . Sie erläutern, dass es erst 1996 zu ei- bereichs für den Umgang mit den persönlichen und ner ernsthaften Auseinandersetzung über den Prozess politischen Belastungen des Personals, die sich aus der kam . Ferner stellen sie kritisch fet, dass in Bezug auf die NS-Zeit egaben . strafverfolgung von NS-Tätern hinsichtlich des Juristen- urteils sich das BDJ blind stellte . Vorrangig erforschten M . Görtemaker und Ch . Safferling wie umfangreich der Personenkreis war, der sich im ND- Sie schildern ausführlich, dass die Rezeption in der DDR Regime bzw . im Ministerium betätigt hatten . Ihr weiterer zu dem genannten Prozess grundsätzlich anders ver- Untersuchungsgegenstand war die Rolle des BMJ bei der lief . Die Autoren erläutern, dass im Unterschied zu den Amnestierung von NS-Tätern und deren vorzeitiger Haft- westlichen Besatzungszoneb die Behörden in der SBZ entlasung . Die Autoren merken kritisch an, dass sich bis von ehemaligen Nazis und NS-belasteten Personen re- 1968 fast alle NS-Täter wieder in Freiheit befanden . lativ konsequent gesäubert wurden . NS-Juristen waren nicht mehr im Dienst, sondern hatten sich in die westli- Zugleich analysierten die Autoren die Rolle des BMJ chen Besatzungszonen abgesetzt . Im Ergebnis des Kal- beim Verschleppen von Rehabilitierungsverfahren von ten Krieges erhielten sie dort, unter dem Deckmantel ei- Opfern der NS-Justiz . Als Beispiele benennen sie die nes antikommunistischen Images, erneut eine Chance strafrechtlichen Entscheidungen von Erbgesundheits- als Juristen weiterzuwirken . urteilen sowie die Urteile zur Militärjustiz . Besonders kritisch werten sie, dass die Urteile des Volksgerichts- Unter der Überschrift »Das Bundesministerium der Jus- hofes und der Standgerichte erst im Mai 2002 durch tiz: Neubeginn oder Kontinuität« kommen die Autoren ein Bundesgesetz aufgehoben wurden und die Kriegs- zu dem Schluss, dass formal ein Neubeginn angedeu- verratsurteile erst im September 2009 als rechtswdrig tet wurde, aber die Kontinuität konsequent beibehalten eingestuft wurden . Die beiden Autoren verweisen in der wurde . Akribisch verweisen M Görtemaker und Ch . Saf- vorliegenden Publikation, dass in Bezug auf ihr Projekt ferling auf den Elnfluss des Bundeskanzleramtes unter sich das BMJ mit der Ausstellung »Im Namen des Deut- Hans Globke beim Aufbau und der weiteren Entwick- schen Volkes – Justiz und Nationalsozialismus« sich kri- lung des BMJ . Sie erläutern das am Gesetz für die alten tisch mit seiner Vergangenheit auseinandersetzte . Eliten (G 131) .

48 Breite Raum widmen die Autoren den in der DDR veröf- 1990 per Gesetz die NS-Unrechturteile für nichtig er- fentlichten Braunbüchern, in denen die NS-Vergangen- klärt wurden . heit von Juristen und Ministern enttarnt wurde . Sie ver- weisen darauf, dass die sogenannte »Braunbuchkartei« Zusammenfassend stellen M Görtemaker und Ch . Saf- neben der Zentralkartei in Ludwigsbrg und den Datei- ferling fest . Dass der Übergang vom NS-Staat zur Bun- en des ehemaligen Berliner Docunent Center im Bun- desrepublik engeer als im Sinne eines Neubeginns war, desarchiv sowie die NS-Vorgangskartei des ehemali- aber eine tiefe Kontinuität hinsichtlich der alten Eliten gen Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zu den aufwies . Sie heben hervor, dass sich die Bundesrepub- wichtigsten Hilfsmitteln über das Wirken von Funktions- lik bis heute im justiziellen Umgang mit der NS-Vergan- trägern im NS-Regime gehören . genheit schwere Versäumnisse vorwerfen lasen muss .

Detailliert berichte die Autoren an Hand sorgfältiger Die Autoren haben eine Publiktion erarbeitet, die sich Recherchen wie sich das NS-Erbe in dere Bunderepu- auf höchstem Niveau der analytischen Durchdringung blik in der Gesetzgebung widerspiegelt . Sie erläutern, des schwierigen Stoffes befindet . Die Schärfe des his- mit welchen Gesetzen die frühzeitige Verjährung von torischen Urteils ist in dem Buch einzigartig . NS-Straftaten durchgesetzt wurde . Im Gensatz zur ju- Abgerundet wird die Publikation durch einen umfase- ristischen Verschleppung der Entschädigung von NS- nen Anmerkungs- und Quellenapparat . Verfolgten und deren Rehabilitierung . Sie betonen, dass erst im Zuge der Wiedervereiligung und der end- gültigen Ablösung des Besatzungsrechtes am 25 . Mai Dr. Günter Wehner

49 Ursula Suhling: Wer waren die 999er? Strafsoldaten in Wehrmachtsuniform – deportiert vom Hannoverschen Bahnhof. Herausgegeben von der Willi-Bredel-Gesellschaft Geschichtswerkstatt e. V., VSA-Verlag Hamburg, 2017; 224 Seiten.

»Als Ursula Suhling 2014 unter dem Titel »999er Straf- innerungskonzept aufzunehmen, zumal der größte Teil soldaten – deportiert vom Hannoverschen Bahnhof« der aus Hamburg stammenden »Bewährungssoldaten« ein erstes Buch über »Hamburger Antifaschisten in politisch Vorbestrafte, also Antifaschisten, waren . Als Wehrmachtsuniform« vorlegte, war selbst in der zeitge- dann der Historiker Dr . Hans-Peter Klausch im April schichtlich interessierten Öffentlichkeit nur wenig darü- 2016 – einen Monat vor seinem frühen Tod – mit einer ber bekannt, dass zwischen 1942 und 1944 über 1000 Expertise in die Debatte eingriff, erhielt das Thema eine Regimegegner aus Hamburg zum »Bewährungseinsatz« wissenschaftliche Grundlage . Klauschs Gutachten über abtransportiert wurden .« So führt der Leiter der KZ-Ge- die 999er hatte das Auschwitzkomitee in Auftrag ge- denkstätte Neuengamme Dr . Detlef Garbe in seinem Vor- geben . Klauschs kritische und konstruktive Vorschläge wort zu Ursula Suhlings neuem Buch ein . Was aber waren regten Ursula Suhling an, die Recherchen in den Archi- Strafsoldaten? Aufgrund der hohen Verluste an den Fron- ven fortzusetzen . Wiederentdeckte Quellen beförderten ten des Zweiten Weltkrieges rekrutierte die Wehrmacht ihre Arbeit noch, vor allem im Archiv der Vereinigung gemeinsam mit der Gestapo aus den Reihen der Häftlin- der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschis- ge, die in Zuchthäusern und Konzentrationslagern einsa- tinnen und Antifaschisten, Landesverband Hamburg . ßen, sowie aus den Reihen der »wehrunwürdigen« Vor- Im Mai 2017 schloss der Erste Bürgermeister Olaf bestraften eine große Zahl von »Bewährungssoldaten« . Scholz in seiner Ansprache zur Übergabe des Geden- Sie sollten die Lücken in den Reihen der »kämpfenden korts Hannoverscher Bahnhof die Erinnerung an die Truppe« auffüllen . So wurden Formationen aus kriminell 999er ausdrücklich ein . Für Ursula Suhling ein erster und politisch Vorbestraften aufgestellt, die an den ge- erinnerungspolitischer Erfolg auf Landesebene . In ih- fährlichsten Frontabschnitten zum Einsatz kamen . Man rem neuen Buch, das ich hier vorstelle, zeichnet sie die nannte diese Formationen »BB 999« (Bewährungsbat- Auseinandersetzungen um ihr Anliegen, eben auch das taillon 999) . Die Überlebenschancen der Strafsoldaten Schicksal der politischen Gegner des Naziregimes am waren wohl im Schnitt nicht niedriger als die der Wehr- Gedenkortort Lohseplatz zu würdigen, akribisch nach . machtssoldaten (verlässliche Zahlen liegen nicht vor), Das macht das Buch so spannend . doch im Bezug auf die konkreten Frontabschnitte war ih- Ein weiteres Kernstück des Buches ist die Dokumenta- re Verlustquote weit höher als die der übrigen Soldaten . tion der Namen und Daten von 722 Strafsoldaten aus Ursula Suhlings erste Veröffentlichung zum Thema, wel- dem Raum Hamburg . Ursula Suhling konnte nachweisen, che Detlef Garbe erwähnt, hatte damals, im Jahr 2014, dass von den 722 ermittelten Strafsoldaten 408 Kom- auf eine Fehlstelle im Gedenken aufmerksam gemacht . munisten und 106 Sozialdemokraten waren . Ein Großteil Der Vorstoß der Autorin kam zu einer Zeit, als die Planun- von ihnen hat den Krieg nicht überlebt . Nun dürfen wir gen zur Gestaltung der »Gedenkstätte Hannoverschen gespannt sein, in welcher Form und in welchem Umfang Bahnhof« am Lohseplatz (dem Vorplatz des ehemaligen, die Stadt Hamburg im geplanten Dokumentationshaus heute nicht mehr existenten Hannoverschen Bahnhofs am Lohseplatz an die Strafsoldaten erinnern wird . Die- in Hamburg) öffentlich vorgestellt worden sind . Kern se Stätte soll im Jahr 2020 fertiggestellt sein . 25 Fotos des vom Senat vorangetriebenen Projekts sollte die Er- und Dokumente sowie ein Anhang bereichern das Buch . innerung an die von hier in den Tod geschickten rassisch Die Autorin Ursula Suhling wurde 1933 in Hamburg verfolgten Juden, Sinti und Roma sein . geboren . Die Diplom-Ingenieurin ist Mitglied der VVN- Ursula Suhling forderte in ihrer Schrift nachdrücklich, BdA . Ihr Vater Carl Suhling kam im BB 999 um . auch die 999er Strafsoldaten, die ebenfalls von hier in Massentransporten deportiert worden waren, in das Er- René Senenko

50 An alle Engagierten und Interessierten: Werdet Mitglied der Bundes-Arbeitsgemeinschaft Antifaschismus der Partei DIE LINKE!

In vielen Orten werden regelmäßig Demos gegen Neonazis dabei Schnittstelle, Netzwerk und Multiplikator zu sein . Der organisiert, findet aktive Flüchtlingshilfe statt, gibt es Bür- gemeinsame Erfahrungsaustausch und Wissensaustausch gerbündnisse gegen Rassismus, engagieren sich Mitglieder ist wichtig, zur Entwicklung gemeinsamer Strategien ge- der LINKEN in Initiativen gegen Rechts, und vieles mehr . gen rechts, und um zu spüren, dass man nicht allein ge- Die BAG Antifaschismus sieht es als ihre Aufgabe, den Aus- gen Windmühlen kämpft . Wer Mitglied werden möchte, ist tausch über die vielen Erfahrungen, die wir im alltäglichen gern bei uns willkommen . Einfach Eintrittsformular ausfül- antifaschistischen Kampf vor Ort machen, zu fördern und len und abschicken, an die unten angegebene Adresse .

Ausgefüllte Erklärung an:

BAG Antifaschismus Eintrittserklärung BAG Antifaschismus Partei DIE LINKE Kleine Alexanderstraße 28, 10178, Berlin Name oder per Fax: 030 2411046

Vorname

Geburtsdatum Landesverband

Hiermit erkläre ich meine Zugehörigkeit zum Zusammenschluss BAG Antifaschismus der Partei DIE LINKE.

Ich erkläre hiermit meinen Eintritt in die LAG

(Hier ggf . Namen der jeweiligen Landes-AG eintragen)

Ich bin Mitglied der Partei DIE LINKE . (Wenn zutreffend bitte ankreuzen .)

Anschrift

E-Mail

Datum/Unterschrift

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