Magazin der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien Mai/Juni 2014

Nur eine kleine Zeit

Max Regers „

1915 schrieb sein „Requiem“ auf einen Text von Friedrich Hebbel. Die Widmung galt noch den „gefallenen deutschen Helden“ des Ersten Weltkriegs, aber die Musik straft alle Phrasen lügen und wird zum eindringlichen Klagegesang über Tod und sinnloses Opfer. „Seele, vergiss sie nicht“.

„Der Mensch lebt und bestehet/ Nur eine kleine Zeit,/ Und alle Welt vergehet/ Mit ihrer Herrlichkeit./ Es ist nur einer ewig und an allen Enden/ Und wir in seinen Händen.“ Max Reger hat diese Claudius-Verse unvergleichlich zu Beginn seiner späten „Geistlichen Gesänge“ für gemischten Chor a cappella op. 138 aus dem September 1914 Musik werden lassen – als wolle er damit sein „Spätwerk“, immerhin das eines Vierzigjährigen, eröffnen: aus den kaum sechzig Takten dieses Gesangs kann man die enorme Bedeutung Regers erfassen, die immer noch, weil sein Charakterbild in der Geschichte schwankt, vielfach bezweifelt wird. Seine tiefsten Tiefen spiegeln sich hier: ein Vergänglichkeitsbewusstsein, eine Todesnähe bei aller Lebensfülle, die ihn geradezu prädestiniert hatte, das epochale „moderne“ Requiem nach und über Brahms hinaus zu schreiben. Und doch: Kaum einer spricht mehr von Regers „Requiem“ – dabei gibt es einen ganzen Komplex „Requiem“ in Regers Werk und Leben, den man sich entschlüsseln muss, will man seinen Offenbarungswert erkennen.

Die geöffnete Tür Reger war gekommen zu seiner im Ersten Weltkrieg endenden „kleinen Zeit“, das Erbe der Alten, deren hohe Kunst, mit den Gefühlsinhalten seiner Gesellschaft und seiner Vision von einer Musik der Zukunft zu verbinden: neue Sprache in Musik zu schaffen, auf der Grammatik der vergangenen basierend, jedoch mit der Idiomatik eines Subjekts, das sich in dieser Periode aus dem romantischen Weltgefühl zu entfesseln sucht, um sich aufzuklären. Vornehmlich Regers Spätwerk, scharf different zum Gigantismus von Beginn und Mitte, erscheint als ein solcher Aufklärungsprozess, der auch die entwickelten persönlichen Kunstmittel läutert. Das „Requiem“ op. 144b auf Verse Friedrich Hebbels ist das beängstigend ver-klärte Opus eines zerbrochenen Monumentalisten in seiner letzten Lebensphase, in der sich die Tragik der Reger’schen Existenz offenbart: Es wird nicht nur Regers eigenes Requiem – Reger stirbt mit dreiundvierzig Jahren am 11. Mai 1916 in einem Leipziger Hotel nach seinem Unterricht – sondern wird, will man Roman Brotbecks hellsichtiger Analyse folgen, auch das „Requiem auf seine Kunst“, an die er geglaubt hatte und deren Ende Reger selbst gleichsam herankomponiert mit seinen aus der Art schlagenden Spätwerken als Abgesang auf alles Frühere; denn diese Werke öffnen eine Tür, durch die ihr Schöpfer selbst nicht mehr gehen konnte.

Regers Grenzgänge Dergestalt inkommensurable Größen kann man analytisch in ihrer Progressivität nur bedingt erfassen, und zwar trotz oder gerade wegen Regers unsagbarer handwerklicher Kunstfertigkeit: einerseits unübertroffener Meister enormster kontrapunktischer Architekturen, andererseits kühnster Schwimmer auf den Wellen des Tonalen in ihrem Umschlag zur Atonalität – sodass Schönberg ihn sogar als eine Art „Vorfahren“ seiner Neuordnung des

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musikalischen Bewusstseins benannte. Wie wenige hat Schönberg die Grenzgänge Regers als Vorbild begriffen und als letztmögliche Stufe im Umgang mit dem alten System der Funktionsharmonik, die Reger, vielleicht gar unbewusst, ad absurdum führt – gehalten nur durch sein kontrapunktisches Urvertrauen. Der gesamte Requiem-Komplex, sein Ende 1914 gescheitertes lateinisches Requiem wie das deutsche nach Hebbel op. 144b, gehören gewiss zu den fortschrittlichsten, aber auch geheimnisvollsten Dokumenten aus Max Regers Feder.

Intimes wider den Zeitgeist Tragisch nur, dass er von sich selbst bis kurz vor Lebensende eine völlig andere Erwartung hatte, und so muss man ihn gegen sein Selbstverständnis rezipieren, weil er seine Bedeutung überwiegend eben noch nicht in der kleinen Zelle, im musikalischen Zeichen zu sehen vermochte, das er dennoch, fast unbewusst, wunderbar zu setzen vermochte, sondern wie verblendet sich in eine spektakuläre, Zeitgeist und Zeitgeschichte bedienende Monumentalität verrannte: „großen Styl“ nannte er das wörtlich; und in diese germanische Großmannssucht wollte er nun musikalisch die gesamte Zeitgeschichte, die endlich zur Kriegsgeschichte wird, inkarnieren und damit ein klingendes Fanal des Patriotismus etablieren, das noch auf etwas so Wahnsinniges setzt wie einen deutschen Sieg … In Wahrheit entdeckt er sich selbst erst in der großen Krise ein Jahr vor seinem unzeitigen Tod und schafft in einigen wenigen Monaten jene wegweisenden Spätwerke, alle im „freien Jenaischen Stil“, wie er ihn nennt. Es entsteht in ihm ein Mut zur vollendeten Intimität, die in seinem späten, vollkommen innigen und geradezu stillen Meisterwerk, dem Klarinettenquintett op. 146 aus dem Frühjahr 1916, gipfelt.

Patriotismus und ein großes Fragezeichen 1915 war Reger zu ins eigene Haus mit der Familie, seiner Frau Elsa und zwei angenommenen Töchtern, eingezogen; hatte sich zwar nicht vom regelmäßigen Leipziger Unterricht, aber doch wenigstens von seiner rastlose Konzertierwut als Interpret distanziert. Im Sommer dieses Jahres 1915 entsteht sein Opus 144 als komplexes Tandem: „“ nach Eichendorffs Gedicht für Baritonsolo, Chor, Orchester und in selber Besetzung, jedoch mit Altsolo, ein „Requiem“ auf Hebbels Text. Beide Werke sind im August des Jahres abgeschlossen. Im September geht der Rastlose wieder auf Reisen, um unzählige Konzerte in deutschen Landen wie Holland zu bestreiten, Konzerte in Kriegsgebieten zumal, als Dirigent und Pianist, nicht zuletzt um immer noch seine Werke in den patriotischen Dienst zu stellen, selbst wenn dieser Patriotismus mit der „Requiem“-Komposition bedächtiger wird, gleichsam beschattet.

Momento mori statt eines Monuments In die tiefe Krise wird Reger von seinem Schmerzenskind gestürzt, dem Ende 1914 groß angelegten und zwei Sätze weit gediehenen lateinischen Requiem, das er „dem Andenken der im Kriege gefallenen deutschen Helden“ widmen wollte – eine Totenmesse auf den lateinisch- katholischen Messetext; und dieses Requiem scheitert nicht zuletzt, weil Regers Berater, der Leipziger Thomaskantor , ihn von der Vollendung abbringt: Er sieht den Freund auf vermeintlich falschem Weg und hält den experimentellen Ansatz dem Gegenstand „Requiem“ gegenüber für verfehlt. Dieses Urteil ist bis heute umstritten. Aus der Verzweiflung über das drohende Scheitern am „Monument“, das ihm suggeriert wurde, antwortet Reger nun mit radikaler Umkehr durch Rückzug auf das Jenenser Idyll. lässt. Äußerlich arbeitet Reger wohl mit „großen“ Mitteln (Solostimme, Chor, Orchester), aber eben scheinbar: diese nämlich

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nie ausschöpfend, sie geradezu nur im Anriss zitierend – als gelte es, das „Kriegsgeräusch“ der Beckenschläge nur als gespenstische Erinnerung zu bemühen, ansonst nur ein inneres „Monument“ zu schaffen, das sich auf die Seite der Toten stellt. Hebbels kurzes, radikal kritisches Gedicht, das keinerlei Verankerung in christlicher oder anderer Metaphysik kennt, wird konzessionslos wörtlich verstanden: „Seele, vergiss nicht der Toten“. Keine Trauerode, sondern ein schonungsloser Appell an uns, die Toten in uns leben zu lassen. Diese poetische Vorlage besaß in Reger bereits Geschichte, er hatte sie sogar in einem schlichten, aber subtilen Chorsatz 1912 für die Basler Liedertafel vertont – choralhaft, ohne die Dichtung musikalisch auszuloten und zu deuten. Das „Requiem“ op. 144b überdenkt die Hebbel-Verse neu und bezieht sie auf Regers eigene Entwicklung; und die scheint sich nun zu verstehen aus der aufkeimenden Erkenntnis und Verzweiflung seines Komponisten über den sinnlosen Kriegstod – eine Deutung, die man in den Studien der Reger-Forscherin Susanne Popp bestätigt findet.

Der Horizont der Offenbarung Die Faktur der Reger’schen Musik im Hebbel-Requiem ist gekennzeichnet durch ihr „In-sich- beschlossen-Sein“ – um des Komponisten Wilhelm Killmayers schönes Wort zu gebrauchen, das den Urgund von Regers mangelnder Popularität erklärt. Reger will Arbeit vom Hörer, nicht Konsum. Und so war er nie in Mode. Im Sinne des Hörers aber bindet er sein Requiem geradezu pädagogisch an ein anderes Opus analoger Struktur, nicht zuletzt um es durch einen allgemeinen Trostgestus zu vermitteln: Reger konzipiert es im Opus 144 gleichsam als Sozius jener innigen Eichendorff-Vertonung „Der Einsiedler“: „Komm, Trost der Welt, du stille Nacht“. Wundersam schlichte Verse, die Reger aus dem Geiste des Chorals zwar, dennoch zum musikalischen Psychogramm zu verarbeiten weiß. In diesem Reger’schen „Requiem“-Tandem, diesem Requiem auf sich selbst und seine musikalische Vergangenheit, entsteht sozusagen Musik über Musik und – wie Roman Brotbeck erkennt – eine selbstkritische Musik. Sie symbolisiert noch einmal die Grundspannung der Reger’schen Existenz zwischen der Naivität eines ursprünglich vielleicht gar katholischen Jenseitsempfindens und der ehernen Größe des protestantischen Chorals aus dem Geiste Luthers und Bachs. Reger lässt, subtil versteckt, in beiden Werken Choräle geheimnisvoll aufklingen: im „Einsiedler“ jenes „O Welt ich muss dich lassen“ und im Hebbel-Requiem keinen anderen Choral als das Herzstück der „Matthäuspassion“: „Wenn ich einmal soll scheiden.“ Aber diese letztlich tröstliche Offenbarung, über Hebbel hinaus, verbirgt Reger musikalisch kunstvoll – als sei dafür jetzt noch nicht die Zeit …

Georg-Albrecht Eckle Georg-Albrecht Eckle lebt in München und ist Autor und Regisseur – mit einem besonderen Akzent auf dem Dialog zwischen Wort und Musik.

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