1. Vom Lesedrama Vom Lesedrama zur Verbindung der Künste zur performativen Verbindung der Künste

ietzsches frühe Beschäftigung mit dem Drama der Antike er- N reichte im Jahr 1872 mit der Veröffentlichung der Geburt der Tragödie einen publizistischen Höhepunkt. Jedoch fand die erste öf- fentliche Darstellung seiner Tragödientheorie, freilich in einem kleinen Kreis, bereits durch eine zweiteilige Vortragsreihe über Das griechische und dessen Auflösung, Socrates und die Tragoedie, statt, die Nietzsche am Beginn des Jahres 1870 im Basler Museum hielt.1 Neben Einsichten, die später in sein Buch einfließen werden, treten hier auch Probleme und Widersprüche zutage, welche die Notwendigkeit späte- rer Änderungen sinnfällig machen. Bereits der Titel des ersten Vortrages verdeutlicht, dass die Auf- wertung der Musik im griechischen Drama zu Nietzsches ältester Gedankenschicht gehört. Hierin ist Nietzsche bedacht, den ursprüng- lich multimedialen Charakter der attischen Tragödie entgegen deren geläufige, durch die schriftliche Überlieferung bedingte Reduktion auf das Lesedrama als literarisches Werk hervorzuheben. Zu diesem Zweck greift er auf die Thesen des Archäologen Joseph Anselm Feuerbach zurück, der in seiner Schrift Der vaticanische Apollo (1833) nicht nur den Nachweis erbrachte, dass die antike Skulptur im Gegensatz zur damaligen allgemeinen Überzeugung polychrom gewesen sei, sondern darüber hinaus das „dramatische Festspiel“ in Athen als ein „Wieder- vereinigungsfes[t] der griechischen Künste“ bezeichnet hatte, sowie auf jene des mit befreundeten Architekten und Theoretikers Gottfried Semper, der 1834 eine Schrift mit dem Titel Vorläufige Bemer- kungen über bemalte Architektur und Plastik bei den Alten veröffentlicht hatte.2 Nietzsche betont seinerseits, dass die Betrachtung der attischen Tragödie als „Gesammtkunst“ dazu verhelfen würde, die in der Moder-

1 Janz, Nietzsche I, S. 410; eine Beschreibung der Inhalte ist zu finden in von Reibnitz, Ein Kommentar zu , S. 36 – 40. 2 Feuerbach, Der vaticanische Apollo, zit. nach GMD, S. 518. Siehe dazu Pfotenhauer, Die Kunst als Physiologie, S. 136 – 138. Zu Nietzsche und Semper siehe Neumeyer, Der Klang der Steine, S. 15 – 55. 12 Vom Lesedrama zur Verbindung der Künste ne verloren gegangene Ganzheit der Wahrnehmung wiederzugewinnen (GMD, S. 519). Die Vermutung, dass Nietzsches auffällige Bezeichnung „Musik- drama“ für die griechische Tragödie durch den Einfluss Wagners zu erklären sei, liegt nahe. Zwar verwendet Letzterer in Oper und Drama die adjektivische Wendung „musikalisches Drama“, jedoch spätestens seit der Veröffentlichung von Franz K. F. Müllers Essay und das Musikdrama im Jahr 1861 wurden jene Form und die substanti- vische Wortbildung als synonym betrachtet und auf die Bühnenwerke Wagners bezogen.3 Es ist allerdings zu beobachten, dass hinter Nietz- sches offensichtlicher Anlehnung an Wagner ein gedanklicher Vorstoß steckt, der einigen Widersprüchen zum Trotz den Rahmen bestehender Vorstellungen sprengt. Denn es ist keineswegs gleichgültig, ob die an- gesprochene Bezeichnung wie bei Wagner im Zusammenhang einer Opernkritik die Akzentverschiebung zugunsten des Dramas kennzeich- nen soll, oder ob sie wie bei Nietzsche in Bezug auf die antike Tragödie die Aufwertung desjenigen Momentes zum Ausdruck bringt, das in der gesamten Tragödientheorie stets als marginal betrachtet wurde. Zwar übernimmt Nietzsche die Einsicht Wagners, dass die griechische Tragödie im Unterschied zu den neuzeitlichen Formen des Dramas, die vielmehr als Literatur-Dramen zu bezeichnen wären, ein wirkliches Drama gewesen sei,4 nämlich das, was Nietzsche als „Gesammtkunst“ bezeichnet. Jedoch gefährdet er mit seiner massiven Aufwertung der Musik gerade das Ziel der Wagner’schen Polemik, nämlich die zu tadelnde Dominanz der Musik in der Oper. Obwohl Nietzsche mit

3 In der 1872 – kurz nach der Veröffentlichung von Nietzsches Die Geburt der Tragö- die – verfassten Schrift Über die Benennung ,Musikdrama‘ verwirft Wagner sowohl die adjektivische Form als auch die substantivische Wortbildung als inadäquat, bevor er die Lösung „Bühnenfestspiel“ für die Bezeichnungen seiner Werke mit- teilt. Siehe ders. Über die Benennung ,Musikdrama‘, S. 274 bzw. 277. Wagner teilte seine Ablehnung des Terminus „Musikdrama“ Nietzsche bereits vorher mit, und zwar in am 11. Juni, als Nietzsche mit seinem Freund Erwin Rohde dort zu Besuch erschienen war und seinen ersten Basler Vortrag vorlas. Darüber schreibt Cosima von Bülow in ihrem Tagebuch: „Pr[ofessor] N[ietzsche] liest uns abends seinen Vortrag über das griechische Musikdrama, über welche Benennung R[ichard] ihn anhält und sie ihm mit Gründen verweist. Der Vortrag ist schön und zeigt, daß er das griechische Kunstwerk recht empfunden hat“ (dies., Die Tagebücher I, S. 243). Infolgedessen schreibt Nietzsche in seinen Aufzeichnungen: „Name: Musikdrama verwerflich (nach Richard Wagner)“ (NL 7, S. 79). Ab diesem Zeitpunkt erscheint diese Bezeichnung in den Schriften Nietzsches nie wieder. 4 Wagner, Oper und Drama, S. 149. Zu Wagners Auffassung des Mythos als un- bewusste Schöpfung des Volksgeistes und zu seiner Ablehnung der schriftlichen Überlieferung siehe Borchmeyer, Das Theater Richard Wagner, S. 182 f.