«Take a Dirty Picture» Überlegungen Zu Visuellen Medien Als Gegenstand Einer Kultur
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Zurich Open Repository and Archive University of Zurich Main Library Strickhofstrasse 39 CH-8057 Zurich www.zora.uzh.ch Year: 2013 „Take a dirty picture”. Überlegungen zu visuellen Medien als Gegenstand einer kulturwissenschaftlich orientierten Medienforschung Ritter, Christian Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich ZORA URL: https://doi.org/10.5167/uzh-116588 Journal Article Originally published at: Ritter, Christian (2013). „Take a dirty picture”. Überlegungen zu visuellen Medien als Gegenstand einer kulturwissenschaftlich orientierten Medienforschung. 31 : das Magazin des Instituts für Theorie, (20):95-97. Christian Ritter «All I want is a photo in my wallet und bewerten. Die soziale Funktion der / a small remembrance of some Bilder liegt dabei weniger im Erinnern als thing more solid», sang die New in der Verhandlung alltäglicher Erfahrun «Take a dirty Yorker PopIkone Debbie Harry gen durch einen Prozess der Imagination 1978 in «Picture This». Dreissig und «Bildwerdung», der sowohl das Vor picture» Jahre später tönt es aus dem Mund her und Nachher als auch die Gegenwart Überlegungen der Chartbreaker Ke$ha und Taio der Bildproduktion mit einschliesst. In Cruz ähnlich: «Whenever you are dieser Perspektivierung sind Bilder weni zu visuellen gone, I just wanna be wit ya / ger Medien der Erinnerung und Verifizie Please don’t get me wrong, I just rung des «life as it was»3 als Medien der Medien als wanna see a picture» (2010). Tat Kommunikation. Dieser Aspekt gewinnt sächlich verweisen beide Textstel durch die ubiquitäre Verfügbarkeit von Gegenstand len auf das bildgestützte Erinnern MMS. und internetfähigen Geräten an einer kultur - als einen wichtigen Aspekt des zusätzlicher Relevanz: Der Zugang zum sozialen Lebens. Erinnerung und World Wide Web und die verbreitete Nut wissen - visuelle Kultur sind eng miteinan zung von Diensten wie Facebook oder der verbunden. Film und Fotogra WhatsApp machen die fotografische Er schaft lich fie fungieren dabei als Medien der fahrung im Nu zu einer geteilten Erfah orientierten Beglaubigung, der Mimesie und rung, selbst in der Abwesenheit.4 der Authentizität in Prozessen kul Das Beispiel der Selbstdokumentation Medien- tureller und gesellschaftlicher an Partys und die angesprochenen Zusam (Selbst)Narration und (Selbst) menhänge von Sozialität, Identität und forschung Dokumentation. Ein Blick in den Erinnerung weisen darauf hin, wie sich die Videoclip zu Ke$has und Taio Cruz’ alltäglichen Möglichkeiten des Umgangs Dirty Picture verweist jedoch auch mit visuellen Medien in den vergangenen auf einen andern Aspekt des Gebrauchs Jahren verändert haben. Dies hat Auswir von Bildern und auf einen Wandel der kungen auf die Fragen und Methoden, mit Gebrauchsweisen visueller Medien unter denen man sich dem Forschungsgegen den Vorzeichen der Digitalität. Im Video stand «Visualität» anzunähern versucht. inszeniert sich eine junge Party Crowd, Im Zusammenhang mit den medientech Kamera und Fotohandy sind ständig anwe nischen und soziokulturellen Entwicklun send und im Einsatz. Abb. 1 Diese Praxis ist gen des «digitalen Zeitalters» rücken 95 auch Teil der Lebenswelten abseits von Hol Aspekte ästhetischer Praktiken zuneh lywood und MTV, wovon Fotografien und mend in den Blick kulturwissenschaftlich Handyfilme jugendlicher Akteure zeugen.1 orientierter Medienforschung. «The mechanically or electronically reproduced image is the semantic and technical unit of the modern mass media and at the heart of postwar popular culture», 5 konstatieren 1 – Vgl. Ute Holfelder, Christian Ritter, Handyfilme im Kontext einer medienweltlichen Ethnografie (in Vorbereitung 2013). 2 – Womit hier Bildmedien im weiteren Sinne gemeint sind, neben Fotogra- fien also auch Collagenbilder, Videos, Handyfilme etc. 3 – José van Dijck, «Digital Photogra- phy: Communication, Identity, Memory», in: Visual Communicati- on, 7/1 (2008), S. 57–76, hier S. 58. Abb. 1 Online verfügbar unter: http://vcj. Taio Cruz, Dirty Picture Das (audio)visuelle Aufzeichnen des sagepub.com/content/7/1/57 (ft. Ke$ha), Screenshot, (zuletzt aufgerufen am 30.04.2013). www.youtube.com/ Geschehens durch digitale Endgeräte watch?v=RgnXl7fz0Bc. 4 – Erinnerung und Vergewisserung ermöglicht die Herstellung und Verhand sind nach wie vor wichtige Aspekte lung von «Identität» und Sozialität in des Umgangs mit Fotografien und zweifacher Hinsicht: zum einen durch die nicht einfach verschwunden. Der 2 Umgang mit analogen Bildern z. B. nachgelagerte Rezeption der Bilder , innerhalb einer Familie hatte schon durch das (gemeinsame) Erinnern und immer eine kommunikative Dimen- «Auflebenlassen» einer Partynacht, eines sion. Liegt (oder lag) bei älteren, primär analoge Bildmedien nutzen- Ausflugs oder auch einer alltäglichen Situ den Generationen die soziale Funk- ation; zum anderen ist die Produktion der tion der Fotografie primär in der Konstruktion von Familienleben Bilder selbst Teil der Herstellung von Sozi und -geschichte, so nutzen mit digi- alität, wenn sich die Akteure für den Blick taler Medientechnik sozialisierte der Kamera gemeinsam in Szene setzen, Personen Bildmedien heute stärker für die Kommunikation und Peer- einander anschauen, berühren und die Group-Bildung als zur Erinnerung. «frischen» Bilder noch vor Ort besprechen Vgl. ebd., S. 61. Dirty Dessert Evans und Hall und Analyse sozialer und ästhetischer Prozes verweisen auf ein se eine Differenzierung unterschiedlicher Dessert wachsendes For technischer, kultureller und ästhetischer von Christian Ritter schungsinteresse an Aspekte, die an soziokulturellen Prozessen den Problematiken, beteiligt sind. Andererseits geht es gerade (deftiger Schokoladenkuchen) die mit der Reprä darum, diese aufeinander zu beziehen und 5 Eigelb sentation und Affi ihre Verwobenheit sicht und interpretier 5 Eiweiss 150 g Butter zierung der Subjek bar zu machen. Dasselbe Artefakt (ein 150 g Zucker te in, durch und mit Bild, eine Film, ein Videoclip …) kann in 150 g Haselnüsse (gemahlen) Bildern verbunden verschiedenen Zusammenhängen auftau 200 g dunkle Schokolade 1 Gläsli Kirsch sind. Das in For chen und sich dabei jeweils durch eine schungskontexten technische, eine codebezogene semioti Eigelb, Butter und Zucker schaumig rüh ren. Eiweiss steif schlagen und unter gegenwärtig ver sche oder eine kulturelle, funktionale 7 die Mas se ziehen. Haselnüsse dazugeben breitete Interesse an Dimension auszeichnen. Entsprechend und ver rühren. Schokolade im Wasser- Visualität und visu schlägt Göttlich vor, dass Medien nicht bad schmelzen, mit Kirsch vermischen und ebenfalls verrühren. Form einfetten eller Kultur kann als anhand funktionaler Leistungsmerkmale und Backofen auf 180° vorheizen. 45–50 ein Hinweis auf die bestimmt werden, sondern als durch Pra Minuten backen. Schmeckt noch warm am besten! gegenwärtige Be xiszusammenhänge konstituierte «Netz deutung von Bild und Bildlichkeit gesehen werden, nicht 9 – Ebd., S. 31. nur im wissenschaftlichen Diskurs, son 10 – Göttlich richtet sich damit gegen die Vorstellung, Medien seinen dern auch im gelebten Alltag — aber auch blos se Objekte oder Artefakte, an als Hinweis auf die diffusen Konturen des denen sich soziale Praxis vollzieht Gegenstands und die damit verbundenen oder über diese vermittelt wird, und argumentiert damit auch ent- analytischen Schwierigkeiten. Gerade bei gegen McLuhans Vorstellung eines digitalen, interfacevermittelten Medien bipolar organisierten Verhältnis- handelt es sich oft um hybride Medien ses von Mensch und Technik, das Mechanik und Medien als Erweite- formen, die auditiv und visuell zugleich rungen des der menschlichen sind und ihren Sinngehalt gleichermassen Funktion beschreibt. Vgl. Marshall 6 McLuhan, Die magischen Kanäle, über Text, Ton und Bild organisieren. Düsseldorf, Wien 1968, S. 51 f. Tatsächlich sind die Zusammenhänge 11 – Michel Foucault, Dispositive der von Mensch und Medialität für empirisch Macht. Über Sexualität, Wissen und fundierte Forschungsarbeiten zu «Me dien» Wahrheit, Berlin 1978, S. 119 f. 96 mehr als ein philosophisches oder begriff 12 – Knut Hickethier, «Zur Dispositiv- liches Problem. Einerseits erfordert die Debatte», in: Tiefenschärfe, WS 2002/03, S. 3. 13 – Vgl. Knut Hickethier, «Apparat 5 – Jessica Evans, Stuart Hall, «What — Dispositiv, Programm. Skizze is visual culture?», in: dies. (Hg.), einer Programmtheorie am Bei- Visual Culture: The Reader, London spiel des Fernsehens», in: ders., 2009, S. 1–7, hier S. 2. Siegfried Zielinski (Hg.), Medien/ 6 – Zehn Jahre nach seinem paradig- Kultur. Schnittstellen zwischen matischen Aufsatz «The Pictorial Medienwissenschaft, Medienpraxis Turn» hat sich W. J. T. Mitchell und gesellschaftlicher Kommunika- selbst kritisch gegenüber der Behau- tion, Berlin 1991, S. 421–447; sowie ptung rein visueller Medien geäu- Knut Hickethier, Einführung in die ssert und schlägt in seiner «Kritik Medienwissenschaft, Stuttgart, der visuellen Kultur» vor, eher Weimar 2003. von kompositen als von visuellen 14 – Hickethier, Einführung in die Me - Medien auszugehen. W. J. T. Mitchell, dienwissenschaft, S. 189. Es ist «Das Sehen zeigen. Eine Kritik der anzumerken, dass diese «Anord- Visuellen Kultur», in: Bildtheorie, nungen» und die mit ihnen verbun- hg. v. Gustav Frank, Frankfurt a. M. denen Auswirkungen auf Kultur 2008, S. 312–343, hier S. 332 f. und Gesellschaft immer auch hin- 7 – Zur funktionsspezifischen Unter- sichtlich ihrer je spezifischen histo- scheidung von «Medien» vgl. rischen Dimensionen gedacht wer- Roland Posner, «Zur Systematik