Michael Fleischhacker porträtiert Martin Engelberg U Interview: Die Frauenbewegung in Israel UÊ Neue Serie: Schach als traditioneller jüdischer Sport UÊ Was sich ändert, wenn Israels Armee Ultraorthodoxe aufnimmt U

Ausgabe Nr. 49 (3/2012) Elul 5772/Tischri 5773 € 3,– www.nunu.at

Die preisgekrönte Regisseurin über Anja Salomonowitz Blockbuster, Boulevardisierung und Beschneidung HIMMER, BUCHHEIM & PARTNER

Unbeugsamkeit. Oder mit anderen Worten: Schön, dass DER STANDARD eine Tageszeitung ist, die in ihrer Haltung stets aufrecht bleibt.

3 Wochen gratis lesen: derStandard.at/Abo oder 0810/20 30 40 Die Zeitung für Leserinnen LEITARTIKEL

Solidarität

ist unteilbar FOTO ©: RIGAUD VON PETER MENASSE

Von Zeit zu Zeit sollten wir uns daran erinnern: Ende Mai 2010, Aber so heil ist die Welt bekanntlich nicht. Während in bereits wenige Stunden nach Aufbringen der sogenannten Österreich Juden sich für muslimische Kernfragen einsetzen Gaza-Hilfsflotte fasste der Wiener Gemeinderat einen bis auf und in Diskussionen um Minarette oder Kopftücher solidarisch eine Ausnahme einstimmigen Beschluss zur „Verurteilung des argumentieren, werden sie von den Führern der muslimischen brutalen Vorgehens“ der israelischen Marine. Die Initiative Welt angegriffen und mit dem Tod bedroht, ohne dass sich ging von der SPÖ aus, alle Parteien stimmten zu. Niemand in Österreich dazu Widerstand von den Glaubensbrüdern wusste zu diesem Zeitpunkt noch, was genau geschehen war, rührt. Wo ist der Protest aus Österreich, wenn Irans Präsident aber das in der Sache völlig unzuständige Regionalparlament Ahmadinedschad seine Zuhörer auffordert, von Herzen „Tod erhob sich zu einer selbst zugeschriebenen weltpolitischen Israel“ auszurufen? Wichtigkeit. In den Jahren davor und auch seitdem hat dieses Auf der einen Seite also Friede, Freude, Eierkuchen, auf der Gremium nie wieder Beschlüsse zu außenpolitischen Themen anderen Seite die Drohung, die Juden zu vernichten. Wo gefasst. Es ist immer nur Israel, und natürlich dürfen wir uns Muslime die Mehrheit bilden, richten sie ihren Hass gegen eine nichts Böses dabei denken. weltweit verschwindende Minderheit. Die laut Wikipedia rund In der Folge lud die Wiener Zeitung den Integrationsbe- 1,2 bis 1,5 Milliarden Anhänger der islamischen Sphäre sehen auftragten der Islamischen Glaubensgemeinschaft Omar als ihre wichtigsten Feinde 13 Millionen Juden, die verteilt auf Al-Rawi und mich zu einem Streitgespräch ein. Al-Rawi ist der ganzen Welt leben. Gemeinderat der SPÖ und war in dieser Funktion federführend am Beschluss des Wiener Regionalparlaments beteiligt. Die angesprochene Absurdität dabei ist, dass auch die Rechtsextremisten in den europäischen Ländern, wie Heinz Wir wurden uns in der Kernfrage nicht einig, auch weil Al- Christian Stache und seine Konsorten, die Meinung schüren, Rawi bei einer am Tag nach diesem Beschluss abgehaltenen die Juden seien an allem Unglück schuld, gleichzeitig aber Demonstration auf dem Podium zu Menschen gesprochen Slogans plakatieren, wie „Daham statt Islam“ und „Pummerin hatte, die unverhüllt in ihren Losungen gegen Juden hetzten. statt Muezzin.“ Ich sagte damals zu ihm und fühle mich heute, nach der So wie die internationale Gemeinschaft nicht versteht, dass Beschneidungsdiskussion aus dem diesjährigen Sommer die Juden nur das erste Opfer eines missionierenden, zwischen darin in höchstem Maße bestätigt: „Junge türkische Leute, „Reinen“ und „Unreinen“ unterscheidenden Systems, wie das die in Österreich sicher kein leichtes Leben haben, weil sie der iranischen Führer sein würden und sich die Aggression oft nicht akzeptiert und frustriert sind – diese Jugendlichen in weiterer Folge auf jede andere Religionsgemeinschaft werden durch Demonstrationen dieser Art verführt zu ausweiten wird, so begreifen scheinbar viele heimische glauben, ihr Leben wäre besser, wenn sie in Österreich Juden Muslime nicht, dass sie in jeder Frage und konsequent gegen angreifen. Es ist absurd, wenn türkische Jugendliche meinen, den Rechtsextremismus auftreten und dabei beständige die Juden wären ihre Feinde … Statt zu streiten, müssten Partner der Juden sein müssten. wir gemeinsam demonstrieren gegen all jene, die uns Juden und Ihre Muslime nicht als vollwertige Menschen sehen. Uns Heinz Christian Strache hat jetzt eine Karikatur ins Internet verbindet mehr, als uns trennt …“ gestellt, die eindeutige Codes des Antisemitismus trägt. Ich warte mit Interesse auf eine Initiative von Omar Al-Rawi, Die Diskussion um die Vorhaut im Juli 2012 hat die ganze eine Resolution des Wiener Gemeinderats gegen diese Absurdität in den Beziehungen zwischen Muslimen und Juden ebenso stupide wie hetzerische Aktion zu initiieren. Es gäbe erneut deutlich gemacht. In Österreich und auch in anderen den Parteien außer der FPÖ die Möglichkeit, sich zu einem europäischen Ländern verschärft sich die Gangart gegen beide Thema klar zu positionieren, das uns Juden betrifft und im Gruppen. Auch in der Beschneidungsdebatte hat der kalte Kompetenzbereich des Wiener Gemeinderats liegt. Und es Hauch der Minderheitenfeindlichkeit sie beide betroffen. Das wäre eine Chance zu zeigen, dass es in Österreich auch andere hat für einen kurzen Moment zusammengeschweißt. Vertreter Einstellungen als die der Hetzer gibt. aller Religionsgemeinschaften, auch der katholischen und evangelischen, luden zu einer gemeinsamen Pressekonferenz. Gleichzeitig bin ich sicher, es wird nicht dazu kommen. Man war sich einig. Schließlich handelt es sich ja diesmal nicht um Israel. Omar Al-Rawy dankte mir nach einer Diskussion in der ZIB 2 gegen einen Gegner der Beschneidung bei Minderjährigen sogar „im Namen der Muslime“. So weit, so gut.

3·2012 nu 3 MEMOS

der das „Volk“ repräsentieren soll. den gesamten Leidensweg lernen Die Karikatur ist eine Bearbeitung und verstehen musst, dann wirst du einer Zeichnung aus den 1960er- geprüft, dann bist du offiziell Jude.“ Jahren, die aber noch ohne Hakennase Seine Freundin Leanne, die in Los und ohne Davidsterne auskam. In Angeles Marketingdirektorin eines dem der Karikatur beigefügten Text 5-Milliarden-Dollar-Unternehmens ist, stellte Strache einen Konnex zur will Rogan 2013 heiraten. heimischen und EU-Politik und vor allem den Euro-Rettungspaketen her: „So sieht die Umverteilung von Rot- WIR EMPFEHLEN UNS GEFÄLLT Schwarz mit ihren grünen Helferleins Das neue Buch von Der kleine Verlag mit dem stilge- in Wahrheit aus! Sie verteilen unser NU-Autorin Helene benden Namen „Nischenverlag“ hart erarbeitetes und erwirtschaftetes Maimann über die von Zsóka Lendvai, der sich der österr. Steuergeld in Richtung der EU- jüdische Küche. Wiederentdeckung ungarischer Bankspekulanten mittels ESM-Diktat Sie ist ja seit je ei- Literatur widmet. Lendvai, Frau und Österreich-Verrat!“ Antisemitisch ne Fusionsküche des Publizisten Paul Lendvai, hat sei das natürlich ganz und gar nicht, zwischen den es sich zur Aufgabe gemacht, in rechtfertigte sich Strache nach einer verschiedenen Vergessenheit geratene oder wieder- Welle der Empörung. Kontinenten zuentdeckende Werke ungarischer und Kulturen, Autoren auf Deutsch zu publizieren. Im in denen Juden Verlagsprogramm findet sich aktuell UNS ÜBERRASCHT unterwegs wa- etwa das Tagebuch der jungen Ungarin Markus Rogan, österreichischer ren oder zu Hause Éva, die, ähnlich wie Anne Frank, Meisterschwimmer. Er möchte für sei- sind. Eine Landkarte der Diaspora, im Frühjahr 1944 ihr Leben vor der ne künftige Frau, die US-Amerikanerin ein Kompass durch Geschichte, Verschleppung nach Auschwitz doku- Leanne Cobb, dem Judentum bei- Religion, Kultur und Familienleben. mentierte. Herausgegeben wurde das treten und absolviert bereits einen Ein Strudel, gefüllt mit Gerüchen, Buch mit dem Titel „Das rote Fahrrad“ Kurs. „Ich bin ja nicht religiös. Sie ist Anekdoten, Nostalgie und Neugier posthum von ihrer Mutter Ágnes Zsolt, Jüdin. Ich habe meine Eltern gefragt, auf Neues. Maimann, bekannte die sich im Jahr 1951 das Leben nahm. ob das für sie okay wäre und ich kann Filmemacherin und begeisterte Diese erste deutsche Fassung der unga- mir jetzt vorstellen, dem Judentum Köchin, erzählt aus ihrem eigenen rischen Originalausgabe enthält auch beizutreten. Meiner Freundin wäre Leben und lässt Kennerinnen zu ein erhellendes Nachwort über den es wurscht, aber ihr Vater ist jüdisch- Wort kommen, die Einblick in ihre familiären und politischen Hintergrund orthodox, und es ist der Familie sehr Küche geben: Sie schreibt über tra- dieses dramatischen Kapitels wichtig, dass ihre Tochter einen ditionelle Familiengerichte, die über mitteleuropäischer Geschichte. jüdischen Haushalt führt. (...) Ich fin- Generationen weitergereicht wur- de es auch spannend, im Judentum den – und sie liefert gleich Rezepte geht es sehr viel um Bildung, um mit. Aufmerksame NU-Leser werden UNS EMPÖRT Wissen. Ziel ist es, den Himmel hier die eine oder andere Anekdote aus Jene Karikatur, die von FPÖ-Chef auf Erden zu schaffen. Es ist gar Maimanns Essenskolummnen im NU Heinz-Christian Strache auf der nicht so leicht, ich habe ein Semester wiedererkennen. Ihre unterhaltsamen Internetplattform Facebook veröf- belegt mit Kursen, die du machen Erkundungen der jüdischen Tisch-, fentlicht wurde. Die Zeichnung zeigt musst. Die heilige Zahl ist 18: mit 18 Alltags- und Feiertagskultur sind ein einen dicken Banker, der von einem vierstündigen Kursen, in denen du völlig subjektives, genau aus diesem Regierungsbeamten angefüttert Grund aber besonders vergnügliches wird. Ersterer trägt eine Hakennase Kompendium, das Lust macht, in und Davidsterne auf seinem Jackett, diese Welt einzutauchen, die Schürze

FOTO ©: APA was ihn wohl als Juden ausweisen umzubinden und einfach nachzuko- soll. Neben dem Banker und dem chen. „Gefillte Fisch & Lebensstrudel“ Regierungsmitglied ist auch ein ärm- erscheint im Picus Verlag und kostet licher und magerer Mann zu sehen, 16,90 Euro.

4 nu 3·2012 INHALT/EDITORIAL

Liebe Leserin, Lieber Leser,

das ist das letzte NU, das vor den Wahlen zum Vorstand der IKG am 11. November erscheint. Wir haben uns, wie angekündigt, um kritische Distanz zu diesem bedeutenden Er- eignis bemüht. Bekanntlich ist Martin Engelberg, einer der wichtigsten NU- Autoren, Kandidat um das Amt des IKG-Präsidenten. Das hat es uns nicht FOTO ©: EPA FOTO ©: EPA leichter gemacht. TALMUDSCHÜLER SCHACH Das, was einige erwartet und viel- leicht auch insgeheim erhofft haben, nämlich dass NU den Wahlkampf SEITE 18 SEITE 38 einfach links liegen lässt, kam für uns nie in Frage. Dazu sind wir viel zu sehr Journalisten, überzeugt davon, Leitartikel Peter Menasse 3 SERIE JÜDISCHE GENIES dass sich auch unter besonderen Mickey Katz, der in Vergessenheit Umständen ausgewogene, korrekte AKTUELLES geratene Pate der und spannende Texte recherchieren Michael Fleischhacker über Martin Klezmer-Renaissance 35 und schreiben lassen. Engelberg und seinen Wahlkampf um Im letzten NU porträtierte Petra Stu- das Amt des Präsidenten der IKG 6 SCHACH iber, Leiterin des Chronikressorts der Boris Gelfand ist dafür verantwortlich, Tageszeitung Der Standard, gemein- COVER sam mit mir den derzeitigen IKG- dass Israel Schach als jüdischen Sport SERIE UNTERWEGS MIT Präsidenten Oskar Deutsch. Für das wiederentdeckt 38 Porträt seinen Herausforderers Martin Rainer Nowak geht mit Engelberg konnten wir ebenfalls einen Filmemacherin Anja Salomonowitz KULTUR renommierten Kollegen von außen ins Kino 10 Porträt des jüdischen gewinnen: Michael Fleischhacker, Multitalents Franz Mittler 42 Chefredakteur der Presse, Buchautor HUMOR und seit Jahren eine der kritische- Georg Markus schrieb ein Buch über Zu Arthur Schnitzlers 150. Geburtstag sten und streitbarsten Stimmen im österreichischen Journalismus. Auch wurden in Reichenau zwei Österreichs bedeutendste Satiriker, Fleischhacker schrieb unter besonde- Kabarettisten und Humoristen 14 Theaterstücke gespielt 44 ren Umständen für uns. Nur wenige Wochen vor Redaktionsschluss wurde SCHWERPUNKT NAHOST Wie der Antisemitismus zum Islam bekannt, dass er Anfang Oktober die Israels neue Regierung will fand. Ein historischer Essay 46 Presse als Chefredakteur verlässt und auch Talmudschüler in die Rainer Nowak, ebenfalls NU-Autor, STANDARDS sein Nachfolger wird. Trotz dieser Armee schicken 18 Mammeloschn 48 Änderung lieferte er sein ausgespro- chen lesenswertes Stück wie vereinbart Die Publizistin und Rätsel 49 ab. Das hat große Klasse. Herzlichen Menschenrechtsaktivistin Dank dafür! Anat Saragusti im Interview 21 Alltagsgeschichten 50 Die Kandidatur von Sonia Feiger von der „Initiative Respekt“ wurde am Tag Unter der neuen palästinensischen Engelberg 51 unseres Redaktionsschlusses bekannt. Führung scheint der Friedensprozess Wir konnten daher leider kein Porträt mit Israel an ein Ende gelangt In eigener Sache 53 von ihr bringen, was wir ausdrücklich zu sein 24 bedauern. Unsere Autoren 54 SERIE JÜDISCHE MUSEEN Spannende Lesestunden Dajgezzen & Chochmezzen 55 mit NU wünscht Jüdisches Museum

in Amsterdam 31 Impressum 56 Barbara Tóth Stellvertretende Chefredakteurin [email protected] www.nunu.at

3·2012 nu 5 AKTUELL

6 nu 3·2012 Ein Journalist im alten Sinn

Über Martin Engelberg und seinen Wahlkampf um das Amt des Präsidenten der Israelitischen Kultusgemeinde.

VON MICHAEL FLEISCHHACKER (TEXT) UND PETER RIGAUD (FOTOS)

Offiziell bestreiten Martin Engelberg tigen Tag: „Es ging ihm immer nur renrührig: Engelberg kritisiert, dass und Oskar Deutsch als Anführer ih- darum, mich und die herrschenden Muzicants forsches, gelegentlich ver- rer Listen den Wahlkampf um die 24 Verhältnisse schlechtzumachen.“ bal überzogenes Auftreten nicht der Sitze des Kultusvorstandes der IKG. Engelberg blieb eine wesentlich Sache diene, sondern dem Macht- Tatsächlich handelt es sich aber um harmlosere Version der Ereignisse erhalt, also ein klassisches populis- eine Auseinandersetzung zwischen in Erinnerung: Es habe Unmut ge- tisches Muster aufweise. Die Angriffe Martin Engelberg und Ariel Mu- gen Listenführer Muzicant gegeben. von außen, die Muzicant so auf sich zicant. Und die dauert jetzt auch Auf Wunsch der Unzufriedenen ha- ziehe, dienten der Absicherung sei- schon wieder 23 Jahre. be man einen Termin zur Neuerstel- ner Position nach innen. Engelberg und Muzicant haben, na- lung der Liste einberufen, vor dem Muzicant sagt, dass es Engelberg turgemäß, möchte man sagen, nicht Muzicant tatsächlich einige Tage im nicht um die Sache, die Gemein- exakt übereinstimmende Erinne- Ausland gewesen sei. Bei der Neu- de gehe, sondern ausschließlich rungen an diese Geschichte. erstellung der Liste selbst sei dann um das eigene Ego. Er wolle end- Für Ariel Muzicant bildet sie die nie Engelberg an Nummer eins gereiht lich „nicht mehr nur Prinzgemahl, versiegende Quelle des Misstrau- worden. Da er aber der Meinung ge- sondern auch Präsident“ sein. Da- ens gegen den acht Jahre jüngeren wesen sei, dass er, damals 29-jährig, hinter verbirgt sich in diesem Fall Mann, der zu jener Zeit, als Student, als potenzieller IKG-Vizepräsident fast subtil eines der nicht wirklich in seiner Firma gearbeitet hatte. Mu- ohnehin zu jung sein würde, habe subtilen Wahlkampfnarrative der zicant und Engelberg waren bei den er zurückgezogen. Nach dem Wo- Anti-Engelberg-Fraktion: Das mit damaligen Wahlen zum Kultusvor- chenende habe man die Liste erneut der Wahl des „Chaj“-Listenführers stand in derselben Fraktion, der „Jun- modifiziert, wieder mit Muzicant an entstehende „First Couple“ der Ge- gen Generation“, gewesen. Muzicant erster Stelle und Engelberg an zwei- meinde aus Martin Engelberg und als Nummer eins, Engelberg als Num- ter. Das Versprechen, dass Engelberg seiner Frau Danielle Spera, der Di- mer zwei. Engelberg habe gegen ihn im Gegenzug Klubobmann würde, rektorin des Jüdischen Museums. Ob „geputscht“, als er eine Woche nicht habe Muzicant nie gehalten, sagt En- das nicht zu viel Macht und Einfluss da gewesen sei, erzählt Muzicant. gelberg: „Aber ich wusste damals ja in einer Familie sei, wird gefragt. Es Und im Wesentlichen sieht er En- schon, mit wem ich es zu tun hatte.“ ist eine jener Fragen aus dem Buch- gelbergs späteres Agieren in der Kul- Der wechselseitige Hauptvorwurf, stabenschatzkistlein der politischen tusgemeinde, bis hin zur Gründung der seitdem in modifizierten Spiel- Konkurrenzkommunikation, die als der Zeitschrift, in der dieser Text arten gegeneinander erhoben wird, Antwort konzipiert sind. erscheint, wohl als eine Art perma- ist im politischen Kontext weder au- Dass Martin Engelberg und seine nenten Putschversuch bis zum heu- ßergewöhnlich noch besonders eh- Leute die über dessen Präsident-

3·2012 nu 7 schaft hinausgehende Auseinander- Engelberg kritisiert, Warum auch nicht? Was ihren Zu- setzung mit Ariel Muzicant durchaus gang zur jüdischen Tradition und ih- auch bewusst am Leben erhalten, dass Muzicants forsches, rer zeitgenössischen Lebbarkeit be- liegt auf der Hand: Keine direkt an gelegentlich verbal trifft, sind sich Oskar Deutsch und ihn gerichtete Polemik könnte den Martin Engelberg vermutlich gar Gegenkandidaten Oskar Deutsch so überzogenes Auftreten nicht nicht so unähnlich. Beide kommen klein reden wie die unausgespro- der Sache diene, sondern aus traditionellen Familien, beide le- chene Tatsache, dass er auch als am- ben diese Tradition auf ihre je eigene tierender Präsident nur jener Stell- dem Machterhalt, also ein Weise noch heute. vertreter Ariel Muzicants ist, der er klassisches populistisches Für Martin Engelberg jedenfalls ist in den vergangenen dreizehn Jah- klar, dass der vornehmste, der ei- ren schon war. Martin Engelberg, Muster aufweise. gentliche Ort des religiösen Lebens der schon als Student in den Jour- die Familie ist. Das war schon in sei- nalismus eingestiegen ist und noch ner Familie so, allerdings hatte der heute als NU-Mitherausgeber und die erstens sowohl Oskar Deutsch als Vater, einer der wenigen Überleben- „Presse“-Kolumnist journalistisch auch Martin Engelberg für geeignete den einer großen Krakauer Fami- tätig ist, versteht sich auf das ge- Kandidaten halten und zweitens ei- lie, der mit den Sowjets nach Wien schriebene und gesprochene Wort gentlich zu der Sache gar nichts sa- gekommen war, das Forttragen der und seinen zweckmäßigen Einsatz. gen wollen. Paul Chaim Eisenberg Tradition immer als Zugeständnis an Er ist ein Engelberg, aber kein Engel. zum Beispiel, der Oberrabbiner. Er seine aus Lemberg geflüchtete Frau Auch Ariel Muzicant weiß, dass sein glaubt, „dass Ossi Deutsch eher für verstanden. Er selbst hat nach der langjähriger Gegenspieler ein „hoch- Kontinuität steht und Martin Engel- Schoah keinen Zugang zum Glau- intelligenter“ Mensch ist, und ein berg eher für einen neuen Weg“. Vor ben mehr gefunden, was unter an- „sehr charmant wirkender“ noch da- allem aber will er, wie der Bundes- derem dazu führte, dass er gelegent- zu. „Charmant wirkend“ statt „char- präsident, keine Wahlempfehlung lich, wenn Mutter Engelberg nicht mant“: auch nicht schlecht. abgeben, sondern „die Empfehlung, im Haus war, als eine Art grimmig- Dass hinter der Wahlauseinanderset- zur Wahl zu gehen“. Und diese Wahl kulinarischen Beitrag zur Theodizee- zung Engelberg-–Deutsch eigentlich möge „so friedlich ablaufen, dass die Frage, die ihn umtrieb, auch einmal die Frage Muzicant oder Engelberg beiden hinterher zur Zusammenar- einen Schweinsbraten servieren ließ. steht, sehen aber auch Menschen so, beit finden“. Ein solcher Spaß wäre allerdings

8 nu 3·2012 Muzicant sagt, dass es Engelberg nicht um die Sache, die Gemeinde gehe, sondern ausschließlich um das eigene Ego. Er wolle endlich „nicht mehr nur Prinzgemahl, sondern auch Präsident“ sein.

Martin Engelbergs Sache nicht. Als teipolitisch getönten Einlassungen Ob Martin Engelberg für alle prak- Student hat auch in seinem Leben zur Zeit der ÖVP-FPÖ-Regierung ist tischen und strukturellen Probleme, die religiöse Tradition keine wirk- da mehr als nur Taktik. „Natürlich die es in der IKG wie in jeder an- liche Rolle gespielt, da war, wie kann der Präsident der Gemeinde deren Institution gibt, eine Lösung für viele andere auch, Jüdisch-Sein Parteimitglied sein“, sagt er. „Ich finden kann, ob er also ein guter fast ausschließlich eine politische würde es nie tun, aber aus sehr per- Präsident für die Israelitische Kultus- Kategorie. Erst Heirat und Kinder sönlichen Gründen.“ gemeinde wäre, kann und soll ein führten zur Wiederanknüpfung an Das freudvolle Ringen darum, die katholischer Klosterzögling wirklich die eigene religiöse Tradition. Der Skepsis gegenüber jeder Ideologie nicht beurteilen. Aber auf die Fra- Vater dreier Kinder kann dabei aus sich selbst und anderen gegenüber ge, warum er es werden will, kann einem umfangreichen Fundus an nicht als opportunistische Stand- der religiös musikalische Nichtjude Wissen schöpfen, dessen nicht nur punktlosigkeit erscheinen zu lassen, eine Antwort versuchen: Da ist je- im Schwange der Freiwilligkeit von- ist vielleicht das politisch-ideenge- mand ernsthaft daran interessiert, statten gegangene Aneignung ihm schichtlich-religiöse Kraftwerk, das für sich und eine ganze Gemeinde nicht ausschließlich in guter Erin- Martin Engelberg antreibt. Er will neue Antworten auf die Frage zu fin- nerung ist: „Wenn die anderen nach sich im Leben religiöser Traditionen den, was, außer der Bewahrung der der Schule zwei Stunden Fußball ge- aufgehoben sehen, ohne dogmatisch Erinnerung, es heißen kann und soll, spielt haben, musste ich nach einer zu werden, er will liberale politische heute in Wien Jude zu sein. Viertelstunde gehen, weil zu Hause Positionen vertreten, ohne als neoli- der Rabbiner auf mich gewartet hat.“ beraler Hardliner aufzutreten, er will Noch heute wundert sich der 1960 die soziale Komponente in einem geborene Geschäftsmann, der neben liberalen Wirtschaftssystem betont Die Israelitische Kultusgemein- seiner psychodynamisch orientierten sehen und gleichzeitig gegen die so- de Wien wählt am 11. November Beratertätigkeit in der „ Con- zialpartnerschaftlich-sozialstaatliche einen neuen Vorstand. Dieser setzt sulting Group“ nach wie vor auch Mittelmaß-Mentalität des Landes po- sich aus 24 Mitgliedern zusammen im Immobiliengeschäft tätig ist, wie lemisieren. und stellt auch den künftigen Präsi- selbstverständlich es in den späten Vielleicht ist das im altmodischen denten. Derzeit hat Oskar Deutsch 60er- und frühen 70er-Jahren war, und nicht-beruflichen Sinn Journa- das Amt inne. Der Vorstand der als der Unterricht noch an sechs listische an Martin Engelberg das, IKG setzt sich aus 24 Mandataren Tagen die Woche stattfand, dass da was ihn am stärksten prägt: Leben ist zusammen. Zehn davon konnte ein Schüler bis in die HAK-Oberstufe für ihn Welt verstehen und Welt er- sich „Atid“ bei der vergangenen Samstags nie zur Schule kam. Das klären. Eine solche Erscheinung be- Wahl im November 2007 sichern. Weitere derzeit vertretene Frak- tiefreichende Bewusstsein des Ein- eindruckt durch breite Bildung und tionen sind die Sefardim-Bucha- gebundenseins führt er heute darauf schnelle Informationsverarbeitung, rischen Juden, der Bund Sozial- zurück, dass für seine Eltern Wien sie erweckt aber gelegentlich auch demokratischer Juden-Avoda, die nicht der Ort der Verfolgung gewe- den Eindruck des Luftigen, nicht an junge liberale Liste Gesher, Khal sen ist, sondern der Ort der Rettung. jeder Stelle Konsequenten. Ein- und Israel, die Georgischen Juden, der Naiv waren sie trotzdem nicht: Sein Mitmischen gehört natürlich auch Block der religiösen Juden sowie Vater wäre nie auf die Idee gekom- dazu, auf jeder Ebene. Warum würde die Misrachi-Zionistische Einheit. men, sich einen jüdischen Anwalt zu sich sonst jemand um ein Amt bewer- Frühester Termin zur Abgabe nehmen. Angesichts der großen Zahl ben, was sein Freund und NU-Mit- von Wahlvorschlägen ist der 3., an Altnazis im Richterstand schien herausgeber Erwin Javor als den spätester der 11. Oktober 2012. es eher angezeigt Anwälte zu haben, „furchtbarsten Job“ sieht, „der in Den IKG-Mitgliedern stehen auch diesmal alternative Wahltage zur die auch Altnazis waren, jedenfalls Wien zu vergeben ist“. Und, wenn Verfügung, etwa wenn diese nicht aber keine Juden. man Ariel Muzicant glauben darf, die österreichische Staatsbürger- Der Pragmatismus des Vaters lebt im auch einen der teuersten? Von der schaft besitzen. Diese sind der 1. Sohn in Form der Ablehnung von Sekretärin bis zum Sicherheitsdienst, und 6. November, wobei lediglich Ideologien weiter. Martin Engelbergs sagt der ehemalige Präsident, müsse in der Wiener Seitenstettengasse Polemik gegen Ariel Muzicant wegen der Amtsinhaber alles aus eigener Ta- gewählt werden kann. Bedingung dessen SPÖ-Mitgliedschaft und sei- sche berappen, weil die gerade erst fi- ist immer die Vollendung des 18. ner über die konkreten Anliegen der nanziell entschuldete Gemeinde sonst Lebensjahres. Gemeinde hinaus immer leicht par- wieder Schulden machen müsste.

3·2012 nu 9 UNTERWEGS MIT

10 nu 3·2012 Alte Donau, junge Filmerin, altes Kino

Filmemacherin Anja Salomonowitz liebt Arthouse-Kinos. Trotzdem ging NU mit ihr ins Cineplexx Donauplex und schaute sich einen Blockbuster an. Es wurde ein in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiches Programm.

VON RAINER NOWAK (TEXT) UND PETER RIGAUD (FOTOS)

Gibt es einen schlimmeren, einen Interview-Ausflug bat. Sowohl das Ob sie eigentlich eine Linke sei, frage traurigeren, einen sonderbareren Ort Filmmuseum wie eine gerade ange- ich etwas unorthodox mitten im Ge- als ein Multiplex-Einkaufscenter? Ja, sagte temporäre Kinoleinwand auf spräch über ihre Leidenschaft, Do- ein Multiplex-Einkaufscenter, das dem Karmelitermarkt hätten es sein kumentarfilme mit politisch eindeu- wegen Umbaus de facto eine Bau- können. Aber nein, ich beharrte auf tiger Botschaft zu fabrizieren. Ihre stelle ist, aber dennoch geöffnet hat. ein derb-städtisches Megaplexx-Kino Antwort ist ein schallendes Geläch- Wir befinden uns im Cineplexx Do- und einen Blockbuster, um mir von ter. Ihre eigentliche Antwort „Ja, na- nauplex in der Donaustadt. Draußen der jungen, erfolgreichen Regisseurin türlich! Was glaubst du denn!“ geht herrschen trotz Abendstunde Tempe- ihr Verständnis von Kino, Film und darin fast unter. raturen um die 30 Grad. Vermutlich Judentum erklären zu lassen. ist es also die tapfer gegen die Hitze Zugegeben, das ist auch eine über- ankämpfende Klimaanlage, die ein Also liefen wir spontan ins Donau- flüssige Frage, lässt man ihre bis- paar Zeitgenossen hierher gelockt plex und litten tapfer gemeinsam herigen Filme Revue passieren, die hat. unter der Hitze und den Umständen. der jungen Frau internationale Auf- merksamkeit und zahlreiche Preise Die tristen Systemgastronomielokale Salomonowitz war schon einmal einbrachten. In dem Kürzest-Film können es nicht sein, obwohl der hier gewesen, nicht um ins Kino „Codename Figaro“, der gerade ein- Western-Salon, der zwar nur wenige zu gehen, sondern aus beruflichen mal eine Minute dauert, ließ sie ei- Fenster, dafür aber einen Gastgarten Gründen. 2003 arbeitete sie erstmals ne Österreicherin im Telefonat mit bietet, immerhin ein paar Besucher für einen der Großen in der öster- ihrem nicht-österreichischen Ver- hat. Im zur Einkaufspassage wie zur reichischen Branche: Sie, gerade als lobten fragen, ob nicht auch „Die Baustelle offenen Running-Sushi-Re- ausgebildete Cutterin von der Film- Hochzeit des Figaro“ eine Scheinehe staurant sitzt nur ein einsames Paar. akademie abgegangen, recherchierte sei. In „Kurz davor ist es passiert“ Im China-Wirtshaus daneben eben- im Auftrag Ulrich Seidls, des neben nehmen Diplomaten und Zöllner die so. Auf den kleinen Förderbänden Michael Haneke wohl wichtigsten Rolle von Opfern von Frauenhandel vertrocknen die Fischhappen trotz Filmemachers des Landes, für dessen ein und erzählen aus der Ich-Positi- oder wegen der Bewegung schnell. Film „Jesus, du weißt“. Darin lassen on deren grauenvollen Schicksale. sich mehr oder weniger besessene Anja Salomonwitz hat mir natürlich Katholiken über ihre Abhängigkeit Im Donauplex ist es inzwischen ein Arthouse-Kino vorgeschlagen, von Gott aus. Eine von ihnen pre- Zeit, in die Vorstellung zu gehen. als ich sie um einen cineastischen digte im Ausgang des Donauplex. Ich habe den neuen Batman-Film

3·2012 nu 11 FOTO ©: RAINER NOVAK

„The Dark Knight rises“ ausgesucht, nisten, das der Zuseher sehen und er wird in einem winzigen Saal miterleben will.“ ausgestrahlt. Der Streifen, der we- gen des jüngsten Massakers in den Wir warten das Ende nicht ab und USA zum Sinnbild für Gewalt wur- verlassen den Film und seinen tri- de, beginnt in einem Flugzeug mit sten Ausstrahlungsort. Am Fußweg einer Orgie aus Morden, Schüssen zur Alten Donau führt die lokale Ju- und krimineller Energie. Warum gend ihre Autos aus. Dank des sich auch und gerade in mehr oder we- langsam dahinziehenden Sonnen- niger zivilisierten Ländern solche untergangs wird es kurz kulturpes- Filme so beliebt seien, will ich von Ob sie eigentlich eine simistisch – aber ganz und gar ohne ihr wissen. Bei einem Pornofilm sei Linke sei, frage ich. Ihre Depression. Qualitätszeitungen und die Motivation der gebannten Zuse- echte Programmkinos erleben gerade her noch einigermaßen nachzuvoll- Antwort ist ein schallendes ein ähnliches Schicksal. Das begeis- ziehen, aber warum fasziniert uns Gelächter. Ihre eigentliche terte Publikum wird von Jahr zu Jahr Gewalt? „Auch die ist ein Trieb und geringer. Die Konkurrenz durch neue im Menschen“, sagt Salomonowitz Antwort „Ja, natürlich! Was Medien, die man bequem am Note- so beiläufig, als habe sie die Frage glaubst du denn!“ geht book oder iPhone zu Hause konsu- schon häufig erörtert. Und: „Es geht mieren kann, wird immer stärker. auch um das Überleben des Protago- darin fast unter. Was soll man dagegen tun? Salomo-

12 nu 3·2012 nowitz denkt – ich muss das jetzt „Erziehst du deine Schon in ihrem viel beachteten Film kalauerhaft schreiben – zuerst natür- „Das wirst du nie verstehen“ waren lich an bessere Inszenierungen des Söhne jüdisch?“, frage alle ihre Gesprächspartner weiß ge- Themas. Soll etwa heißen: eine Film- ich. „Ja, schon, aber kleidet. Die handelnden Personen Matinee zu veranstalten, statt ein- stammten aus ihrer eigenen Familie, fach nur den Kinofilm mit Cola & nicht so konsequent die sie zur Vergangenheitsbewälti- Co anzubieten. (Anja Salmomowitz und ernsthaft wie gung traf. Die Großmutter, die zu- wollte übrigens kein Popcorn, was schaute, die jüdische Großtante, die mich einigermaßen verstört hat.) meine Mutter mich das KZ überlebt hatte, das Kinder- und meinen Bruder“, mädchen, das einst im Widerstand Und die Printmedien? Wie kann gewesen war. Salomonowitz nächster man die besser inszenieren? Ok, das antwortet sie. Film soll sich um die Aufteilung der ist mein Thema – und damit auch Erziehungszeiten zwischen Müttern mein Problem. Aber sonderbarer- und Vätern in Schauspieler-Familien weise sind wir auch beide Teile da- ihr Leben. Jedes von ihnen kämpft drehen. von. Anja lädt sich ständig Filme aus mit Asylbestimmungen, manche dem Netz, und wäre es nicht unter mit Abschiebung, viele halten den Irgendwann stehen wir dann von Umständen strafbar, würde ich jetzt Druck der Fremdenbürokratie nicht der Segelschule Hofbauer, in der die schreiben, wie viel sie dafür zahlt. aus und trennen sich wieder. Nur Küche nicht schlecht sei, erzählt Auch ich surfe am liebsten von Gra- manche Familien erleben ihre Va- sie. „Ich habe dort einmal gute Ei- tis-Newsportal zu Gratis-Newsportal. riante eines Happy Ends. Anja Sa- aufstrichbrote gegessen.“ Kurz bevor Aber an den Untergang des klas- lomonowitz hat die Paare teils vor das Taxi kommt, wird es noch ein- sischen Kinos und der guten alten Jahren kennengelernt und immer mal vermeintlich ernst: „Erziehst du Zeitung wollen wir einfach dennoch wieder getroffen. Jedes von ihnen deine Söhne jüdisch?“, frage ich. „Ja, nicht glauben. spielt im Film nur eine Szene und schon, aber nicht so konsequent und lässt so patchworkartig eine typische ernsthaft wie meine Mutter mich Reden wir lieber über ihren neuen Beziehungsgeschichte entstehen. Zu- und meinen Bruder“, antwortet sie. Film. Bald wird eines ihrer bisher erst die Anfangsromantik, dann die Und dann schiebt sie plötzlich nach: aufwendigsten Projekte in die Ki- Hochzeit, die Schwangerschaft, Ab- „Und ja, sie sind beschnitten.“ Und nos kommen. Salomonowitz beglei- schiebung, Bürokratie, Trennung, dann muss sie schon wieder kurz la- tete binationale Paare, von denen Liebe. Alle Paare tragen übrigens chen. ein Partner Österreicher ist, durch gelb.

3·2012 nu 13 HUMOR

„Der Überzieher“ war das beliebteste Chanson des jüdischen Kabarettisten Armin Berg (1883–1956). Wie jüdisch ist der österreichische Humor?

Georg Markus schrieb ein neues Buch über Österreichs bedeutendste Satiriker, Kabarettisten und Humoristen. Er dokumentiert darin sowohl ihre Lebensgeschichten als auch zahlreiche Beispiele ihres Humors. NU hat das Buch im Voraus gelesen.

„Ein Conférencier ist ein Mann, der man trotzdem lacht, Geschichten fünf bis zehn Prozent“ bei, an deren dem Publikum möglichst heiter zu und Geschichte des österreichischen vorderster Stelle Namen wie Nestroy, erklären versucht, dass es heutzuta- Humors.“ Girardi, Hans Moser und Qualtin- ge nichts zu lachen gibt.“ Die Hauptdarsteller des Buches sind ger stehen. Markus widmet jedem Karl Farkas alle legendär: , Alfred der großen Humoristen ein Kapitel Polgar, Fritz Grünbaum, Karl Far- – und dem jüdischen Witz natürlich „Nein“, sagt Georg Markus, „es ist kas, Anton Kuh, , ein weiteres. nicht so, dass es in der österreichi- Karl Kraus, Roda Roda, Hermann „Kennst du den? Treffen sich zwei schen Geschichte nur jüdische Hu- Leopoldi, Armin Berg, Georg Kreis- Juden …“ moristen gab. Ihr Anteil betrug höch- ler, Gerhard Bronner … – sie zählen „Ich bitt dich, hör auf mit deine stens 90 bis 95 Prozent.“ Den Beweis für Markus zu den wichtigsten Sati- jiddischen Witz. Weißt du keine für seine These erbringt der Schrift- rikern und Kabarettisten der öster- anderen?“ steller, Kurier- und NU-Autor in sei- reichischen Geschichte. Ähnliche „Oh ja, pass auf. Treffen sich zwei nem eben erschienenen Buch „Wenn Bedeutung misst er den „anderen Juden …“

14 nu 3·2012 FOTO ©: ÖSTERREICHISCHES THEATERMUSEUM „Du sollst aufhören, es gibt doch Drauf fragt ihn Itzig: „Warum bist auch nichtjiddische Witz.“ du Protestant geworden und nicht „Du hast recht, also pass auf: Tref- Katholik?“ Drauf sagt Schmule: fen sich zwei Chinesen. Sagt der „Weil bei die Katholiken sind mir Kohn zum Blau …“ schon zu viel Juden!“ Der jüdische Witz stammt aus dem Eines der ersten Buchkapitel han- osteuropäischen Schtetl, in dem auch delt in den 1920er-Jahren, deren der Begriff vom „Lachen unter Trä- Humorkönige Fritz Grünbaum und nen“ entstand, da die Geschichte der Karl Farkas waren. „Die Zeiten waren „Ich kann Leute mit Glatze nicht Juden Osteuropas eine Geschichte schlecht. Und das war die beste Vo- leiden“: der große Kabarettist Fritz der Verfolgung, der Armut und der raussetzung dafür, dass Kabarett und Grünbaum (1880–1941) endete im Entwurzelung ist. Groteskerweise gab Satire mehr Zuspruch fanden als je Konzentrationslager. und gibt es zwischen jüdischem und zuvor. Die mächtige Monarchie war antisemitischem Witz viele Über- zur kleinen Republik geworden, de- man ihn ins Kabarett Hölle holte, schneidungen. Jüdische Komiker er- ren Bewohner hungern und frieren wo er die moderne Conférence er- zählten jiddische Witze, in denen sie mussten und in eine gigantische fand. Während sich seine Vorgänger sich „über die eigenen Leut“ lustig Inflation schlitterten.“ Der kürzeste meist durch anzügliche Witze und machten. Das war natürlich nicht Witz in dieser Zeit: billige Späße hervortaten, faszinierte antisemitisch gemeint, sondern ei- Treffen sich zwei Kaufleute: „Ser- er durch geistreiches Wortspiel, oft ne Form der Selbstironie, unter dem vus, was treibst du?“ mit aktuellen Bezügen. Selbst sein Motto: „Wenn schon jemand über „Preise!“ Äußeres beschrieb Grünbaum voll uns herzieht, dann machen wir das Fritz Grünbaums Stern ging wie Selbstironie: am besten selber.“ In einen solchen ein Komet auf. 1880 als Sohn eines Am liebsten ließe ich mich von mir Witz verpackte der Komiker Hein- Kunsthändlers in Brünn zur Welt ge- scheiden, rich Eisenbach, dass zur Jahrhundert- kommen, begann er als Stegreifspre- Ich kann nämlich Leute mit Glatze wende viele Juden zum Christentum cher, um sein Jusstudium in Wien nicht leiden, konvertierten: zu finanzieren. Schon seine ersten Innerlich trag ich den Lockenschatz Schmule hat sich taufen lassen. Auftritte waren so komisch, dass Und äußerlich scheint mir die Sonn auf die Glatz! Auch ihm ist natürlich ein Buchkapitel gewidmet: Karl Kraus (1874–1936) Im Herbst 1922 sprang dem 29-jäh- war der wohl scharfzüngigste aller Satiriker. rigen Schauspieler Karl Farkas im „Wiener Tagblatt“ das Inserat „Caba- ret Simplicissimus sucht Nachwuchs- kräfte“ ins Auge. Er wurde als „Blitz- dichter“ engagiert und forderte das FOTO ©: IMAGO Publikum auf, ihm aktuelle Themen oder prominente Namen zu nennen, auf die er in Sekundenschnelle einen Reim machte. Jemand rief ihm „Leo Slezak“ zu, worauf Farkas dichtete: „Glaubt mir, dass ich euch keinen Schmäh sag, der beste Sänger ist der Slezak.“ Als ihm eines Abends der Name des Geigers Jan Kubelík zuge- rufen wurde, „blitzdichtete“ Farkas gleich vierzeilig: Wenn ich in der Stube lieg, Denk ich an den Kubelik. Der hat sogar bei Richard Strauss, Die allerbeste Strichart ’raus. Als Sohn eines Schuhfabrikanten

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3 1893 in Wien geboren, versuchte da als jenes, dessen ⁄4-Vater eine 1 sich Farkas als ernsthafter Schauspie- ⁄8-Jüdin geheiratet hätte. ler, ehe er im „Simpl“ mit Grünbaum „Da hört sich der Spaß auf“, nennt die Doppelconférence etablierte. Markus das Kapitel, in dem es um FARKAS: Ich gehe vorgestern über Verfolgung, Vertreibung und Ver- die Straße – ein gellender Pfiff, ein nichtung der jüdischen Humoristen Mann in jagender Hast an mir vor- geht. Egon Friedell sprang am 16. bei, trägt einen Frauenhut. März 1938, als Gestapo-Beamte an GRÜNBAUM: Auf dem Kopf? seiner Wohnungstür klopften, aus FARKAS: In der Hand! Hinter ihm dem Fenster und war sofort tot. Er die Polizei. Der Mann hatte näm- hatte sich wohl getäuscht, als er Jah- lich in dieser Nacht viermal in ein „Dabei erkennt man, dass der re zuvor auf der Kabarettbühne ver- und demselben Modesalon einen gute Ruf kein Vergnügen ist“: kündete: „In der Welt geht’s drüber Einbruch verübt. Wiens großer Satiriker Alfred Polgar und drunter, aber Österreich geht GRÜNBAUM: Da muss er ja den (1873–1955) nicht unter.“ Von den Nazis ermor- ganzen Laden ausgeräumt haben. det wurden die großen Satiriker und FARKAS: Nein, einen einzigen Hut Kabarettisten Paul Morgan, Jura Soy- hat er gestohlen – für die Frau, die fer, Peter Hammerschlag, Fritz Löh- er liebt! gehört haben, als eine Wahrheit, ner-Beda und Fritz Grünbaum. GRÜNBAUM: Warum musste er die ihnen völlig neu ist. Nach dem Holocaust war alles an- wegen eines Hutes viermal einbre- Nach Hitlers Machtergreifung kehrte ders, musste alles anders sein – auch chen? Polgar nach Wien zurück, wo er zum und gerade was den Humor betrifft. FARKAS: Sie hat ihn immer wieder peniblen Beobachter der Vorgänge in Vorerst wurde es um den jüdischen zurückgeschickt – umtauschen! Nazideutschland wurde und sich be- Witz ruhig, da Täter wie Opfer ver- Im Kapitel „Die Meister aus dem Kaf- reits 1937 in der Skizze „Höhere Ma- gessen wollten. Erst 1960 kam es feehaus“ findet sich neben anderen thematik“ mit den „Nürnberger Ras- dann zu einem innerjüdischen Kon- Großen Alfred Polgar, der 1873 un- sengesetzen“ auseinandersetzte, die flikt zwischen den Autoren Salcia ter dem Namen Alfred Polak in der „nichtarische“ Menschen in „Voll- Landmann und . Wiener als Sohn eines juden“, „Dreivierteljuden“, „Halbju- Torberg hatte unter dem Titel „Salcia Klavierlehrers zur Welt kam. Polgar den“, „Vierteljuden“ und „Achtel- Landmann ermordet den jüdischen schrieb zur Jahrhundertwende für juden“ einteilten. Polgar stellte eine Witz“ deren Buch „Der jüdische Wiener Blätter, ohne zunächst den profunde Analyse der „Berechnungs- Witz“ in Grund und Boden vernich- Durchbruch zu schaffen. Was den schwierigkeiten“ her: tet. Der jüdische Kritiker war der 3 berühmten Berliner Publizisten Sieg- Wenn zum Beispiel ein ⁄4-Jude Meinung, die jüdische Autorin hät- 1 fried Jacobsohn erstaunte, denn als eine ⁄8-Jüdin heiratet, bekommt te in ihrem Bestseller „Nicht-Pointe dieser 1905 „zwecks Journalisten- das Kind aus solcher Ehe als ras- für Nicht-Pointe und Schluderei für 1 7 fang“ nach Wien kam und Polgar las, sisches Erbgut mit: ⁄2 plus ⁄8, also Schluderei transportiert, sodass vom 7 1 7 9 stellte er fest: „Wenn ein Stilist dieses ⁄8 jüdisches, und ⁄8 plus ⁄8, also ⁄8 Witz der Juden nichts weiter übrig Ranges ein Jahr in Berlin sitzt, ist er arisches Blut, was per saldo, net- bleibt, als nur noch die puren antise- 1 eine Berühmtheit.“ to Kassa, einen Reinertrag von ⁄4 mitischen Klischees“. Genau das traf ein. Polgar ging nach arisch für das Kind ergäbe, womit Der Rebbe sitzt und klärt. Da Berlin, wurde eine Berühmtheit, es im Dritten Reich nicht viel an- kommt eine Jüdin hereingestürzt schrieb für Zeitschriften und fürs Ka- fangen könnte: es wäre ja wieder und schreit: „Gewalt, Rebbe, mein 3 3 barett. ein ⁄4-Jude. Hätte der ⁄4 jüdische Mann will sich von mir scheiden 1 Im Leben hat man meistens zwi- Vater aber statt der ⁄8-Jüdin eine lassen!“ Der Rebbe sucht in einem 1 3 schen dem guten Ruf und dem Ver- komplette ⁄2- oder ⁄4-Jüdin gehei- Folianten, im zweiten Folianten, gnügen zu wählen. Dabei erkennt ratet, so ergäbe die Blutbilanz des im dritten Folianten – endlich hat 3 10 6 man, dass der gute Ruf kein Ver- Kindes ⁄4 oder ⁄8 jüdisch und ⁄8 er, was er gesucht hat: die Brille. Er gnügen ist. arisch, also einen Überschuss von setzt sie auf, schaut die Jüdin an 6 1 Die Menschen glauben viel eher ei- ⁄8, id est ⁄2 jüdisch, und das Kind und sagt: „Recht hat er.“ 1 ne Lüge, die sie schon hundertmal wäre ein ⁄2-Jude, stünde also besser Karl Farkas, Hugo Wiener, Armin

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Berg und Hermann Leopoldi, denen kommt, dass er ausrechnet, wie ein die Flucht vor den Nazis gelungen anderer mit 900 Schilling im Mo- war, kehrten nach Wien zurück und nat leben kann. setzten dort fort, wo sie 1938 auf- Die jungen Mädeln tragen heutzu- gehört hatten – als Unterhaltungs- tage so hauchdünne Kleider, dass kabarettisten, die über die Jahre des das sachkundige Auge konstatieren Terrors den Mantel des Schweigens kann, ob sie ebenmäßig gebaut oder legten. Doch neben der alten Garde eben mäßig gebaut sind. etablierte sich um Gerhard Bronner, Die tagtäglichen Verkehrsunfälle Georg Kreisler und Helmut Qualtin- haben zur Folge, dass man, wenn ger ein junges, rebellisches Kabarett, heute jemand überfahren wird, fast das Vergangenes und Aktuelles nicht Neben Bronner und Qualtinger schon sagen muss: Er ist eines na- kritiklos hinnahm. einer der Stars des kritischen Wiener türlichen Todes gestorben. Die Renaissance des Humors aus dem Nachkriegs-Kabaretts: Georg Kreisler Ein österreichischer Patriot ist ein Schtetl leitete schließlich Fritz Muli- (1922–2011) Mann, der böse wird, wenn ein ar ein, der ab den späten Sechziger- Fremder Österreich kritisiert, wie er jahren unter dem Motto „Damit ich selbst es immer tut. nicht vergesse, Ihnen zu erzählen“ Ob ihr Anteil jetzt 90 oder 95 Pro- die Kultur des jüdischen Witzes in zess gewinnen. Ich wer dem Richter zent beträgt – eines geht aus dem einer dem Jiddischen angenäherten zwei scheene Gansln schicken!“ ebenso informativen wie unterhalt- Kunstsprache wieder aufleben ließ: Sagt der Anwalt: „Sind Se verrickt! samen Buch von Georg Markus klar Kohn und Lewy haben miteinander Das darf der Richter doch nicht an- hervor: Ohne die großen jüdischen a Prozess. Sagt da Kohn zu seinem nehmen! Da verlieren wir doch den Satiriker, Kabarettisten und Komödi- Advokaten: „Herr Doktor, iach hab Prozess umso eher!“ anten wären „Wiener Schmäh“ und a großartige Idee, wie wir den Pro- Sagt Kohn: „Nu, wer ich se nicht österreichischer Humor undenkbar. schickn.“ Die Verhandlung kommt, Kohn gewinnt den Prozess gegen Lewy. „Sehen Sie“, sagt der Anwalt, „wer weiß, wie die Sache ausgefallen wä- re, wenn Se dem Richter die Gansln geschickt hätten.“ Lacht Kohn: „Ich hab se ihm ge- schickt! Aber ich hab dem Lewy sei Visitkarten dazugelegt!“ Muliar war einer jener Wiener Komö- dianten, die bei Karl Farkas gelernt hatten. Farkas war bis zu seinem Tod im Jahre 1971 der populärste Kaba- rettist des Landes und konferierte im „Simpl“ und im Fernsehen, was sein Publikum von ihm hören wollte. Ein Statistiker ist ein Mann, der Georg Markus 4000 Schilling monatlich dafür be- WENN MAN TROTZDEM LACHT Geschichten und Geschichte des österreichischen Humors Setzte dort fort, wo er 1938 Amalthea Verlag, 2012 aufgehört hatte und war € 24,95, wieder Österreichs populärster 350 Seiten, zahlreiche Kabarettist: Karl Farkas Abbildungen (1893–1971)

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Israel ringt um Gleichheit aller Bürger

Israels neue Regierung will auch Talmudschüler in die Armee schicken. Ein Anliegen, das die ohnehin geschwächte Solidarität zwischen säkularen und religiösen Israeli weiter auf die Probe stellt.

VON JOHANNES GERLOFF, JERUSALEM

Jeder Staatsbürger und Dauerein- befreit. Weitere Ausnahmen wer- rung. Die „Charedim“ (Gottesfürch- wohner des Staates Israel wird im Al- den aufgrund religiöser, physischer tigen), wie sie sich selbst nennen, ter von 18 Jahren zum Militärdienst oder psychologischer Gegeben- betrachten den jüdischen Staat als eingezogen, junge Männer für drei heiten gemacht. So stellt die Armee „Menschenwerk“ und „Gottesläste- Jahre, Mädchen für zwei Jahre. Bis Wehrpflichtige frei, die durch eine rung“, die die Königsherrschaft des zum 45. Lebensjahr sollten Männer „niedrige Motivation“, „kriminelle Messias vorwegnimmt. Ben Gurion darüber hinaus noch jedes Jahr ei- Vergangenheit“ oder Drogenmiss- achtete die Charedim trotzdem als nen Monat lang zum Reservedienst brauch aufgefallen sind. In letzter geistige Elite, die maßgeblich zur Er- zur Verfügung stehen, „entspre- Zeit konnte sich eine zunehmende haltung der jüdischen Identität in chend den Bedürfnissen der Armee“. Zahl von Israelis aufgrund von Ge- der Diaspora beigetragen und wäh- So sieht es das Gesetz des jüdischen wissens- oder politischen Gründen rend der Schoah überdurchschnitt- Staates vor. Tatsache ist jedoch, dass dem Anspruch ihrer Armee entzie- lich hohe Verluste erlitten hatte. heute kaum fünfzig Prozent der ei- hen. Im Dezember 1998 verpflichtete der gentlich Wehrpflichtigen ihren Ar- Schon 1948 hatte Israels erster Pre- Oberste Gerichtshof die Knesset zu meedienst leisten. mier David Ben Gurion ultraortho- einer gesetzlichen Regelung der Mi- Arabische Staatsbürger – zwanzig doxe Talmudschüler von der Wehr- litärpflicht für Talmudschüler. Acht Prozent der Bevölkerung – sind pflicht befreit. Das waren damals Monate danach beauftragte Ehud grundsätzlich von der Wehrpflicht 400 Personen, 0,07% der Bevölke- Barak als Regierungschef ein Komi- tee unter Vorsitz des Richters Zvi Tal mit der Ausarbeitung einer rechtli- chen Lösung. Im April 2000 stellte das „Tal-Komitee“ das sogenannte „Tal-Gesetz“ vor, das bis Juli 2002 alle parlamentarischen Hürden nahm und in Kraft trat. Dieses Ge-

FOTO ©: EPA/JIM HOLLANDER FOTO ©: EPA/JIM setz ermöglichte es Studenten, die „die Thora zu ihrer Kunst“ erklärt haben, die Einberufung zur Armee für die Zeit ihres Studiums aufzu- schieben – was de facto zur Folge hatte, dass die überwiegende Mehr- zahl der Charedim weder Wehr- noch Zivildienst leistet. In den vergangenen Jahren ent- wickelte sich so eine ursprünglich als Ausnahme gedachte Regelung zu einer der größten Kontroversen innerhalb der israelischen Gesell- schaft. Der Graben zwischen Säku-

18 nu 3·2012 Auch die Charedim sind gespalten: Neben den Konservativen, die am liebsten alles beim Alten belassen würden, befürwortet eine wachsende Gruppe von Charedim eine aktive Beteiligung am gesellschaftlichen Leben des Staates Israel. laren und Religiösen ist dabei nicht Dabei ist die Freistellung von mitt- sung, welche die verfassungsmäßig der einzige Diskussionsgrund für lerweile – je nach Schätzung – garantierte Gleichheit aller Bürger Israelis, der Wehrdienst nicht das 54.000 bis 70.000 jungen jüdischen widerspiegelt. alleinige Konfliktpotenzial. Es gibt Männern vom Armeedienst, die Verteidigungsminister Ehud Ba- brennende soziale und wirtschaft- letztendlich nie in der steuerzah- rak ordnete die Armee an, das alte liche Probleme, innen- und außen- lenden Arbeitswelt auftauchen, nur Wehrpflichtgesetz von 1986 um- politische Spannungen. In diesem ein Teil der Auseinandersetzung, bei zusetzen und praktische Vorschlä- Umfeld entwickelten sich die ultra- der sich eine säkulare Mittelschicht ge vorzulegen, wie Ultraorthodoxe orthodoxen Parteien in ganz unter- dagegen wehrt, die Hauptlast der zum Wehrdienst einberufen werden schiedlichen Fragestellungen poli- Existenzsicherung des Staates tra- können. Die Knesset wird sich nach tisch zum Zünglein an der Waage gen zu müssen. Die Demonstrati- ihrer Sommerpause im Oktober mit und erwiesen sich als äußerst er- onen im Sommer 2011 haben das einer neuen Gesetzgebung für die folgreich bei der Durchsetzung ih- Anliegen dieser Israelis, die sich Charedim und Araber beschäftigen. rer Interessen. Talmudschulen wer- ausgenützt fühlen, in die Aufmerk- Der ehemalige Generalstabschef den heute mit umgerechnet fast samkeit der Weltöffentlichkeit ka- und stellvertretende Premier Mo- 20 Millionen Euro jährlich vom tapultiert. sche Jaalon arbeitet bereits im Auf- Staat gefördert, ihre Studenten le- Anfang 2012 erklärte die scheidende trag der regierenden Likud-Partei an ben – zugegebenermaßen äußerst Präsidentin des Obersten Gerichts- einem Gesetzentwurf. Nach seinen bescheiden, aber immerhin – von hofs Israels, Dorit Beinisch, das „Tal- Vorstellungen sollte die Armee neue etwa 500 Euro Sozialhilfe im Monat Gesetz“ für verfassungswidrig und Einheiten und Dienstlaufbahnen und Spenden. forderte bis Juli des Jahres eine Lö- speziell für ultraorthodoxe Soldaten

3·2012 nu 19 Hinter der Debatte um die Freistellung von 54 000 bis 70 000 jungen jüdischen Männern vom Armeedienst steht die grundsätzliche Frage: Wer trägt die Hauptlast der Existenzsicherung des Staates Israel? anbieten. Jaalon fordert die Einrich- technische Fähigkeiten erwerben. in Jerusalem, „frag ihn einfach, ob tung eines Zivildienstsystems für Ul- Mehr als 90 Prozent der Ultraortho- er Wehr- oder Zivildienst geleistet traorthodoxe im Rahmen von Po- doxen, die in der israelischen Armee hat. Bei Erfüllung gleicher Pflichten lizei, Feuerwehr, Rettungsdiensten, gedient haben, finden danach eine hat hier jeder die gleichen Rechte im Gefängniswesen oder in der Al- Anstellung auf dem Arbeitsmarkt. und Privilegien.“ Für junge ara- tenpflege. Nationalreligiösen Juden steht seit bische Frauen, die sich auch in „der Doch die Fronten verlaufen nicht Jahren die Option offen, im Rah- einzigen Demokratie des Nahen Os- nur zwischen Säkular und Religi- men des sogenannten „Hesder“- tens“ nicht selten von ihren Fami- ös. Auch innerhalb der ultraortho- Systems Talmudstudien mit einem lien auf das eigene Haus beschränkt doxen Gesellschaft gibt es weitrei- verlängerten Militärdienst zu kom- sehen, ist Zivildienst eine Chance chende Diskussionen. Im August binieren. Im August 2012 meldeten auf sozialen Aus- und Aufstieg. forderte der „Rat der Thora-Weisen“ sich 450 Rekruten für den Hesder- Gegen eine Einberufung der Araber der ultraorthodoxen Degel HaTho- Dienst. 85 Prozent dieser Soldaten zum Militärdienst ziehen auch zio- ra-Bewegung zwar ein Ende „der dienen in Kampf- und Eliteein- nistische Israelis zu Felde. „Lass die Welle der Hetze gegen die Chare- heiten, was weit über dem landes- Araber Zuhause!“ schreibt ein Leser dim“ von der Regierung – „beson- üblichen Durchschnitt liegt. Auch der Jerusalem Post, „Glaubt irgend- ders gegen die heiligen Thora-Schü- in Befehlspositionen und bei der jemand, dass sie in der Armee we- ler, deren Verdienst es ist, dass die Offiziersausbildung sind die Natio- niger verräterisch sein werden als Welt noch weiter existiert“. Doch nalreligiösen überdurchschnittlich in der Knesset?“ Tatsächlich treten Nachfolgestreitigkeiten um das gut vertreten. vor allem erklärte Gegner eines jü- geistliche Oberhaupt der litauischen Junge Frauen können angeben, ei- dischen Staates als „Araber“ oder Charedim, Rabbi Josef Schalom Elja- nen religiösen Lebensstil zu verfol- „Palästinenser“ in der Öffentlich- schiv, der im Juli im Alter von 102 gen und werden vom Wehrdienst keit wahrnehmbar in Erscheinung. Jahren verstorben war, warfen ihre freigestellt. Viele von ihnen leisten Viele arabisch-stämmige Israelis, Schatten selbst auf den Entschluss Zivildienst – eine Möglichkeit, die die zionistische Parteien wählen, dieses hochwürdigen Gremiums. übrigens auch arabischen Israelis sich in zionistischen Parteien bis in Neben Konservativen, die am lieb- offensteht. Araber können ihren Zi- höchste Positionen wählen lassen, sten alles beim Alten belassen wür- vildienst auf Wunsch auch im ara- loyal ihren Wehr- oder Zivildienst den, befürwortet eine wachsende bischen Sektor der israelischen Ge- leisten, bezeichnen sich selbst auf Gruppe von Charedim eine aktive sellschaft leisten. Nachfrage schlicht als „Israelis“ und Beteiligung am gesellschaftlichen Mitglieder der Regierung streben sind für Außenstehende von ihren Leben des Staates Israel. So befür- einen Pflichtzivildienst für israe- jüdischen Mitbürgern nur schwer zu wortet die „Charedi Tov“-Bewe- lische Araber an. Deren politische unterscheiden. gung, die Bewegung „des guten Got- Sprecher sehen dadurch allerdings Eine nicht unerhebliche Anzahl tesfürchtigen“, eine Integration des ihre Identität gefährdet. Vor allem arabischer Staatsbürger Israels mel- Thorastudiums in die Schulbildung, israelische Araber, die sich selbst als det sich zum Wehrdienst – darun- den Militärdienst und die Arbeits- „Palästinenser mit aufgezwungener ter viele Beduinen – obwohl sie per welt – und gewinnt zunehmend an israelischer Staatsbürgerschaft“ be- Gesetz keiner Wehrpflicht unterlie- politischem Einfluss. zeichnen, wettern gegen Gleichstel- gen. Die drusischen und tscherkes- Heute dienen bereits rund 2200 lungsbemühungen ihrer säkularen sischen Minderheiten Israels haben Charedim in Armeeeinheiten, die Mitbürger. 85 Prozent der Araber, sich schon vor Jahrzehnten kollek- so illustre Namen wie „Netzach Ye- die Zivildienst geleistet haben, sol- tiv für einen Pflichtdienst ihrer jun- huda“ (Ewigkeit Judas) tragen. Zu len danach kein Problem mehr mit gen Männer in der israelischen Ar- diesen ultraorthodoxen Einheiten einem Israel haben, das sich als „jü- mee verpflichtet. haben Frauen grundsätzlich keinen discher und demokratischer Staat“ So ringt die israelische Gesellschaft Zutritt und die Soldaten verrich- definiert. Arabische Zivildienstlei- im Bereich der allgemeinen Wehr- ten alle ihre religiösen Pflichten. stende beteuern, dass es in der israe- pflicht – wie in vielen anderen Be- Nur in den ersten zwei Jahren kon- lischen Gesellschaft wenig Diskrimi- reichen – darum, traditionelle, reli- zentrieren sie sich auf militärische nierung und keinen Rassismus gebe. giöse und kulturelle Gegebenheiten Aufgaben. Danach dürfen sie mit „Wenn sich ein Araber über Diskri- mit den Notwendigkeiten und He- Unterstützung und auf Kosten der minierung beschwert“, meint eine rausforderungen des 21. Jahrhun- Armee ihr Abitur nachholen oder nichtjüdische Zivildienstleistende derts zu vereinbaren.

20 nu 3·2012 SCHWERPUNKT NAHOST FOTO ©: EPA

Auf dem Weg ins Mittelalter

Orthodoxe Juden in Israel versuchen immer wieder, Frauen aus der Öffentlichkeit zu bannen. Die Publizistin und Menschenrechtsaktivistin Anat Saragusti erklärt, was die Frauenbewegung dagegen unternimmt.

VON BARBARA TÓTH (INTERVIEW)

NU: Frau Saragusti, wenn man Zei- oder hat die israelische Gesellschaft um eine Erlaubnis für die Trennung tungsberichten glauben darf, dann wirklich ein Problem? von Männern und Frauen in öffent- sind orthodoxe Juden in Jerusalem Saragusti: Leider sind das richtige lichen Bussen zu bekommen. Als gerade dabei, Frauen aus dem öffent- Beschreibungen der Realität in Is- Begründung führten sie an, dass die lichen Leben zu drängen: Busse mit rael. In der Tat geht es schon eini- Segregation eine kulturelle Angele- eignen Sitzplätzen für Männer und ge Jahre so. Es ist schwer zu sagen, genheit ihrer Gemeinschaft sei, von Frauen werden geschaffen, es gibt wann das Ausschließen von Frauen ihr gebraucht und gewünscht wer- Gehsteige, die für Männer reserviert aus dem öffentlichen Leben begon- de und daher als kollektives Recht sind, eigene Warteräume in Spitälern nen hat. Das Interessante ist, das vor auch eingefordert werden kann. Der und Werbeanzeigen ohne Frauen. einigen Jahren die Orthodoxie den Gerichtshof gestattete ihnen die- Sind das übertriebene Darstellungen Obersten Gerichtshof angerufen hat, se Geschlechtertrennung, aber nur

3·2012 nu 21 Das Problem ist, dass die Verbannung von Frauen aus der Öffentlichkeit aus Gründen des Respekts vor religiösen Gefühlen bereits weit vorangeschritten ist. Es passiert in Armeeeinheiten, bei öffentlichen Veranstaltungen, an vielen Orten. Und das ist wirklich beunruhigend. auf freiwilliger Basis und nur auf Frauen wählen, das sind die religi- jenen Buslinien, die mitten in die ösen Parteien. Sie blockieren Frauen orthodoxen Vierteln führen. Aber ganz einfach als politische Kandi- nach und nach begannen die Or- daten. Aber es gibt auch eine ge- thodoxen, auch andere Buslinien zu sellschaftliche Verantwortung, die benutzen, auch solche, die in nicht wir nicht beiseite schieben können. orthodoxe Vierteln führen, und sie Frauen werden nur selten Mitglied forderten auch dort ihr Recht auf von Parteien und politisch domi- separate Platzierung ein. Das ist ein nierten Institutionen. Nur auf lo- Aspekt. kaler Ebene konnten wir zuletzt einen leichten Anstieg weiblicher Bis es zu den ersten Konflikten kam, Funktionärinnen beobachten. Das die auch in Europa und den USA könnte ein Weg sein, Frauen auch Schlagzeilen machten. Anat Saragusti ist Juristin und auf nationaler politischer Ebene prä- Genau. Als ein Orthodoxer einem hat lange Zeit als Journalistin senter zu machen. Es gibt keine Frau- acht Jahre alten Mädchen ins Ge- gearbeitet. Seit dem Jahr 2008 ist enquoten – nur in wenigen Parteien. sicht spuckte, weil sie im religiösen sie Geschäftsführerin von Agenda, Dort sind sie nicht bindend. Es gibt Sinne nicht höflich genug gewesen einer NGO, die sozialen Bewe- kaum Trainings für angehende Po- gungen in Israel kostenlose Medi- sei, explodierte die Geschichte. Das litikerinnen oder Rekrutierungsstra- endienste zur Verfügung stellt. Sie ganze passierte in Beit Shemesh, ei- tegien. Und dann dürfen wir nicht ist Dozentin für Medien und aktiv ner kleinen Stadt nahe Jerusalem vor in verschiedenen Menschenrechts- vergessen, dass unsere Gesellschaft einigen Monaten. Channel 2 News organisationen. Anat Saragusti ist sehr militärdominiert ist. Viele der brachte dazu eine große Story im Vorstandsmitglied der Association säkularen oder gemäßigt religiösen Freitagnachtmagazin, das Echo von for Civil Rights in Israel, Grün- politischen Führungspersönlich- Politikern, Aktivisten und der Öffent- dungsmitglied der Women Lawyers keiten waren hochrangige Offiziere. lichkeit war groß. Es gab mehrere De- for Social Justice und Gründungs- Frauen haben in der Armee nicht die monstrationen in der Stadt gegen die- mitglied der International Women gleichen Aufstiegschancen. Derzeit sen Akt und die Trennung von Frauen Commission for Just and Sustaina- sind fünf von acht Mitgliedern in und Mädchen im Generellen. Ein an- ble Peace between Israel and the unserer kleinen Sicherheitsregierung Palestinians. dermal protestieren Mitglieder der Je- ehemalige Armeegeneräle. Eine Ar- rusalemer Stadtregierung und andere meekarriere rechnet sich also. gegen die Verbannung von Frauen Das Problem mit der alten und der von Werbetafeln in orthodoxen Vier- neuen Regierung ist, dass sie Angst Netanjahu hat angekündigt, die Zivil- teln, die von den Orthodoxen einge- vor den religiösen Parteien haben ehe einzuführen. Wie würde das das fordert worden war. Seit damals ist und deswegen nichts Drastisches Leben der Frauen in Israel konkret die Öffentlichkeit für dieses Thema zu unternehmen wagen, um diese verändern? sensibilisiert, es gibt jetzt eine Koa- Trends zu stoppen. Jeder, der Premier Das ist ein Schlüsselthema in un- lition gegen die Ausschließung von werden oder die nächste Regierung serem Privatleben. Mindestens Frauen, einen wöchentlichen Status- mitformen will, will die Orthodoxen 300.000 Menschen können nicht bericht dazu und jede Menge Akti- nicht vergraulen, weil sie ihre Stim- heiraten, weil sie nicht als Juden an- onen vor Ort und auf Strategieebene. men brauchen. Tzipi Livni war die erkannt sind, nach den Regeln der Das Problem ist, dass die Verbannung einzige Politikerin, die die ortho- Halacha – und es nicht die Möglich- von Frauen aus der Öffentlichkeit aus doxen Parteien aus dieser Gleichung keit gibt, standesamtlich zu heiraten. Gründen des Respekts vor religiösen ausschloss, sie scheiterte damit, eine Viele säkularen Paare wollen nicht Gefühlen bereits weit vorangeschrit- säkulare Koalition zu gründen und den religiösen Weg der Ehe gehen, ten ist. Es passiert in Armeeeinheiten, verlor an Netanjahu. weil sie Angst vor Geschlechterdis- bei öffentlichen Veranstaltungen, an kriminierung haben, vor allem, wenn vielen Orten. Und das ist wirklich be- Frauen sind in Israels Politik nicht es um die Scheidung geht. Das Rab- unruhigend. sehr präsent, liegt auch das an der binatsgericht schickt Frauen durch Macht der religiösen Parteien? die Hölle, wenn sie eine Scheidung Was kann die neue Regierung gegen Dafür gibt es mehrere Gründe. Es wollen, und es bevorzugt immer den diese Segregationstrends machen? gibt manche Parteien, die keine Mann. Frauen müssen ihre Rechte

22 nu 3·2012 FOTO ©: EPA und Ansprüche aufgeben, damit sie über den Status von Frauen zu spre- aus dem Haus gehen, um zu arbei- die Scheidung kriegen. Es gibt Fäl- chen. ten, während ihre Ehemänner jeden le, wo es Jahre dauert, bis die Sache Tag in die Jeschiwot lernen gehen. durch ist, wenn die Scheidung einmal Aber wie kann die Frauenbewegung Orthodoxe Frauen sind also mehr in vor dem Rabbinatsgericht gelandet in die Orthodoxie hinein agieren, wie Kontakt mit der Außenwelt, sie müs- ist. kann sie die Frauen dort erreichen? sen realistischer sein, sich mit dem Auch die orthodoxe Gemeinschaft Leben konfrontieren und sie lernen Welche Rolle spielt die Frauenrechts- durchläuft einen sehr interessanten dadurch, Managerinnen zwischen bewegung in Israel? Prozess der Feminisierung. Es gibt diesen beiden Welten zu sein, der Sie ist sehr lebendig, wir kämpfen starke Kräfte innerhalb dieser Grup- säkularen Welt und ihrer Gemein- gegen die Frauensegregation im or- pen, die auf mehr Gleichstellung schaft. Es gibt auch orthodoxe Frau- thodoxen Umfeld, wie schon be- drängen. Das sind sehr langsame Pro- enführerinnen, die hin und wieder schrieben, aber auch gegen Frauen- zesse, sehr tiefgreifende, und sie ha- in der israelischen Frauenbewegung benachteiligung im staatlichen Be- ben mit viel Gegendruck und Anta- mitmachen. Unsere Bewegung ist reich, der Armee. Wir haben schon gonismen zu kämpfen, aber dennoch sehr kooperativ, wir führen Kam- einiges im Bereich des Arbeitslebens können sie nicht ignoriert werden. pagnen als offenen, koalitionären und der Einkommensgerechtigkeit Ich glaube aber, dass die aktuellen Prozess, damit es offene Kanäle gibt erreicht, wir rufen immer wieder Fälle von Frauenverbannung aus der zwischen den verschiedenen Gesell- den Obersten Gerichtshof an, wir Öffentlichkeit diese inner-orthodoxe schaftsgruppen. Agenda, die Organi- fördern die Solidarität mit Frauen Feminisierung wieder zurückwerfen. sation, die ich führe, veranstaltet der- in schlechtbezahlten Berufen, mit Die Gemeinschaftsführer, die Rabbi- zeit etwa spezielle Medien- und Kom- alleinerziehenden Müttern. Es gibt ner, sind alarmiert und versuchen, munikationsseminare für orthodoxe Forschungsprojekte, Medienprojekte ihre Tradition zu schützen und zu Frauen. Wir bringen ihnen bei, wie und Homepages zu diesen Themen. erhalten. Logischerweise wehren sie sie Mainstreammedien nutzen kön- Das Wichtigste ist sicherlich, dass sich heftig gegen jeden Hauch von nen, um Dinge zu verändern. Wir or- die Fälle von Diskriminierung oder Feminisierung, Säkularisierung oder ganisieren auch Treffen von Journa- Ausschließung von Frauen aus dem Modernisierung. Es gibt ein paar bür- listinnen, die in großen, nationalen öffentlichen Leben viel Aufmerksam- gergesellschaftliche Initiativen religi- Medien arbeiten, mit Kolleginnen keit bekommen haben, wir stehen öser Frauen, die versuchen, Frauen zu aus religiösen Medien. Diese Runden ganz hoch oben auf der öffentlichen stärken und zu ermächtigen. Nicht sind sehr interessant – und meistens und medialen Agenda, und das gibt zu unterschätzen ist auch, dass es die finden sich mehr Gemeinsamkeiten uns die Möglichkeit, immer wieder Frauen sind, die in der Orthodoxie als Unterschiede.

3·2012 nu 23 SCHWERPUNKT NAHOST

Palästinensische Sackgassen

Die palästinensische Führung unter Präsident Abbas verfolgt gleichzeitig drei einander widersprechende Ziele. Der Friedensprozess mit Israel scheint an ein Ende gelangt zu sein.

VON FLORIAN MARKL

„Unsere Sache war noch nie so zu schaffen. Nachdem internatio- Umwälzungen in der arabischen marginalisiert“, beklagte sich Sa- nale Beobachter letzten Herbst er- Welt, die Finanzkrise und die Krise lam Fayyad Ende Juli im Interview klärten, die Palästinenser hätten in der Eurozone sowie die bevorstehen- mit dem britischen Independent. Folge der von Fayyad angetriebenen den Präsidentschaftswahlen in den Fayyad, der seit 2007 das Amt des Reformen die notwendigen Voraus- USA hätten dazu geführt, dass der palästinensischen Premierministers setzungen geschaffen, um einen ei- Friedensprozess zwischen Israel und bekleidet, hat sich wie kein ande- genen Staat führen zu können, sieht den Palästinensern aus dem Fokus rer vor ihm darum bemüht, die in- der Premier die Palästinensische Au- der internationalen Aufmerksamkeit stitutionellen Grundlagen für einen tonomiebehörde (PA) vor ihrer bis- gerückt und de facto zum Stillstand zukünftigen palästinensischen Staat lang größten Herausforderung. Die gekommen sei. FOTO ©: EPA

24 nu 3·2012 Danach gefragt, welchen Stellenwert er den Palästinensern im Augenblick beimessen würde,

Dass der israelisch-palästinensische antwortete ein Vertreter des groß war die Gefahr, sich nicht nur Konflikt momentan so aus dem Verteidigungsministeriums von den politisch relevanten Ak- Blickfeld geraten ist, lässt sich frei- teuren zu isolieren, sondern darüber lich nicht nur auf die von Fayyad kürzlich einem Mitarbeiter hinaus auch infolge gekürzter oder angeführten Faktoren zurückführen, der International Crisis gestrichener Finanzhilfen durch EU sondern hat vor allem auch haus- und USA den ökonomischen Kol- gemachte Ursachen. Während ein Group sinngemäß: „Auf laps zu riskieren. Der Auftritt von großer Teil der arabischen Welt in einer Liste der fünf größten Präsident Abbas vor den Vereinten den letzten eineinhalb Jahren in Be- Nationen wurde von den Palästinen- wegung geraten ist, ist bei den Palä- israelischen Sorgen kom- sern als Erfolg gefeiert, die versuchte stinensern im Westjordanland Sta- men sie an sechster Stelle.“ Internationalisierung ihrer Anliegen gnation eingetreten. Das hat nicht erwies sich aber als Sackgasse. zuletzt damit zu tun, dass die von Präsident Mahmud Abbas (im mitt- gen Sicherheitsrat ihr Veto einzule- Versöhnung lerweile achten Jahr seiner vierjäh- gen. Da der palästinensische Antrag Die Vereinten Nationen ihrerseits er- rigen Amtszeit) geführte PA sich in ohnehin die erforderlichen neun achteten den palästinensischen An- eine vertrackte Position manövriert Stimmen nicht erhalten hätte, wäre trag wegen der politischen Situation hat, aus der sie nur schwer wieder das aber gar nicht nötig gewesen. in den palästinensischen Gebieten herausfinden wird. Jede der ihr of- Eine Anerkennung „Palästinas“ als problematisch, wo die PA zwar fenstehenden, einander aber wider- durch die Vereinten Nationen hät- das Westjordanland kontrolliert, der sprechenden Handlungsoptionen te zwar symbolische Wirkung geha- Gazastreifen sich dagegen aber fest würde schwerwiegende Folgen zei- bt, an der Situation im Gazastreifen in Händen der islamistischen Hamas tigen. und dem Westjordanland hätte sie befindet. Abbas sei somit als Vertre- aber wenig geändert. Letztlich führt ter eines „Staates“, über den er nur Internationalisierung für die Palästinenser kein Weg da- zum Teil Souveränität beanspruchen Ob es Enttäuschung darüber ist, dass ran vorbei, sich mit den Israelis auf konnte. nach fast zwei Jahrzehnten des auf Rahmenbedingungen des täglichen Seit den Auseinandersetzungen zwi- Verhandlungen basierenden Frie- Lebens zu verständigen. Der palä- schen Fatah und Hamas im Sommer densprozesses die Fortschritte weit stinensische Versuch, einen eigenen 2007, als die Islamisten gewaltsam hinter den Erwartungen zurückgeb- Staat mittels der Vereinten Nationen die Macht im Gazastreifen an sich lieben sind, oder ob an einem dau- ins Leben zu rufen, wird darüber rissen, gab es immer wieder Anläufe erhaften Frieden mit dem jüdischen hinaus von Israel, der EU und den zur „Versöhnung“ der beiden ver- Staat kein Interesse (mehr) besteht, USA als Bruch des Oslo-Abkommens feindeten Palästinenserorganisati- sei dahingestellt. Fakt ist: Weder Ab- gewertet, das die Grundlage des Frie- onen. Einen vorläufigen Höhepunkt bas noch irgendein anderes Mitglied densprozesses mit Israel darstellt. erreichten diese Bemühungen im der palästinensischen Führung im Aus ihm geht klar hervor, dass eine Mai 2011, als Fatah und Hamas sich Westjordanland glauben daran, dass Statusänderung der von den Palä- in Kairo auf ein Versöhnungsabkom- Verhandlungen mit Israel zu einem stinensern beanspruchten Gebiete men einigten. Doch kaum war das aus palästinensischer Sicht akzep- nur am Ende von Verhandlungen Dokument unterzeichnet, wurde tablen Ergebnis führen werden. Die stehen, nicht jedoch einseitig von seine Umsetzung bereits verzögert. PA hat deshalb im Vorjahr den Weg einer der Konfliktparteien erklärt Insbesondere die Hamas-Führung im der Internationalisierung des Kon- werden dürfe. Gazastreifen meint sich angesichts flikts bestritten: Mangels Aussicht Im Sicherheitsrat gescheitert, be- der Veränderungen in der Region im auf eine verhandelte Zweistaatenlö- mühte sich die PA sodann erfolg- Aufwind und sieht daher überhaupt sung wandte sich Abbas vergange- reich um eine Aufnahme in die UN- keine Veranlassung, Kompromisse nen September an die „internationa- ESCO, was prompt zur Einstellung einzugehen. Und auch wenn die PA- le Gemeinschaft“ in Form der Ver- der Zahlung der UNESCO-Beiträge Führung unter Abbas öffentlich die einten Nationen und stellte den An- der Vereinigten Staaten sowie zu Spaltung der Palästinenser beklagt, trag, „Palästina“ als 194. Mitglieds- Sanktionen durch Israel führte. Die hält sich die Begeisterung darüber staat anzuerkennen. Das Vorhaben PA entschied daraufhin vorerst, von in Grenzen, Islamisten entgegenzu- war zum Scheitern verurteilt, weil Aufnahmeanträgen in weitere UN- kommen, die auch auf die Macht im die USA ankündigten, im zuständi- Unterorganisationen abzusehen. Zu Westjordanland schielen. Trotz aller

3·2012 nu 25 gegenteiligen Bekundungen ist ei- sich diese an einer Regierung der durch die Anerkennung „Palästinas“ ne tatsächliche Versöhnung der ver- nationalen Einheit beteiligen, oh- als Mitgliedsstaat der Vereinten Na- feindeten Gruppen nicht in Sicht. ne zuvor von ihren extremistischen tionen würde auch eine Versöhnung Dabei spielt auch eine Rolle, dass ei- Positionen abzurücken, wäre mit von Fatah und Hamas aus Sicht der ne Kooperation mit der Hamas für dem Wegfall beträchtlicher Finanz- Führung der PA einem Schuss ins die PA große Probleme nach ziehen hilfen zumindest aus den Vereini- eigene Knie gleichkommen: Die Fol- würde. Denn schließlich wird der gten Staaten sowie mit politischen gen wären internationale Isolation, palästinensische Zweig der Muslim- Sanktionen zu rechnen, ganz zu ökonomischer Kollaps, eine offene brüder nicht nur von Israel, sondern schweigen von israelischen Reakti- Konfrontation mit Israel – und nicht auch von den USA und der EU als onen. Wie schon der Versuch einer zuletzt die Gefahr, auch noch das Terrororganisation gesehen. Sollte Internationalisierung des Konflikts Westjordanland an die Islamisten zu verlieren.

Deutscher Demonstrant beim internationalen Al-Quds-Day (Jerusalem-Day) Verhandlungen mit Israel am 18. August in Berlin. An diesem Tag demonstrieren Palästinenser und ihre Bleibt noch die dritte Handlungsop- Unterstützer für einen eigenen, palästinensischen Staat und gegen Israel. tion für die PA: offiziell weiter so zu tun, als ob man an Verhandlungen mit Israel interessiert und von der Notwendigkeit einer Wiederbele- bung des Friedensprozesses über- zeugt sei. Die öffentlichen Bekundungen der Verhandlungsbereitschaft standen schon in den letzten Jahren in be- merkenswertem Widerspruch zur Weigerung, sich tatsächlich an den Verhandlungstisch zu begeben. Der dilettantische Versuch von US- Präsident Barack Obama, Israel zu einem völligen Stopp neuer Bauten im Westjordanland und in Ostje- rusalem zu drängen, hat Präsident Abbas in eine aussichtslose Positi- on getrieben, denn unmöglich kann er den Eindruck erwecken, kleine- re Forderungen an Israel zu stellen als dessen wichtigster Verbündeter, die Vereinigten Staaten. Um nicht völlig das Gesicht zu verlieren, stell- te Abbas nun Vorbedingungen für Verhandlungen – völliger Stopp aller israelischen Bautätigkeiten im West- jordanland und in Ostjerusalem, „Grenzen“ von 1967 als Ausgangs- punkt für Endstatusverhandlungen –, wohl wissend, dass Israel diese nicht akzeptieren wird. Dennoch will keine der beiden Sei- ten den Eindruck erwecken, für das Scheitern des Friedensprozesses ver- antwortlich zu sein, weshalb in un- regelmäßigen Abständen so getan FOTO ©: EPA

26 nu 3·2012 Eine Anerkennung „Palästinas“ durch die Vereinten Nationen hätte zwar symbolische Wirkung gehabt, an der Situation im Gazastreifen und dem Westjordanland hätte sie aber wenig geändert. Letztlich führt für die Palästinenser kein Weg daran vorbei, sich mit den Israelis auf Rahmenbedingungen des täglichen Lebens zu verständigen. FOTO ©: EPA wird, als sei der nicht schon längst wortete ein Vertreter des Verteidi- ten-Lösung interessiert wären, wür- tot. Zuletzt war es Anfang 2012 wie- gungsministeriums kürzlich einem den sie sich hüten, öffentlich dafür der einmal so weit, als sich israe- Mitarbeiter der International Crisis einzutreten. Denn der Siegeszug des lische und palästinensische Vertreter Group sinngemäß: „Auf einer Liste sunnitischen Islamismus in den letz- auf Druck Jordaniens hin zu einer der fünf größten israelischen Sorgen ten eineinhalb Jahren bedeutet auch Reihe von Gesprächen in Amman kommen sie an sechster Stelle.“ den Siegeszug eines Israel-feind- trafen, die aber erwartungsgemäß er- Dass Verhandlungen augenblicklich lichen Extremismus. Auch wenn folglos blieb. aussichtslos sind, ist nicht zuletzt Israelis und Palästinenser sich auf Dabei wissen im Grunde alle, wie il- darauf zurückzuführen, dass es in ein Endstatus-Abkommen einigen lusorisch die Hoffnung ist, dass der der Führung von PA und Fatah im könnten, würde es unter dem Druck Friedensprozess in seiner bisherigen Grunde niemanden gibt, der für ei- dieser Kräfte zusammenbrechen. Form (noch) zu einer Lösung füh- nen Frieden mit Israel eintreten wür- Aufgrund einer Reihe interner wie ren wird. Für Israel gibt es in einer de. Die vorherrschende Sichtweise, externer Faktoren ist der israelisch- Zeit, in der in etlichen arabischen die in Europa gerne ignoriert, in Is- palästinensische Friedensprozess zu Ländern Islamisten auf dem Vor- rael aber sehr wohl zur Kenntnis ge- einem Ende gekommen, das nur marsch sind, keinen Grund, in der nommen wird, lautet: Israel ist ein nicht offiziell verkündet wird, weil vagen Hoffnung auf einen Frieden durch und durch illegitimer Staat; niemand genau weiß, was an dessen Risiken einzugehen. Ohnehin stehen die Juden sind kein Volk, sondern Stelle treten sollte. Realistischerwei- für Israel im Moment andere The- eine Religion, die historisch keinerlei se muss man erkennen: Solange sich men im Vordergrund, allen voran Verbindung zu „Palästina“ hat; jeder wesentliche Rahmenbedingungen der Konflikt um das iranische Atom- Kompromiss mit Israel ist Hochver- nicht fundamental verändern, ist programm. Danach gefragt, welchen rat. Und selbst wenn es auf palästi- die Hoffnung auf einen israelisch- Stellenwert er den Palästinensern im nensischer Seite nennenswerte Ak- palästinensischen Frieden illuso- Augenblick beimessen würde, ant- teure gäbe, die an einer Zwei-Staa- risch.

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SERIE JÜDISCHE MUSEEN

Mehr Erlebnis als Museum

Es ist nicht die Größe oder das moderne Konzept, die am Jüdischen Museum in Amsterdam beeindrucken, sondern die Vermittlung von Geschichte und jüdischem Leben, die hier gelingt, wie kaum sonst wo. Und Kinder haben sogar ihr eigenes Museum im Museum.

VON RAINER NOWAK (TEXT) UND LISELORE KAMPING (FOTOS)

3·2012 nu 31 Im Jüdischen Museum Amsterdam gibt es ein eigenes Museum im Museum nur für Kinder. Die begeisterten Kinder, die Salzteig formen, sind viel besser als so manches spektakuläre Kunstwerk.

Wahre Größe bemerkt man immer suchen war dieses Bild von begeis- durch comicartige Mini-Videos mit erst nach einiger Zeit. Betritt der terten Kindern, die Salzteig formen, Rabbiner-Weisheiten – mit viel Hu- Besucher das Jüdische Museum in viel besser als so manches spektaku- mor – und mit Theologie. Ganz Amsterdam, wähnt er sich im Entrée läre Kunstwerk. oben wird es dann historisch-fa- zu einem besseren Bezirksmuseum. miliär. Eine imaginäre Familie aus Der Eingangsbereich ist sogar für Weiter geht es oben im Museum, vergangenen Zeiten zeugt vom jü- die gerne bescheiden auftretenden zuerst mit spielerischer Einführung dischen Leben im alten Amsterdam, Holländer schmal und unauffällig. Dahinter aber beginnt eine ande- re Welt. Eine andere jüdische Welt, durch die Direktor Joel Cahen führt, als ginge es zum Morgenlauf über den Strand von Tel Aviv. Und Cahen ist auch ganz genau so gut gelaunt, als wären wir ebendort. Der gebür- tige Holländer und langjährige Is- rael-Bewohner, der für die Leitung des Hauses mit seiner Familie nach Amsterdam zurückkehrte, begrüßt fast jeden Besucher persönlich. Er fragt, woher jemanden kommt und ob man auch schon nebenan in der alten Synagoge gewesen sei. Wenn nicht, fordert er bestimmt zum Be- such derselben auf.

Bevor es zur alten Portugiesischen Synagoge geht, einer der welt- weit wichtigsten jüdischen Sehens- würdigkeiten, zeigt Cahen seinen ganzen Stolz, einen Bereich, der wohl einzigartig für ein Museum ist: den eigenen, spektakulären Kin- der-Trakt, man könnte schreiben: das Kinderhaus. Im Erdgeschoss ist Die Größe erschließt sich dem Besucher erst sogar eine eigene Küche eingerich- beim Rundgang. Das hat einen einfachen Grund: Das tet, in der regelmäßig, beim „Testbe- such“ war es gerade so weit, Koscher- Museum ist in vier früheren aschkenasischen Synagogen Kochkurse und –Einführungen ge- untergebracht, die baulich nicht nur miteinander halten werden. Ganz ehrlich: Nach gefühlten hunderten Museumsbe- verbunden sind, sondern ineinanderfließen.

32 nu 3·2012 SERIE JÜDISCHE MUSEEN:

Bisher erschienen: NU 48 Istanbul NU 42 Frankfurt NU 36 Barcelona NU 30 Basel NU 47 Casablanca NU 41 Bratislava NU 35 Kopenhagen NU 29 Sydney NU 46 Wien NU 40 Rom NU 34 London NU 28 München NU 45 Melbourne NU 39 Südafrika NU 33 Hohenems NU 27 Berlin NU 44 Eisenstadt NU 38 Oslo NU 32 Buenos Aires NU 43 Philadelphia NU 37 Sarajevo NU 31 Wien

Ausruhen in einem runden moder- gen und hier dann ihre Synago- nen Kuschel-Himmelbett inklusive. ge bauten, die neben dem Muse- um steht und in ihren Ausmaßen Aber zurück zum ganzen Haus. Des- an eine christliche Kathedrale erin- sen Größe erschließt sich dem Besu- nert. Dass das großartige Bauwerk cher erst beim Rundgang. Das hat nicht von den Nazis zerstört wur- einen einfachen Grund: Das Muse- de, hat einen zynischen Grund: Die um ist in vier früheren aschkena- NS-Verwaltung wollte hier die jü- sischen Synagogen untergebracht, dischen Holländer zur Deportati- die baulich nicht nur miteinan- on sammeln. Es war dann doch zu der verbunden sind, sondern inei- viel Licht in diesem Gotteshaus, das nander fließen. Zumindest gewinnt – ohne Heizung – heute im Sommer man diesen Eindruck. als Synagoge genutzt wird.

Um kurz einen historischen Über- Im Museum selbst wird an die blick zu geben, der dem Direk- Schoah mit modernen Mitteln wie tor in kürzerer Zeit gelingt, als er einem beeindruckenden Film erin- an dieser Stelle zu lesen sein wird: nert, genau so wie an die tausenden Das älteste Gebäude, so weiß es der Juden, die wie die berühmte Anne handliche Guide in Buchform, ist Frank untergetaucht waren und zum die Große Synagoge, die 1671 er- Teil entdeckt und ermordet wurden. öffnet wurde. Die zweite, die „ob- Es ist vor allem der zum Teil Daneben werden auch unbekann- bene Schul“, stammt aus dem Jahr fast spielerische Umgang te Entwicklungen in der jüdischen 1685 und verdankt diesen Namen Geschichte des Landes dargestellt. ihrem Standort oberhalb einer mit dem Judentum Etwa die jüdische Frauen- und Pro- Schlachterei, die später zum Bad Hollands, das diesen Ort letarier-Bewegung um 1900, die sich für die rituellen Waschungen, der gegen das Establishment wandte. Mikwe, umgebaut wurde. In der so sehenswert und Oder das Schicksal jener Überleben- oberen Synagoge ist nun das Kin- empfehlenswert macht. den des NS-Massenmordes, die nach derhaus untergebracht. Die „drit- der Gründung Israels auswanderten te Schul“ wurde um 1700 auf dem und Holland immer verbunden blie- Platz eines bestehenden Wohn- ben. Direktor Cahen ist einer ihrer hauses errichtet. Die neue Synago- Es ist vor allem der zum Teil fast spie- Nachfahren. Nur ist er wieder da ge wurde 1752 eingeweiht. Nach lerische Umgang mit dem Judentum und führt ein jüdisches Museum, der NS-Besatzung, während der Hollands, der diesen Ort so sehens- das bereits mehr ein Kultur- und Bil- die rund 100.000 Amsterdamer Ju- wert und empfehlenswert macht. dungszentrum ist. Pläne hat er üb- den fast vollständig ermordet wur- Die Geschichte der jüdischen Ge- rigens noch viele, vom Schoah- den, standen die Gebäude zum Teil meinde in Holland bietet auch ei- Center und Schoa-Museum bis zur zerstört und geplündert leer. 1987 nen guten Blick auf die Jahrhunderte Weiterentwicklung seines Hauses. wurde der Komplex endlich neu er- alte Tradition Amsterdams als Han- Oder besser: seiner Häuser. weckt und das Museum eröffnet. delsmetropole – und auf einen Ort, der sich in Sachen religiöser Toleranz Jüdisches Museum Amsterdam Natürlich gibt es auch eine Schau- trotz dunkler Kapitel deutlich von Nieuwe Amstelstraat 1 fläche für Wanderausstellungen, ak- deutschsprachigen und betont ka- 1011 PL Amsterdam tuell waren beim Besuch die verstö- tholischen Ländern unterscheidet. T (020) 5 310 310 renden Werke des südafrikanischen Das berühmte Verbot religiöser Ver- F (020) 5 310 311 Künstlers William Kentridge zu se- folgung in der Union von Utrecht www.jhm.nl hen, der sich mit dem Thema Un- 1579 gehört da ebenso dazu wie das Öffnungszeiten: terdrückung, Folter und Gewalt be- spätere Verbot von Ghettos. Täglich von 11 bis 17 Uhr schäftigt und dem international Eintrittspreise: immer mehr Aufmerksamkeit ge- Es waren vor allem portugiesische 12 Euro, ermäßigt 6 Euro schenkt wird. Juden, die nach Amsterdam zo-

3·2012 nu 33

SERIE JÜDISCHE GENIES

Das Geschrei der gefüllten Ente

Helene Maimann über Mickey Katz, den in Vergessenheit geratenen Paten der Klezmer-Renaissance.

VON HELENE MAIMANN

Anfang der Sechzigerjahre brach- te mein Vater von einer Auslands- reise mehrere LPs heim, Chansons, Lieder, Kabarett in Jiddisch, zumeist amerikanischer Herkunft. Darunter drei von Mickey Katz. Ich verstand nur wenige Bruchstücke, aber sei- ne Songs avancierten rasch zu den Favorits der Familie, und je öfter man sie hörte, umso besser ging es mit dem Verstehen. Er sang ameri- kanisches Jiddisch, Jinglisch, in ra- santem Tempo, begleitet von einer Band, die „Kosher Jammers“ hieß und Klezmer Jazz spielte, einen fu- riosen Mix aus jüdischer Tradition, Jazz und Latino. Meyer Myron „Mickey“ Katz (1909– 1985) kam in Cleveland zur Welt, als Sohn des Schneiders Menach- em Katz, geboren in Litauen, und Johanna Herzberg, geboren in Lettland, beide aus Russland ent- kommen, bevor der Zar Menach- em in seine Armee pressen konn- te. „Das Wort vom Schmelztiegel traf haargenau auf das frühe Zwan- zigste Jahrhundert in Cleveland zu, in das ich hineingeboren wurde“, slawen, Griechen, Russen – Cleve- elf entdeckte Mickey die Klarinette, schreibt Mickey in seinen Erinne- land hatte sie alle! Vielleicht emp- dann das Saxofon und begann früh rungen. „Die Stadt zählte an die sie- fand ich von daher immer Toleranz in verschiedensten Formationen zu benhunderttausend Menschen, sie für andere.“ Seine Mutter sprach spielen, pure Fusion der gängigen war eine der ersten amerikanischen Deutsch, Lettisch und Jiddisch, der Unterhaltungsmusik, gemischt mit Mischgesellschaften. Junge, waren Vater, ein echter Litwak, nur Jid- Comedy. Ein Jahr lang trat er mit wir durcheinandergemischt! Iren, disch, Englisch lernten die Kinder Spike Jones auf, berühmt für sei- Italiener, Juden, Polen, Schwarze, in der Schule und auf der Straße ne verrückten Bühnenshows, dann Kroaten, Litauer, Slowenen, Jugo- die verschiedensten Idiome. Mit drängte es ihn, seinen eigenen Stil

3·2012 nu 35 Katz wurde zum Vorreiter einer neuen amerikanisch-jüdischen Identität, zum Verteidiger des kulturellen Erbes der Einwanderer, ihrer Musik, ihrer Sprache und ihrer Küche. zu entwickeln. Es dauerte lange, bis You load sixteen tons of der amerikanisch-jüdischen Schla- er sich damit durchsetzen konnte. lekach und tejgl gerikonen wie der Barry Sisters ge- Er war fast vierzig, als es schließlich hering mislines, stuffed hörte nicht zu seinem Repertoire. klappte. helsel and bagel … Seine Coverversionen, alle zwi- Mickeys Spezialität waren schräge schen 1947 und 1957 aufgenom- Parodien bekannter Schlager, zu- (Sechzehn Tonnen men, waren anarchisch, frech und gleich bissige Kommentare über geräucherte Fische frei von Nostalgie. „Don’t let the den Alltag im amerikanischen Yid- Kartoffelpuffer, Blintzes schmaltz get in your eyes“, sagte dishland. Thema Nummer eins war und Knisches er. „Don’t let the lox get in your das Essen. Die Nummern hießen du schleppst sechzehn Tonnen socks.“ Borscht Riders in the Sky, Bagel Call Lekach und Teig Als Bühnenstar feierte er bis in die Rag, Hermendels Koch-Alain, The Heringgedärm, gefülltes Häl- Siebzigerjahre wahre Triumphe. Poipel Kishke Eater, The Little White sel und Bagel …) „Er spielte jedes Mal so lange, wie Knish that Cried, Hansel and Gensel das Publikum es wünschte“, erin- und so weiter. Aus dem Hit Sixteen Mickey besang keine zärtlich ge- nert sich sein Sohn Joel Grey, be- Tons über das harte Leben der Gru- hegte Erinnerung an eine verlorene kannt geworden durch seine Rolle benarbeiter in Kentucky machte er Welt, sondern einen sehr leben- als Conferencier in Cabaret. „Es war eine Nummer über das Leben in digen Strom in der amerikanischen immer ein Genuss, wenn er um vier einem New Yorker Deli. Das hörte Küche. Und wie selbstbewusst er in der Früh von der Arbeit nach sich so an: den in Europa verpönten sprach- Hause kam und mich aufweckte, Sixteen tons all kinds of lichen Mischmasch der jüdischen um zusammen eine Schüssel Him- smoked fishes Einwanderer einsetzte! Essen war beerjelly mit Schlagobers zu es- Latkes, blintzes und hejsse offensichtlich eine seiner Lieblings- sen.“ Katz wurde zum Vorreiter ei- knishes beschäftigungen, aber das Schmalz ner neuen amerikanisch-jüdischen Identität, zum Verteidiger des kul- turellen Erbes der Einwanderer, ih- rer Musik, ihrer Sprache und ihrer Küche. Der Erfolg gab ihm recht. Was Jahre später als „New Radical Klezmer“ von den USA aus die in- ternationale Jazz- und Folkszene zutiefst beeinflusste und heute aus keinem Weltmusikfestival wegzu- denken ist, wurde von Mickey ge- gen viele Widerstände über die Ra- diostationen verbreitet. In seinen Erinnerungen schildert er folgendes Gespräch Anfang der Fünfzigerjahre mit einem Radiomanager in Phila- delphia:

„Ich fragte ihn, warum er nicht meine Platten spielte. Er sagte: „Weil sie einige unserer Hörer be- leidigen werden.“ Ich fragte: „Wen, außer Sie?“ Er sagte: „Das geht Sie nichts an.“ Ich darauf: „Oh doch, denn ich le- be davon. Sie spielen italienische und polnische Platten …“ Er unterbrach mich. „Ich werde keine einzige Platte mit Jiddisch

36 nu 3·2012 „Das Wort vom Schmelztiegel traf haar- genau auf das frühe Zwanzigste Jahrhundert in Cleveland zu, in das ich hineingeboren wurde“, spielen. Jiddisch ist die Sprache des nen Grammy bekommen.) Und wer Ghettos.“ heute die verschiedenen Fusions schreibt Mickey in seinen „Lieber Freund“, sagte ich, „Jiddisch der Balkan Brass Bands wie der von Erinnerungen. „Die Stadt ist die Sprache unserer Vorväter.“ Shantel hört, weiß, dass Klezmer Wieder unterbrach er mich. „Dieser wieder dort angekommen ist, wo zählte an die siebenhun- Sender wird keine jüdische Musik er herkommt, und weit über seine derttausend Menschen, sie mit jiddischem Text bringen.“ einstigen kulturellen Grenzen hi- naus die jungen Musiker inspiriert. war eine der ersten amerika- 1993 hörte ich seine Musik live in Den Paten dieser Renaissance ken- nischen Mischgesellschaften. Wien, gespielt von dem großen Kla- nen nur mehr wenige. Mein liebster rinettisten Don Byron, ein groß- Song ist der über das Wehgeschrei Junge, waren wir durch- artiges Konzert, in dem schwarze einer Ente, die mit anhören muss, einandergemischt! Iren, und jüdische Musiker auf der Büh- wie sie um sechs Dollar verkauft ne standen. „Mickey Katz war ent- wird, bevor der Geflügelhändler das Italiener, Juden, Polen, scheidend daran beteiligt, wie sich Messer ansetzt, und sich ausmalt, Schwarze, Kroaten, Litauer, ethnische Traditionen gegen den was die Lady alles mit ihr anstellen herrschenden Geschmack durchset- wird: füllen, braten, das Schmalz Slowenen, Jugoslawen, zen können“, erzählte Byron nach- auslassen … Anzuhören auf You- Griechen, Russen – her. „Viele afroamerikanische Musi- tube: Geshray of De Vilde Kotchke. ker sind von ihm inspiriert worden Die arme gerupfte Katschke ist auf Cleveland hatte sie alle! und dann in die Klezmerklassen dem Cover von „Don Byron plays Vielleicht empfand ich von der Musikhochschulen gegangen, the music of Mickey Katz“ zu sehen, um dort die Klarinettentechnik der und einige von Mickeys Platten sind daher immer Toleranz für Klezmorim zu erlernen. Mickeys inzwischen auf CD zu bekommen. andere.“ Musik war auch ein politisches Statement gegen die Assimilation.“ In den Vierzigerjahren hatten große Klarinettisten wie Mezz Mezz- row (Milton Mezirow), Artie Shaw (Arthur Jacob Arshawsky) oder Ben- ny Goodman es strikt abgelehnt, Klezmer in ihre Musik einfließen zu lassen. Fünfzig Jahre später began- nen Musiker, die aus der Rocksze- ne kamen, wie die Klezmatics, in einem Crossover traditionelle Mu- sik aus Chassidismus, Folklore und jüdischer Arbeiterbewegung mit ka- ribischem Ska, Jazz und Rock für ein junges Publikum zu fusionieren. Als ich die Klezmatics zum ersten Mal hörte, im Herbst 1990, flogen mir fast die Ohren weg. Das Publi- kum in der „Szene Wien“ wurde magnetisch nach vorne gezogen und fiel beinahe in Ekstase. Einige Leute, die sich ein gefühliges Kon- zert erwartet hatten, reagierten ver- stört. „Not so loud!“ rief jemand nach den ersten fünf Minuten. „We are a loud band“ kam es von der Bühne. (Inzwischen haben sie ei-

3·2012 nu 37 SCHACH

Zug um Zug zum Schachboom

Als Boris Gelfand im WM-Finale spielte, schaute sogar Premier- minister Netanjahu zu. Der Schachmeister ist dafür verantwortlich, dass Israel Schach als jüdischen Sport entdeckt.

VON ANATOL VITOUCH

Es gab Zeiten, da freute der Schach- Kampf um die Schachweltmeister- kauer Tretjakow-Galerie ausgetra- profi Boris Gelfand sich nicht be- schaft. gene WM-Kampf zumindest einige sonders auf Pressekonferenzen in Millionen Inder faszinieren würde, seiner Wahlheimat Israel. Früher Als etwa 1972 der Russe Boris Spas- war vorherzusehen, weil von den oder später, so wusste er aus Erfah- ski und der US-Amerikaner Bobby vorherigen Titelverteidigungen des rung, würde ein Journalist aufzei- Fischer den Kalten Krieg symbolisch amtierenden Weltmeisters Viswana- gen, um die unvermeidliche Frage auf einem Schachbrett in Reykjavík than Anand bekannt. zu stellen: „Herr Gelfand, und was austrugen, heuerte plötzlich jede machen Sie eigentlich beruflich?“ Provinzpostille einen Schachmei- Dass aber ganz Israel einen bei- ster an, der die Partien für die ei- spiellosen Schach-Boom erleben Dass es im Spitzenschach heutzu- gene Leserschaft aufbereiten sollte. würde, war nicht unbedingt zu er- tage ebensowenig Amateure gibt warten. Der 1968 in Minsk gebo- wie im Hochleistungssegment der Dass der diesjährige, in der Mos- rene WM-Herausforderer Boris Ab- meisten anderen Sportarten; dass ramovich Gelfand, der 1998 nach mehrstündiges tägliches Training Israel emigriert war, hätte ange- für Schachgroßmeister genauso Schach als neue Serie im NU sichts seiner eingangs erwähnten zum Alltag gehört wie für Fußball- Nicht weniger als sechs der fünf- Erfahrungen wahrscheinlich am zehn Weltmeister, aus denen die oder Tennisprofis; und dass die bei wenigsten damit gerechnet. Und 1886 mit dem Juden Wilhelm Turnieren eingespielten Preisgelder, Steinitz begonnene Ahnenreihe doch war er es, der dieses unge- auch wenn sie vergleichsweise be- der Schachchampions besteht, ahnte Interesse bis hinauf zur Spit- scheiden ausfallen, für die Besten waren jüdischer Herkunft. Hinzu ze des Staates auslöste. Premiermi- des Spiels durchaus zum Überleben kommen noch mehrere jüdische nister Netanjahu ließ sich täglich reichen – all das gehörte in Israel WM-Herausforderer sowie unzähli- über den Spielstand informieren bis vor kurzem nicht unbedingt ge jüdische Großmeister des Spiels. und verfolgte einige Partien sogar zum Allgemeinwissen. Grund genug für NU, jüdischen live im Internet. Das israelische Schachgrößen eine neue Serie zu Fernsehen hievte einen Bericht Im Mai dieses Jahres hat sich das widmen. In ihr werden wir die über die Ausweitung des „Schach mit einem Schlag geändert. Dafür wichtigsten jüdischen Schachspie- in die Schulen“-Programmes in die ler porträtieren – inklusive eines ist ein Ereignis verantwortlich, das Prime-Time-News. Und in einer Schachrätsels. Den Auftakt macht schon oft die Kraft hatte, Menschen Boris Gelfand, der für den aktu- der populärsten Comedy-Shows im für das Schachspiel zu begeistern, ellen Schach-Boom im Israel ver- israelischen TV, Eretz Nehederet, die es vorher eher mit Pensionisten- antwortlich ist. wurde eine Gelfand-Parodie zum treffs in Verbindung brachten: der großen Hit.

38 nu 3·2012 Tatsächlich war Boris Gelfand der erste israelische Staatsbürger, der an einem Zweikampf um die Schachweltmeisterschaft teilnahm. Mitnichten war er jedoch der erste Jude, der um die Schach-Krone kämpfte.

Selbst die Tatsache, dass Gelfand Tatsächlich war Boris Gelfand der bedurfte, um Schach in Israel von den Wettkampf schließlich in den erste israelische Staatsbürger, der an seinem Mauerblümchendasein zu Entscheidungspartien mit ver- einem Zweikampf um die Schach- befreien. Immerhin dürfte es kaum kürzter Bedenkzeit verlor, nachdem weltmeisterschaft teilnahm. Mit- eine intellektuelle Disziplin geben, er das Match zuvor 6:6 unentschie- nichten war er jedoch der erste Jude, in der der Anteil an Juden unter den gehalten hatte, konnte der Be- der um die Schach-Krone kämpfte. den besten Köpfen größer ist als im geisterung keinen Abbruch tun. Schachspiel. Boris Gelfand ist der Ganz im Gegenteil: Nicht weniger wohl nur vorläufig letzte Erbe einer Bei seiner Ankunft am Ben-Guri- als sechs (!) der fünfzehn Weltmei- langen Tradition. on-Flughafen wurde der denkbar ster, aus denen die 1886 mit dem knapp unterlegene Herausforderer Juden Wilhelm Steinitz begonnene Natürlich gab es auch Zeiten, in von einer jubelnden Menschen- Ahnenreihe der Schachchampions denen der jüdische Beitrag zur menge mit „Bo-ris! Bo-ris!“-Sprech- besteht, waren jüdischer Herkunft. Schachgeschichte vergessen ge- chören wie ein Nationalheld emp- Hinzu kommen noch mehrere jü- macht werden sollte. Als die Nazis fangen. Einige Tage später luden dische WM-Herausforderer, die wie mithilfe des damals amtierenden dann der Premierminister und die Gelfand an der letzten Hürde schei- Weltmeisters Alexander Aljechin Sportministerin Gelfand zu einem terten, sowie unzählige jüdische (der später angab, dazu gezwungen Treffen ein, bei dem die Ministerin Großmeister des Spiels. worden zu sein) den Versuch un- überraschend versprach, eine Mil- ternahmen, eine „arische“ Schach- lion Schekel an Förderung für das Vor diesem beeindruckenden Hin- geschichte zu verbreiten, erreichte israelische Schach zur Verfügung zu tergrund überrascht es etwas, dass das Vorhaben allerdings schnell die stellen. es erst des aktuellen WM-Kampfes Grenze zur Absurdität. FOTO ©: EPA

3·2012 nu 39 Die solchermaßen „bereinigte“ Ge- Gutmayer war selbst ein mittel- schichte des Spiels wies nämlich Schon in den mäßiger Spieler. In seinen rassisti- so viele offensichtliche und daher Zwanzigerjahren hatte der schen Tiraden lässt sich sehr genau peinliche Lücken auf, dass sie von die Wahlverwandtschaft von An- niemandem ernst genommen wur- Wiener Schachpublizist tisemitismus und Ablehnung der de. Franz Gutmayer eine anti- kulturellen Moderne nachweisen, wie sie etwa auch im Begriff der Schon in den Zwanzigerjahren hat- semitische Theorie des „entarteten Kunst“ zum Ausdruck te der Wiener Schachpublizist Franz Schachs entwickelt, die ein kommt. Gutmayer eine antisemitische The- orie des Schachs entwickelt, die ein anschauliches Beispiel dafür Was Gutmayer nämlich als „feig“ anschauliches Beispiel dafür bietet, bietet, wie das Spiel zu allen zu delegitimieren trachtete, war wie das Spiel zu allen Zeiten Pro- nichts anderes als das moderne Po- jektionsfläche für gesellschaftliche Zeiten Projektionsfläche für sitionsspiel, das auf einem vertief- Konflikte und Spiegelbild kulturel- gesellschaftliche Konflikte ten Verständnis schachtechnischer ler Transformationen war. Gesetzmäßigkeiten beruhte – und und Spiegelbild kultureller daher für den Amateur naturgemäß Gutmayer phantasierte in seinen Transformationen war. schwerer verständlich war als die Schriften vom „feigen“ Spiel der romantische Schachperiode des 19. „Schachjuden“, die nur auf die An- Jahrhunderts. Genau die wünschte häufung kleiner Vorteile aus seien. Übermachtsspielern“ entgegen, sich Gutmayer, getarnt als deutsch- Diesem Bild stellte er die Vision die in mutigem Opferstil die feind- tümelnde Zukunftsvision, sehn- einer „kühn-kräftigen Rasse von lichen Bastionen erstürmen sollten. lichst zurück.

Heutzutage herrscht im Schach – wie in der Kunst – die Unübersichtlichkeit des Eklektizismus. In den Partien Boris Gelfands lassen sich daher positionelle Meisterleistungen ebenso finden wie neo- romantische Glanzstücke. Dem Folgenden hätte wohl sogar ein Franz Gutmayer applaudieren müssen:

Gelfand – Kramnik, München 1994: Mit welchem doppelten Figurenopfer kämpfte Gelfand sich entscheidend den Weg zum schwarzen König frei?

Auflösung in der nächsten Ausgabe von NU.

40 nu 3·2012 KULTUR

Der geniale Sprachverdreher

Er schüttelte Reime und Noten aus dem Ärmel wie kein anderer. Porträt des jüdischen Multitalents Franz Mittler, dessen Kunst heuer beim Kammermusikfestival auf Schloss Laudon gewürdigt wurde.

VON PETER WEINBERGER

Vielleicht ist gerade Franz Mittler dender Pianist. Doch davon später. Die vor sich hinbrüllt, als Person besonders gut dazu ge- Das Spielen mit Sprache, die um- Das ist die Brünnhild. eignet, um jene rund zwanzig Jah- werfende Rhythmik in so manchem Der Kurti ließ ein re vor 1938 zu charakterisieren, in seiner bestens bekannten Schüttel- Stinkerl wehn, der Wien von genialen „Luftmen- reime, lassen gelegentlich das musi- Drum muß er jetzt schen“ geradezu überquoll. Sie alle kalische Genie in Mittler vergessen. im Winkerl stehn. – vom Dichter und Kaberettisten Neben den unvergesslichen Schüt- Peter Hammerschlag bis zum Es- telreimen aus seiner Wiener Zeit, Und „heimisch“ klingenden Bos- sayisten Anton Kuh – versprühten die fast jeder kennt, wie etwa haftigkeiten: den intellektuellen Charme und Witz eines assimilierten Wiener Ju- Der einst die Von Kopfe bis zum dentums und haben ganz wesent- Hottentotten schor, Haxl sieß lich zur Kultur der Zwischenkriegs- Ist jetzt Friseur War eine Maid, zeit beigetragen – wofür sie nach am Schottentor. die Sachsel hieß. 1945 nie honoriert worden sind. Blas’ ich die In der bösen Franz Mittler war nicht nur ein Mei- G-Dur-Barkarole, Träume Schlaf sterschüttler von Reimen, sondern So spielt mir Gestern ich den vor allem ein Komponist und blen- B-Dur gar ka Rolle. Schlojme traf.

3·2012 nu 41 Schon seit der Franz Mittler entstammte einer ös- ben. Vor allem für Leo Slezak, über grauen Vorzeit jaiern terreichischen Unternehmerfami- dessen „böhmakeln“ sich Mittler Die Juden, wenn sie lie. Der Großmutter Fanny Biach gelegentlich lustig machte, gehörte Johrzeit feiern. widmete der Elfjährige Thema und er zu den Lieblingsbegleitern. In Variationen für Violine und Kla- dieser Zeit komponierte er Tangos, Was für ein Gejüdel vier. Eine andere Verwandte, Leo- Walzer und Polkas; er war vermut- in Kammer am See? nie Gombrich, war einerseits As- lich einer der allerersten, die sich Samer am Kai? sistentin des in Wien unglaublich mit dem Phänomen „Jazz“ aus- einflussreichen Pianisten Theodor einandersetzten. Später gesellten sich in der Emigra- Leschetitzky und andererseits ei- tion noch „Limericks“ in englischer ne der Lehrerinnen Mittlers. Sei- Sein wahrscheinlich bedeutendstes Sprache bzw. in einem englisch- ne musikalischen Ausbildung er- Engagement erfolgte in den Drei- deutsch-jiddischen Gemisch dazu: hielt er an der k. k. Akademie für ßigerjahren als ständiger Beglei- Musik und darstellende Kunst in ter und „Musikdirektor“ von Karl Daphne Blumberg, Wien bei Leszetycki (Klavier) so- Kraus bei dessen legendären Auf- who visited Rome, wie Richard Heuberger und Carl tritten. Kraus konnte weder Noten Went at Easter to Prohaska (Komposition) und am lesen, noch war er musikalisch. Die Saint Peter’s Dome. Konservatorium in Köln bei Fritz Aufgaben Mittlers bestanden darin, She waved to the Pontiff Steinbach und Carl Friedberg (Or- Kraus Melodien zu Couplets einzu- A friendly: Good Yonteff! chesterleitung). Noch als Jugendli- bläuen, etwaige Vorspiele (Intro- „And Pius waved back“, cher komponierte er in den Jahren duktionen) zu improvisieren und she wrote home. von 1909 bis 1912 Kompositionen, gelegentlich Tonarten anzupassen, von denen einige bei Universal ver- wenn Kraus sich wieder einmal in At a restaurant in öffentlicht wurden. der Melodie „verirrte“. Bei Kraus’ Massachusetts Vorliebe für Offenbach-Operetten I saw a girl eating Internationale Karriere machte keine leichte Aufgabe. Alban Berg Crêpes Suzettes. Mittler in den Zwanzigerjahren des gehörte, wie vielleicht bekannt ist, She looked Viennese letzten Jahrhunderts insbesonde- zu den begeisterten „Krausianern“ So I said to her: „Please, re als Liedbegleiter. Die Liedzyklen und damit auch zu den Bewunde- Do you mind it, von Schubert, Schumann, Brahms, rern der musikalischen Flexibilität wenn ich mich dazu setz’?“ Wolf und Richard Strauss konnte Mittlers. er aus dem Gedächtnis wiederge- My daughter went, 1938, zum Zeitpunkt des Einmar- said Mrs. Bendix, sches der Deutschen Truppen in To the hospital for Österreich, befand er sich auf einer her appendix. Mittlers bedeutendstes Konzertreise in Holland. Wegen sei- „Oy“, remarked Mrs. Fuchs ner jüdischen Herkunft, aber auch „The way that girl looks Engagement erfolgte wegen seiner engen Verbindung zu The appendix is ‘eppes lebendigs!“ in den 1930er-Jahren Karl Kraus, konnte er nicht mehr nach Wien zurückkehren, um seine Vielleicht am allerbesten lässt sich als ständiger Begleiter Manuskripte abzuholen. Ab Dezem- Mittlers Leichtigkeit im „Sprachver- und „Musikdirektor“ ber 1938 begann für ihn ein neu- drehen“ mit folgendem Zweizeiler er Lebensabschnitt in New York. zeigen, von Karl Kraus. Dieser 1939 stieß er beim Verlassen eines konnte weder Noten Aufzugs mit einer jungen Frau zu- Le lunch était delicious sammen, die auf den Aufzug war- Now we must faire les dishes. lesen, noch war er tete: Regina Schilling, eine ehema- musikalisch, was Mittler lige Studentin und Absolventin des in dem lediglich ein paar Worte Wiener Konservatoriums. Bereits genügen, um Französisch mit dem bestens zu kaschieren Ende 1939 wurde geheiratet, Trau- Englisch deutscher oder österreichi- wusste. zeuge war Erich Zeisl, einer der ver- scher Emigranten zu vermischen. triebenen Wiener Komponisten.

42 nu 3·2012 Franz Mittler ist als Person besonders gut dazu geeignet, um jene rund zwanzig Jahre vor 1938 zu charakterisieren, in der Wien von genialen „Luftmenschen“ geradezu überquoll.

Zunächst (1940–1942) arbeitete Wolhynien, Scherzo (Serbien), Stei- At the Circus und A Night in Casab- Mittler als Arrangeur bei Columbia ermark, Rapsodia ungherese (Un- lanca überzeugen lassen. Die ent- Records. Nach der kriegsbedingten garn), durchlaufen seine Stationen sprechenden Szenen sind Klassiker Schließung seiner Abteilung fand als Leutnant in der k. u. k. Armee. der Filmkunst. er Zugang zu einem Verleger, in Im Vorprogramm zu dieser Dar- Und nachdem lediglich zweizeilige dessen Verlag eine Reihe seiner bietung lasen Christa und Kurt Schüttelreime zitiert worden sind, Tanzmusikstücke (z. B. Bolero in Schwertsik einige seiner Schüttel- vielleicht als Abschluss noch ein et- Blue oder Boogie-Woogie in Blue) er- reime und Diana Mittler-Battipa- was komplizierteres Exemplar: schien. Das 1943 gegründete First glia (New York), Mittlers Tochter, Piano Quartet, bestehend aus drei erzählte über ihren Vater. Der Gast verfolgte bis Wiener Pianisten (Holt, Robert, aufs Schiffsdeck Mittler) und einem Russen (Padwa) Übrigens, das optisch wohl ein- Die Fliege, die ihm schiß gestaltete sich zu einer Sensation: druckvollste Musikstück Franz Mitt- aufs Beefsteak, Die vier spielten auswendig alles, lers ist die One Finger Polka (Piano Worauf er laut und von Bach über Händel bis zu Bee- Solo), Dedicated to Chico Marx’s se- erbost rief: thoven und Schubert, und das bloß cond finger, 1945. Von Chico Marx’s „ich will ein unbeschiß’nes über Blickkontakt. Margaret und Klavierclownerie kann man sich Roastbeef!“ Harry Truman befanden sich un- leicht in den Marx-Brothers-Filmen ter den vielen Fans dieses Quartetts. Die Konzertsäle waren übervoll, Ra- dioübertragungen und Schallplat- tenaufnahmen folgten. Das Quar- tett bestand bis 1961. Ab diesem Zeitpunkt flaute das Interesse an ar- rangierter klassischer Klaviermusik ab. Das freiberufliche Musikerleben wurde mühsam, überdies erwies sich seine Ehe als zerrüttet.

1964 „rückübersiedelte“ er nach Europa, nach Siegsdorf in Bayern, etwa 50 Kilometer nördlich von Salzburg gelegen. Zwischen 1965 und 1967 half er zunächst bei der Sommerschule des Mozarteums aus, dann aber hinderten ihn eine zu- nehmende Parkinson’sche Krank- heit und Arthritis in den Händen an weiteren öffentlichen Auftritten. Er starb am 27. Dezember 1967.

Da seine Kompositionen in Öster- reich (Wien) größtenteils unbe- kannt sind, spielte das Aron Quar- tett beim Kammermusikfestival im Schloss Laudon, das „Vertriebener Musik“ gewidmet ist, am 24. Au- gust 2012 sein Streichquartett Nr. 3 in d-Moll, Aus der Wanderzeit, das gewissermaßen eine Hommage an das alte Österreich, an das Habsbur- ger Österreich, darstellt. Die Sätze

3·2012 nu 43 KULTUR

Sehnsucht, Begehren und Sommerfrische

Zum 150. Geburtstag Arthur Schnitzlers wurden in Reichenau zwei seiner Theaterstücke gespielt. Eine Nachlese.

VON IDA LABUDOVIC´

Da sitzt er, der junge Arthur Schnitz- wechselnden Stimmungen und Ge- wärme Schnitzlers Interesse weckte ler, vor dem offenen Fenster und fühlen zwischen der Schauspiele- und zu einem literarischen Begriff einem weißen durchsichtigen Vor- rin und dem Dichter. Aus der Angst wurde. Auch das Thema Ehebruch hang im Saal des Thalhofs. Einst ge- nicht verletzt zu werden, verletzen kommt im Reigen vor. Das Bühnen- hörte dieses Haus mit kulturellem sie einander ständig. Sie erwarteten werk löste einen Theaterskandal aus, Flair der Wirtin Olga Waissnix, die viel von einander, sodass sie es nie auch weil es die Zeitlosigkeit dieses Tochter des Besitzers des Südbahn- schaffen konnten, länger zusammen Themas zeigte und die großbürger- hotels am Semmering. Schnitzler zu bleiben. Obwohl Schnitzler ein liche Gesellschaft durchleuchtete. nannte sie das „Abenteuer meines aufmerksamer Beobachter und Ana- Als 1920 Reigen in Berlin aufgeführt Lebens“. Der Geruch von nassem lytiker war, konnte er Adeles emoti- wurde, stellte die Staatsanwaltschaft Gras, die Sommerfrische und das Be- onalen Ausbrüche nicht aufarbeiten. die Direktion des Kleinen Schauspiel- gehren zu Adele Sandrock erweckten Untreu waren beide, was zur Tren- haus, den Regisseur und die Dar- ihn. Die berühmte Schauspielerin nung führte. Im Drama Reigen hat steller wegen Erregung öffentlichen und er begegneten einander bei den Schnitzler seine Beziehung mit Ade- Ärgernisses vor Gericht. Verteidiger Proben zum „Märchen“, Schnitzlers le Sandrock, in der Begegnung zwi- Wolfgang Heine sagte damals, dass erstes Stück, das für die große Bühne schen dem Dichter und der Schau- es „immer weniger um Schnitzler gedacht war. Die intensive Beziehung spielerin in der achten Szene nach- geht und immer mehr um nationa- dauerte etwa eineinhalb Jahre und gebildet. listisch-rassische Interessen“. Das war geprägt von Leidenschaft und Trotz des Bruchs zwischen Ade- Gericht wurde mit einer doppelten Abneigung. Übrig blieben 200 ex- le Sandrock und Schnitzler brachte Fragestellung konfrontiert: Erstens, pressive Briefe, die die Grundlagen das Stück Liebelei den beiden im Jahr ist „das dargestellte Stück an sich un- für den Einakter Ach, Arthur darstell- 1895 den großen Erfolg. Die Pro- züchtig“, und zweitens, „haben sich ten und von Helga David im Thal- blematik der außerehelichen Liebe, die Darsteller objektiv im Einzelnen hof in Reichenau an der Rax insze- die in der Zeit der Wiener Moder- unzüchtige Handlungen zuschulden niert wurden. In der Festspielsaison ne typisch war, wurde zum gesell- kommen lassen?“. Das Ergebnis war, 2012 wurde Schnitzler in Reichenau schaftlichen Thema. In diesem The- dass das Stück einen sittlichen Ge- gleich zwei Mal gewürdigt. Im Neu- aterstück kommt eine Klassenteilung danken verfolgt und der Dichter zei- en Spielraum im Theater Reichenau vor: Einerseits die verheiratete Frau gen wollte, wie falsch sich das Lie- brachte Helmut Wiesner Reigen auf aus der Oberschicht und die Bezie- besleben abspielt und zur „Besserung die Bühne. hung mit ihr, die gesellschaftliche der Gesellschaft beitragen“ wollte. Der verfallene Fin-de-Siècle-Ballsaal Komplikationen mit sich bringt. des Thalhofs und seine Aura sind in Andererseits das süße Mädel, das Im Zentrum des Neuen Spielraums Ach, Arthur der Austragungsort von mit ihrer Zärtlichkeit und Herzens- im Theater Reichenau befindet sich

44 nu 3·2012 „Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Menschen aufgedeckt habe“, schrieb Sigmund Freud an Arthur Schnitzler. ein opulentes Bett. Die Inszenierung kritisierte scharf das, was verboten Ehe wurde geschieden, die Tochter des Reigen stammt von Helmut Wies- war auszusprechen. Mit seiner unge- beging Selbstmord und immer öfter ner, der schon acht Mal Regie bei heuren Sprachbeherrschung kämpfte spürte er den wachsenden Antise- verschiedenen Schnitzler-Bühnen- er gegen Antisemitismus, gegen In- mitismus. Er zog sich immer mehr stücken führte. Die zehn Liebesrei- trigen und Doppelmoral der Gesell- zurück und lud einen kleinen Freun- gen-Szenen wurden jeweils mit einem schaft, die er mit Sarkasmus beobach- deskreis prominenter Schriftsteller, von Schnitzler komponierten Walzer tet und demaskiert hat. Das schaffte wie Hugo von Hofmannsthal, Felix getrennt. Es beginnt mit der Dirne ihm viele Feinde. Er schrieb über ei- Salten, Franz Werfel und Fritz von und dem Soldaten. Das Bett besteht ne Zeit der Widersprüche und schuf Unruh, in sein Haus in der Sternwar- nur aus einem Brett und ist einfach, literarische Bilder von Prateralleen, testraße ein. In seinem Leben fühl- so wie die Gespräche dieses Paars. Donauufer und großbürgerlichen te er sich einsam, war nachdenklich Gefühle sind kein Thema. Je höher Wohnungen. Von Anfang an wurde und melancholisch. Die Unsicher- die soziale Schichte in den folgenden er nicht nur wegen der Thematik sei- heit des Lebens machte ihn unglück- Szenen, desto komplizierter wird es ner Werke, sondern auch aus antise- lich. Er war ein Wahrheitssucher, der zwischen den Menschen. Am An- mitischen Motiven angegriffen. die menschliche Seele durchleuch- fang steht großes Begehren, am Ende Die Zwanzigerjahre brachten tete und bis heute aktuell geblieben meist eine Enttäuschung, die schnell Schnitzler Schwierigkeiten. Seine ist. zum Auseinandergehen führt. Nach der Leidenschaft bleibt die Banalität. Die am meisten berührende Szene Schauspielerin und Dichter, Günter Franzmeier und Petra Morzé kommt am Ende. Nach einer durch- zechten Nacht mit seinem Freund be- findet sich der Graf im Zimmer der Dirne. Sie kommen einander emotio- nell sehr nah und das ist die einzige Szene, in der das Paar nicht miteinan- der schläft. So schließt sich der Kreis des Liebesreigens.

Wegen seiner Beschäftigung mit dem psychologischen Aspekt des sexuel-

len Verhaltens wurde Schnitzler als FOTO ©: FESTSPIELE REICHENAU/JOHN LLOYD DAVIES literarisches Pendant zu Sigmund Freud bezeichnet. „Ich habe den Eindruck gewonnen, dass Sie durch Intuition alles das wissen, was ich in mühseliger Arbeit an anderen Men- schen aufgedeckt habe“, schrieb Freud an Schnitzler. Arthur Schnitzler war ein introver- tierter und mitfühlender Mensch. Er liebte in seinem Leben viele Frauen, das Spazierengehen und Wien, den Ort seines Lebens und seiner Werke. Er war eine starke Identifikationsfi- gur, sein Wien hat er nie verlassen. Eine Stadt der Gemütlichkeit, Kaf- feehäuser, Kunst, Erotik und der Le- benslüge, die sich in der Gesellschaft etabliert hat. Schnitzler gehörte dem gehobenen Bürgertum an und ver- spürte gesellschaftliche Zwänge. Er

3·2012 nu 45 KULTUR

Importierter Hass

Der Islam war nicht immer judenfeindlich, im Gegenteil. Wie der Antisemitismus zum Islam fand und welche Rolle Europa dabei spielte. Ein historischer Essay.

VON HERBERT VOGLMAYR

Die Tatsache, dass Antisemitismus heute in der ara- Sprache, von der anschließend ein christlicher Überset- bischen Welt weit verbreitet ist, steht in einem auffal- zer eine Fassung in Latein erstellte. Es bildeten sich Über- lenden Widerspruch dazu, dass er in der klassischen setzerteams, die sich zu Übersetzerschulen entwickelten, islamischen Tradition kaum eine Rolle spielte, jedenfalls die wiederum als Vorläufer der später gegründeten eu- nicht so wie in der christlichen Tradition. Erst mit der ropäischen Universitäten gelten. Wenn man also heute Übernahme nationalistischer Ideologien aus dem Westen von der jüdisch-christlichen Tradition des Abendlandes hat der europäische Antisemitismus im 19. Jahrhundert spricht, dann muss man hinzufügen, dass es – quasi als Eingang in den Nahen Osten gefunden und sich durch Seitenlinie – auch eine jüdisch-islamische Tradition des die Palästinafrage im 20. Jahrhundert verstärkt. Lange Abendlandes gibt. Zeit hinter dem Begriff „Antizionismus“ versteckt, hat der Antisemitismus inzwischen in der arabischen Welt Diese Tradition bezieht sich allerdings auf den sunni- feste Wurzeln geschlagen, was nicht zuletzt eine fried- tisch-arabischen, nicht auf den schiitisch-iranischen Is- liche Lösung des Nahostkonflikts erschwert. lam mit seiner fanatischen Unterscheidung zwischen Reinheit und Unreinheit. Diese Unterscheidung findet Es empfiehlt sich daher vielleicht, auf bessere Tage der man zwar auch bei den Sunniten, aber sie bleibt bei jüdisch-islamischen Geschichte zu blicken, etwa auf die ihnen auf Gegenstände und Tiere beschränkt, während jüdisch-islamische Blütezeit des von den Mauren re- sie im schiitischen Islam auf die Juden übertragen wird gierten mittelalterlichen Spanien, in dem islamische, und somit die Grundlage bietet für eine schiitische Spiel- jüdische und christliche Gelehrte und Theologen aus art des Antisemitismus, die wir seit Chomeini von den denselben antiken Quellen schöpften und eine Hochkul- Äußerungen iranischer Ajatollahs und besonders Ahma- tur entstand, die von großen jüdischen und islamischen dinedschads kennen. Philosophen wie Maimonides und Averroes verkörpert wurde. Im späten Mittelalter war es die ebenfalls islamisch (je- doch nicht arabisch) geprägte Epoche der osmanischen Da das Interesse an maurischer Gelehrsamkeit nörd- Herrschaft, in der die Juden eine bedeutende gesellschaft- lich der Pyrenäen sehr groß war, gaben die christlichen liche Rolle spielten. Im 15. und 16. Jahrhundert wan- Klöster Übersetzungen arabischer Schriften in die eu- derten viele sephardische Juden, die von den katholischen ropäische Wissenschaftssprache Latein in Auftrag. Als Königen aus Spanien vertrieben wurden, ins Osmanische Übersetzer fungierten in der Regel sprachkundige Juden, Reich ein. Auch aus Europa kamen in dieser Zeit viele die seit dem frühen Mittelalter als Händler durch Europa Juden, die durch Berichte über die größere Toleranz ange- zogen und polyglott gebildet waren. Da die Juden aus re- lockt wurden, die hier im Unterschied zu Europa herrsch- ligiösen Gründen den Gebrauch der lateinischen Sprache te. Sie bekleideten wichtige Stellungen in Handel und Ge- zu vermeiden suchten, ließen die christlichen Auftragge- werbe, auch im Staatsdienst, blieben aber kulturell – ver- ber einen arabischen Text in zwei Schritten übersetzen. glichen mit der „arabisch-jüdischen Symbiose“ im mau- Ein Jude übertrug die arabische Vorlage in die kastilische rischen Spanien des frühen Mittelalters – stets Fremde.

46 nu 3·2012 Erst mit der Übernahme nationalistischer Ideologien aus dem Westen hat der europä- ische Antisemitismus im 19. Jahrhundert Eingang in den Nahen Osten gefunden und sich durch die Palästinafrage im 20. Jahrhundert verstärkt.

Mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches und der Entstehung nationalistischer Strömungen wie Panturkis- mus und Politischer Islam im 19. Jahrhundert gewann auch der Antisemitismus an Boden. Der sprichwörtlich gewordene „kranke Mann am Bosporus“ richtete den Hass türkischer Muslime auf ethnische und religiöse Minderheiten wie Armenier und Juden. Die ersten an- tisemitischen Pamphlete in arabischer Sprache erschie- nen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und wurden aus den französischen Originalen übersetzt, wo die Belle Epoque den antisemitischen Exzess der Dreyfus-Affäre hervorgebracht hatte. Letzteres thematisiert übrigens Umberto Eco in seinem neuen Buch „Der Friedhof in Prag“, ebenso die um diese Zeit fabrizierte Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“, die wahrscheinlich in Frankreich, im Auftrag der zaristischen Geheimpo- lizei Ochrana, entstanden und zur wichtigsten „Legi- timationsschrift“ des europäischen Antisemitismus im 20. Jahrhundert wurden. Sie fanden ebenfalls den Weg in den arabischen Raum, wo sie heute Teil der Hamas- Charta sind.

Die meisten Übersetzungen stammten von arabischen Sayyid Qutb nahm die Stereotype des europäischen Katholiken, Maroniten und anderen Unierten, also Antisemitismus auf. Die Abbildung erschien auf dem Angehörigen von mit Rom verbundenen christlichen Titelblatt der französischen Zeitschrift „La libre Parole“ Gemeinschaften. Später folgten Übersetzungen nati- (Das Freie Wort), vom 28. Oktober 1893. onalsozialistischer Propagandaschriften. Sayyid Qutb, der theoretische Vordenker der ägyptischen Muslim- bruderschaft, konstruierte eine jüdische Verschwörung gegen den Islam, er nahm die Stereotype des europä- ischen Antisemitismus auf und transformierte sie in einen islamisch begründeten Antisemitismus, der zu- nächst nur in unbedeutenden, ideologisch verblende- ten Minoritäten vorkam. Wie fremd das antisemitische Denken der arabisch-islamischen Kultur anfangs war, zeigte sich an den judenfeindlichen Karikaturen, die mit den antisemitischen Schmähschriften in arabischen Ländern auftauchten. Erst nach einigen „pädagogischen Anstrengungen“ waren arabische Zeitungsleser imstan- de, die in solchen Karikaturen verwendeten Symbole des „Jüdischen“ überhaupt zu verstehen. Heute gibt es in dieser Hinsicht keine Probleme mehr. Nach der Un- abhängigkeit etablierten sich in den arabischen Staaten nationalistisch-autoritäre Regimes, die auch dem Anti- semitismus zu größerer Bedeutung im Islam verhalfen, mit offensichtlichen Parallelen zur NS-Ideologie, was etwa Matthias Küntzel in seinem Buch Djihad und Ju- denhass darlegte. Mit dem Palästinakonflikt verstärkte „König Rothschild“, der die Welt in seinen Händen hält. sich der Antisemitismus weiter und ist heute nicht nur Erschienen am 16. April 1898 auf dem Titelblatt des im Islamismus, sondern auch in muslimischen Bevölke- französischen Satiremagazins „Le Rire“ (Gelächter), rungskreisen eine weitverbreitete Erscheinung. das während der Dreyfus-Affäre auf der Klaviatur anti- republikanischer Emotionen spielte.

3·2012 nu 47 MAMMELOSCHN*

Mezuse

VON ERWIN JAVOR

Eines Tages kommt zu Reb Joine aus vor dem heiligen Zorn des jüdischen wie eine Mezuse, so viele müssten Mikulicin der Gallach (Pfarrer) aus Gottes. Aber wer weiß schon, wer sie schon geküsst haben! Wie sonst Kolomäa, dem Nachbardorf. Sagt sich hinter euren Türen verbirgt?“ wäre es zu den vielen Kindern ge- der Gallach: „Reb Joine, ich brau- Der Gallach versteht und ist begeis- kommen? che den Rat eines Kollegen. Bei mir tert. „Kann ich so etwas auch für wird dauernd eingebrochen. Vor meine Kirche und das Pfarrhaus ha- Gleich nach Abschluss seines Studi- einer Woche wurde der Opferstock ben?“ Reb Joine verzieht kaum eine ums summa cum laude kommt Ir- zum sechsten Mal geplündert, vor Miene und bringt geflissentlich zwei vin Shoenveld heim zum Vater. Er einem halben Jahr wurde die Pfarre Mezuses, küsst sie vorsorglich und umarmt den geliebten Sohn, sein ausgeraubt, gestern haben sie mei- gibt sie dem Kollegen. Fleisch und Blut, innig und sagt: ner Haushälterin den Sparstrumpf „Jingele (Sohn), jetzt bist du 42 und gestohlen, eine wertvolle Ikone aus Wochen ziehen ins Land und Reb hast, unberufen, drei verschiedene dem 18. Jahrhundert vermisse ich Joine beschließt einen Gegenbe- Doktortitel errungen und für diesen schon seit Monaten und aus dem such beim Pfarrer in Kolomäa. Der Kuved (Ehre) habe ich gar nicht so Keller ist der ganze Messwein ver- begrüßt ihn herzlich und führt ihn viel Geld investieren müssen. Insge- schwunden. Was soll ich tun? Wird im Pfarrhaus herum. Die Mezuse samt waren es nur 885.500 Dollar, bei euch Juden auch so viel gestoh- hängt vorschriftsmäßig am rechten da du ja mit deinem Sejchel (klugen len?“ Türpfosten und dennoch kommt Kopf) auch Stipendien bekommen ihm der Gallach nicht sehr glücklich hast. Also lass mich zusammen- Der Rabbiner streicht sich den Bart, vor. „Hochwürden“, fragt Reb Joine, fassen: Zuerst bist du im weltbe- nickt bedauernd mit dem Kopf, „hat es geholfen? Wird noch ein- rühmten Yale Ph.D. in Meterologie überlegt, sinniert. Hochwürden be- gebrochen?“ – „Eingebrochen? Kei- geworden. Dann hast du mich zu obachtet ihn gespannt und wartet neswegs! Und gestohlen wird auch Tränen gerührt mit deinem welt- auf eine Inspiration des Kollegen. nichts. Trotzdem bin ich nicht zu- berühmten Harvard Ph.D. in theo- Schließlich sagt Reb Joine ganz sanft frieden. Es ist viel ärger geworden.“ retischer Physik und Mathematik. und bescheiden: „Wisst Ihr, wir ha- – „Das verstehe ich nicht. Was kann Und geradezu sprachlos und stolz ben eine Mezuse (Schriftkapsel) an ärger sein als Einbrecher?“ fragt der haben deine Mamme und mich dei- unseren Türpfosten angebracht.“ Rebbe. Der Gallach seufzt tief. „Ein- ne Abschlüsse in Numismatik und Hochwürden ist verwirrt. Reb Joine brecher kamen ja nicht oft. Aber die südostafrikanischer Botanik in Stan- seufzt und erklärt: „Ihr wisst doch, vielen Schnorrer … die kommen ford und Berkley gemacht. Aber dieses schiefe Ding an der Tür, das jetzt jeden Tag!“ jetzt, mein Jingele, mein Sießer (Sü- alle Juden immer küssen bevor sie ßer), langsam wird es Zeit, dass du in ein jüdisches Haus gehen? Darin Das erinnert mich an Irvin. Irvin dich entscheidest, wie du in Zukunft befindet sich eine heilige Schriftrolle Shoenveld hat schon jung geheiratet deine Familie ernähren willst: Da- und beschützt das Haus vor genei- und viele, viele Kinder bekommen. menkonfektion oder Herrenkonfek- wess (Diebstählen). Außerdem signa- Dabei hatte er kaum Zeit, sie zu zeu- tion?“ lisiert es: Hier wohnen Juden. Also gen, hat er doch Jahre und Jahre nur wird kein Jud’, hoffentlich, einem studiert und studiert. So viel und so * Mammeloschn (Jiddisch): Mutterwitz; anderen Juden Leid zufügen wollen sehr, dass unter den Nachbarn das Muttersprache. Aus dem Hebräischen und die Nichtjuden fürchten sich Gerücht herumging, seine Frau wäre Loschn: Zunge, Sprache.

48 nu 3·2012 RÄTSEL

Suchbild auf Jiddisch …

Ein Beschneidungsdebattensuchbild wäre wohl zu winzig ausgefallen, daher entschied sich unsere Rätseltante für die Miller family. Suchen Sie die sechs Fehler!

VON MICHAELA SPIEGEL

6. RALPH GREENSON EBENFALLS GREENSON RALPH 6.

5. JOE DI MAGGIO IM VORDERGRUND IM MAGGIO DI JOE 5.

4. GEÄST IM HINTERGRUND IM GEÄST 4.

3. DER VÄTERLICHE DRITTE ARM DRITTE VÄTERLICHE DER 3.

2. DIE SCHWIEGERMUTTERPERÜCKE DIE 2.

1 EINE MÜTTERLICHE UMARMUNG KOMMT NIE ALLEINE NIE KOMMT UMARMUNG MÜTTERLICHE EINE 1 AUFLÖSUNG:

3·2012 nu 49 ALLTAGSGESCHICHTEN

FOTO©: PETER RIGAUD Ich bin ein Zebra

VON ERWIN JAVOR

Anlässlich einer Fotoausstellung im men auf jeden der 24 Kultusräte im erbracht hat, einen dunklen Schat- Jüdischen Museum habe ich die Ge- Durchschnitt 150 Juden. Jeder will ten werfen. Es sollte keine zahllosen schichte schon einmal erzählt, wie zumindest im Verkehrsamt für die Fraktionen, sondern ein Persönlich- man mich nach „meiner Identität“ Gestaltung der Zebrastreifen zustän- keitswahlrecht geben, dann würden gefragt hat. Wenn Sie ein Zebra fra- dig sein und vor allem seiner Frak- sich auch viele qualifizierte Juden gen „Was ist Ihre Identität?“, wird tion, ob Landsmannschaft oder re- finden, die sich in einer schlanken es sagen: „Was solI die dumme Fra- ligiöse Schattierung, möglichst viel Struktur sinnvoll engagieren wollen ge? Ich bin ein Zebra! Mein Vater war vom Dorfbudget zukommen lassen. und dafür auch Anerkennung und eins, meine Mutter war eins, meine Diese Struktur stammt aus der Vor- Wertschätzung bekämen. Für so eine Großeltern auch, sogar meine Frau ist kriegszeit. Damals vertrat die IKG Reform sollte sich der nächste Prä- ein Zebra, also raten Sie einmal, was aber auch noch über 100.000 Juden. sident, wer immer es werden wird, meine Kinder sind? Ich bin in der Heute ist sie nicht mehr zeitgemäß dringend einsetzen. Aber es würde Herde groß geworden und kannte nur und kontraproduktiv. mich nicht wundern, wenn es anders Zebras. Anfangs waren auch aIle mei- Eine rasche und umfassende Wahl- kommt. Mir fällt nämlich gerade die- ne Freunde Zebras. Mit der Zeit habe rechtsreform ist unerlässlich. Jetzt se Geschichte hier ein, die sich seit ich auch andere Tiere kennengelernt. bestimmen Dilettanten über ein Jahrhunderten in jeder Gemeinde so Jetzt mag ich nicht mehr zwangsläu- Budget, das so hoch ist wie das eines gut wie unabänderlich abspielt: fig aIle Zebras und manche machen börsennotierten Industrieunterneh- Ein Reisender kommt in ein kleines einem das auch nicht schwer. Aber: mens und so intransparent wie die Schtetl und fragt einen Passanten: Wenn ein Löwe kommt, dann bin ich Aufzeichnungen des Sparvereins zur „Wie komme ich hier zu Mottl Se- auf der Seite sogar des widerlichsten Goldenen Gans. Das liegt daran, dass liger?“ – „Mottl Seliger? Der Präsident Zebras und helfe ihm. Weil in diesem im Laufe der Jahre eine Flut an Son- der Kulturgemeinde? Der Verbrecher? großen Safaripark fotografieren alle dergesellschaften im In- und Ausland Der Dieb? Vierte Straße links.“ In der immer nur uns.“ gegründet wurde – wahrscheinlich vierten Straße links fragt der Reisende Ich werde im Herzen immer ein Ze- um genau das zu bezwecken. das nächste Zebra: „In welchem Haus bra sein und wie eines handeln, aber Es ist empörend, dass der ehemalige wohnt hier Mottl Seliger?“ – „Mottl wenn ich darüber nachdenke – und Präsident und jetzige Ehrenpräsident Seliger? Der Präsident der Kulturge- das werde ich gegenüber Nicht-Zebras sich schamlos in die Kontrollkom- meinde? Der Ehebrecher? Der Lüg- immer abstreiten – dann empfinde mission wählen ließ. Das ist so, als ob ner? Haus Nummer 5.“ Vor dem Haus ich, es sei mir verziehen, die Wiener Michael Häupl nach seiner Amtszeit Nummer 5 fragt er sich weiter durch: Herde manchmal unerträglich. als Bürgermeister der Vorsitzende des „In welcher Wohnung lebt Mottl Se- In der IKG benehmen sich man- Wiener Kontrollamts werden wollte. liger?“ – „Mottl Seliger? Der Präsident che wie kleinliche, peinliche Dorf- Das öffnet Tür und Tor für Gerüch- der Kulturgemeinde? Der Betrüger, spießer. Die Kultusgemeinde-Wahl te über Motive und hinterlässt einen der Gelder der Gemeinde veruntreut? kommt mir so ernsthaft vor wie eine schalen Nachgeschmack. Ich frage Zweiter Stock, erste Tür links.“ End- Sitzung der freiwilligen Feuerwehr mich auch, ob die Freunde des Ehren- lich angekommen begrüßen sich die in Gigritzbotschn. Es gibt nur mehr präsidenten seine wirklichen Freunde beiden Jugendfreunde herzlich und knapp 7000 Dörfler, aber mehr als sind, wenn sie zulassen, dass er sich der Reisende fragt: „Mottl! Präsident 10 Fraktionen, die Mandatare stel- derartige Blößen gibt, die auf seine bist du jetzt?! Warum machst du len. Die Wahlbeteiligung wird bei Meriten und Leistungen, die er zwei- das?!“ Bescheiden erklärt Mottl: „Zu- circa 50 Prozent liegen, also kom- fellos während seiner Präsidentschaft lieb Kuved (der Ehre wegen)!“

50 3 ·2012 nu ENGELBERG

Beschneidungsdebatte

FOTO©: PETER RIGAUD – Revisited

VON MARTIN ENGELBERG

Zum Thema Beschneidung ist mit lich ein Freund des erstgenannten klar festgelegt, dass die Beschnei- ziemlicher Sicherheit in den vergan- Rechtsprofessors, der gegenwärtig dung in Österreich kein strafrecht- genen Wochen alles gesagt worden – US-Korrespondent der Financial licher Tatbestand ist. Zeit für ein Resümee und eine Analy- Times Deutschland ist und von 6. Mindestens ebenso auffallend ist se dieser Debatte aus jüdischer Sicht. den USA aus (sic!) über dieses Ur- die weitgehende Unbedarftheit teil berichtet und die Diskussion in und Unwissenheit, mit der weite 1. Auch ohne Sommerloch hätte Gang bringt. Teile der Bevölkerung dem The- diese Diskussion Schlagzeilen ge- 3. Auch in Österreich melden sich ma Beschneidung und unserem macht. Eine Beschneidungsdebat- vier „Experten“ in einer Presse- jüdischen Ritus insgesamt gegen- te, noch dazu in Deutschland und konferenz zu Wort. Ihre einsei- überstehen. Dabei sind gar nicht Österreich, hat alle Ingredienzen tigen und beschneidungsfeind- die Antisemiten gemeint, die bei für eine publizistische Bombe: Ju- lichen Aussagen werden praktisch solchen Themen sofort Morgenluft den, Genitalien/Sexualität, ver- von allen österreichischen Medien wittern und sich in den diversen meintlicher Kindesmissbrauch, unkommentiert übernommen. In Internetforen auslassen. Erstaun- Antisemiten, drohende Vertrei- einem Kommentar in der Presse lich sind die zum Teil völlig kruden bung der Juden aus Deutschland. weise ich nach, dass diese „Exper- Vorstellungen von uns Juden, bei Das Resultat: Der Suchbegriff „Be- ten“ höchst fragwürdig sind, über- denen der Mief mittelalterlicher schneidungsdebatte Deutschland“ haupt keine Expertise zu diesem Vorurteile zum Vorschein kommt. bringt bei Google ca. 892.000 Er- Thema haben und völlig manipu- Hier hat die jüdische Gemeinde gebnisse. lativ unwissenschaftliche Unter- gemeinsam mit aufgeschlossenen, 2. Tatsächlich stellt sich heraus, dass suchungen zitierten. Interessan- informierten und sympathisie- diese Diskussion von nicht mehr terweise reagieren die „Experten“ renden Menschen, deren es G’tt als insgesamt fünf Personen – fast auf diese öffentliche Bloßstellung sei Dank ja durchaus genug gibt, könnte man annehmen, in einer nicht. noch viel Informations- und Auf- konzertierten Aktion – aufs Tapet 4. Ein weiterer Beweis, wie wichtig klärungsarbeit zu leisten. Die näch- und zur Explosion gebracht wur- es für uns Juden ist, in einer sol- sten Debatten, zum Beispiel über de: ein Rechtsprofessor, der die- chen Situation klar und fundiert das koschere Schächten, sind „just ses Thema seit Jahren zu seinem Stellung zu beziehen. Dabei sind around the corner“. „Claim to fame“ – zu seiner Pro- auch die öffentlichen Auftritte von 7. Last but not least: Diese Diskus- filierungsmöglichkeit erkoren hat; Rabbiner Hofmeister zu erwähnen, sion hat (wieder einmal) gezeigt, eine Staatsanwältin, die sich an- der den jüdischen Standpunkt aus- wie wichtig es ist, dass unsere Ge- hand dieses einen Falles des The- gezeichnet vertrat. meinde geeint vorgeht. Da sind mas bemächtigt und sich über 5. Bemerkenswert die Reaktion der Diffamierungen, persönliche An- geltende Richtlinien hinwegsetzt, „großen“ Politik in Deutschland griffe und Herabsetzungen nicht um ein Urteil gegen die Beschnei- und Österreich: Praktisch einhellig hilfreich, auch wenn diese „nur“ dung zu erwirken; ein Richter, der wird das Recht auf Beschneidung im Rahmen eines internen Wahl- ein Urteil fällt, mit dem die Be- außer Streit gestellt. In Deutsch- kampfs publiziert werden. Man schneidung kriminalisiert wird, land wird eine Gesetzesinitiative sollte nicht unterschätzen, wie und gleichzeitig den Angeklagten vorbereitet, welche die Beschnei- sehr das dennoch von der Außen- freispricht, damit niemand gegen dung ausdrücklich erlaubt; in Ös- welt wahrgenommen wird und un- das Urteil berufen kann; schließ- terreich hat die Justizministerin serer Gemeinde insgesamt schadet.

3 ·2012 51 Bei uns erfahren Sie, was ist. Und nicht, was Sie gerne hätten.

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Zu: 1001 Nacht dessen Ex-Frau Katajun Amirpur ein Stell- LESERBRIEF ZU von Erwin Javor dichein. AUSGABE 48 Sehr geehrter Herr Menasse, Was aber diese perverse Eloge auf Gilad Atzmon in der Zeitschrift verloren hat, ent- Zur IKG-Wahl: Oskar Deutsch im Porträt U Botschafter Aviv Shir-On im Interview UÊBeim Training mit Eishockeyspieler Sehr geehrter Herr Javor, zieht sich meinem Verständnis. Der Schän- Rafael Rotter U Was bringt die große Koalition in Israel? UÊ Historikerin Diana Pintos‘ Blick auf den Holocaust dung von Yad Vashem durch ultraortho- Ausgabe Nr. 48 (2/2012) Tamus 5772 € 3,– www.nunu.at es war wirklich an der Zeit, dass jemand doxe Fanatiker hat er sicher etwas Positives diesen ORF-Angestellten (vermute ich abgewonnen. zumindest) in seiner einzigen journalisti- schen Qualifikation als Märchenonkel hinrei- Mit freundlichen Grüßen chend würdigt. Dafür danke ich Ihnen. Ludwig Csepai

Allerdings gehört er einer Gilde der Mär- chenerzählerInnen an, was Sie möglicher- weise nicht wissen. Dort geben sich so begnadete Märchentanten wie Gudrun Harrer, Michael Lüders, Navid Kermani und

Der Schriftsteller liebt Wagner-Opern Robert Schindel über alles. Warum, hat er NU erzählt.

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3·2012 nu 53 UNSERE AUTORINNEN

Martin Engelberg Peter Menasse Der NU-Mitherausgeber ist Betriebswirtschafter, Der NU-Chefredakteur war Handelskaufmann Psychoanalytiker, Coach und Consultant. Er ist und Kolumnist in der Stadtzeitung „Falter“. im Schnittbereich Politik/Psychoanalyse und Er ist derzeit selbstständiger PR-Fachmann, Wirtschaft/Psychoanalyse tätig. Kommunikations- und Organisationsberater in Wien.

Andrea Maria Dusl Rainer Nowak Die Autorin, Zeichnerin und Filmemacherin ist ist Journalist bei der Tageszeitung Die Presse. Der ein Multitalent. Für NU steuert sie die Illustration Vater zweier Töchter leitet das Politik- zur Kolumne „Mammeloschn“ bei. Ressort und ist gemeinsam mit Christian Ultsch für Die Presse am Sonntag verantwortlich. Er wurde soeben zum Chefradakteur ab Oktober 2012 bestellt.

Michael Fleischhacker Peter Rigaud ist Journalist und Buchautor. Er arbeitete für studierte Fotodesign am renommierten Lette- die Kleine Zeitung, den Standard und zuletzt Verein in Berlin. Nach dem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Presse, die er am Anfang lange Zeit in New York, Chicago und Cleveland. Oktober verlässt. Seit 2006 lebt und arbeitet er in Berlin und Wien.

Johannes Gerloff Michaela Spiegel hat in Tübingen, Vancouver und Prag evan- Die NU-Rätseltante studierte Malerei an der gelische Theologie studiert und lebt seit 1994 Angewandten in Wien und der École nat. sup. mit seiner Familie in Jerusalem. Er arbeitet als des Beaux Arts in Paris. Sie zählt sich zur Schule Nahostkorrespondent des Christlichen Medien- des feministischen Irrealismus. Zahlreiche Aus- verbundes KEP. stellungen und Publikationen.

Erwin Javor Barbara Tóth Der NU-Herausgeber und ständige Die Chefin vom Dienst beim NU ist Redakteurin Kolumnist ist Unternehmer. Seine Firma des Falter, Buchautorin und promovierte Histori- Frankstahl ist das führende österreichische kerin. Derzeit schreibt sie von zu Hause aus und Stahlhandelsunternehmen. hütet ihren zweiten Sohn Joschka.

Ida Labudovic´ Anatol Vitouch ist in Belgrad geboren, wo sie Ethnologie, Kultur ist Schachmeister und Student des Faches „Buch und Sozialanthropologie studiert hat (Mag. Dr. und Dramaturgie“ an der Wiener Filmakademie. phil.). Sie lebt seit 2007 in Wien, ist Mitarbeiterin Gründungsmitglied der Künstlervereinigung der M-Media und schreibt für die Tageszeitung „DIE GRUPPE“. Die Presse.

Helene Maimann Herbert Voglmayr ist Historikerin, Autorin und Filmemacherin. Sie Nach dem Studium der Sozial- und Wirtschafts- lebt in Wien und unterrichtet an der Universität wissenschaften berufliche Tätigkeit an der für Musik und darstellende kunst. Universität und in der Erwachsenenbildung. Seit 2004 freiberuflicher Publizist. Neben seiner Tätigkeit für NU verfasst er Kultur- und Wein- reiseführer durch italienische Weinregionen.

Florian Markl Peter Weinberger hat in Wien Politikwissenschaft, Geschichte und ist Professor für Quantenchemie am Institut für Philosophie studiert und war Historiker beim Technische Elektrochemie und Festkörperchemie Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer der TU Wien und Literat. des Nationalsozialismus. Er arbeitet an seiner Dissertation über den öffentlichen Diskurs über palästinensischen Terrorismus in Österreich.

54 n u 3·2012 DAJGEZZEN UND CHOCHMEZZEN* Vorhaut statt

FOTO ©: PETER RIGAUD Auto-Maut FOTO ©: PETER RIGAUD

DER ZWIEKOMMENTAR VON PETER MENASSE UND ERWIN JAVOR

Menasse: Ich bin so froh, dass die Wahlen Javor: In der Beschneidungsdebatte ist ein sein Pferdeparadies Racino wird sogar von bald hinter uns liegen. ganz großes Verbrechen nicht besprochen ein paar Leutln besucht und seine ehema- worden: Josef und Maria haben das arme ligen Mitarbeiter Grasser, Westenthaler und Javor: Psst, dieses Wort solltest du nicht in Jesuskind beschneiden lassen. Ich finde, der andere Größen sind eine echte Empfeh- den Mund nehmen. Wir haben doch ver- Vatikan müsste zu diesem argen Fall von lung. Schließlich stehen sie dauernd in der einbart, dass wir nicht über die Wahlen Kindesmisshandlung ein Konzil einberufen. Zeitung. reden. Heute zahlst du den Kaffee. Menasse: Eine Psychoanalytikerin hat jetzt Menasse: Macht er nicht auch so ein gutes Menasse: Ich zahle gor nischt. Wir dürfen sogar festgestellt, dass die Beschneidung zu Eis: Magnum oder so? doch nur keine Empfehlung aussprechen. irreversiblen Traumata bei den Männern Über die Wahl an sich werden wir wohl führt. Javor: Das heißt Magna und gehört ihm noch plaudern dürfen. nicht mehr, du Ignorant. Javor: Bei dir merkt man das schon. Javor: Heißt das, ich darf nicht sagen, wir Menasse: In Kärnten ist ja eine der Vogel- wollen keinen einsilbigen Präsidenten, son- Menasse: Gelernt hat sie das vermutlich scheuchen ganz schön zerrupft worden. dern einen zweisilbigen. beim Studium der Schriften des beschnitte- nen Sigmund Freud. Javor: Ja, aber sie haben gleich eine neue Menasse: Das schon, aber wer soll uns Vogelscheuche aufgestellt. So viele Vögel denn über diesen Berg tragen? Menasse: Wir könnten jetzt beantragen, gibt es in ganz Kärnten nicht, dass die Leu- dass sie uns bei den Paralympics antreten te dort den Beschiss merken. Bei den Dörf- Javor: Für Wunder sind Engel zuständig. lassen. Schließlich fehlt uns ja offensichtlich lern bleibt alles beim Alten. der wichtigste Teil unseres Körpers, auch Menasse: Mit einem Wort, du bist auch für wenn er mir bis jetzt nicht abgegangen ist. Menasse: Die FPÖ macht mir Sorgen. Sie Obama. Du wärst übrigens wunderbar geeignet für sind angeblich auf den dritten Platz zurück- Unterwassertreten. gefallen. Scheinbar fallen dem Kickl keine Javor: Wie die kleinen Kinder schon sagen: seiner genialen Sprüche mehr ein. Ich möchte lieber mit ohne Romney. Javor: Das kommentiere ich nicht. Hören wir lieber mit den Themen zum Judentum Javor: Helfen wir ihm. Menasse: Glaubst du, dass die beiden auf und besprechen die Geschichten und beschnitten sind? Die meisten Amerikaner Abenteuer der psychisch gesunden Unver- Menasse: Vorhaut nur für unsere Leut. sind es angeblich. sehrten. Javor: Vorhaut statt Auto-Maut. Javor: Das ist wirklich wichtig zu wissen. Menasse: Stronach, Strache und Kärnten? Und dann auch, ob sie ihre Mandeln, ihren Also doch wieder Wahlen? Menasse: Ohne genügend Haut keine Blinddarm und ihre Polypen noch haben. deutsche Braut. Javor: Stronach sollte von vornherein nicht Menasse: Was ist daran wichtig? fordern „Zurück zum Schilling,“ sondern Javor: Mit einem beschnittenen Pimmel konsequent gleich „Zurück zur Krone“. In kommst Du nicht in den Himmel. Javor: Meine Mandeln, Gott hab sie selig, die investiert er ja bereits massiv. waren so was von erotisch, die Beschnei- Menasse: Jetzt wird Strache Kanzler – dungsgegner würden toben. I want my Menasse: Eine Kolumne macht aber noch zumindest in Kärnten. tonsils back. keinen Faymann. * dajgezzen: sich auf hohem Niveau Sor- Menasse: Ich glaube, der größte Aderlass Javor: Ich glaube, er wird wieder sehr gen machen; chochmezzen: alles so ver- bei dir war nicht die Vorhaut, waren nicht erfolgreich sein. Er hat die Wiener ja komplizieren, dass niemand – einschließ- die Mandeln, sondern die Weisheitszähne. auch nicht ganz in den Abgrund geführt, lich seiner selbst – sich mehr auskennt.

n 3 ·2012 u 55 *°L°L°ÊUÊ6iÀ>}ëœÃÌ>“ÌÊ£äÎäÊ7ˆi˜ÊUÊ<Տ>ÃÃ՘}ØÀ°\ÊäÓ<äÎΣ£Î

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STÄNDIGES REDAKTIONSTEAM Martin Engelberg, Jacqueline Godany (Fotos), Erwin Javor, Richard Kienzl (Artdirector), Ida Labudovic,´ Helene Maimann, Eva Menasse (Berlin), Peter Menasse (Chefredakteur), Rainer Nowak, Axel Reiserer, Peter Rigaud (Fotos), Petra Stuiber, Danielle Spera, Michaela Spiegel (Paris), Thomas Szanto (Lektorat), Barbara Tóth (Chefin vom Dienst, stv. Chefredakteurin).

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Grundsätzliche Richtung: NU ist ein Informationsmagazin für Juden in Österreich und für ihnen nahestehende, an jüdischen Fragen interessierte Menschen. NU will den demo- kratischen Diskurs fördern.

Die ganze Welt ist NU. Ein Beispiel? Nu, bitte: A, vergnügt: „Nu?“ („Wie geht es Dir?“) B, resigniert: „Nu.“ („Es ist mir schon besser gegangen.“) A, erstaunt: „Nu?“ („Na geh, sag, was ist denn?“) B, abwehrend: „Nu!“ („Es geht mir halt nicht so gut, aber mehr ist dazu nicht zu sagen.“) A, akzeptierend: „Nu.“ („Okay, wenn Du nicht darüber reden willst, lasse ich Dich in Ruhe.“)