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Walter LEGGE : Hebamme der Musik(5)

Wenn ich meine Programme von den Vierziger bis Anfang der Sechziger Jahre durchsehe, bin ich stolz, London ein Goldenes Zeitalter musikalischer

Aufführungen geschenkt zu haben… ein Zeitalter, das möglicherweise nie

übertroffen werden wird. Zugegeben: Ich führte das Philharmonia als Diktator, aber als wohlwollender Diktator. Demokratie hat einfach keinen

Platz in den Künsten, sie ist absolut kontraproduktiv, wenn nicht tödlich.

Auch Komittees sind in der Kunst absolut nutzlos. Entscheidend sind Leute wie

Karajan, Klemperer, Giulini, sind meine Kollegen bei der Decca wie John

Culshaw oder ich. Denn wir wissen nicht nur, wie man die besten künstlerischen

Resultate erzielt, sondern auch, wie man das Publikum gewinnt, und die ganze

Sache mit sorgfältig ausgewählten Mitarbeitern über die Bühne gehen lässt.

So lautet das Credo eines Mannes, der Jahrzehnte lang als Papst der

Plattenproduzenten herrschte. In seiner Regie und Verantwortung entstanden rund dreitausendfünfhundert Aufnahmen, von denen viele bis heute zu den

Besten gehören, die je gemacht wurden, und die seit Jahrzehnten ihren Rang als

Katalog-Klassiker behaupten: auf dem Gebiet der Oper ebenso wie im orchestralen Bereich, in der Kammermusik und dem Lied.

Walter Legge hat sich mit seinem absoluten Streben nach Perfektion mehr als einmal unbeliebt gemacht - seine Autorität, seine Kompetenz und sein

Urteilsvermögen wurden hingegen nur in Ausnahmefällen angefochten. 3

Und den Anspruch, den er Zeit seines Lebens verfolgte, hat er weit über Soll erfüllt: Die Platten, die in seiner Regie bis zu seinem Rückzug 1964 entstanden, sollten Maßstäbe setzen nicht nur für ihre Zeit, sondern auch für die Zukunft. Das haben sie bis auf den heutigen Tag getan – obwohl ein halbes

Jahrhundert seit ihrer Entstehung vergangen ist.

------CD EMI 5 75462 2 Disc,2 track 10(schnelle Blende) bei 4‘05

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Der Tanz des Koschtschei – einer Figur der russischen Mythologie – aus Igor Strawinskys Feuervogel – Suite mit dem von Walter Legge gegründeten Londoner Philharmonia Orchester unter der Leitung von Carlo

Maria Giulini. Aufgenommen im Oktober 1956.

Klemperer, Karajan und Giulini, das waren die festen Säulen, die Garanten, man könnte auch sagen: Die Zugpferde, die sozusagen aus dem Stand das Ende 1945 gegründete binnen weniger Jahre zu einem der weltweit führenden Klangkörper machten, vornehmlich für Schallplatten – Einspielungen in der Londoner Kingsway Hall, oder den Studios in der Abbey Road.

An der rasanten Entwicklung des Orchesters waren noch eine ganze Reihe weiterer hochkarätiger Pultmaestri beteiligt. Denn Walter Legge bestand lediglich darauf, dass SEIN Orchester STIL haben sollte – aber nicht EINEN

Stil, der von einem einzigen Dirigenten geprägt wurde.

Es sollten und konnten durchaus unterschiedliche Künstlerpersönlichkeiten sein, 4

die diesem Orchester ihren Stempel aufdrückten….Bedingung war nur: sie mussten in der allerersten Liga spielen und Walter Legges Leidenschaft, nein,

Besessenheit im Streben nach Perfektion teilen.

Denn dessen erklärtes Ziel lautete:

Ich möchte mit den hervorragendsten Interpreten Platten machen, die für die

Zuhörer zuhause genau so klingen, wie auf dem besten Platz eines akustisch perfekten Saals.

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CD EMI 5 75462 2 Disc 1 track 11 & 15 4‘00

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Marsch und Galopp aus der Orchestersuite d’enfants von George Bizet mit dem Philharmonia Orchestra. Am Pult .

Es konnte nur eine Frage der Zeit sein, bis Walter Legge in den

Nachkriegsjahren auf seinen Reisen durch Europa, unermüdlich auf der Jagd nach musikalischen Ausnahme-Talenten, auf Giulini traf, ein Mann, der über reiche Erfahrungen als Orchestermusiker, nämlich als Bratscher im römischen

Orchester der Accademia di Santa Cecilia verfügte. Hier hatte er u.a. unter

Dirigenten wie , Felix von Weingartner, , Otto

Klemperer, Wilhelm Furtwängler und Erich Kleiber gespielt.

Sobald er als Antifaschist und Pazifist nach 1944 aus dem Untergrund auftauchen konnte, trat er als Dirigent zunächst in Rom in Erscheinung, 5

gründete dann in Mailand das Orchester des staatlichen Rundfunks, der RAI.

Hier wurden Victor de Sabata und auf ihn aufmerksam und verpflichten ihn an die Scala.

Wie der Zufall so spielt, ging an eben diesem Haus auch Walter Legge ein und aus, seit er nach äußerst komplizierten und langwierigen Verhandlungen im

Sommer 1952 La Divina: im Klartext mit einem Exklusiv –

Vertrag an sein Haus gebunden, und damit auch das Recht erworben hatte, sowohl Live – Mitschnitte als auch Studio – Produktionen des Scala-Ensembles im Hause EMI zu veröffentlichen, deren Musikchef er de facto war.

Mit dem triumphierenden Ausruf Callas – finalmente mia übernahm

Walter Legge von nun an die Karriere – Steuerung der Sängerin, wohlgemerkt mit künstlerischen Mitteln, und nicht, wie heute an der Tagesordnung, mit heißluftbetriebener Reklamemaschinerie und gigantischem Marketingapparat.

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CD EMI 5 66450 2 Disc 1, track 10 & 11 7‘10

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Sempre libera – das Finale des 1. Aktes von Giuseppe Verdis La Traviata.

Mit Maria Callas, und dem Orchester der Mailänder Scala geleitet von Carlo Maria Giulini. Ein Aufführungsmitschnitt vom 28. Mai

1955, sicher ein Höhepunkt in Giulinis früher Karriere, eine Aufnahme, die 6

Theatergeschichte geschrieben hat, und mit der sich die verbleibende Zeit dieser

Musikstunde kurzweilig füllen ließe.

Machen wir aber heute nicht, sondern beschäftigen uns mit der Frage, was

Walter Legge und Carlo Maria Giulini zusammengeführt hat und verband.

Warum der Papst der Schallplattenproduzenten dem noch nicht wirklich arrivierten, nicht etablierten Jungmaestro bald große Aufgaben anvertraute, und ihm eine langjährige Zusammenarbeit anbot.

Ich denke, die Erklärung liegt auf der Hand. Beide erkannten von der ersten

Begegnung an, dass sie einen Absolutheitsanspruch: eine Vision von

Vollkommenheit teilten.

Giulini hat in diesem Zusammenhang den Vorwurf, er kultiviere nur ein schmales Repertoire immer elegant und stichhaltig zurückgewiesen:

Ich dirigiere ein Stück nur, wenn ich fühle, dass es Teil meines Lebens ist. Wenn ich nicht völlig verliebt bin in ein Werk, nicht völlig davon überzeugt, gehe ich damit nicht aufs Podium.

Und außerdem: wenn man mit Partituren von Genies arbeitet: Bach, Mozart,

Beethoven, Brahms, Bruckner, Mahler oder Verdi – glauben Sie nicht auch, dass man dafür Zeit braucht ? Mit den Noten und Vortragsbezeichnungen ist doch nichts erschöpfend erklärt. Wir müssen versuchen, aus diesen Angaben zu begreifen, was diese großen Menschen wirklich haben sagen wollen.

Und dafür braucht man, so meine ich Zeit. Ich wenigstens brauche sie. 7

Aus diesem Grund hat sich Giulini auch früh entschlossen, dem Musiktheater den Rücken zu kehren, spätestens mit Eintritt des Jet – Set – Zeitalters, das die

Opernhäuser in einen Taubenschlag verwandelte, und nur noch in

Ausnahmefällen künstlerisch akzeptable Ergebnisse hervorbrachte…

Seither widmete sich der gläubige Katholik fast ausschließlich den großen

Chorwerken und Meisterwerken der Symphonik. Gönnte sich die Ruhe und

Zurückgezogenheit, konzentrierte sich auf die emotionale Energie, die er glaubte, diesen Werken schuldig zu sein.

Sein dirigentisches Credo hat er einmal mit entwaffnender Offenheit formuliert:

Irgendjemand muss ja dirigieren. Und in diesem Fall bin ich es. Auch wenn ich genau weiß, was ich will, und wie die Musiker zu spielen haben, möchte ich, dass die Musik durch Überzeugung entsteht – und nicht auf Befehl.

Ich brauche Liebe, Liebe zur Musik.

Für viele Mitglieder des Philharmonia Chorus und des Philharmonia Orchestra

Bedeuteten Giulinis Aufführungen von Verdis und der Quattro pezzi sacri den Höhepunkt ihres musikalischen Lebens.

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CD EMI 5 56250 2 Disc 2 track 6 ab 9’35 = 6‘05

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Die finale Sequenz des Te Deum von mit dem Philharmonia

Chor und Orchester unter der Leitung von Carlo Maria Giulini. 8

Er hat zwar mit dem Taktstock gearbeitet, erinnert sich ein prominenter

Musiker des Orchesters, vor allem aber wirkte die pure Kraft seiner Gegenwart.

Es gab kaum deutlich konturierte Schläge, vielmehr war alles Aura. Sein

Mienenspiel war sehr ausdrucksvoll, aber er schnitt nie Grimassen. Was er wollte, schien er gänzlich durch Charisma zu erreichen. Frei von Theatralik und Exaltiertheit, vielmehr geprägt von echter Anteilnahme.

Giulini war vermutlich der erste Orchesterleiter von Weltrang, der sich in der

Gesellschaft von Orchestermitgliedern, ohne sich zu verstellen, inter pares – unter gleichen – empfand, und der jedes diktatorische Dirigentengehabe kategorisch ablehnte.

Ihm war in erster Linie an lebendigem, beseelten Musizieren gelegen:

Gleichzeitig, denn sonst wäre er mit den Intentionen Walter Legges langfristig nie klargekommen, versuchte er immer dem selbstgestellten Anspruch zu genügen, in seinen Schallplattenaufnahmen auch den Hörern zuhause, die nie die Möglichkeit haben würden, ein bedeutendes Orchester LIVE zu erleben, immer das technisch und künstlerisch bestmögliche Resultat zu präsentieren.

Bei allem Beharren auf höchsten Standards sagte er aber manchmal auch:

Liebe Kollegen, versucht einfach mal zu vergessen, dass hier so viele

Mikrophone herumstehen. Wir spielen das Stück, und wir versuchen einfach:

Musik zu machen. ZU MUSIZIEREN. Das ist das Entscheidende.

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CD EMI 5 62802 2 track 1 6‘17 9

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Das Philharmonia Orchestra mit Carlo Maria Giulini am Pult spielte die

Ouverture zu Gioacchino Rossinis La gazza ladra – Die Diebische Elster.

Aufgenommen 1959 in London und seit fünf Jahrzehnten ununterbrochen im Katalog. Anfang Oktober dieses Jahres erscheint eine technisch nochmals optimierte Neuauflage von einigen der schönsten Rossini – Ouverturen mit

Giulini am Pult, schätzungsweise die zehnte Wiederveröffentlichung dieser

Platte seit ihrem ersten Erscheinen.

Ich will in der ersten Stunde dieser Woche nicht dem Ende der Ära Walter

Legge vorgreifen, möchte aber die Ereignisse des Frühjahrs 1964 doch kurz skizzieren, da sie auch gravierende Folgen im Verhältnis zu Giulini nach sich ziehen sollten, und mehr noch zu Klemperer, wovon ein andermal die Rede sein wird.

To cut a long story short, eine Geschichte zudem, von der ziemlich viele sich widersprechende Versionen kursieren, geschuldet der jeweils unterschiedlichen Interessenlage: Fest steht: Walter Legge hatte 1963 der EMI ein Kündigungsschreiben mit einjähriger Vorauswarnung geschickt, möglicherweise als Warnschuss, um seine Machtfülle zu sichern, vielleicht auch auszubauen. Wie auch immer. Außerdem war er nach über vierzig Jahren im Geschirr sicher auch einfach ein bisschen müde, genervt über den zunehmenden Einfluss der Bürokraten und Amtsschimmel in seinem Haus.

Kaum mit Einsichten in künstlerisch-musikalische Sachverhalte gesegnet, 10

versuchten sie ständig, ihm die Suppe zu versalzen, Befugnisse einzuschränken, seinen Etat zu kürzen. Was ihn am meisten getroffen haben dürfte: man warf ihm vor, er kümmere sich zu wenig um seine eigentlichen Dienstpflichten, sondern vor allem um die Karriere seiner Gattin .

Legge war dann irgendwann so erbost, dass er über die Presse mitteilen ließ, das Philharmonia Orchestra sei mit sofortiger Wirkung aufgelöst… aus einer

Reihe von Gründen, u.a., weil es nicht mehr höchsten Anforderungen genüge.

Wie komplex auch immer die Situation gewesen sein mag: Es drängt sich der

Eindruck auf, dass dem schwer gekränkten Walter Legge nach einer Politik der verbrannten Erde zumute war, nach dem Motto: wenn ich nicht mehr bei der

EMI arbeiten, und nicht mehr als Alleinherrscher über das Philharmonia

Orchestra regieren kann, dann soll es auch dieses Orchester, mein Kind, nicht mehr geben.

Sein Plan ging allerdings nicht auf. Die Philharmonia - Musiker schlossen sich umgehend als privatrechtlicher Verein zusammen, nannten sich New

Philharmonia Orchestra und setzen, wenn auch auf kleinerer Flamme, die

Konzerttätigkeit fort.

Was Walter Legge noch mehr erzürnte. Er forderte Nibelungentreue von Giulini und Klemperer, d.h. den kategorischen Verzicht beider Dirigenten auf eine weitere Zusammenarbeit mit dem Orchester. Er fühlte sich von Giulini verraten, als der dem alten Klangkörper mit neuem Namen seine Unterstützung zusagte. 11

Welch einsichtigen Grund hätte es auch für ihn geben sollen, mit den

Philharmonia - Musikern zu brechen? Sie hatten sich weder ihm, noch Legge gegenüber unfair verhalten. Aber der Impresario, der schon ziemlich unangenehm werden konnte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, war nicht zu besänftigen, und äußerte zu Giulinis größter Bestürzung, er wolle in Zukunft nichts mehr mit ihm zu tun haben.

Als Persönlichkeit mit hohen ethischen Prinzipien machte dem Dirigenten die

Kluft gewaltig zu schaffen, die nun zwischen ihm und Legge entstanden war.

Aber die Solidarität mit seinen Orchesterkollegen, in deren Gesellschaft er sich immer wohl gefühlt hatte, behielt die Oberhand. Trotz Jahren der

Abwesenheit und trotz unterschiedlich intensiver Präsenz blieb Giulini dem

Orchester insgesamt über vier Jahrzehnte verbunden. Die Musiker liebten ihn, und das Londoner Publikum der Royal Festival Hall verehrte ihn, wann immer er dort die großen sinfonischen Werke von Schubert, Brahms, Mahler oder

Bruckner zelebrierte.

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CD BBC Legends 4159 2 Disc 2, track 1 ab 18’13 = 6‘40

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Das Finale von Anton Bruckners 8.Sinfonie in einem Aufführungsmitschnitt der

BBC aus der Royal Festival Hall in London vom 18. September 1983.

Am Pult des Philharmonia Orchestra: Carlo Maria Giulini. 12

Manche Briten haben Walter Legge – vielleicht nicht ganz zu Unrecht – vorgeworfen, er habe sich zu wenig um englische Künstler gekümmert, und es stattdessen vorgezogen, seine Stars aus dem Ausland zu holen.

Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel: Der gebürtigen Australierin Joan

Sutherland, die seit 1951 in London lebte, gab er ihre erste große Opernrolle als Donna Anna in Giulinis Gesamtaufnahme von Mozarts Don Giovanni.

Janet Baker erhielt ihre erste, wenn auch bescheidene Solorolle in Klemperers

Einspielung von Mendelssohns Sommernachtstraum - Musik an der Seite von

Heather Harper. Legge machte die musikalische Welt mit dem britischen

Wunderkind – Pianisten Solomon Cutner bekannt, davon wird morgen u.a. die

Rede sein – und, sicher nicht sein geringstes Verdienst – er bestand darauf, die tragisch früh verstorbene Kathleen Ferrier noch in den Kriegsjahren, gemeinsam mit einem der großartigsten Liedbegleiter des 20. Jahrhunderts, mit Gerald Moore für Studioaufnahmen zu verpflichten.

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CD EMI 5697432 Disc 2, track 6 4‘33

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Das war die Musikstunde mit Rainer Damm. Sein Thema in dieser Woche.

Walter Legge – Hebamme der Musik – eine Sendereihe über einen der großen

Schallplattenproduzenten des 20. Jahrhunderts.

Zuletzt hörten Sie gesungen von Kathleen Ferrier, am Klavier begleitet von 13

Gerald Moore, What is life to me without thee – die englische Version von

Ach, ich habe sie verloren – aus dem 3. Akt von Christoph Willibald Glucks

Orpheus und Eurydike.

Fortsetzung folgt – morgen um 9.05 auf SWR 2.