Ausland

gepflegten Vollbärten, ein Schälchen Corn flakes für 4,50 Pfund. Die Klassenkämpfer hatten ihren perfekten Feind gefunden. Den Mittelschicht-Hipster. Farbbeutel flogen, die Besitzer er - zählten später, drinnen hätten sich Kinder gefürchtet. McKenzie sagt, sie habe keine Kinder gesehen. Trotzdem, die Aktion schadete ihr und „Class War“. Die Boulevardpresse machte sie zur Symbolfigur für die hässliche Seite des Protests. Fucking Hipster Das Phänomen, gegen das McKenzie kämpft, ist nicht neu. Die Umwandlung von Arbeiter- und Einwanderervierteln lässt Global Village Eine Soziologin will in sich seit Jahren in Berlin, New York oder auch Belgrad beob - den Klassenkampf neu anzetteln. achten, die Dramaturgie ist überall dieselbe. Erst kommen Künstler und Studenten, dann Cafébetreiber, Touristen, Inves - ie Fallen des Klassenfeindes lauern überall, warum nicht toren und schließlich das große, dumme Geld. Der Preis für auch im Milchkaffee? Lisa McKenzie blickt auf den die hübsch sanierten Viertel ist die Verdrängung der früheren DSchaum wie auf einen gut getarnten Gegner, 2,80 Pfund Bewohner, die sich die Mieten nicht mehr leisten können. teuer, in einem lachhaft kleinen Tässchen, mit einem Herzen In London, der Welthauptstadt des Pragmatismus und des verziert. Sie ist vorsichtig geworden. Vor Kurzem druckte die Kapitals, hat das bisher kaum jemanden gestört. Der Hipster „Daily Mail“ ein Foto von ihr mit einer Flasche Martini und als Katalysator der Veränderung wurde belächelt, aber toleriert. der Unterzeile: „Die Forscherin scheint einem verschwenderi - Das ändert sich gerade, die Stimmung kippt, und Lisa McKenzie schen Leben nicht abgeneigt zu sein.“ Seitdem achtet sie darauf, ist dafür mit verantwortlich. sich von den Genüssen der Bourgeoisie fernzuhalten. Im Grunde ist es nicht verwunderlich, dass der Klassenkampf McKenzie, Soziologin an der London School of Economics, in auflebt, überraschend ist nur, dass es so lange ge - sitzt in einem Café im East End, mitten in ihrem Forschungsfeld. dauert hat. Denn unter der Wirtschaftskrise litten vor allem Ihr Fachgebiet ist die britische Arbeiterklasse, deren Ausbeu - Arbeiter und Familien, und die 45 Milliarden Pfund für die tung und Verdrängung, McKenzies Strategie ist die einer teil - Rettung der Royal Bank of Scotland wurden auch nicht von nehmenden Beobachterin. Sie ist radikale Nichtwählerin und der Finanzindustrie bereitgestellt, sondern vom Steuerzahler. McKenzie tritt ins Freie und sagt, wenn eine Ge - meinschaft unter dem Wandel leide, müsse sie sich wehren. „Was macht das mit einem Viertel, wenn Apotheken wegen hoher Mieten schließen müssen? Wer braucht überhaupt so viele Cafés?“ Sie geht am Gebäude der Truman-Brauerei vorbei, wo nun Jeans, Uhren und 260 Pfund teure Sonnenbrillen verkauft werden. Im Erdgeschoss bieten Köche samstags für Touristen Spezialitäten aus aller Welt an. „Das ist ein fucking Spielplatz für Leute zwischen 17 und 30, die viel Geld haben“, sagt McKenzie. „Und es geht gegen die Bangladescher, die hier seit Jahrzehnten Restau - rants betreiben. Sie leiden unter diesem Quatsch.“ L E

G Für sie ist Gentrifizierung ein weltumspannender E I P S

Akt der Gewalt gegen diejenigen, die zuerst da waren. R E D Doch wo zieht sie die Grenze? Wie lange muss man /

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N an einem Ort leben, um Artenschutz beanspruchen A M R

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I dass sich die Spirale immer weiter dreht“, sagt McKen - R H

C zie. Neulich entdeckte sie in einem Geschäft in Shore - Aktivistin McKenzie: „Wer braucht so viele Cafés?“ ditch eine Marx-Statue aus rosa Plastik für 500 Pfund. Sie weiß nicht, was sie wütender machte: der irre stolz auf ihre einfache Herkunft, ihr Lieblingswort ist „fuck“. Preis oder die Tatsache, dass in dem alten Arbeiterviertel Karl Mit ihren Rüschensocken, kirschfarbenen Haarsträhnen und Marx verkauft wird. einem Meerjungfrau-Tattoo auf dem Unterarm fällt sie nicht McKenzie wuchs bei Nottingham auf, ihre Mutter arbeitete weiter auf in diesem Ökosystem von Medienleuten, Künstlern als Angestellte einer Strumpfwarenfabrik, ihr Vater als Berg - und Zeitgeist-Junkies um die . McKenzie sagt, sie mann. Sie war 16, als sie zum ersten Mal gegen die Schließung sei zwar Akademikerin, möchte aber nicht für eine Frau aus der Kohlezechen auf die Straße ging, Anfang der Achtziger - der Mittelschicht gehalten werden. Sie spricht es aus wie ein jahre. Der Bergarbeiterstreik wurde ihr Erweckungserlebnis. Schimpfwort. Sie hat nie aufgehört, für die Unterprivilegierten zu streiten. Inzwischen kennt jeder „Sun“-Leser ihr Gesicht. Ende Sep - Sie sagt, London müsse von Berlin lernen, wo die Gentrifi - tember zog sie mit Anhängern der anarchistischen „Class War zierungsgegner zupackender seien. Es gebe erste Anzeichen, Party“ durch das Barviertel , um gegen hohe Mieten sagt sie, die Mut machten. Sie tippt mit dem Fingernagel gegen zu protestieren. 200 Leute ungefähr, aus Lautsprechern dröhnte das Schaufenster eines Maklerbüros, das eine Dreizimmerwoh - Techno. McKenzie trug, als Referenz zu David Camerons „Pig- nung für 1,1 Millionen Pfund anbietet. McKenzie sagt lächelnd: Gate“, in den Händen einen Dildo und ein Plastikschwein. Ir - „Das Fenster wurde neulich eingetreten.“ gendwann stoppte die Menge vor dem Cereal Killer Café, das Christoph Scheuermann von zwei Brüdern aus betrieben wird: junge Kerle mit Twitter: @chrischeuermann

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