Musik im sozialen Raum Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik Herausgegeben von Rebecca Grotjahn Band 3

Freia Hoffmann, Markus Gärtner und Axel Weidenfeld (Hrsg.) Musik im sozialen Raum Festschrift für Peter Schleuning zum 70. Geburtstag

Allitera Verlag Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter: www.allitera.de

April 2011 Allitera Verlag Ein Verlag der Buch&media GmbH, München © 2011 Buch&media GmbH, München Umschlaggestaltung: Kay Fretwurst, Freienbrink, unter Verwendung des Gemäldes »Intérieur avec une femme jouant de l’épinette« von Emanuel de Witte. Bayerische Staatsbibliothek München, Signatur 2007.61597. Herstellung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Printed in Germany · isbn 978-3-86906-155-9

Inhalt

Freia Hoffmann, Markus Gärtner, Axel Weidenfeld Peter Schleuning: Musikwissenschaft auf neuen Wegen ...... 9

Jan Henning Müller »Und ich hörte eine große Stimm« Ein Komponist als Prediger ...... 15

Klaus Hofmann Vom Fürstengeburtstag zum Ratswahlgottesdienst Mutmaßungen über eine verschollene Bach’sche Arie Mit einem Nachwort über Bachs Parodieverfahren ...... 29

Martin Zenck Wie Thomas Bernhard mit Glenn Gould Bach gegen seine (falschen) Liebhaber verteidigt Zur Bach-Rezeption im 20. Jahrhundert...... 38

Martin Derungs Nietzsche und die Alte Musik ...... 49

Werner Busch Kakophonie! William Hogarths The Enraged Musician...... 58

Freia Hoffmann Geheime Botschaften Thomas Gainsboroughs Porträt der Musikerin Ann Ford...... 75

Melanie Unseld Gedanken über eine widerspenstige Grenzgängerin Lenore von Gottfried August Bürger in der Vertonung von Maria Theresia Paradis...... 88 Dieter Richter »Die Geisterinsel, die schöne …« Fanny Hensels »Capri-Lied«...... 105

Hans-Günter Klein »Wenn ich mir in stiller Seele …« Verse Goethes und eine neu aufgefundene Komposition Fanny Mendelssohns ...... 113

Constantin Floros Die Klaviervariationen op. 23 von Johannes Brahms Ein Monument für Robert Schumann ...... 123

Dagmar Hoffmann-Axthelm »Jeder Takt und jede Note muß wie ritard klingen, als ob man Melancholie aus jeder einzelnen saugen wolle …« Brahms’ melancholische Schumann-Nachlese ...... 130

Martin Geck »…voller kühner, wilder Gedanken …« Robert Schumanns Concert sans orchestre op. 14 ...... 152

Hartmut Krones Immer noch »auf der Flucht« (aus Wien) Zu Liedern von Hanns Eisler und Marcel Rubin ...... 161

Wolfgang Ruf Funktionalisierungen der Musik Ein Rückblick ...... 188

Dieter Gutknecht Il flauto magico Einige Betrachtungen zu Kompositionen für Flöte von Karlheinz Stockhausen ...... 202

Barbara Boock Hasenstrophen Ambivalente Gefühle in der Metaphernsprache älterer Volkslieder . . . 216 Sabine Giesbrecht Beethovens »Fünfte« und Hindenburg Versuch über Musik und Propaganda ...... 227

Fred Ritzel Die Schöne, das Schlimme und ein schöner alter Schlager Zur Filmmusikdramaturgie in Carlos Sauras Dulces horas ...... 239

Albrecht Riethmüller Musik in Springfield Vier Vignetten...... 252

Monika Tibbe Bahnhofsmusik Musik aus dem Untergrund ...... 265

Niels Knolle Anmerkungen zur Reform der Oldenburger Musiklehrerausbildung 1972 bis 1974 ...... 279

Markus Gärtner Schriftenverzeichnis Peter Schleuning ...... 301

Peter Schleuning Gereimtes ...... 309 Vom Altern ...... 310 Ballade von Ludwig Lermfogel ...... 311 Ballade vom Bauern und seinem Bruder oder Das Tongeschlecht . . 313 Schäfers Klagelied ...... 314 Kunstcharakter ...... 315 Mallorca ...... 316 Telemann ...... 319

AutorInnen ...... 322

Peter Schleuning: Musikwissenschaft auf neuen Wegen

Musste aus Peter Schleuning wirklich ein Musikwissenschaftler werden? Hät- te er nicht alle möglichen anderen Fachrichtungen genauso gut und originell verfolgen können? Der Berufsberater, der 1960 am Hermann-Böse-Gymnasium in Bremen den 19-Jährigen beraten sollte, war jedenfalls ratlos: Der aus Ostpreußen stammende Abiturient hatte zwar unbestreitbar musikalisches Talent, war als Schüler von Martin Skowroneck ein bemerkenswert fixer Blockflöten- spieler geworden, hatte beim Bremer Kantor Gebhard Kaiser Orgel spielen gelernt und zuletzt bei Ingrid Lueder Flötenunterricht gehabt. Aber auch als Zeichner, vor allem von Karikaturen, und als Verfasser von Gedichten war er bemerkenswert. Und sein Interesse für Sprachen – bis heute wird vor jedem Auslands-Urlaub Niederländisch, Italienisch, Englisch, Französisch oder Spa- nisch aufgefrischt – hätte durchaus auch in eine Karriere als Lehrer für Latein oder moderne Fremdsprachen münden können. Und nun ausgerechnet etwas so Entlegenes wie Musikwissenschaft? Nach der Berufsberatung führte der nächste Weg zu Hellmuth Schnackenburg, dem Leiter des Konservatoriums, und zu Klaus Blum, dem einzigen in Bremen damals greifbaren Musikhistori- ker, Verfasser einer Musikgeschichte Bremens – Jahre, bevor das Fach an der Universität und an der Hochschule für Künste mit Professuren vertreten war. Danach schien die Richtung klar: Aufnahme eines musikwissenschaftlichen Studiums an der Christian-Albrechts-Universität Kiel, wo der Jungstudent in das Fach nicht nur von Walter Wiora eingeführt wurde, sondern auch von seinem Assistenten und dem um fünf Jahre älteren Martin Geck Anregungen bekam. Das musikwissenschaftliche Studium wurde an der Ludwig-Maximilians- Universität München bei Thrasybulos Georgiades fortgesetzt, das Studium der Flöte (in Kiel hatte er mit dem Universitätsorchester unter Wilhelm Pfannkuch eines der schwierigen Konzerte von Carl Philipp Emanuel Bach aufgeführt) bei Konrad Hampe. Ausschlaggebend für die Entscheidung, das Studium in Frei- burg zu intensivieren und abzuschließen, war allerdings nicht die dort unter aufblühende, von Eggebrecht gern so genann- te »Freiburger Pflanzschule«. Ausschlaggebend war das Wirken von Gustav Scheck, für Flöte und bis 1964 auch Rektor der Musikhochschule

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Freiburg, ein gesuchter Lehrer für FlötistInnen, vor allem solche mit Interesse an historischer Aufführungspraxis. So rückte die Musikwissenschaft zunächst in den Hintergrund. Peter Schleuning wurde in die Meisterklasse Flöte aufge- nommen und konzentrierte sich auf ein künstlerisches Studium, das er, später ergänzt durch Unterricht bei Aurèle Nicolet, 1965 mit der Konzertreifeprü- fung abschloss. Aushilfen im Orchester, öffentliche Auftritte als Solist und Kammermusiker, Mitwirkung in zahlreichen Konzerten Neuer Musik und der 2. Preis im Fach Flöte beim Solistenwettbewerb der Rundfunkanstalten in Hannover (1967) sind Indizien dafür, dass die Entscheidung für eine Karriere als Musikwissenschaftler immer noch nicht gefallen war. Nachdem Peter Schleuning – nach vorausgegangenen Publikationen, die im Schriftenverzeichnis nachzulesen sind – 1970 an der Albert-Ludwigs-Univer- sität Freiburg mit einer Arbeit über Die Freie Fantasie. Ein Beitrag zur Erfor- schung der klassischen Klaviermusik promoviert worden war, stellte er die künstlerische Arbeit als Flötist allerdings etwas zurück, aus guten Gründen: Die Neuorientierung der Musikwissenschaft, die von Eggebrecht in Freiburg betrieben bzw. durch thematische und methodische Öffnung ermöglicht wur- de, erlaubte dem wissenschaftlichen Nachwuchs Arbeiten und Experimente in verschiedener Richtung, und die dort versammelten Assistenten und Mitstu- dierenden lesen sich im Nachhinein fast wie ein Who is Who der historischen Musikwissenschaft späterer Jahrzehnte: Reinhold Brinkmann, Elmar Budde, Klaus-Jürgen Sachs, Fritz Reckow, Wolf Frobenius, Ulrich Michels, Erich Rei- mer, Peter Andraschke, Klaus Hofmann, Peter Schnaus, Wolfgang Martin Stroh, Walter Heimann, Wolfgang Ruf, Wolfram und Susanne Steinbeck, Mar- tin Zenck, Claudia Maurer Zenck, Hartmuth Kinzler, Albrecht Riethmüller, Dagmar Hoffmann-Axthelm. Wichtig waren für Peter Schleuning auch seine Nebenfächer Kunstgeschichte und Soziologie, die Nahrung boten für künst- lerische Interessen und die politischen Fragen, die Ende der 1960er Jahre die Diskussionen innerhalb und außerhalb der Geisteswissenschaften bewegten. Dem politisch motivierten Wunsch, Fachinhalte in weitere gesellschaftliche Gruppen hineinzutragen und sie an deren Bedürfnissen zu überprüfen, ent- sprach die nächste Station (1971–1976): eine Assistenz an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe, wo Peter Fuchs, Martin Kemper und Rolf Frisius eine Neuausrichtung der Musikpädagogik (Auditive Wahrnehmungserziehung) entwickelten, die sich an Hartmut von Hentigs Schriften zur Ästhetischen Erziehung orientierte und anstelle der traditionellen Unterrichtsinhalte das Musikhören, die Improvisation und die Orientierung an der Neuen Musik in den Mittelpunkt rückte. Der Horizont des Musikhistorikers hatte sich also zu erweitern in Richtung Lehrerausbildung, schulbezogene Musikpraxis, Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, schulpraktische Studien, Brauchbarmachen

10 Peter Schleuning: Musikwissenschaft auf neuen Wegen historischer Lehrinhalte für die allgemeinbildende Schule. In Freiburg gesellte sich der Flötist 1970 mit anderen, meist Nicht-Profis, zu einer Improvisations- gruppe, die sich wöchentlich um die Praetorius-Orgel in der Universitäts-Aula (einen Nachbau der Firma Walcker) versammelte. Politisches Engagement führte 1973 zur Gründung der Freiburger Blaskapelle »Rote Note«, die – ähn- lich wie das Frankfurter Linksradikale Blasorchester – auf Demonstrationen, politischen Veranstaltungen und 1974 bis 1976 auch bei Aktionen gegen das Atomkraftwerk Wyhl für musikalische Akzente sorgte. Peter Schleuning ver- sah die Kapelle nicht nur als Tubist mit einem klangstarken Fundament, son- dern auch als Arrangeur mit Bläsersätzen, die bei den verschiedenen Anlässen benötigt wurden. Nach der Assistentenzeit folgte ein mehrsemestriger Lehrauftrag an der Universität Bremen, 1977–1978 die Vertretung einer Professur an der Univer- sität Oldenburg und am 15. Jan. 1979 die Einstellung als Akademischer Rat an derselben Universität, die sich erst 1991 nach langen politischen Auseinan- dersetzungen Carl von Ossietzky Universität nennen durfte. Gegründet 1973 (Aufnahme des Lehrbetriebs 1974), gehörte sie zu den jungen Universitäten, die geprägt waren vom reformatorischen Impetus der 68er-Generation. Für unser Fach bedeutete dies eine Neuorientierung der Musiklehrerausbildung. Vermittlung von Populärer Musik und ihrer Geschichte, von apparativer Musikpraxis, Arrangement, Improvisation, Musik und Medien, insbesonde- re Filmmusik, Orientierung an musikalischen Jugendkulturen waren Stich- worte, die die neuen Inhalte kennzeichneten. Peter Schleuning war derjenige, der die klassische Historische Musikwissenschaft in eine Sozialgeschichte der Musik umschrieb, der die traditionellen Inhalte von Analyse, Formenlehre und musikhistorischer Bildung fantasie- und gedankenreich im Hinblick auf die Erfordernisse der allgemeinbildenden Schule neu konzipierte. Die Einpha- sige Lehrerausbildung bot dazu zahlreiche Möglichkeiten von Experiment, Diskussion und Überprüfung. Projekte an der Universität waren interdiszipli- när angelegt und eng mit Unterrichtsvorhaben an allgemeinbildenden Schulen verknüpft. Hochschullehrer begleiteten die Studierenden nicht nur bei diesen Unterrichtsvorhaben, sondern auch im unterrichtspraktischen Halbjahr, das dem traditionellen Referendariat entsprach. Auf diese Weise war auch die universitäre Lehre immer wieder an den Bedürfnissen der Berufspraxis an den Schulen zu überprüfen. Diese Erfahrungen und Lernmöglichkeiten prägen Peter Schleunings Lehr- tätigkeit bis heute. Vorlesungen und jede Art frontaler Wissensvermittlung sind ihm fremd. Typisch für seine Lehre waren dagegen die abendfüllende szenische Nachbildung eines Öffentlichen Konzerts aus dem 18. Jahrhundert, die tänzerische Ausgestaltung eines Sonatensatzes, die improvisatorische Her-

11 Freia Hoffmann / Markus Gärtner / Axel Weidenfeld stellung von Filmmusiken, die Vertonung selbstgemachter Spottgedichte oder die Harmonisierung des Brassens’schen Déserteurs in der Musiktheorie. Für die kumulative Habilitation im Jahre 1986 legte Peter Schleuning seine bis dahin erschienenen Arbeiten zur Sozialgeschichte der Musik im 18. und 19. Jahrhundert vor. 1994 folgte die Ernennung zum außerplanmäßigen Pro- fessor der Universität Oldenburg. Bezeichnend für seine uneitle Haltung Titeln gegenüber ist, dass die Ehrung ihn ohne eigenes Zutun erreichte: Der Kollege eines benachbarten Faches hatte eifrig ein Verfahren in eigener Sache betrie- ben, und in dessen Lauf bildete sich in der Fakultät die Einschätzung, dass zuvorderst Peter Schleuning ein solcher Titel gebühre. Als Akademischer Rat und antiautoritär geprägter Mensch legte er allerdings Wert darauf, in status- rechtlicher Hinsicht auch weiterhin zum akademischen Mittelbau zu zählen. Eine seiner Aufgaben war die organisatorische Betreuung der gesamten instrumentalpraktischen Ausbildung – für die Tätigkeit eines Musikwissen- schaftlers sicher ungewöhnlich, aber von dem weiterhin künstlerisch-praktisch interessierten Peter Schleuning mit großem Engagement, persönlichem Inte- resse und trockenem Charme über 25 Jahre lang wahrgenommen. Die von ihm geprägte und gestaltete organisatorische Struktur ermöglichte den Stu- dierenden maximale Gestaltungsspielräume in der Wahl von Instrumenten, Stilrichtungen und Dozentinnen oder Dozenten. Kommt hierin auch ein alter- natives Verständnis im Vergleich zu den damals überkommenen Konzepten von Musikpraxis in der Lehramtsausbildung zum Ausdruck? Vielfalt, Breite und schulischer Anwendungsbezug stehen dabei wesentlich mehr im Mittel- punkt als einseitige Spezialisierung. Seine Sprechstunden waren auch der Ort, wo zahllose Studierende ein offenes Ohr nicht nur für ihre studienbezogenen, sondern oft auch ganz persönlichen Probleme fanden. Unter Oldenburger Stu- dierenden Legende sind die fingierten Anhänge zu den Stundenplanaushängen mit abstrusen Instrumenten-Erfindungen wie dem »Zwiebelphon« oder der »Zahnflöte«.

1984 erschien erstmals Peter Schleunings Der Bürger erhebt sich, seine Geschichte der Musik in Deutschland im 18. Jahrhundert und sicherlich sein bekanntestes Buch. Es machte Ernst mit dem Anspruch, die Sozialgeschichte der Musik in den Mittelpunkt zu stellen. Die These der Verbürgerlichung der Epoche wird dadurch untermauert, dass ein Panorama von Zeitzeugen, bis- weilen auch in entlegenen Quellentexten, zum Sprechen gebracht wird. Die Herangehensweise ist auch ein Spiegel und Ergebnis der Methoden seiner uni- versitären Lehre. Sein Erkenntnisinteresse ist kein bloß historisches, sondern im Horizont steht immer die aktuelle Gegenwart des 20. und 21. Jahrhunderts als eine spätbürgerliche Nachfahrin der Epoche. Die Auseinandersetzung mit

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Quellentexten zeigt erneut auch Peter Schleunings Affinität zu den Frage- stellungen der Historischen Musikpraxis – in dieser ›Szene‹ ist das Werk bis heute ein vielgelesener Klassiker geblieben. So überrascht es nicht, dass das Buch mehrere Neuauflagen erlebte, für ein musikwissenschaftliches Fachbuch immerhin bemerkenswert. Peter Schleunings Publikationen, die seit den siebziger Jahren in rascher Fol- ge erschienen (siehe Schriftenverzeichnis), öffnen sich auch für den musikinte- ressierten, hörenden, lesenden und denkenden Laien – die Nähe zum Stil der bildenden und räsonierenden demokratischen Musikpublizistik des 18. Jahr- hunderts (man denke an Johann Mattheson!) ist kein Zufall. Die Analysen erschließen rasch den musikwissenschaftlichen Forschungsstand, um von da aus ungewohnte Perspektiven auf vermeintlich Bekanntes zu eröffnen und im scheinbar Vertrauten die offenen Fragen aufzuspüren. Dabei legt der Jubilar immer Wert darauf, den Begriff der »absoluten Musik« – und damit die Deu- tungshoheit der philologisch argumentierenden »alten« Musikwissenschaft – zu relativieren. Für ihn steht dieser Ansatz eher für die Sterilität und Lebens- ferne einer mittlerweile historischen Debatte. Im Rekurs auf ältere Arbeiten z. B. Arnold Scherings pocht er auf den gestischen, bildhaften, topischen und politischen Charakter auch der wortlosen Instrumentalmusik, somit auf deren Platz mitten im Leben der Entstehungszeit. Diese Idee von Musikgeschich- te teilt er mit Kollegen wie Constantin Floros, Hartmut Krones und Martin Geck, und von dieser Art wissenschaftlicher Verwandtschaft zeugt auch das Beethovenbuch (1989), welches er mit letzterem gemeinsam verfasste. Aus dieser Denkhaltung heraus kann für Peter Schleuning Musik letztlich nicht eine nur künstlerische Erscheinung sein, sondern sie gehört zur Natur eines ›ganzen Menschen‹. Dass er also Die Sprache der Natur (1998) auch in der Musik (diesmal der vokalen) aufzuspüren suchte, war da nur konsequent. Seine Sichtweise, dass die ›Tonkunst‹ eben nicht selbstbezüglich verfährt, sondern sehr viel bedeutet und zu sagen hat, macht, und zwar im bewussten Gegensatz zum überkommenen Bild des ›Erzkantors‹, auch und gerade vor Johann Sebastian Bach nicht Halt. Einem der Herausgeber dieser Festschrift schrieb Peter Schleuning (mit Bezug auf dessen bei ihm entstandene Disserta- tion) folgende Widmung in sein Buch über die Brandenburgischen Konzerte (2003): »Hanslick hätte nicht zu den Lobrednern dieses Buches gehört, glaube ich, Liszt schon eher.« Zweifellos ein passender Selbstkommentar. Neben musikhistorischen Arbeiten finden sich auch solche, in denen ein musikpädagogischer Impetus (Kinderlieder selber machen, 1978) oder Fragen des politischen Gebrauchs von Musik (»Wir haben jetzt die Schnauze voll«. Alte und neue politische Lieder, 1978 gemeinsam mit Walter Moßmann) im Vordergrund stehen.

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Mit der vorerst letzten Monographie Fanny Hensel (2007) wandte sich Peter Schleuning explizit auch einem Gebiet zu, das implizit in seinem Denken schon länger eine große Rolle spielte: den Fragestellungen aus dem Themenbe- reich der musikwissenschaftlichen Genderforschung. An die Veröffentlichung knüpfte sich indes die selbst auferlegte Verpflichtung, diesem Buch nicht noch weitere umfangreiche Arbeiten folgen zu lassen – doch sie wird neuerdings schon wieder durchkreuzt von der Lust des Pensionärs auf neue Herausforde- rungen … So kann man also, und das mag entspannen, auf Neuigkeiten aus der Feder Peter Schleunings durchaus hoffen.

Oldenburg, Januar 2011 Freia Hoffmann, Markus Gärtner, Axel Weidenfeld

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Jan Henning Müller »Und ich hörte eine große Stimm« Ein Komponist als Prediger

Der Komponist und der Prediger

Coburg, im Jahre 1623. Wie fast überall in Deutschland beherrschte das Kriegsgeschehen den Alltag. Coburg konnte unter Herzog Johann Casimir zwar bis 1631 die Neutralität wahren, aber indirekte Kriegsfolgen waren auch dort deutlich spürbar. Flüchtige Protestanten aus Böhmen mussten aufgenom- men, Weimarische Truppen (6000 Mann ab März 1622) verpflegt und unter- gebracht werden. Verwüstungen, Plünderungen und Seuchen waren ebenso an der Tagesordnung wie Verschleppungen, Vergewaltigungen und Hexenpro- zesse.1 als »verordnete[r] Sächs. Coburgische[r] Capelnmeister«2 hatte sich wohl auch angesichts solcher wahrhaft apokalyptisch anmutenden Umstände (neben konkreten materiellen Sorgen in seinem Amt) ganz der Kom- position geistlicher Werke zugewandt; jedenfalls ist von ihm nach dem Erschei- nungsjahr seiner Sammlung Gemmulae Evangeliorum Musicae (1623 / 24) kei- ne weltliche Musik mehr überliefert. Dies muss ein bemerkenswerter Einschnitt für einen lutherischen Komponisten weltlicher Anstellung gewesen sein, dessen erklärtes Anliegen es ursprünglich gewesen war, mit Hilfe seiner Tänze und Volkslieder die »Trübsal zu vertreiben«3. Weil von Franck selbst keine Aussa- gen zu Zeitgeschichte und Theologie überliefert sind, gewinnen diesbezügliche Predigten eines Coburger Freundes an Bedeutung: Johann Matthäus Meyfart, Professor für Theologie am Casimirianum in Coburg. Überliefert sind von ihm beispielsweise seine Teutsche Rhetorica (1634) und eine der seltenen offenen Schriften gegen die Hexenprozesse.4 Meyfart liebte die Musik und arbeitete

1 Vgl. Geschichte Frankens bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts, begründet von Max Spindler, neu hrsg. von Andreas Kraus (= Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. 3 / 1), München 31997, S. 493, S. 794. 2 Kurt Gudewill, Art. »Franck, Melchior«, in: MGG 1, Personenteil, Bd. 4, Kassel 1955, Sp. 663–675, hier Sp. 665. 3 Ebd., Sp. 676. 4 Zu Leben und Werk Meyfarts vgl. Erich Trunz in: Johann Matthäus Meyfart, Teut-

15 Jan Henning Müller mehrfach eng mit Franck zusammen. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden unter anderem die Coburger Sing-Comoedie und das Kirchenlied Jerusalem, du hochgebaute Stadt. Der Barockexperte Erich Trunz hebt hervor: »Franck hätte keine Aufführungen zustande gebracht ohne einen musikliebenden Rek- tor wie Meyfart, und Meyfart hätte keine ›Sing-Comoedie‹ bringen können ohne einen Komponisten wie Franck.«5 Diese geistig wie kreativ profitable Konstellation war keine ungewöhnliche: Die im nachreformatorischen Deutschland einmalige Verbindung späthuma- nistischer Gelehrtenkultur (Rhetorik / Philologie) und protestantischer Theolo- gie unter dem Dach der Rhetorik verband fast alle Komponisten und Prediger. Franck und Meyfart hatten beide die Artistenfakultät absolviert und nahmen in Coburg teil an einem »lebhafte[n] Literaturbetrieb mit Geistlichen, Lehrern und Beamten.«6 Seit 1613 hatte Franck dabei ausschließlich in deutscher Spra- che komponiert, wie Gudewill hervorhebt: »Das ist kennzeichnend für einen Meister, der in seinen Vorr.[eden] immer wieder betont hat, wie wichtig es sei, daß das Schriftwort in der Muttersprache verkündet werde.«7 Dies taten er und Andere im protestantischen Raum aus dem theologisch vor allem durch Luther begründeten Bedürfnis nach Textexegese und Verkündi- gung in der Muttersprache heraus. Formal entstand für die deutschsprachige Figuralmusik ein neuer liturgischer Raum, indem sich die lutherischen Got- tesdienstformen der »formula missae« und der »Deutschen Messe« annäher- ten. So entwickelte sich beim lutherischen Komponisten das Selbstverständnis eines »musicus poeticus ecclesiasticus« mit Kompetenz in der Textauswahl und Textauslegung. Franck und andere gingen dabei für die neu entstehende Gattung der deutschsprachigen lutherischen Motette den von Dufay bis Lasso und Giovanni Gabrieli für das Latein vorbereiteten Weg nach. Emanzipation der Kontrapunkte, durchvokalisiertes Geflecht gleichberechtigter Stimmen, Gliederung sprachlicher Inzisionen mittels horizontaler und vertikaler Klau- seln, Textdeklamation und modale Affektenlehre, Figuren: Auf diese für das Latein entwickelten Techniken konnte er bereits zurückgreifen.8

sche Rhetorica oder Redekunst 1634, hrsg. von Erich Trunz (= Deutsche Neudru- cke, Reihe Barock, Bd. 25), Tübingen 1977, S. 53*–78* sowie Erich Trunz, Johann Matthäus Meyfart. Theologe und Schriftsteller in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges, München 1987. Zu seiner Rhetorik siehe Joachim Dyck, Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition, Bad Homburg u. a. 21969. 5 Trunz, Meyfart. Theologe und Schriftsteller, S. 36. 6 Geschichte Frankens, S. 1261. 7 Gudewill, Art. »Franck, Melchior«, Sp. 675. 8 Zur ev.-luth. Motette als neu entstehender Gattung siehe ausführlich: Jan Hen- ning Müller, Der Komponist als Prediger, Diss. phil. Oldenburg 2002.

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