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Ursprünge der Musik

Chapter · January 2018

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Reinhard Kopiez Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover

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The user has requested enhancement of the downloaded file. De Muskpsychologe st en fasznerendes Gebet an der Schnttstelle von Psychologe, Muskwssenschaft und Musk pädagogk. Ihre Fragestellungen beschäftgen sch (Hrsg.) bespels wese mt dem Hörverhalten, dem Muszeren und Vermtteln von Musk, der muskalschen Begabung, dem Muskgeschmack oder dem kulturellen Muskgebrauch. Im Handbuch der Muskpsychologe wdmen sch über €‚ aus- gewesene Autornnen und Autoren aus den Dszplnen der Psychologe, Muskpädagogk, Muskwssenschaft, Medzn, Neurowssenschaft und Musktherape desen Themen und führen n de neuesten Erkenntnsse hrer Fachgebete en. Lehmann / Kopiez Kopiez / Lehmann

Aus dem Inhalt: • Muskkultur und muskalsche Sozalsaton • Muskalsche Entwcklung • Musk und Meden • Muszeren • Grundlagen der Muskwahrnehmung • Emotonale und andere Wrkungen • Forschung

Andreas Lehmann Handbuch Reinhard Kopiez (Hrsg.) Mus k-

Handbuch psycholog e

Hogrefe Verlagsgruppe ISBN 978-3-456-85591-2 Musikpsychologie Göttingen · Bern · Wien · Oxford Boston · Paris · Amsterdam · Prag Florenz · Kopenhagen · Stockholm Helsinki · São Paulo · Madrid · Lissabon www.hogrefe.com

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Prof. Dr. Andreas C. Lebmann Prof. Dr. Reinhard Kopiez Inhaltsverzeichnis Hochschule für Musik Würzburg Hochschule für Musik, Theater und Medien Hofstallstraße 6-8 Hannover 97070 Würzburg Emmichplatz 1 Deutschland 30175 Hannover E-Mail: ac [email protected] Deutschl and E-Mail: [email protected] Vorwort 9

Musikkultur und musikalische Soziali sation 13 Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus 1.1 Musika li sche Lebenswelten und Ku lturelle Teilhabe dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um Veronika Busch & Andreas Lehmann-.Wermser einen freien Warennamen handelt. 13 1. 2 Ursprünge der Musik Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothel{ . Christion Lehmann & Reinhard Kopiez 41 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Natio­ 1.3 Vom Anfänger zum Experten: Lernen, Übung und Motivation nalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.dnb.de Friedrich Platz & Andreas C. Lehmann 63 abrufbar. 1.4 Musikali sc he Fertigkeiten und ih re Messbarkeit Dieses Werk einschließlich all er sein er Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung Oaniel Müllensiefen & Jan Hemming 93 außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtes ist ohne Zustimmung des Verlages unzu­ lässig und strafbar. Das gil t insbesondere für Kopien und Vervielfä ltigungen zu Lehr- und 2 Musikalische Entwicklung 121 Unterrichtszwecken, Übersetzungen, Mikroverfil mungen sowie die Einspeicherung und Ver­ 2.1 Frühe musikali sche Entwicklung Pränatal bis Kindergarten arbeitung in elekti·onischen Systemen. Stephan Sollot 121 Anregungen und Zuschriften bitte an: 2.2 Entwicklung musikali scher Fäh igkeiten: Kin dergarten und Hogrefe AG Grundschule Lektorat Psychologie Franziska Dege & lngo Roden 151 Länggass-Strasse 76 2.3 Entwicklung musika lischer Fäh igke iten: We iterführende Schule, 3000 Bern 9 Schweiz Beruf und Stud iu m Tel: +41 31 300 45 00 Andreas Heye & Jens Knigge 181 E-Ma il : [email protected] 2.4 Musika li sche Entwicklung: Das Erwachsenenalter Internet: http:/ /www.hogrefe.ch Hein er Gembris 217

Lektorat: Dr. Susanne Lauri Bearbeitung: Edeltraud Schönfeldt, 3 Musik und Medien 247 Herstellung: Daniel Berger 3.1 Musik im Alltag: Wirkungen, Fun ktionen und Präferenzen Druckvorstufe: punktgenau GmbH, Bühl Thomas Schäfer & Peter Sedlmeier 247 Umschlagabbildung: © Von Blend Images - John Lund/Drew Kelly, gettyimages 3.2 Musik im aud iov isuellen Kontext: Film, Fernsehen, Video(spiel) Umschlag: Claude Barer, Riehen Cloudia Bullerjahn & Florion Hantschel 273 Druck und buchbinderische Verarbeitung: Finidr s.r.o., Cesky Tesin Printed in Czech Republic 3.3 Musik und Medien im aud it iven Kontext: Rad io, Tonträger, mobile Endgeräte und das Internet 1. Auflage 2018 Thomas Münch 29 1 © 2018 Hogrefe Verlag, Bern 4 Musikleben 311 (E-Book-ISBN_ PDF 978-3-456-95591-9) ISBN 978-3-456-85591-2 4.1 Musikali sche Interpretation und Reproduktion http:/!doi.org/10.1024/85591-000 Reinhard Kopiez & Giemens Wöllner 311 6 Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 7

4.2 Komposition und Im provisation 7 Forschung 747 Kai Stefan Lothwesen & Andreas C. Lehmann 341 7.1 Kurze Geschichte der Musikpsychologie 4.3 Auswendig, nach Ge hör und vom Blatt spielen Thomas H. Stoffer 747 Andreas C. Lehmann & Reinhard Kopiez 367 7.2 Musikpsychologie als Disziplin 4.4 Assessment, Bewertung und Musikkritik Reinhard Kopiez & Andreas C. Lehmann 765 Johannes Hasse/horn & Anno Wolf 389 4.5 Musikphysiologie und Musikermedizi n Über die Autorinnen und Autoren 775 Maria Schuppert & Eckart Altenmüller 411 4.6 Die Musikerpersönlichkeit Sachwortregister 781 Günther Rätter & Reinhard Steinberg 435

5 Grundlagen der Musikwahrnehmung 461 5.1 Neurowissenschaftliche Grundlagen der Musikverarbeitung Stefan Koelsch & Erich Schräger 461 5.2 Psychoakustische Grundlage n des Musikhörens Christoph Louven & Michael Oehler 483 5.3 Gruppierung, Ordnung un d Ähn li chkeit in der Mu sik Klaus Frieler 513 5.4 Musika lisches Entrainment: Rhythmus- Microtiming- Swing- Groove Olivier Senn & Reinhard Kopiez 543 5.5 Am usien - Störungen der Musikverarbeitung Eckart Altenmüller & Maria Schuppert 569 5.6 Al ltagsphänomene un d Sonderleistungen bei der Musikwahrnehmung: Absolutes Hören, Ohrwürmer und Sy nästhesie Kathrin Schlemmer & Jan Hemming 589

6 Wirkungen 617 6.1 Emotionen und ästhetische Gefühle Hauke Egermann & Gunter Kreutz 617 6.2 Musikhören, Sin gen, Tanzen und Musizieren: Beiträge zu m Wohlbefind en Gunter Kreutz & Richard von Georgi 641 6.3 Musik und veränderte Bewusst se in szustände Järg Fachner 663 6.4 Mu siktherapie: Prax isfelder und Vorgehen swe ise n Christine Plahl 689 6.5 Mythen und Legenden zur Wirkung von Musik Christoph Reuter & Järg Mühthans 719 40 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 41

Pitts, S. (2005). Valuing musical participation. Aldershot: Ashgate. Rawls, J., & Kelly, E. (2001). fustice as fairness: A restatement. Cambridge, MA: Harvard Uni­ 1.2 versity Press. Ursprünge der Musik Reuband, I<.-H. (2001). Opernbesuch als Teilhabe an der Hochkultur. Vergleichende Bevölk• erungsumfragen in Hamburg, Düsseldorf und Dresden zum Sozialprofil der Besucher christian Lehmann & Reinhard Kopiez und Nichtbesucher. In W. Heinrichs & A. Klein (Hrsg.), Deutsches fahrbuch für Kulturman­ agement 2001 (S. 42- 55). Baden-Baden: Nomos-Verlag. Reuband, I<.-H. (2006). Teilhabe der Bürger an der "Hochkultur": Die Nutzung kultureller Infrastruktur und ihre sozialen Determinanten. In A. Labisch (Hrsg.), Jahrbuch der Hein­ Die Frage nach den Ursprüngen der Musik wird seit den 1920er Jahren in­ rich-Heine-Universität Düsseldorf2005/ 06 (S. 263-283). Düsseldorf: Heinrich-Beine-Uni­ tensiv in der Musikpsychologie diskutiert. Antworten sucht man in der Evo­ versität. lutionsbiologie, der Archäologie und den kognitiven Neurowissenschaften. Reuband, I<.-H. (2011). Das Opernpublikum zwischen Überalterung und sozialer Exklusivi­ tät: Paradoxe Effekte sozialer Merkmale auf die Häufigkeit des Opernbesuchs. In Institut Aktuell dominieren Erklärungsansätze, die von einem gemeinsamen Vorläufer für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.), Jahrbuch für Kulturpolitik von Musik und Sprache ausgehen, einer Mischung aus affektiven, mimischen (Bd 1, S. 397-406). Essen: Klartext-Verlag. und gestischen Mitteln der Kommunikation. Erst im Lauf der Evolution des Rhein, S. (2011) . Musikpublikum und Musikpublikumsforschung. In P. Glogner & P. S. Föhl modernen Menschen haben sich daraus die Sprache und die Musik heraus­ (Hrsg.), Das Kulturpublikum: Fragestellungen und Befunde der empirischen Forschung differenziert. Musik ist vermutlich eine spezifische Anpassungsleistung des (S.153-193). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Menschen, doch sind die möglichen Gründe für diese Leistung vielfältig: Rössel, J., Göllnitz, A., & Hackenbroch, R. (2002). Die soziale und kulturelle Differenzierung des Hochkulturpublikums. Sociologia Internationalis, 40(2), 191-212. sexuelle Selektion, Mutter-Kind-Beziehung, Formen der Gruppenbindung. Schütz, A., & Luckmann, Th. (1979) . Strukturen der Lebenswelt. Stuttgart: UTB. Voraussetzungen für die Entwicklung eines Musiksystems beim Menschen Schulze, G. (1992) . Die ~rlebnisgesellschaft. Frankfurt am Main: Campus-Verlag. sind die Fähigkeit zur vokalen Imitation und zur tempoflexiblen rhythmischen Schulze, G. (2000/2002). Was wird aus der Erlebnisgesellschaft?. http://www.bpb.de/ Synchronisation von Stimme und Bewegung. Jüngere prähistorische .Fund.e apuz/25682/was-wird -aus-der-erlebnisgesellschaft (zuletzt aktualisiert am 26.05.2002). datieren den Beginn der kulturellen Modernität des Menschen auf dte Zett Zugriff am 26. Mai 2017. Schurig, M., & Busch, V. (2014). Entwicklung der Musikpräferenz von Grundschulkindern: vor ungefähr 45.000 Jahren, doch die kognitiven und anatomischen Voraus­ individuelle, soziale und musikbezogene Einflüsse. In A. Lehmann-Wennser, V. Busch, setzungen für Musik, Gesang und Tanz sind wesentlich älter. I<. Schwippert & S. Nonte (Hrsg.), Mit Mikrofon und Fragebogen in die Grundschule: jedem Kind ein Instrument (feKi) - eine empirische Längsschnittstudie z um Instrumentalunterricht (S. 63- 96). Münster: Waxmann. Schwanenflügel, L. von, & Walther, A. (2013): Partizipation und Teilhabe. Kulturelle Bi ldung online. https://www.kubi-online.de/artikel/partizipation-teilhabe. Zugriff am 26. Mai 2017. Sen, A. (2009). Die Idee der Gerechtigkeit. München: dtv Sachbuch. SINUS-Institut (2016). Informationen zu den SINUS-Milieus (Stand: 9/2015). www.sinus-insti­ tut.de/veroeffentlichungen/downloadsj. Zugriff am 26. Mai 2017. Stiftung Niedersachsen (Hrsg.). (2006). Älter - Bunter-Weniger. Bielefeld: Transcript-Verlag. Vogt, J. (2001). Der schwankende Boden der Lebenswelt: Phänomenologische Musikpädagogik zwischen Handlungstheorie und Ästhetik. Würzburg: Königshausen & Wuster. Wilke, K. (2012). Bushido oder Bunt sind schon die Wälder?!: Musikpräferenzen von Kindern in der Grundschule. Berlin: LIT-Verlag. 42 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 Ursprünge der Musik 43

1.2.1 Die Suche nach den Ursprüngen der Musik ursprüngliche Einheit, bestehend aus musique und Iangue, annimmt (--> Info­ box "Der gemeinsame Ursprung von Musik und Sprache"). Herbert Spencers Die Geschichte der europäischen Musiktheorie beginnt im antiken Griechen­ Abhandlung The origin and fimction of music (1857, s. Spencer, 1891) kann als land. Zur antiken Musiktheorie gehörte auch die Frage nach den naturgegebe­ früheste evolutionstheoretische Auseinandersetzung mit Musik im engeren nen Bedingungen des Phänomens Musik. Eine zentrale Rolle bei der Suche Sinne gelten, da er die Ursprünge der Musik im Tierreich sucht. Spencer geht nach den natürlichen Ursachen der Musik spielte Pythagoras von Samos (zwei­ vom physischen und stimmlichen Ausdruck der Emotionen aus (und nicht wie te Hälfte des 6. Jahrhunderts v. Chr.). Die Entdeckung der numerischen Grund­ Darwin von einer Funktion für das Partnerwahlverhalten) und postuliert eine lagen der Akustik verbindet man von jeher mit seinem Namen (Sachs, 2005). generelle Tendenz des Fortschreitens von einfachen zu komplexen Formen Pythagoras soll entdeckt haben, dass durch Unterteilung einer Saite im Ver­ des Ausdrucks. Die Frage nach dem biologischen Nutzen von Musik stellt hältnis kleiner ganzer Zahlen Töne entstehen, die für das menschliche Ohr Spencer jedoch nicht; nach seiner Auffassung entspringt der Gesang des Men­ miteinander harmonieren. Nach pythagoräischer Lehre besteht ein gesetzmä• schen wie der Vogelgesang einem "overflow of n'ervous energy" (S. 429), die ßiger Zusammenhang zwischen den Bewegungen der Himmelskörper (Plane­ sich ihren Weg bahnt: Beim Hund führe diese Energie zum Schwanzwedeln ten), den seelischen Bewegungen des Menschen und der musikalischen Har­ und beim Menschen zur Kontraktion der Stimmlippenmuskeln, wodurch das monie, einer hörbaren Repräsentation der Ordnung aller Dinge nach Maß und Singen möglich werde. Zahl. Entsprechend zählte in der Antike die Musiklehre zusammen mit Arith­ Hierin unterscheidet sich die Theorie Spencers wesentlich vom Ansatz metik, Astronomie und Geometrie zu den drei mathematischen Disziplinen Charles Darwins. In seinem1871 erschienenen zweiten großen wissenschaftli­ (trivium) der sieben freien Künste (septem artes liberales). Musik galt in der An­ chen Werk The descent of man, and selection in relation to sex erläutert Darwin tike primär als Naturerscheinung, weniger als Errungenschaft des Menschen. ein wesentliches Prinzip der Evolutionstheorie, nämlich die sexuelle Selekti­ Folglich stellte sich auch nicht die Frage nach den geschichtlichen Ursprüngen on, die Auslese durch Partnerwahl (s. auch Abschnitt 1.2.2 in diesem Kapitel der Musik. Auch in Mittelalter und Neuzeit behielt man die pythagoräische über die evolutionäre Adaptation). Seine Beobachtung von musikalisch anmu­ Musiktheorie grundsätzlich bei und entwickelte sie weiter. Sie findet sich bis in tenden Vokalisationeil im Dienst der sexuellen Werbung bei vielen Tierarten die Eingangskapitel barocker Traktate. So schreibt noch Leopold Mazart in und der Zusammenhang zwischen Lautäußerung und Emotion führte Darwin seiner Violinschule (1756) über Pythagoras und seine Proportionslehre der In­ zu dem Analogieschluss, "that the progenitors ofman [... ], before acquiring the tervalle: "[... ] er aber war der erste, welcher der Töne Verhältnis mit dem Maß• power of expressing their mutuallove in articulate language, endeavoured to stabe suchte" (S. 15). charm each other with musical notes and rhythm" (Darwin, 1871, zit. nach Die Erfindung der Musikinstrumente hingegen ist Gegenstand der antiken Miller, 2000, S. 329). Mythologie: Der bocksfüßige Hirtengott Pan verfolgte die Nymphe Syrinx. Die Evolutionslehre beeinflusste in den folgenden Jahrzehnten die Suche Diese flüchtete ins Wasser und verwandelte sich in ein Schilfrohr. Anstelle der nach den entwicklungsgeschichtlichen Ursprüngen der Musik: im Sinne einer Nymphe umarmte Pan das Rohr, das aus seinen Seufzern Töne entstehen ließ. zunehmenden Akzeptanz, den Menschen als Spross einer Säugetier-Ahnenrei­ Um Syrinx dennoch zu besitzen, schnitt Pan das Rohr ab und fügte aus den he zu begreifen, aber auch im Sinne einer generellen, vereinfachten Vorstel­ Stücken eine Flöte zusammen (Panflöte). Auch das Saiteninstrument Lyra hat lung der Progression von einfachen zu komplexen Formen, weniger jedoch im einen Ursprungsmythos: Der Götterbote Hermes tötete eine Schildkröte, be­ Hinblick aufkonkrete Hypothesen über biologische Funktionen musikalischer spannte ihren Panzer mit Rinderhaut, setzte Ziegenhörner als Arme darauf Kommunikation. und befestigte sieben Saiten aus Schafsdarm daran. Das so gefertigte Instru­ Der Psychologe Carl Stumpf (1848-1936) und sein Mitarbeiter Erich Mo ritz ment überließ er später seinem Bruder Apollon; dieser wiederum gab die Lyra von Hornbostel (1877-1935) begründeten mit dem Berliner Phonogramm-Ar­ an Orpheus weiter, der mit seinem Gesang Tiere, Bäume und selbst Felsen chiv um1900 die Berliner Schule der Vergleichenden Musikwissenschaft, de­ bezauberte. ren Hauptgegenstand die kulturvergleichende Untersuchung musikalischer Eine anthropologische Theorie der Herkunft der Musik formuliert als Ers­ Strukturen anhand von Tonaufnahmen war. In seinem Buch Die Anfänge der ter der französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), der eine Musik (1911) leitete Stumpf den Ursprung der Musik primär aus dem Verweilen 44 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 Ursprünge der Musik 45

der Stimme auf einer festen Ruftonhöhe ab und in einem zweiten Schritt aus der "Verschmelzung" mehrerer Ruftöne zu konsonanten Intervallen; er ver­ oer gemeinsame Ursprung von Musik und Sprache folgte einen im weiteren Sinne gestaltpsychologischen Ansatz. Die Betonung des Rhythmus als Ausgangspunkt musikalischer Entwicklung findet sich bei Die Fähigkeit zur symbolischen Lautsprache ist wohl das prominenteste Richard Wallaschek (1860-1917); vor allem aber war es der prominente deut­ Merkmal, das den Homo sapiens von seinen anderen heute lebenden Prima­ sche Ökonom Kar! Bücher, der in seinem Buch Arbeit und Rhythmus (1899) den tenverwandten unterscheidet. Doch wie kann man sich die Vorstufe moder­ Ursprung der Musik aus rhythmisch koordinierter Arbeit und Bewegung abzu­ ner Sprache bei unseren Hominidenvorfahren in der Savanne vorstellen? leiten suchte. Eine andere funktionale Theorie formulierte der ungarische Und in welchem Verhältnis stand die Evolution der Sprache zur Evolution Psychologe Geza Revesz in den 1940er Jahren. Er sah die Entwicklung des der Musikalität? Gesangs im Zusammenhang mit Kommunikation über größere Distanzen: Die Eine gemeinsame - gesangsähnliche und emotionelle - Vorstufe von Singstimme ist tragfähiger als die Sprechstimme und ermöglicht musikalische Sprache und Musik nahm bereits der französische Philosoph Jean-Jacques Signale mit Fernwirkung (z. B. beim Jodeln oder der schwedischen Tradition Rousseau (1712- 177&) an. "Man beginnt nicht mit dem Nachdenken, son­ des kulning). dern mit der Empfindung", lautet sein Grundgedanke (Rousseau, 1984, Die evolutionäre Perspektive in der Musikforschung wich nach dem Zwei­ S.104). Primäre menschliche Äußerungen, so argumentiert er, entspringen ten Weltkrieg einer eher kulturanthropologisch ausgerichteten Musikethnolo­ den Leidenschaften, und diese wiederum lassen sich nur durch die Melodie gie. Aber erst die kognitiven Neurowissenschaften brachten in den 1990er nachahmen: "Das ist der Grund, warum die ersten Sprachen melodiös und Jahren eine Renaissance des wissenschaftlichen Interesses an biologischen leidenschaftlich waren, bev~r sie klar und methodisch geregelt wurden" Grundlagen der Musik mit sich. 1991 prägte Nils Wallinden Begriff "Biomusi­ (ebd. S. 105). Musique und Iangue waren im Ursprung eins und haben sich im cology" als Sammelbegriff für evolutionäre, neurowissenschaftliche und art­ Laufe der Menschheitsgeschichte voneinander geschieden- was einen Ver­ vergleichende Forschungen über Musik. Nach Brown, Merker und Wallin lust an sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zur Folge hatte. Rousseau (2000) widmet sich dieses interdisziplinäre Gebiet im Wesentlichen folgen­ wirkte stark auf das Denken im 19. Jahrhundert ein. Seine Ideen zum ent­ den Fragestellungen: wicklungsgeschichtlichen Verhältnis von Musik und Sprache griffen unter Welche kognitiven und anatomischen Merkmale sind die Voraussetzung anderem Herder, Nietzsche und Wagner auf. für das musikalische Verhalten des Menschen bzw. für musikähnliche Die häufig zitierte "Musilanguage-Theorie" von Brown (2000) liefert ein Kommunikation bei Tieren? strukturelles Modell der möglichen Evolution von Musik und Sprache in meh­ Wie verhält sich Musik zu Sprache in kognitionswissenschaftlicher und reren Stadien. Ausgangspunkt ist die Annahme eines referentiellen affekti­ evolutionärer Perspektive (siehe Infobox "Der gemeinsame Ursprung von ven Vokalisationssystems, wie es etwa bei Primaten in Form von spezifischen Musik und Sprache")? Alarmrufen besteht. Daraus entwickelte sich nach Brown das "Musilangua­ Unter welchen Bedingungen und unter welcher Art von Selektionsdruck ge-Stadium": eine gemeinsame Vorstufe von Musik und Sprache, die gleich­ könnten sich die musikalischen Fähigkeiten des Menschen stammes­ sam durch die Schnittmenge der Charakteristika von Sprache und Musik ge­ geschichtlich entwickelt haben? kennzeichnet ist: "lexical tones", das heißt bedeutungsdifferenzierende Töne Welche Bedeutung kommt prähistorischen Musikinstrumentenfunden zu? und Intonationskonturen (so wie in den tonalen Sprachen), kombinatorische Phrasenbildung und die Möglichkeit, durch Modulation von Parametern wie Tempo, Lautstärke und Stimmregister den Ausdruck zu verändern. Weiter 1.2.2 Hat die Musikalität des Menschen einen biologischen Nutzen? betrachtet Brown eine Differenzierung dieses Stadiums in ein System mit Um die Frage nach den biologischen Ursachen eines Verhaltens zu verstehen Worteinheiten und aussagenlogischer (propositionaler) Syntax und ein musi­ und beantworten zu können, ist es wichtig, zunächst die Vielschichtigkeit des kalisches System mit motivischen und metrischen Einheiten und Tonhöhen• wissenschaftlichen Sachverhalts in Erinnerung zu bringen. Für die Verhal­ beziehungenals gegeben, die miteinander in Wechselwirkung stehen. tensbiologie hat Tinbergen (1963) vier Frageebenen formuliert, die wir am 46 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 UrsprüngederMusik 47

Nach Ansicht des britischen Archäologen Steven Mithen (2006) spre­ Homo sapiens) charakterisiert Mithen mit dem Akronym "Hmmmmm" (als chen vergleichende Befunde zur Anatomie, Gehirnentwicklung, Lebenswei­ Abkürzung für die Begriffe "holistic", "multi-modal", "manipulative", "mu­ se und Lautäußerung von Primaten dafür, dass frühe Vertreter der Gattung sical", "mimetic"): eine Kommunikationsform, die durch das Zusammen­ Homo sich in einem holistischen Kommunikationssystem verständigten, spiel von Vokalisation, Mimik, Gestik und Körpersprache, durch Mitteilung bevor Worte im modernen Sinn entwickelt wurden. Unter "holistischen von Emotionen, Nachahmung und nicht zuletzt durch die musikalischen Phrasen" versteht man Einheiten, die eine spezifische Botschaft übermit• Parameter der Intonation und der Rhythmik gekennzeichnet gewesen sei. teln, aber nicht in einzelne konstituierende, bedeutungstragende Teile (wie Die "Hmmmmm"-Kommunikation könnte sich nach Mithen bei Homo sapi­ Wörter) zerlegt werden können. Heutige Beispiele sind etwa die Interjektion ens in moderne Sprache und in Musik differenziert haben (zur ausführlichen igitt oder die Zauberformel Abrakadabra. Der holistische Ansatz steht im Beschreibung des Systems s. Drösser, 2009). · Gegensatz zu lwmpositionellen Theorien, die die Protosprache als Anein­ Die wissenschaftliche Diskussion um das evolutionäre Verhältnis von anderreihung von Wortbausteinen ohne Grammatik sehen. Mithen nimmt Musik und Sprache ist noch nicht abgeschlossen, und weitere Theorien sind an, dass sich die holistische Protosprache aus Elementen entwickelte, die zu erwarten. Es wird -allerdings grundsätzlich schwierig bleiben, die Gültig• auch in der Kommunikation heute lebender Primaten zu beobachten sind. keit dieser Theorien zu belegen. Ihre höchste Entwicklungsstufe (bei · Neandertalern und Vorläufern des

Beispiel der übergeordneten. Frage "Warum singen Vögel?" verdeutlichen wollen: a) Physiologischer Mechanismus: Wodurch? Vögel können singen, weil sie ein komplexes Stimmorgan (Syrinx) und spezifische neuronale Schaltkreise besitzen, die durch Hormone aktiviert werden. b) Individualentwicklung (Ontogenese): Wie? Ein Vogel singt, weil er die Gesän­ Wort- und motivische und Satzeinheiten ge von seinen Artgenossen lernt. metrische Einheiten Aussagen logik Tonstufenordnung c) Stammesgeschichte (Phylogenese): Woher? Die Syrinx hat sich bereits früh in der Evolution der Vögel herausgebildet. DIVERGENZ d) Funktion und Anpassungswert: Wozu? Vögel singen, weil dieses Verhaltens­ muster den Fortpflanzungserfolg erhöht. MUSILANGUAGE Die Ebenen a) und b) werden auch als proximate, c) und d) als ultimate Ursa­ bed eut u ngsd i ffe renzierende Töne chen des Verhaltens bezeichnet. Alle vier Perspektiven sind für die Verhal­ kombinatorische Syntax tensforschung wesentlich. Während proximate Ursachen häufig empirisch Ausd rucksph ras ieru ng gesichert werden können, sind ultimate Ursachen zunächst Gegenstand von Hypothesen, die es durch methodisch vielfältige Datenerhebungen zu prüfen gilt. REFERENTIELL-AFFEKTIVES Mehrere Indizien begründen die Annahme, dass die Musikalität des Homo VOKALISATIONSSYSTEM '------·------sapiens das Ergebnis nicht nur kultureller, sondern auch biologischer Evoluti­ onsprozesse ist: die Spezialisierung des menschlichen Gehirns für Musik, die Abbildung 2: Die Musilanguage-Theorie des gemeinsamen Ursprungs von Musik und Sprache (nach Brown, 2000, S. 295). Belege für Musik in jeder uns bekannten heutigen und vergangenen Kultur, ihr hohes Alter (s. Abschnitt 1.2.4 in diesem Kapitel) sowie die frühe Empfänglich- 48 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 Ursprünge der Musik 49

keit für Musik bereits im Säuglingsalter vor dem Spracherwerb. Offenbar be­ weil die intraindividuelle Variation der Zyklusdauer ~ur ungenügend berück- sitzt der Mensch eine ererbte musikalische "Serienausstattung". Worin jedoch . t' t w'rd (s Thornhill & Gangestad, 2008). Mosmg et al. (2015) konnten S!C11 tg 1 · . . die Selektionsvorteile musikalischen Verhaltens im Hinblick auf Überleben durch Auswertung der Daten von mehr als 11.000 Tetlnehmern zwar eme oder Fortpflanzung in der Vorgeschichte bestanden haben könnten, ist eine höhere Nachkommenzahl musikalisch aktiver Männer, aber keine weiteren strittige Frage, zumal diebeobachtbaren Funktionszusammenhänge musikali­ Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Musikalität und sexuellem Er­ scher Kommunikation vielfältig sind. fol feststellen. Außerdem singen sowohl sehr junge als sehr alte Menschen, Ein erbliches Merkmal, das unter bestimmten Umweltbedingungen (Selek­ ob!ohl für diese Gruppen Fragen der Reproduktion unbedeutend sind. Fitch tionsdruck) zu höherem Fortpflanzungserfolg führt und sich daher im Gen­ (2006) weist darauf hin, dass die Zahl der Kinder im Zeitalter der . Empfän~­ pool seiner Population durchgesetzt hat, wird als Adaptation bezeichnet (adap­ nisverhütung keine geeignete Größe ist, um sexuellen Erfolg zu messen. Em tiv - ,evolutionär angepasst'). Der amerikanische Psychologe Steven Pinker rundsätzliebes Problem der Miller'schen Hypothese ist der Zusammenhang (2009) ist der Auffassung, dass Musik selbst keine adaptive Funktion erfüllt, ;wischen sexueller Selektion und Geschlechtsdimorphismus: Sexuell selek­ sondern ein Nebeneffekt anderer Adaptationen wie der Sprachfähigkeit ist: tierte Merkmale (wie der Gesang und das Federkleid der Vögel) sind in aller "Musik [ist] akustischer Käsekuchen, ein exquisites Konfekt, das komponiert Regel bei weiblichen und männlichen Individuen sehr unterschiedlich ausge­ wurde, um die sensitiven Punkte von mindestens sechs unserer geistigen Ka­ prägt. Da die Musikalität des Menschen als Merkmalskomple ~ jed~ch bei pazitäten zu reizen" (S. 663). Pinkers Meinung wird von den meisten Wissen­ Mann und Frau gleich stark ausgeprägt ist, kann sexuelle SelektiOn mcht als schaftlern mit Hinweis auf die musikalische Spezialisierung des Gehirns und alleinige Erklärung für die Evolution der Musik dienen (Fitch, 2006). Die die Kostspieligkeit musikalischen Verhaltens zurückgewiesen. Man kann sie menschliche Stimme hingege~ weist einen deutlichen Geschlechtsdimor­ jedoch als Nullhypothese evolutionärer Musikforschung betrachten, die es zu phismus auf, der auf sexuelle Selektion zurückzuführen sein dürfte (Apicella, 2006). widerlegen gilt (Fitch, Feinberg & Marlowe, 2007). Deramerikanische Psychologe Geoffrey F. Miller (2000) aktualisierte Dar­ Eine andere Hypothese bringt den Ursprung menschlicher Musikalität mit wins These über die Evolution menschlicher Musikalität durch sexuelle Selek­ dem Singen als Ausdruck elterlicher Fürsorge ("parental care") in Zusammen­ tion im Rahmenwerk der heutigen Evolutionsbiologie und Evolutionären Psy­ hang. Belegt wird diese Hypothese nicht nur mit der Verbreitung von Wiegen­ chologie. Nach Miller haben sich musikalische Fähigkeiten und andere Formen und Kinderliedern in allen Kulturräumen (Trehub & Trainor, 1998), sondern der Kreativität als zuverlässige Signale männlicher Fitness entwickelt ("gute vor allem auch mit dem proto-musikalischen Sprechverhalten, das Mütter Gene"), die durch entsprechende weibliche Partnerwahl-Präferenzen den und andere Bezugspersonen gegenüber Babys zeigen(~ Kap. 2.1). Diese als Fortpflanzungserfolg erhöhen. Demnach demonstrieren Künstler ihre Fitness, Motherese ("infant-directed speech", dt. auch ,Ammensprache') bezeichnete "indem sie ein für Konkurrenten mit geringerer Fitness nur schwer herstellba­ Sprechweise ist durch eine erhöhte Stimmlage, größeren Tonumfang der res Werk schaffen. Somit stellen sie ihre größere soziale und sexuelle Attrakti­ Sprachmelodie, verlangsamtes Tempo und Silben-Repetitionen charakteri­ vität unter Beweis." (Miller, 2001, S. 319.) siert. Diese Merkmale sind zwar je nach Sprache unterschiedlich stark ausge­ Empirische Überprüfungen dieser Selektions-Hypothese erbrachten bis­ prägt, aber in Grundzügen kulturübergreifend zu beobachten (Papousek, her jedoch keine eindeutigen Ergebnisse. Frauen schätzten bei Inserenten ei­ 1994; Bryant & Barrett, 2007). Der musikalische Tonfall entspricht der früh• ner Kontaktanzeige sozialen Status und Körpergröße höher ein, wenn der In­ kindlichen Wahrnehmung: Bereits Säuglinge können melodische Konturen serent musikalische Aktivitäten angab (Lehmann, 2009). Charlton et al. unterscheiden (Trehub, Bull & Thorpe, 1984) und reagieren mit größerer (2012) stellten bei Frauen zur Zeit des Eisprungs eine Präferenz für Kompo­ Aufmerksamkeit auf die Singstimme als auf die Sprechstimme der Mutter nisten komplexerer Musikstücke fest, was zunächst die sexuelle Selek­ (Nakata & Trehub, 2004). Melodiekontur ist ein Bedeutungsträger in der tions-Hypothese stützt. Ein offenes Problem bleibt jedoch die genaue Bestim­ Kommunikation des Kindes lange vor dem Spracherwerb (Wermke & Mende, mung des Zeitpunkts, zu dem eine Frau mit höchster Wahrscheinlichkeit 2009-2010), und das Motherese scheint von erheblicher Bedeutung für die empfangen könnte: Charlton (2014) legte diesen Zeitraum nur mit einer Ge­ Affektregulierung und den Aufbau einer sicheren Bindung des Kindes zu sein nauigkeit von acht Tagen fest (Tag 6 bis 14 des Zyklus), was sehr unscharf ist, (Fernald, 1992; Papousek, 1994; ~Ka p. 2.1). 1.2 Ursprünge der Musik 51 50 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation

. d ·1 ooperierten nach einem rhythmisch-musikalischen Gruppenspiel bes- Die häufig zitierte "Putting-the-baby-down-Theorie" von Falk (2004) stellt lon er < . . die "Erfindung" des Motherese in einen umfassenden Zusammenhang mit der als eine Kontrollgruppe ohne Musll< (Krrschner & Tomasello, 2010). Als ser llemischer Mechanismus der "Selbstbelohnung" für rhythmische Inter- menschlichen Gehirnentwicklung, dem aufrechten Gang, dem Verlust des neuroc .. Körperfells und den Lebensbedingungen unserer Vorfahren in der Savanne aktion kommt nach jüngeren Studien die Ausschuttung des Hormons Oxyto- vor zwei Millionen Jahren und entwirft folgendes Szenario: Die Größenzunah• . · Betracht (Chanda & Levitin, 2013). Eine alternative Sicht auf die Grup- cli1 li1 . me von Gehirn und Schädel sowie die durch die Zweibeinigkeit veränderte enfunktion musikalischen Verhaltens formulieren Hagen und Bryant (2003): p · Fähigkeit zu komplexer rhythmischer Koordination habe nicht als Anatomie des Geburtskanals erzwingen bereits bei Homo erectus einen ver­ Dre . .~ ich . . frühten Geburtszeitpunkt. Das Menschenbaby kommt deshalb in einem unrei­ Mittel der Gruppenkohärenz entwickelt, sondern vrelmehr als Srgnal, um dre- fen Entwicklungsstadium zur Welt, ist auf Versorgung angewiesen - und es en zusammenhalt nach außen zu kommunizieren (wie beim rituellen Haka s neuseeländischen Rugby-Nationalmannschaft). Letztlich haben sich musi- kann sich nicht wie die Affenjungen im Fell der Mutter festklammern. Die der . Mutter muss das Baby halten und bei der Nahrungssuche gelegentlich ablegen. kalisch ritualisierte Wortgefechte (wie der Eskimo-Singstreit, der himou der Damit es in dieser Stresssituation nicht schreit und Feinde anlockt, überbrückt Yanomami oder der Battle-Rap) als Strategie gewaltloser Konfliktregulierung die Mutter die Unterbrechung des Körperkontakts mit Lautäußerungen, die bewährt (Lehmann, 2009), bei denen männliches "sexual display" ebenso das Kind beruhigen und Nähe signalisieren. So könnte sich eine emotionale, eine Rolle spielt wie soziale Funktionen. Durch die ritualisierten und unbluti­ prälinguistische, durch Melodie und Rhythmus geprägte Verständigung entwi­ gen Auseinandersetzungen verhindert die Gemeinschaft, ~~chtige ju~ge Mit­ ckelt haben, die nach Dissanayake (2000) als Vorläufer musikalischer Aus­ glieder zu verlieren oder zu verletzen. Dteses Verhalten ware aber mcht nur drucksformen vorstellbar ist .. Eine alternative, jedoch umstrittene Hypothese durch Individualselektion zu erklären, sondern auch durch das Konzept der über die Entstehung frühkindlicher Musikalität beruht auf der Annahme prä• Gruppenselektion ("group fitness"), welches als zweites Prinzip von Darwin nataler Prägung durch Geräusche und Bewegungsreize, die der Fötus bereits eingeführt und von Wynne-Edwards (1962) ausgearbeitet wurde. im Mutterleib wahrnehmen kann (Parncutt, 2009;-> Kap. 2.1). zusammenfassend lässt sich festhalten: Eine pauschale Antwort auf die Eine dritte Kategorie von Hypothesen über die Evolution menschlicher Frage nach dem biologischen "Nutzen" menschlicher Musik, also nach einem Musikalität stützt sich auf das offensichtliche Phänomen, dass Musik meistens überlebens- bzw. Fortpftanzungsvorteil, der die Musikalität des Menschen in in Gruppen ausgeübt wird und eine wesentliche Rolle für die soziale Bindung seiner Vorgeschichte begünstigt haben könnte, ist nach heutigem Stand der und Gruppenidentität spielt. Kognitive Grundvoraussetzung für jede rhyth­ Forschung nicht möglich. Angeborene Spezialisierungen des Gehirns für Mu­ misierte Interaktion mehrerer Individuen ist unsere spezifische Fähigkeit der sik und Universalien musikalischer Funktionen sprechen für eine evolutionä• Synchronisation zu einem Beat. Diese Fähigkeit hat sich höchstwahrscheinlich re Anpassung und gegen eine Entwicklung der Musikalität als Nebeneffekt nicht im Zusammenhang mit frühkindlicher Bindung herausgebildet, denn sie anderer Adaptationen. Jedoch ist jede monokausale Erklärung des gesamten reift erst im späteren Kindesalter(-> Kap. 5.4). Komplexes "Musik" durch einen einzelnen Selektionsdruck problematisch. In diesem Zusammenhang wird häufig auch die Rolle körperlicher rhyth­ In der Stammesgeschichte des Menschen scheinen sich verschiedene adapti­ mischer Erfahrungen betont: Bereits Kar! Bücher (1899; s. auch Abschnitt 1.2.1 ve "musikalische Strategien" der Kommunikation und Problemlösung unter in diesem Kapitel) leitete den Ursprung der Musik aus rhythmisch koordinier­ verschiedenen Lebens- und Umweltbedingungen herausgebildet zu haben, ter Arbeit ab. McNeill (1995) betonte die Lust an der synchronen Bewegung die wiederum in unterschiedlichem Maße von bestimmten kognitiven (relati­ ("muscular bonding"), die Menschen gleichermaßen zu rituellem Tanz, zum vem Gehör, "beat and synchronization") und physischen Fähigkei• Marschieren oder zu Fußhall-Fangesängen motivieren kann (Morris, 1981; ten (Stimmumfang, motorischer Koordination) abhängen. Es erscheint daher Kopiez & Brink, 1999) und evolutionär wesentlich zur Entwicklung unserer sinnvoll, schon aus heuristischen Gründen funktionelle Kategorien musikali­ Kooperationsfähigkeit in der Kleingruppe beigetragen haben dürfte (vgl. auch schen Verhaltens zu differenzieren und dabei unterschiedliche Ebenen der Brown, 2000; Cross, 2016). Daraus abgeleitete Voraussagen lassen sich im Selektion in Betracht zu ziehen, wie dies im "Multilevel-Selection-Modell" Experiment überprüfen: Studenten zeigten nach gemeinsamem Singen höhe• vorgeschlagen wird (Cross, 2008; Lehmann, Welker & Schiefenhövel, 2009; re Kooperationsbereitschaft (Wiltermuth & Heath, 2009), und Kindergarten- Bannan, 2016). 52 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 Ursprünge der Musik 53

1.2.3 Ist der Mensch das einzige musikalische Wesen? Über das "vocallearning" hinaus besitzt der Mensch zwei weitere kogniti­ ve Fähigkeiten, die als Grundvoraussetzungen für Musik gelten können: das Aus der Untersuchung der Musik in evolutionärer Perspektive ergibt sich auch relative Gehör und die Fähigkeit zur rhythmischen Synchronisation ("beat die Frage nach dem stammesgeschichtlichen Verhältnis zwischen menschli­ perception and synchronization [BPS]") . Experimentelle Studien deuten fer­ cher Musik und den Lautäußerungen von Tieren: Gibt es "musikalische" Fä• ner daraufhin, dass Singvögel transponierte Tonfolgen nicht als gleich erken­ higkeiten, die wir mit anderen Spezies gemeinsam haben? Lässt sich vielleicht nen (Hulse, Takeuchi & Braaten, 1992). Das "vocallearning" der Vögel scheint sogar eine Spur der "Ursprünge der Musik" im Stammbaum der Wirbeltiere also nicht (wie in der Regel beim Menschen) mit einem relativen, ·sondern mit zurückverfolgen? einem absoluten Gehör verbunden zu sein. Unsere ausgeprägte N~igung zur Die Lautäußerungen mancher Tiergruppen klingen aufgrund ihrer Struk­ rhythmischen Synchronisation von Stimme und Bewegung ("beat perception tureigenschaften für unsere Ohren zunächst "musikalisch". So lassen etwa and synchronization [BPS] ", --> Kap. 5.4) setzt die Fähigkeit des Gehirns vor­ Singvögel, aber zum Beispiel auch viele Froschlurche und Insekten (Grillen, aus, den nächsten Schlag eines Metrums vorauszuberechnen, und dies auch Zikaden) repetitive, rhythmisch gleichmäßige Folgen von Lauten mit harmo­ bei Tempoveränderungen. Ob diese Fähigkeit allein der Mensch besitzt, ist nischem Klangspektrum ertönen. Um eine Vokalisation als "Gesang" bezeich- · strittig, denn der mittlerweile prominente domestizierte Gelbhauben-Kakadu nen zu können, sind jedoch nicht ihre akustischen Eigenschaften ausschlagge­ (Cacatua galerita) "Snowball" ist für seine rhythmischen Bewegungen zu Pop­ bend. Nach heutiger wissenschaftlicher Auffassung entscheidend ist die musik bekannt geworden (auf der Plattform YouTube finden sich zahlreiche Analogie auf neuroethologischer Ebene: Unter "Gesängen" versteht man Vo­ Videos mit seinen Kopf- und Fußbewegungen zu Popmusikstücken). Vermutet kalisationen, die sowohl komplex als auch erlernt sind (Fitch, 2006). wird ein Zusammenhang zwischen "vocal learning" und einer ansatzweise Die Fähigkeit, komplexe Laute zu erlernen, sie sogar zu variieren und neu vorhandenen Fähigkeit zu BPS (Pate! et al., 2009). Bisher hat man jedoch noch zu kombinieren, besitzen außer uns Menschen nicht nur Singvögel, sondern nie mehrere Individuen einer Tierart bei synchroner Bewegung zu einem Beat auch die bis zu 15 Meter langen Buckelwale (Megaptera novaeangliae) . Sie wie­ beobachtet. Beim Menschen besteht dagegen ein offensichtlicher Zusammen­ derholen stundenlang Gesänge, die in "Themen" und "Phrasen" gegliedert hang zwischen der Neigung zu rhythmischer Gruppensynchronisation und sind, verändern Motive und übernehmen Varianten von anderen Populatio­ kooperativem Verhalten. nen. Buckelwale zeigen also Ansätze kultureller Entwicklung von Kommuni­ Mittlerweile ist die Hypothese des "vocallearning" als Voraussetzung für kation (Payne, 2000). Die wesentliche Voraussetzung für dieses Verhalten ist die Entwicklung musikspezifischer Fähigkeiten unter Druck geraten, denn die Fähigkeit zum "vocal learning", also zur Aneignung neuer Laute durch auch Tiere ohne nachweisbare vokale Imitationsfähigkeit können sich nach Imitation. Singvögel und Papageien, Fledermäuse, einige Arten der Wale und entsprechendem Training sehr gut zur Musik synchronisieren. So trainierte Robben, Elefanten und Menschen zeigen dieses Merkmal. Die Menschenaf­ der amerikanische Verhaltensforscher Peter Cook in einer Pionierstudie das fen, unsere nächsten Verwandten im Tierreich, mit denen wir über 95 Prozent kalifornisehe Seelöwen-Weibchen "Ronan" (Zalophus californianus), den Kopf unseres Genoms gemeinsam haben, können hingegen keine Laute nachah­ synchron zu Popmusikstücken zu bewegen (Cook et al., 2013). Nicht nur ihre men. Auch den südostasiatischen Gibbons (Hylobatidae) fehlt die Fähigkeit sehr gerraue Synchronisation ist erstaunlich, sondern darüber hinaus auch ihre zum "vocallearning"; ihre melodiösen Rufe basieren auf genetisch program­ Tempo-Adaptivität: Ronan konnte sich erfolgreich aufneue Tempi der beiden mierten Mustern. Insgesamt "singen" überhaupt nur 11 Prozent der Primaten gelernten Stück einstellen, die in der Geschwindigkeit um bis zu 20 Prozent und tun dies in "biphasischer Form", das heißt beim Ein- und Ausatmen variiert wurden. Bei schnelleren Tempi zeigte sie allerdings eine Tendenz zur (Geissmann, 2000). Gelegentlich zeigen die Gibbons auf dem Höhepunkt ei­ Bewegungsverzögerung und bei langsamen zur Beschleunigung. Darüber hin­ nes Gesangsduetts sogar eine Gänsehautreaktion (mit Aufstellung des Fells), aus zeigte sie bei unvorhersehbar aussetzender Musik trotzdem ein Fortset­ wie sie auch bei Menschen als starke emotionale Reaktion auf Musik beob­ zungsverhalten der Kopfbewegungen, was auch für menschliches Synchroni­ achtbar ist (Geissmann, 2000, S. 107; ~ Kap. 6.1). Das Merkmal des "vocal sationsverhalten typisch ist. Innovativ war ebenfalls die Tier-Trainingsstudie learning" hat sich daher höchstwahrscheinlich unabhängig voneinander an von Hattori, Tomonaga und Matsuzawa (2013): Drei Schimpansen lernten, auf verschiedenen Ästen des Wirbeltierstammbaums entwickelt. einem Keyboard immer dann eine Taste im Oktavabstand zu drücken, wenn 54 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 Ursprünge der Musik 55

diese durch ein Lichtsignal und einen gleichzeitigen Metronomklick markiert der datierten den Fund auf das ausgehende Mittelpaläolithikum und schätzten waren. Die Tiere bewältigten diese Aufgabe unterschiedlich, und besonders das Alter auf 50.000 bis 35.000 Jahre. Aufgrund ihres Alters wäre dieses das Schimpansenweibchen "Ai" zeigte eine bis dahin nicht beobachtete spon­ Instrument jedoch eine "Neandertaler-Flöte" und stammte nicht vom anato­ tane Synchronisation zum gleichbleibenden Stimulus mit einem Inter-Onset­ misch modernen Menschen. Es wäre 10.000 Jahre älter als die bis dahin älteste Intervall von 600 Millisekunden. Allerdings war die Synchronisationsgenauig­ esicherte Schwanenknochen-Flöte, die sogenannte Geißenklösterle-Flöte, die keit im Vergleich zu menschlichem Synchronklopfen und auch zur Seelöwin 7entsprechend der Fundschicht) auf circa 37.000 Jahre vor unserer Zeit datiert "Ronan" nicht sehr präzise, und die Tempoadaptivität fehlte. Überraschender­ wurde (Conard & Malina, 2008). Die Geißenklösterle-Höhle liegt in un.mittel­ weise zeigen Synchronisationsexperimente mit Primaten, welche dem Men­ barer Nähe von Hohle Fels bei Schelldingen im Tal des heutigen Flusses Ach, schen evolutionär am nächsten stehen, bei Mitklopfaufgaben ein relativ insta­ dem Ur-Donautal. Mittlerweile ließ sich jedoch mit Methoden der experimen­ biles Verhalten (vgl. auch Large & Gray, 2015). Zukünftige Tierexperimente tellen Archäologie nachweisen, dass die Löcher der. Divje-babe-"Flöte" in ihrer werden genauer darüber aufklären, ob die Fähigkeit zur BPS im Tierreich Entstehung höchstwahrscheinlich auf chemische, mechanische oder biologi­ möglicherweise verbreiteter ist als bisher vermutet. sche Einflüsse (sog. taphonomische Faktoren) zurückzuführen und nicht anth­ Obwohl es durchaus viele überlappende Merkmale zwischen menschlicher ropogenen Ursprungs sind (Conard & Malina, 2008, S.16; d'Errico et al., 2003). Musik und Tier-"Gesängen" gibt (Slater & Doolittle, 2014), geht nur der Mu­ Ein Merkmal, das zwischen Löchern in einem Knochen zu unterscheiden er­ sikwissenschaftler Dario Martinelli (2009) so weit, diesen animalischen Äu­ laubt, die durch Tierbisse oder aber durch Werkzeuge entstanden, sind flache ßerungen Kunstcharakter und einen eigenen kulturellen Wert zuzugestehen. Kerbungen, die unter anderem typisch für die Geißenklösterle-Flöten sind. Bei Er führte die Disziplin " Studies" ein (was etwa" musikwissen­ der Divje-babe-"Flöte" fehlen diese flachen Ränder, die aber für die exakte Fin­ schaftliche Tierstudien" meint), die sich mit dem ästhetischen Gebrauch klan­ gerposition beim Abdecken der Löcher wichtig sind. In einer Versuchsreihe glicher Kommunikation bei Tieren beschäftigt. Demzufolge wäre das Heulen konnten experimentell vorgehende Archäologen nachweisen, dass vermutlich der Wölfe ein ebenso beschäftigungswürdiger Gegenstand wie Beethovens alle "Bärenknochenflöten" auf nicht anthropogene Ursprünge zurückzuführen Fünfte Sinfonie. Eine ideologische Nähe zu den "Human-Anima! Studies" sind (Al brecht, Holdermann, Kerig, Lechterbeck & Serangeli, 1998). (dem Studium der Mensch-Tier-Verhältnisse) ist nicht zu übersehen (s. hierzu Weitere Funde von Flötenfragmenten aus Mammut-Elfenbein in der Gei­ ausführlich Rascher, 2012). ßenklösterle-Höhle (die "Flöte 3") zeigten, dass der anatomisch moderne Mensch bei der Herstellung dieser Instrumente mittels Werkzeugen über eine große manuelle Geschicklichkeit verfügt haben muss (Conard, Malina, Mün• 1.2.4 Die Flöte kam vor dem Rad: ze! & Seeberger, 2004). Eine Besonderheit stellen die Elfenbeininstrumente Früheste Belege für menschliche Musikinstrumente deshalb dar, weil Elfenbein keinen natürlichen Hohlraum wie ein Knochen Die Frage nach den frühesten nachweisbaren Musikinstrumenten ist deshalb hat. Hier musste man den Elefantenzahn zunächst spalten und aushöhlen, von Wichtigkeit, weil zu vermuten ist, dass die Herstellung und der Gebrauch dessen zwei Teile dann präzise und dicht passend mit Birkenpech wieder von Musikinstrumenten die Entwicklung des menschlichen Sprachvermögens, aufeinandergeklebt wurden. Jetzt erst ließen sich die Löcher verfertigen. Die die sozialen Interaktionen und das symbolische (abstrakte) Denken beein­ Hersteller müssen also Bearbeitungstechniken wie Schaben, Schnitzen und flusste (Cross, 1999). Musik wäre demzufolge in hohem Maße eine adaptive Bohren beherrscht haben. Die Elfenbein-Flöte kann als eine technische Meis­ Entwicklung des anatomisch modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) und terleistung bezeichnet werden (Conard et al., 2004, S. 456). Rekonstruktionen keineswegs "überflüssiger Käsekuchen", wie Steven Pinker (2009, S. 633ff.) der Geißenklösterle-Flöten sind auch heute noch spielbar (s. Abb. 3). Ein wei­ provokant formulierte. terer Ort von Flötenfunden auf der Schwäbischen Alb ist die Höhle Vogelherd. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem ältesten nachgewiesenen Die dort ausgegrabenen Fragmente können auf ein Alter von 30.000 bis Musikinstrument sollte der Fund einer "Flöte" geben, die 1995 in der sloweni­ 37.000 Jahren datiert werden (Conard & Malina, 2008) und gehören damit schen Höhle Divje babe I ausgegraben wurde (Kunej & Turk, 2000). Das ver­ ebenfalls zu den ältesten Instrumentenfunden. Alle Flötenfunde aus der meintliche Musikinstrument besteht aus einem Stück Bärenknochen. Die Fin- Schwäbischen Alb stammen aus dem Aurignacien (das Aurignacien ist die 56 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation 1.2 Ursprünge der Musik 57

deckte man weitere Flötenfragmente aus Elfenbein. Angeblasen wurde die Flöte vermutlich durch eine eingearbeitete Kerbe am Ende. Mit Hilfe der Radiokarbon-Methode und anderer Verfahren konnte das Alter der Hohle­ Fels-Flöte auf circa 40.000 bis 35.000 Jahre bestimmt werden (Conard, et al., 2oo9; Conard et al., 2004). Festhaltbar ist damit, dass im frühen Aurignacien, etwa zeitgleich mit der Einwanderung des anatomisch modernen Menschen nach Europa, neben überlieferten Beispielen für figürliche Kunst (wie u. a. die Elfenbeinfigur Abbildung 3: Rekonstruktiver Bau von :Venus vom Hohle Fels") und unterschiedlichen Werkzeugen aus Stein, Kno­ Knochenflöten. Das Urgeschichtliche ~ h en, Geweih oder Elfenbein (z. B. Steinklingen) a~ch Musikinstrumente exis­ Museum Blaubeuren bietet Workshops an, tierten (Aurignacien, o. J.). in denen aus Geflügelknochen (z . B. Beim hohen Alter der genannten Funde ist die genaue Datierung ein Prob­ Putenknochen) mittels steinzeitlicher lem, denn Verunreinigungen der Knochenfunde oder unterschiedliche Kali­ Werkzeuge funktio nstüchtige Knochenflö­ ten hergestellt werden. 1: Entfernen des brierungsverfahren ergeben Ungenauigkeiten bei der Messung, die bei der Al­ Gelenkkopfs mittels Stein klinge; 2: nach tersbestimmung durchaus mehrere tausend Jahre betragen können. Besonders Auskochen Reinigung des Knochenschafts Funde, die älter als 35.000 Jahre sind, werden durch diese Messfehler tenden­ mittels Schleifband und Sand; 3: fertige ziell in ihrem wahren Alter unterschätzt. Higham et al. (2012) entwickelten für Knochenflöte mit fünf Grifflöchern und dieses Problem eine statistische Behandlungsmethode für die Proben und die ein er Länge von circa 20 Zentimetern. Das Modeliierung der Daten, welche die Fehler klein hält. Die Geißenklösterle-Flö• In strument wird durch eine Blaskante angeregt . (Fotos: Andreas Lehmann, mit ten wären demnach nicht 37.000 Jahre alt (so bestimmt von Conard & Malina, freundlicher Genehm igung.) 2008), sondern entsprechend dem Alter ihres archäologischen Schichtkomple­ xes (dem sog. Archäologischen Horizont II) 42.000 bis 43.000 Jahre. Die ge­ naue Altersbestimmung der Instrumentenfunde ist nicht nurvon messtheoreti­ älteste archäologische Kultur des Jungpaläolithikums, circa 30.000 bis schem Interesse, sondern auch von großer Bedeutung für die (chronologische 40.000 Jahre vor heute) und sind deutlich anthropogen modifiziert. und geographische) Modeliierung kultureller Ausbreitungsprozesse: Ob der An der Elfenbeinflöte von Geißenklösterle wird besonders deutlich, zu schwäbische Donaukorridor ein kulturelles Entwicklungszentrum war, von welchen komplexen Planungs- und Handlungsabläufen der frühe moderne dem aus sich vor ungefähr 45.000 Jahren die kulturelle Modernität mit Errun­ Mensch fähig war: Was wir am Beispiel der Elfenbeinflöte sehen, ist komple­ genschaften wie Instrumenten oder Kunstwerken in andere Gebiete Zentraleu­ xer Instrumenten bau, der zuerst geplant und "gedacht" werden musste, bevor ropas ausbreiteten (sog. Kulturpumpe), hängt von der exakten chronologischen die Instrumente entstanden. Deshalb sollte bei der Bewertung der Instrumen­ Bestimmung der frühesten Funde ab (Higham et al. , 2012). tenfunde die kognitive Leistung im Vordergrund stehen und nicht so sehr die Pointiert formuliert kann man also sagen, dass der Mensch schon Flöte handwerkliche. spielte, bevor er das Rad erfand (ca. 5.000 v.Chr.) und bevor er Ackerbau und Die Zeit nach 2005 markiert eine Zäsur bei der Suche nach dem exakten Viehzucht betrieb (vor etwa 10.000 Jahren). Musikausübung begleitete die Datierungszeitpunkt, denn in diesem Jahr wurde am Ausgrabungsort Hohle Ausbreitung des anatomisch modernen Menschen in Europa (Altenmüller, Ko ­ Fels (bei Ulm), einer Siedlungsstätte des frühen anatomisch modernen Men­ piez & Grewe, 2013). Offen bleiben muss jedoch, ob erst der anatomisch mo­ schen, bei Ausgrabungsarbeiten die bisher vollständigste fünflöchrige Flöte derne Mensch zu diesen außergewöhnlichen kulturellen Leistungen imstande aus dem Flügelknochen eines Geiers gefunden (Conard, Malina & Münze!, war. Zumindest lässt sich nicht ausschließen, dass auch die Neandertaler schon 2009). Nach dem Zusammensetzen der Einzelteile ergab sich eine Länge von zahlreiche Fertigkeiten besaßen, die solche Produkte wahrscheinlich machen. circa 22 Zentimetern und ein Durchmesser von 8 Millimetern. Zusätzlich ent- Der Anthropologe Steven Mithen (2006) vertritt sogar die These, dass die Ne- 1.2 Ursprünge der Musik 59 58 1 Musikkultur und musikalische Sozialisation

andertaler musikalischer als der Homo sapiens sapiens waren. (Zur Frage der dich früher in der Stammesgeschichte entwickelt haben dürften (Morley, evolutionären Entwicklung verschiedener musikalischer Fertigkeiten des Men­ ~~02 ; Lehmann, 2010). Immerhin benutzte bereits der gemeinsame Vorläufer schen siehe auch Drösser, 2009.) Außerdem sind die Flöten in denselben Regi­ von Homo neandertalensis und Homo sapiens, der Homo heidelbergensis, vor .000 Jahren Steinwerkzeuge und verfügte über eine Vokaltraktanatomie onen entstanden, in denen auch der Neandertaler siedelte. Damit wäre jedoch 400 die Festlegung auf eine Region als einen durch den anatomisch modernen mit Resonanzräumen, die ihn zu komplexeren Vokalisationen und damit auch Menschen organisierten Verteilerpunkt für kulturellen Fortschritt ausgeschlos­ zur komplexen sozialen Kommunikation befähigten. sen. (Zur Kritik an diesem monozentrischen Modell siehe d'Errico, 2003.) Ein weiteres Problem ist, dass mögliche Artefakte (z. B. aus pflanzlichem Material) aufgrund von Zerfallsprozessen nicht überliefert sind und für vokale Aktivitä• Literatur ten natürlich keine Nachweise möglich sind. Zu den sonstigen altsteinzeitli­ Albrecht, G., Holdermann, C.-S., I

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