LMDR - Heimatbuch 2014

Dr. Viktor Krieger Vom Schulmeister zum Nobelpreisträger: Geistige und intellektuelle Bestrebungen unter der deutschen Minderheit*

ahrzehntelang waren die ersten Einwande- • die staatlicherseits organisierte Trennung und rer in Russland mit Überlebens- und An- faktische Isolierung („Kolonistenstand“) von Jpassungsproblemen konfrontiert. In erster der russischen Bevölkerung; Linie waren davon die Deutschen an der Wolga • die behördlich vorbestimmte fast ausschließ- betroff en, die in einer der entlegensten Gegen- liche Beschäft igung im Agrarsektor. den an der Peripherie des Reiches angesiedelt wurden und beinahe ausnahmslos dazu ge- Doch auch unter diesen widrigen gesell- zwungen waren, primitive Landwirtschaft zu schaft lichen und Naturbedingungen blieben betreiben. geistige Anstrengungen nicht völlig aus. Manch Dieser im wahrsten Sinne des Wortes harte ein Siedler verfügte über eine gepfl egte, noch aus Überlebenskampf nahm angesichts der widri- Deutschland stammende Büchersammlung,1 gen klimatischen Bedingungen, der Abgeschie- ein anderer besaß ein historisches Bewusstsein denheit inmitten der Steppe und der dauerhaf- und schrieb seine Erinnerungen nieder.2 Pasto- ten feindlichen Umgebung mit der ständigen ren, die entweder aus dem Ausland (deutsche Gefahr von Überfällen und Raubzügen alle vor- Länder und Schweiz) oder den baltischen Pro- handenen Kräft e in Anspruch. vinzen (Deutschbalten) stammten und in die Auch wenn es unter den Einwanderern etli- Kolonien entsandt wurden, versuchten nach che Gebildete gab – darunter sogar einige Ade- Möglichkeit, das Bildungsniveau zu heben, was lige und Studenten –, so mussten sie sich unter unter den herrschenden Umständen nicht so diesen Umständen dem allgemeinen sozialen einfach war. Der Ruf nach einem Lehrersemi- und intellektuellen Nivellierungsprozess beu- nar wurde immer lauter. Vor allem dem ersten gen. Die Dorfschule konnte nur minimale Lese- Superintendanten des evangelischen Konsistori- und Schreibkenntnisse vermitteln und bereitete ums in Saratow (gegründet 1819), Ignaz Fessler, die Schüler in erster Linie auf die Konfi rmation lag solch eine weiterführende Bildungsanstalt beziehungsweise Firmung vor. Besonders nega- am Herzen.3 tiv wirkten sich auf die geistige und kulturelle 1 Einige Beispiele in: MARGARETE WOLT- Entwicklung der Siedler, in erster Linie der NER: Das wolgadeutsche Bildungswesen und Wolgakolonisten, folgende Faktoren aus: die russische Schulpolitik. Teil I. Von der Be- gründung der Wolgakolonien zur Einführung • der beinahe vollständige Verlust jeglicher des gesetzlichen Schulzwanges. Leipzig 1937, Verbindungen zur alten deutschen Heimat; S. 75-76. 2 So wie etwa ANTON SCHNEIDER: Aus * Vorabdruck eines Kapitels aus der der Geschichte der Kolonie Mariental an der Monographie des Autors „Vom rus- Wolga. Bearb. und hrsg. von VICTOR HERDT. sischen Kolonisten zum Bundesbür- Göttingen 1999. Schneider war 25 Jahre lang ger: Grundlinien russlanddeutscher Schulmeister in diesem wolgadeutschen Ort Geschichte“, die 2014 im LIT-Verlag und verfasste das Manuskript 1855. (Berlin, Münster) herausgegeben wird. 3 WLADIMIR SÜSS: Das Schulwesen der deutschen Minderheit in Russland. Von den 71 LMDR - Heimatbuch 2014

Die sich allmählich herausbildende soziale Diff erenzierung und vor allem die wachsen- den wirtschaft lichen Aktivitäten außerhalb der Landwirtschaft und der Grenzen der Kolonis- tenbezirke ließen einen immer größer werden- den Bedarf an ausgebildeten und der russischen Sprache mächtigen Siedler entstehen. Die Regierung stand den Forderungen, wei- terführende Schulen mit vertieft em Russisch- unterricht einzuführen, zunächst zögerlich gegenüber, unter anderem deswegen, weil das Schulwesen in den Bereich der „ausländischen“, d.h. der lutherischen, katholischen und refor- mierten Kirche gehörte und man sich staatli- cherseits lange Zeit nicht in fremde innerkirch- liche Angelegenheiten einmischen wollte.4 Die spätere kolonistische, vor allem aber die (frühe) Stempel der „Katharinenstädter russischen sowjetische Historiographie behauptete freilich, Zentralschule“, 1907. dass hier die Regierung absichtlich an einem niedrigen Bildungsstand der Siedler festhalten Allein die Grimmer Zentralschule nahm im wolle, damit sich diese nicht vom Ackerbau ab- Laufe der Jahre 1868 bis 1916 insgesamt 3.427 wandten.5 Schüler auf, von denen allerdings nur 368 ei- Erst im Jahr 1834 nahmen zwei offi ziell als nen Abschluss machten. Von diesen wurden „Kreis- oder Zentralschulen“ bezeichnete Insti- 300 Lehrer und 68 Schreiber oder Kontoristen. tutionen in Grimm (Lesnoj Karamysch) und 559 Schüler verließen die Schule nach der drit- Katharinenstadt an der Wolga ihren Betrieb auf. ten oder vierten Klasse, ohne einen Abschluss Sie sollten in erster Linie russischkundige Schul- zu machen, so dass die Zahl der Personen mit meister und Dorfschreiber ausbilden; die Lehr- einer vierjährigen Schulbildung auf etwa 1.000 zeit dauerte sechs Jahre und war in vier Klassen geschätzt wird. unterteilt. Obschon ihre Tätigkeit viele Unzu- Die Auswirkungen des Besuchs solcher Lehr- länglichkeiten und Reorganisationen neben anstalten auf die geistige Entwicklung der Kolo- einer zeitweiligen Schließung des Standortes nisten darf nicht unterschätzt werden: Wer auch Grimm aufwies, bildeten sie das Hauptreservoir nur einige Jahre absolviert hatte, galt als gebildet an Lehrern für deutsche Dorfschulen und dien- und bestritt seinen Lebensunterhalt nicht selten ten aufstrebenden Jugendlichen als Sprungbrett als Amtsschreiber oder im Handelssektor.6 Die- zu höheren russischen Bildungseinrichtungen. se Absolventen waren die erste und lange Zeit auch praktisch die einzige Quelle zur Heraus- ersten Ansiedlungen bis zur Revolution 1917. bildung einer kolonistischen bzw. nationalen Köln etc. 2004, S. 165; VAŠKAU N. (NINA Intelligenz. WASCHKAU): Škola v nemeckich kolonijach 6 GERD STRICKER: Russlanddeutsches Povolž’ja 1764-1917 gg. Wolgograd 1998, S. Bildungswesen. Von den Anfängen bis 1941, 32-35. in: Deutsche Geschichte im Osten Europas. 4 WOLTNER (1937), S. 17-18. Russland. Hrsg. v. GERD STRICKER. Berlin 5 DAVID SCHMIDT: Studien über die Ge- 1997, S. 420-465, hier S. 437-441. Vgl. hierzu: schichte der Wolgadeutschen. Erster Teil. Seit A. MATTERN: Die Grimmer Zentralschule, in: der Einwanderung bis zum imperialistischen Unsere Wirtschaft (Pokrowsk) 4/1924, S. 107- Weltkrieg. Pokrowsk etc., 1930, S. 245. 109, hier S. 109. 72 LMDR - Heimatbuch 2014

Die Bildungsanstalt in Grimm absolvierten das Studium im Ausland waren damals eine ab- so bekannte Persönlichkeiten wie der Päda- solute Ausnahme. goge und Literat August Lonsinger, der an der Eine dieser Ausnahmen war Wilhelm Stär- Wiege der wolgadeutschen Literatur stand, der kel, der in der wolgadeutschen Kolonie Norka Sprachforscher Georg Dinges, Professor an geboren wurde. Von 1855 bis 1858 diente er als der Universität Saratow und erster Prorektor Schreiber in der Kolonie Bangert; im September des Deutschen Pädagogischen Instituts in der 1858 begann er ein theologisches Studium am ASSRdWD, oder führende wolgadeutsche Poli- Basler Missionsinstitut in der Schweiz und wur- tiker wie Alexander Mohr (Moor), Mitglied des de 1864 in Ravensburg (Württemberg) geweiht. „Kommissariats für deutsche Angelegenheiten Später diente er bis 1908 mehr als drei Jahrzehn- im Wolgagebiet“ und 1921-22 Regierungschef te lang als Pfarrer in seinem Heimatort Norka.8 der wolgadeutschen Arbeitskommune. Unverkennbar, wenn auch sporadisch zeig- Allerdings konnte sich nur eine verschwin- ten sich die Bemühungen der führenden und dend kleine Anzahl der Absolventen solcher wohlhabenden Bürger aus dem Siedlermilieu, Kreis- oder Zentralschulen während der verord- den jungen Leuten einen Bildungsweg zu er- neten Isolierung, d.h. von der Einwanderung bis möglichen und sie dann zum Wohle der deut- Anfang der 1870er Jahre, an russischen Real- schen Gemeinden einzusetzen. So sammelten schulen, Gymnasien oder Hochschulen weiter- 1866 die Wolgakolonisten um die 10.000 Rubel bilden. zum Andenken an die Vereitlung des Atten- Neben der für das Bauernmilieu typischen tats auf Zar Alexander II. und stift eten davon Geringschätzung der Bildung waren es die man- 13 Stipendien für begabte Jugendliche. Ein Teil gelnden Russischkenntnisse und bürokratische des Stift ungskapitals wurde zum Erwerb eines Hindernisse, die dem Einzelnen das Verlassen Hauses in Saratow ausgegeben, um dort eine der Kolonien erschwerte. Die eingeschränkte Mehrklassenschule zu eröff nen, die dann später soziale und räumliche Mobilität führte zur Kon- in eine Realschule umgewandelt wurde.9 servierung der vorherrschenden Lebensformen, Sowohl die wirtschaft liche als auch die sozia- begünstigte das Aufk ommen eines wolgadeut- le Entwicklung der südrussischen Kolonien ver- schen Dialekts als dominierende Umgangsspra- lief von Anfang an unter wesentlich günstigeren che und festigte die konfessionelle Zersplitte- Bedingungen, was sich auch deutlich an der Bil- rung der Siedler. dungsfrage ablesen lässt. Bereits in den ersten Es sagt schon einiges aus, dass in den ersten Jahren der Ansiedlung ersuchte Superintendent hundert Jahren seit ihrem Einzug in die Gegend Böttiger 1819 in Odessa das Fürsorgekomitee, um Saratow gerade einmal zwei Kolonisten das Verwaltungsamt für die Kolonien, eine Leh- (sic!) eine Universität absolviert haben sollen.7 rerschule für die Siedler zu gründen. Allerdings Auch eine höhere Berufsausbildung oder gar sahen die zuständigen Behörden – ebenso wie bei den Wolgadeutschen – zunächst keinen Be- 7 Nach DITC JA. [JAKOB DIETZ]: Istorija darf an Volksschullehrern wie überhaupt an Ko- povolžskich nemcev-kolonistov. Moskau 1997, lonisten mit mehr als elementarer Bildung. S. 141. Das ist sicher etwas untertrieben: Immerhin konnte später Pastor Karl Flet- Allein in Dorpat haben in dieser Zeit nicht nitzer an der evangelischen Kirchenschule in weniger als zwei Wolgadeutsche Theologie stu- Odessa in den Jahren 1830 bis 1843 ein „klei- diert: Christian Bauer aus Orlowskoje (1827- 1830), ordiniert 1831, und Karl Dönhof aus nes Seminar“ unterhalten, aus dem 43 Volks- Frank (1847-1851), ordiniert 1852; aus: ERIK AMBURGER: Die Pastoren der evangelischen 8 Siehe u.a.: AMBURGER (1998), S. 481. Kirchen Russlands vom Ende des 16. Jahrhun- 9 Saratow, in: Nemcy Rossii. Enciklopedija. derts bis 1937: ein biographisches Lexikon. Tom 3 (P-Ja.). Moskau 2006, S. 399-405, hier Lüneburg, Erlangen 1998, S. 254, 296-297. S. 401. 73 LMDR - Heimatbuch 2014

schullehrer in die deutschen Gemeinden des Schwarzmeergebietes gingen. Erst viel später entstanden in den evangelischen Kolonien des Taurischen oder Chersonischen Gouverne- ments die weiterbildenden Zentralschulen, so in Großliebental und Neufreudental (1869), in Gnadenfeld (1872), Prischib (1873) oder Neu- satz (1886), um nur einige zu nennen.10 Prägend auf die geistige und kulturelle Ent- wicklung nicht nur der bessarabischen Siedlun- gen wirkte die zentrale Lehrerbildungsanstalt in Sarata, die so genannte Wernerschule. Als Grün- der zeichnete sich Christian Friedrich Werner aus, der 1823 als reicher Mann mit einer für die damalige Zeit beträchtlichen Summe von 40.000 Rubeln nach Russland auswanderte.11 Nach der Ankunft in der Siedlung Sarata 1823 starb er plötzlich noch im selben Jahr. Testamentarisch bestimmte Werner sein Vermögen größtenteils für gemeinnützige Zwecke. Das durch Zinsen und Zinseszinsen stark gewachsene „Werner- kapital“ wurde teilweise für die Finanzierung eines Lehrerseminars und später für die Errich- tung einer Zentralschule verwendet. In den am 23. Oktober 1842 bestätigen Statuten dieser Bil- dungsstätte stand u.a.:

Die in Sarata zu errichtende Schule hat den Zweck, aus Kolonistenknaben tüchtige Lehrer und Schreiber für die Dorfschulen und Dorfsäm- ter sowie Landmesser und Architekten heranzu- bilden und durch dieselben in den Kolonien die russische Sprache zu verbreiten. ... Die Zahl der Schüler darf nicht 30 übersteigen; zehn von ihnen werden auf Rechnung der Zinsen des Schulfonds als Pensionäre unterhalten; die 10 ALBERT MAUCH: Geschichtliches von den Deutschen Zentralschulen in Russland, in: Heimatbuch der Ostumsiedler. Kalender 1954, S. 62-71. 11 WILHELM MUTSCHALL: Geschichte der russischen Werner-Centralschule zu Sarata vom 25. Juni 1844 bis 25. Juni 1894. Fest- schrift zum 50-jährigen Jubiläum der Schule. Jahresbericht der Zentralschule in Neusatz Odessa 1894. Nachgedruckt in: Das höhere auf der Krim, veröff entlicht Ende Mai 1914 in Schulwesen der Deutschen in Bessarabien. der „Odessaer Zeitung“. Magstadt 1968, S. 10-52, hier S. 15-17. 74 LMDR - Heimatbuch 2014

übrigen wohnen in Privathäusern und genießen 1910 wurde hier ein pädagogisches Seminar nur unentgeltlichen Unterricht. eröff net, und nur seine Absolventen durft en als In die Schule werden nur Knaben aufgenom- Volkslehrer in einer Dorfschule arbeiten. Die men..., die nicht jünger als 14 und nicht älter als „Russische Werner-Zentralschule“ galt somit 16 Jahre sein [dürfen]. zu Recht als wichtigste „Kaderschmiede“ der Die Schule besteht aus einer Klasse, die in ei- kolonistischen Intelligenz des Schwarzmeer- nen Vorbereitungs- und in einen Finalkursus zer- raums. Nicht nur zahlreiche Gymnasiallehrer fällt; der Kursus ist vierjährig... Im Finalkursus mit Universitätsbildung gingen hier zur Schule, [werden durchgenommen]: Religion und biblische sondern auch Intellektuelle beziehungsweise Geschichte; russische und deutsche Grammatik; Geistliche wie der Universitätsprofessor Fried- Rhetorik mit Übersetzungen aus dem Russischen rich Knauer oder der Pastor und spätere Propst ins Deutsche und umgekehrt; Statistik Russlands Daniel Steinwand. und besonders Neu-Russlands; Arithmetik, Algeb- Die eingewanderten Mennoniten legten von ra, Longimetrie, Planimetrie, Stereometrie und Anfang an großen Wert auf die Versorgung ih- Rechnen auf dem Rechenbrett; Landmesskunst..., rer Gemeindeschulen mit eigenen Lehrkräft en, Anfertigung von Bauplänen und Kostenvoran- die vorerst für die neuen Gemeinden in Russ- schlägen... land zum guten Teil aus der alten preußischen Der Unterricht in Religion und deutscher Spra- Heimat rekrutiert wurden. che wird dem Orts-Pastor übertragen; die übrigen Bereits 1820 kam es zur Gründung des „Or- Lehrgegenstände hingegen werden unter den zwei loff schen Schulvereins“, und die ihm unterstellte Lehrern verteilt. Die Lehrer müssen obligatorisch „Christliche Vereinsschule in Orloff “ entwi- auch Deutsch verstehen, um sich den Zöglingen ckelte sich zu einer weiterführenden Fortbil- verständlich machen zu können, solange letztere dungsschule. 1835 veranlassten die staatlichen die russische Sprache nicht verstehen... Behörden im Kolonistengebiet Halbstadt an der Diejenigen, welche auf Kosten der Anstalt un- Molotschna, die erste Zentralschule zu eröff nen, terrichtet werden, sind verpfl ichtet, zehn Jahre als die, gleich ähnlichen Anstalten in anderen Sied- Lehrer oder Schreiber zu dienen... lungsgebieten, nicht nur die künft igen Dorf- schullehrer, sondern auch das Kanzleipersonal Die ersten zehn Schüler traten 1844 ein; neun mit guten Kenntnissen der russischen Sprache davon absolvierten 1848 die Anstalt. Insgesamt ausbilden sollte. 1841 (nach anderen Quellen nahm die Wernerschule bis 1915 1.063 Knaben 1842) folgte ihr eine weitere Gründung im Ko- auf; davon schafft en 637 die Abschlussprüfun- lonistenbezirk Chortitza und 1848 in der Sied- gen. lung Neu-Halbstadt, Gouvernement Taurien.13 Die meisten Absolventen wählten den Lehrer- Bis zum Ersten Weltkrieg entstanden in den beruf; ein Teil davon verblieb als Schreiber oder mennonitischen Siedlungen nicht weniger als Rechnungsführer in den deutschen Gemein- 23 verschiedene Schulen höheren Typs. Immer den; 84 bildeten sich an Lehrerinstituten und mehr junge Leute gaben sich mit dem erreich- höheren pädagogischen Kursen, zunehmend ten Abschluss nicht zufrieden und strebten an aber auch an Hochschulen und Universitäten russische Realschulen und Gymnasien, um an- im In- und Ausland weiter. Die Mehrheit der schließend weiterstudieren zu dürfen. Weiterstudierenden, 46 an der Zahl, ging aus den Abschlussklassen der Jahrgänge 1904-1915 13 GERHARD HILDEBRANDT: Das Bil- 12 hervor. dungswesen der Mennoniten in Russland von der Zeit ihrer Einwanderung bis 1930, in: 200 12 Errechnet nach: ALBERT MAUCH: Zur Jahre Mennoniten in Russland. Aufsätze zu ih- Geschichte der Wernerschule. Schülerbewe- rer Geschichte und Kultur. Bolanden-Weierhof gung, in: ibid., S. 59-62. 2000, S. 47-69, hier S. 48-52. 75 LMDR - Heimatbuch 2014

Auszug aus den Erinnerungen des künft igen Stadtoberhaupts von Jekaterinoslaw, Johann Esau.

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Um ihren Kindern die Hochschulreife zu er- Ein von engagierten mennonitischen Heimat- möglichen, mussten die Eltern, sofern sie nicht forschern zusammengestelltes Verzeichnis listet in der Stadt, sondern auf dem Land wohnhaft ca. 280 Namen von Personen auf, die vor 1917 waren – was zumeist der Fall war –, große fi nan- ein abgeschlossenes oder unvollendetes Studi- zielle Belastungen eingehen, um für die Unter- um vorweisen konnten. An erster Stelle stand kunft in der Stadt und für Lehrgebühren aufzu- bezeichnenderweise die Gruppe der Ingenieure kommen. Da war es besonders hilfreich, wenn mit 80 Personen oder knapp 30%, gefolgt von die Gemeinde diverse Unkosten übernahm oder 77 Lehrern (27%). Erst an dritter Stelle tauchten ein staatliches Stipendium für begabte Schüler die Prediger mit 50 studierten Th eologen (18%) in Aussicht gestellt wurde. auf, dicht gefolgt von 49 Ärzten (18%). Rechts- Solch ein Stipendium ermöglichte unter an- anwälte und Forst- bzw. Landwirte waren nur derem den beiden Brüdern Johann und Jakob vereinzelt vertreten. Bei aller gebotenen Vor- Esau, als zwei der ersten deutschen Siedler im sicht und der off ensichtlichen Unvollkommen- Schwarzmeerraum 1879 das russische klassische heit und Unvollständigkeit der Liste lassen sich Gymnasium (Kronsgymnasium) in Jekaterino- doch einige Schwerpunkte der akademischen slaw zu absolvieren. Danach erwarb Johann an Bildung bei den Mennoniten erkennen.16 der Rigaer Polytechnischen Hochschule (Poly- Seit jeher legte man in den Gemeinden gro- technikum) den Grad eines Diplom-Ingenieurs; ßen Wert auf einen ausgebildeten Prediger, Jakob studierte Medizin an der Universität in obwohl die Mennoniten im Zarenreich keine Kiew und fand seine erste Anstellung als so ge- eigene Bibelschule gründeten. Dazu bediente nannter Kolonialarzt im heimatlichen Amtsbe- man sich entweder der ausgebildeten Glaubens- zirk (wolostj) Chortitza.14 brüder aus dem Ausland oder der eigenen Mit- Schätzungen zufolge haben bis 1917 nicht glieder, die vornehmlich in den schweizerischen weniger als 20.000 Mennoniten die Zentralschu- oder deutschen Missionsschulen studierten. len besucht, was für die damals knapp 104.000 Von den aufgezeichneten 50 Predigern, denen Menschen zählende ethnoreligiöse Gruppe man einen Ausbildungsort nachweisen konnte, doch beeindruckend war. Wenn man dazu nicht studierten zehn an der Allianzbibelschule in weniger als 500 Mennoniten berücksichtigt, die Berlin, sieben am Th eologischen Seminar in bereits Fach- oder Hochschulen einschließlich Hamburg, je sechs am Evangelischen Seminar Universitäten und gleichwertige Anstalten ab- in Basel und an der St. Chrischona bei Basel, solviert hatten oder dort gerade studierten, dann fünf am Th eologischen Seminar in Barmen und erscheint die Th ese, dass sie am Vorabend des einige an den theologischen Fakultäten der Uni- Ersten Weltkrieges wohl die gebildetste ländli- versitäten Dorpat, Basel und Berlin. che Bevölkerungsgruppe im Zarenreich waren, Die politische, kulturelle und nicht zuletzt nicht allzu gewagt.15 die wirtschaft liche Entwicklung im Russischen 14 „Erinnerungen von Iwan Jakowlewitsch LOEWEN: Intellectual Developments Among Esau“, in: Der Bote (Winnipeg), Nr. 37 vom the Mennonites of : 1880-1917, in: Jour- 15. September 1970; JOHANN JAKOB ESAU, nal of Mennonite Studies 8 (1990), S. 89-107. in: HUEBERT, HELMUT T.: Mennonites in the 16 „Mennoniten in Russland, die an Hoch- Cities of Imperial Russia. Volume II. Winnipeg/ schulen und Universitäten studiert haben“. Canada, 2008, p. 163-169. Bei den Lehrern handelte es sich um die 15 GEORGE K. EPP: Geschichte der Menno- Absolventen der pädagogischen Institute, der niten in Russland. In drei Bänden. Band 3. philologisch-historischen und naturwissen- Neues Leben in der Gemeinschaft „Das Com- schaftlichen Fakultäten der Universitäten oder monwealth der Mennoniten“. 1871-1914. Lage auch einstige Studenten der Kunstakademien 2003, S. 154-159 (Kap. 3.13: Der Höhepunkt (letzter Abruf am 9. August 2012): http://chor- des Bildungsstandes“). Vgl. hierzu: HARRY tiza.heimat.eu/Stud.htm 77 LMDR - Heimatbuch 2014

Peter Rempel aus Südrussland (steht links) als Student der Ingenieurschule (Techni- kum) Mittweida im Kreis seiner Kommilitonen, 1911.1

1 P. Rempel wurde 1885 in Nieder-Chortitza, Gouvernement Jekaterinoslaw, geboren und meldete sich im September 1909 zum Studium am Technikum Mittweida/Sachsen an. Der Besuch der Volksschule und drei Jahre berufl icher Praxis reichten aus, um aufgenommen zu werden. 1911 kehrte er aus Deutschland zurück und zog mit seinem Vater nach Arka- dak, Gouvernement Saratow, wo er eine mechanische Werkstatt gründete. 1938 wurde er in Kasachstan verhaftet und zu zehn Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Er starb 1944 im Lager. Siehe: Hochschularchiv Mittweida, Studentenakte T-18948: Peter Rempel aus Nieder-Chortitza, Russland; Listen der verhafteten und verurteilten Personen, Gesellschaft Memorial (letzter Abruf am 30. Oktober 2013): http://lists.memo.ru/d28/f86.htm

Reich bekam nach der ersten russischen Revo- rufe und Befürchtungen der ukrainischen, ka- lution von 1905 und dem Übergang zu einer sachischen, polnischen, tatarischen, estnischen konstitutionellen Monarchie mit der Verkün- und anderen Aufk lärer aus dieser Zeit, die das dung des so genannten Oktober-Manifestes „ungebildete und schwerfällige“ Volk scharf kri- vom 17. Oktober 1905 eine zusätzliche Dyna- tisierten und seine aktive Hinwendung zur nati- mik. In einem multinationalen Imperium wie onalen Sache forderten. Es galt, Zeitungen und dem Russischen drückten sich die nationalen Vereine ins Leben zu rufen, Volksgeschichte zu Aspirationen zahlreicher Völker nicht selten in betreiben, sich der Muttersprache zuzuwenden, einer dem Volkstumskampf ähnlichen Weise nationale Schulen und andere Ausbildungsein- aus. Man vergleiche nur die Mahnungen, Auf- richtungen zu gründen, gegen die Russisfi zie-

78 LMDR - Heimatbuch 2014 rungspolitik im Bildungswesen einzutreten und ellen unter den deutschen Siedlern. Es entstan- eine politisch-kulturelle Autonomie zu fordern. den Bildungs- und Aufk lärungsvereine, neue Alles lief auf die politische Mobilisierung im deutschsprachige Zeitungen, wissenschaft liche Zeichen des nationalen „Erwachens“ hinaus.17 und studentische Gruppen, Literaturzirkel und Diese allgemeine Entwicklung, die immer neue Bildungseinrichtungen, die häufi g von mehr um sich greifende national-kulturelle Mo- Nachkommen der einstigen Siedler oder ihnen bilisierung, erfasste auch die wenigen Intellektu- nahestehenden Personen initiiert bzw. geleitet wurden. 1906 gründete man Zeitungen wie die 17 Siehe hierzu einen Überblick bei ANDREAS „Kaukasische Post“ in Tifl is (Tbilissi) oder die KAPPELER: Russland als Vielvölkerreich: „Deutsche Volkszeitung“ in Saratow, die die na- Entstehung, Geschichte, Zerfall/2-e durchges. tionale Intelligenz zur Mitarbeit einluden, sich Aufl . München 1993, v.a. S. 268-277 (Kap. 9.1: als „kultur- und fortschrittsgläubig“ verstanden Die Revolution von 1905 als Völkerfrühling); und eine liberalere Richtung einschlugen.18 die Mobilisierungsprozesse der muslimischen Bevölkerung der Wolgaregion und des Süd- 18 KARL AUGUST FISCHER: Die „Kaukasi- urals detailliert bei: CHRISTIAN NOACK: sche Post“. Leipzig 1944, v.a. S. 16-43; TAT- Muslimischer Nationalismus im Russischen JANA ILARIONOVA: Die deutsche Presse in Reich. Nationsbildung und Nationalbewegung Russland und an der Wolga vor 1914, in: Zwi- bei Tataren und Baschkiren 1861-1917. Stutt- schen Reform und Revolution. Die Deutschen gart 2000, S. 218-485. an der Wolga 1860-1917. Hgg. v. DITTMAR

Rechenschaft sberichte der deutschen Bildungs- und Kulturvereine.1 1 Auf der Titelseite des Rechenschaftsberichts des Vereins in Saratow sind die Jahreszahlen falsch angegeben: Es soll „für die Jahre 1908/09, 1909/10, 1910/11“ heißen. 79 LMDR - Heimatbuch 2014

Das wohl ambitionierteste Projekt dieser Zeit ne Katharinenstadt. Schon nach der Aufh ebung geht auf den Absolventen der Basler Missions- der staatlichen Sonderbehörde (Fürsorgekontor anstalt, Jakob Stach, zurück, seit 1899 Pastor für Kolonisten in Saratow) und der Einführung der Siedlung Freudental bei Odessa, der eine der ländlichen Selbstverwaltung (semstwo) Art Schulkolonie mit einer Realschule, einem entstanden hier viele Privat-, Ministerial- und Gymnasium, einer landwirtschaft lichen Schule, Landschaft sschulen. einem pädagogischen Seminar und sogar einer Wie schon erwähnt, existierte hier seit 1834 deutschen Universität anstrebte. Dafür warb er die Kreisschule, später als „Katharinenstädter mit Hilfe des von ihm 1905 ins Leben gerufenen russische Zentralschule“ bekannt, deren Aufga- „Südrussischen deutschen Bildungsvereins“. be darin bestand, „Lehrer für die Grundschulen Von diesen ambitionierten Plänen ließ sich der evangelischen und katholischen Gemeinden 1907 immerhin die Gründung einer Ackerbau- der Siedler-Eigentümer in den Gouvernements Fachschule in Eugenfeld, Taurien, verwirkli- Saratow und Samara sowie auch die Küster der chen.19 Es war jedoch auch zu Beginn des 20. genannten Gemeinden auszubilden“.21 Die Ab- Jahrhunderts durchaus nicht einfach, aufk lä- solventen dieser und der Grimmer Zentralschu- rerisches Gedankengut unter die zumeist kon- len stellten nach 1917 einen maßgeblichen Teil servative Bauernbevölkerung zu bringen. Die der politischen und kulturellen Führungsschicht vorherrschende Stimmung unter seinen Lands- der Wolgadeutschen Republik. leuten beschrieb er folgendermaßen:20 Hier wurde 1876 von Pastor Gustav Schom- burg sogar eine Mittelschule, ein achtjähriges Es galt, einen schweren Kampf zu kämpfen mit Privatgymnasium, ins Leben gerufen, die erste bäuerlicher Engherzigkeit und religiösen Vorur- höhere Lehranstalt dieser Art landesweit in ei- teilen. Man kannte nur Land und Weizen, das ner kolonistischen Ansiedlung. Diese Schule Geld als Tauschmittel, um den produzierten Wei- arbeitete nach dem Programm der deutschen zen in Land umzusetzen. Bildung war Nebensa- Gymnasien in den Ostseeprovinzen; zum Lehr- che. Außer der Dorfschule für alle Knaben und personal gehörten auch erfahrene Pädagogen Mädchen und der Zentralschule, in der eine An- aus Deutschland. Leider musste das Gymnasi- zahl zu Jünglingen heranreifender Knaben zum um aus fi nanziellen Gründen 1893 schließen.22 Lehrer ausgebildet wurde, glaubte man, an Bil- Die Zentralschulen gaben allerdings keine dungsanstalten nichts mehr nötig zu haben. Berechtigung zum Eintritt in die Universität oder sonstige Hochschulen, weder im In- noch Zu einem geistig-kulturellen Zentrum der Wolgadeutschen mit vielfältigen Bildungsan- 21 „Bestimmungen über die Zentralschulen geboten entwickelte sich das durch Handel und der Siedler-Eigentümer (ehemalige deutsche produzierendes Gewerbe wohlhabend geworde- Kolonisten) in den Gouvernements Saratow und Samara“. Saratow 1909, übersetzt aus dem Russischen in: SÜSS (2004), S. 320-328, DAHLMANN u. RALPH TUCHTENHAGEN. hier S. 320. Essen 1994, S. 190-204, v.a. S. 198-202. 22 GUSTAV FISCHER: Beiträge zur Geschich- 19 JAKOB STACH: Die letzte Entwicklungs- te des Schulwesens im alten Katharinenstadt, phase des Bildungswesens in den deutschen in: Wolgadeutsches Schulblatt (Pokrowsk) Kolonien Russlands vor und nach dem Kriege, 1929, S. 779-784; J.S. [JOHANNES SCHLEU- in: Deutsche Post aus dem Osten 8/1937, S. NING]: HERMANN PACK, in: HDR 1961, 12-15. S. 132-137. H. Pack war wissenschaftli- 20 DERS.: Meine dreißigjährige Tätigkeit im cher Hilfslehrer am Gymnasium und an der Dienste der deutschen Kolonisten in Russland, Realschule in Minden/Wesfalien, von wo aus in: Heimatbuch der Deutschen aus Russland er 1879 dem Ruf nach Katharinenstadt als (HDR) 1957, S. 175-180, hier S. 176. Oberlehrer folgte. 80 LMDR - Heimatbuch 2014

akob Stach (1865-1944), ev.-luth. Pfarrer, gehörte zu den he- rausragendsten Persönlichkeiten der Deutschen im Schwarz- Jmeergebiet. Stach wurde in einer wohlhabenden Bauernfamilie in der Kolo- nie Grunau, etwa 50 km von der Stadt Mariupol im Gouvernement Jekaterinoslaw, geboren. 1883-88 studierte er an der Basler Missionsanstalt und diente danach als Pfarrer in mehreren Kirchspielen. Überall engagierte er sich stark für die geisti g-kulturellen Belange seiner Landsleute, verfasste zahlreiche Beiträge zu historischen, kirchlichen und kul- turellen Fragen, darunter das bedeutende Werk „Die deutschen Kolonien in Südrussland. Kurzgefasste Studien und Bilder über das erste Jahrhundert ihres Bestehens, 1904“. Er war die treibende Kraft bei der Gründung des „Südrussischen Jakob Stach deutschen Bildungsvereins“ im Oktober 1905 in Odessa. Im I. Welt- krieg setzte er sich akti v gegen die anti deutsche Sti mmungsmache und die Absichten der Regierung ein, den deutschen Landbesitz zu liquidieren, und publizierte in Moskau auf Russisch eine viel beachtete historisch-stati sti sche Untersuchung, in der u.a. Staatstreue und patrioti sche Taten der deutschen Siedler aufgezeigt wurden. Wegen einer Denunziati on als „österreichischer Spion“ sah er sich gezwungen, nach Sibi- rien zu ziehen, und betreute dort das Kirchspiel Slawgorod im Altai bis 1921. Ein Jahr später reiste Stach im Auft rag der deutschen Gemeinden um Nikolajew (Ukraine) nach Deutschland, um dort und in Nordamerika Hilfe für die unter der Hungers- und allgemeinen Not leidenden Siedler zu bekommen. Einige Jahre wirkte er in Berlin im Fürsorgeverein für deutsche Rückwanderer und über- nahm später bis zur Pensionierung Pfarrstellen in Blüthen und Berge, beide in Brandenburg. Seine anti bolschewisti sche Einstellung führte nach 1933 dazu, dass er dem NS-Regime un- kriti sch gegenüberstand. Er war auch in Deutschland publizisti sch und schrift stellerisch bis ins hohe Alter täti g. Literatur: JAKOB STACH: Meine dreißigjährige Täti gkeit im Dienste der deutschen Kolonisten in Russland, in: HDR 1957, S. 175-180; ERICH FRANZ SOMMER: Die Einigungsbestrebungen der Deutschen im Vorkriegs-Russland (1905-1914). Inaugural-Diss. Leipzig 1940, v.a. S. 9-22; UTE RICHTEREBERL: Ethnisch oder Nati onal? Aspekte der russlanddeutschen Emigrati on in Deutschland 1919-1969. Frankfurt a.M. u.a. 2001, v.a. S. 68-74. im Ausland. Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenigstens die sprachliche Anpassung ab, doch mussten Jugendliche, die sich weiterbilden woll- die Umstellung auf einen fremden, urbanen Le- ten, ihr Heimatdorf verlassen und in der ihnen bensstil blieb ihnen auch in diesem Fall nicht sowohl sprachlich als auch kulturell fremden, erspart. zumeist russischen städtischen Lebenswelt, in Nicht von ungefähr nutzten weitsichtige einer Pension fern der Familie, zurechtkommen. Katharinenstädter die nach der Russischen Erst wer wesentlich höhere Mittel aufb ringen Revolution 1905 erweiterten politischen und und die künft igen Gymnasiasten nach Estland kulturellen Möglichkeiten und gründeten das oder Livland, in die dortigen staatlichen oder „Fürsorgekomitee (Kuratorium) über die Mit- zumeist privaten deutschbaltischen Gymnasien telschulen in der Siedlung Katharinenstadt, schicken konnte, nahm den Kolonistensöhnen Gouvernement Samara“, dessen erster Para-

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Das einstige Knabengymnasiums in Marx (bis 1915 Katharinenstadt), 2011. graph lautete: „Das Kuratorium setzt sich zum Amtlichen Erhebungen zufolge zählte Ka- Ziel, den Kindern beiderlei Geschlechts zu tharinenstadt 1914 17.766 Einwohner, darunter einer ordentlichen Mittelschulbildung zu ver- 11.705 oder 65,9% ev.-luth., 3.651 (20,5%) röm.- helfen. Die Kuratoriumsgründer sind Siedler- kath. und 2.410 (13,6%) orthodoxen Glaubens. Eigentümer.“23 Damit war Katharinenstadt ein unter den wol- Im August 1906 wurde eine private Schule gadeutschen Siedlungen seltener Fall multikon- der zweiten Kategorie gegründet, die einige Jah- fessionellen und multiethnischen Zusammenle- re später in ein sechsklassiges Knabenprogym- bens. nasium umgewandelt wurde. Das Kuratorium Zu diesem Zeitpunkt befanden sich hier zwölf war auch für den Bau eines soliden zweistöcki- Bildungseinrichtungen, darunter das Mädchen- gen Gebäudes im Jahr 1911 verantwortlich, das und Knabenprogymnasium mit jeweils 194 und zu den wenigen erhalten gebliebenen Baudenk- 191 Zöglingen, eine Zentralschule zur Ausbil- mälern der Stadt Marx zählt und heute eine dung von Volksschullehrern und mehrere Ele- Kunstschule beherbergt. Während des I. Welt- mentarschulen.25 krieges gelang es dem Fürsorgekomitee, das Die Siedlung bekam immer mehr Züge eines Progymnasium in ein achtklassiges Gymnasium stadtähnlichen Ortes, mit Bankfi lialen, Apo- zu überführen und etatmäßig dem Ministerium theken und Buchhandlungen, Industrieanlagen für Volksaufk lärung zu unterstellen. und einem Hafen. Drei imposante Kirchen – Die engagierten Mitglieder des Komitees jeweils eine katholische, evangelische und or- sorgten auch für die Gründung und den Ausbau thodoxe – und zahlreiche Geschäft s- und Pri- des Katharinenstädter Mädchengymnasiums, vathäuser aus roten Ziegeln prägten ihr Antlitz. das im August 1908 als vierklassige Bildungsan- Und tatsächlich erhielt der Ort 1918 Stadtrechte stalt höheren Stils eröff net und bis zum August nograder [bis 1915 – Katharinenstädter] 1913 zu einem achtklassigen Gymnasium neben 24 Mädchengymnasiums für das Jahr 1916“, in: einer Vorbereitungsklasse ausgebaut wurde. GIANP, f. 327, op. 1, d. 122. 25 „Angaben zum Jahresbericht der Kathari- 23 Gosudarstvennyj istoričeskij archiv nemcev nenstädter Dorfverwaltung des Katharinen- Povolž’ja, g. Engel‘s (Staatliches Histori- städter Amtsbezirks (wolost), Kreis Nikolajew, sches Archiv der Wolgadeutschen in Engels – Gouv. Samara für das Jahr 1914“, Januar GIAN P), f. 328, op. 1, d. 2, l. 2-7. Der Samarer 1915, in: GIANP, f. 341, op. 1, d. 404. Unter Gouverneur bestätigte das Statut am 13. der orthodoxen Bevölkerung sind Russen und August 1906. die in dieser Gegend weitgehend russifi zierten 24 Bericht über den Zustand des Jekateri- Ukrainer gemeint. 82 LMDR - Heimatbuch 2014 und diente bis Juni 1922 als erster Regierungs- oder mennonitischen Kirchengemeinden orga- sitz des deutschen Wolgagebietes. nisierten und national-kulturelle Aspirationen Immer mehr deutsche Siedler zogen aus den äußerten. einstigen Kolonien in nahe gelegene größere In der wolgadeutschen Kulturgeschichte und kleinere Städte, lernten die russische Spra- spielte die Metropole Saratow eine mitprägen- che, nahmen dort zahlreiche Bildungsangebote de Rolle. Hier bildete sich der deutsche Be- wahr, gingen lohnabhängigen bzw. freiberuf- völkerungsteil überwiegend aus den einstigen lichen Beschäft igungen nach oder gründeten Kolonisten. Nach der Volkszählung von 1897 Handwerksbetriebe, trieben Handel, wurden hatte die Stadt 137.147 Einwohner, davon 8.367 Gymnasiallehrer, traten in den Staatsdienst Deutsche (6,1%). Nach der ständischen Zusam- ein... Städte wie Odessa, Saratow, Jekaterinoslaw, mensetzung zu urteilen, waren 6.982 oder 83% Kamyschin oder Simferopol, aber auch die Uni- von ihnen Bauern, das heißt kolonistischer Her- versitätsstädte Dorpat, Moskau, St. Petersburg, kunft .26 Riga, Charkow oder Kasan waren für die kul- Die deutsche Bevölkerung der Stadt wird kurz turelle und geistige Entwicklung der deutschen vor dem Krieg auf zwischen 12.000 und 19.000 Siedler von eminenter Bedeutung. In jeder von 26 Errechnet nach: Pervaja vseobshchaja ihnen bildeten sich mal größere, mal kleinere perepis‘ naselenija Rossijskoj imperii, 1897 g. Gemeinschaft en, die sich vor allem im Rahmen Tom 38. Saratovskaja gubernija. St. Petersburg der ev.-lutherischen, reformierten, katholischen 1904, S. 86-87, 229.

Lehrkörper des Knaben- und Mädchenprogymnasiums in Katharinenstadt, 1909. Zweiter von links sitzend der katholische Pater Rafael Loran, rechts neben ihm der ev.-luth. Pastor Paul Kuhlberg und das Brustkreuz tragend der orthodoxe Geistliche Basilius Troizki.

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Buch mit Regeln für das Knabenseminar. Aus dem Nachlass von Prof. Andreas Dulson, En- gels. geschätzt. Hier befanden sich einige deutsche, ziehungskraft aus. Ihre Medizinische Fakultät vor allem aber zahlreiche russischsprachige zählte bereits im Jahr 1915 mindestens 35 Stu- Grund-, Real- und Kaufmannsschulen, mehre- denten aus der Mitte der Siedler-Eigentümer, re Knaben- und Mädchengymnasien und seit die 4,9% aller ordentlich immatrikulierten Hö- 1857 das katholische Knaben- und Priester- rer (insgesamt 715) des Fachbereichs stellten.28 seminar der Tyraspoler Diözese. Letztere war Dabei sind weitere deutsche Studenten aus an- hauptsächlich mit der Ausbildung von Priestern deren Ständen (Ehrenbürger, Adlige, Städter und Grundschullehrern für deutsche katholi- oder Kaufl eute) gar nicht berücksichtigt. sche Dörfer im Wolga- und Schwarzmeergebiet Hier wirkten auch die ersten wolgadeutschen zuständig. Insgesamt erhielten in diesen Jahren Hochschullehrer: Peter Haller, seit 1912 Privat- 246 Schüler, mehrheitlich russlanddeutscher Dozent und 1918 Professor an der Medizini- Herkunft , die Priesterweihe.27 schen Fakultät,29 und Georg Dinges, der 1921 Nicht zuletzt die 1909 in Saratow eröff ne- 28 Errechnet nach: Spisok studentov i posto- te Universität übte auf die nach akademischer ronnich slušatelej Imperatorskogo Nikolajevs- Bildung strebende deutsche Jugend große An- kogo universiteta na 1915-1916 učebnyj god po medicinskomu fakul’tetu. Saratow 1915. Bis 27 JOSEPH ALOYSIUS KESSLER: Geschichte 1917 bestand die Saratower Universität einzig der Diözese Tyraspol. Dickinston in Nord- und allein aus der Medizinischen Fakultät. Dakota/USA 1930, v.a. S. 85ff. Die Namen der 29 Haller stammte aus dem Wolgadorf Schil- ausgebildeten Priester sind auf S. 285-288 ling, studierte in Dorpat und wurde dort 1886 verzeichnet. zum Dr. med. promoviert. Arbeitete als Arzt im 84 LMDR - Heimatbuch 2014 zum Dozenten für Germanische Philologie und 30 Th eologie studierte.31 Insgesamt absolvierten zwei Jahre später zum Professor des Lehrstuhls nicht weniger als 55 später zum Pastor ordinier- für Westeuropäische Sprachen und Literatur er- te Studenten aus dem kolonistischen Milieu die- nannt wurde.30 se Hochschule, fast alle im Zeitraum von 1881 Vor dem bolschewistischen Umsturz 1917 bis 1916.32 nahm bei der akademischen Bildung der russ- Nicht eingerechnet sind dabei Personen, landdeutschen Minderheit zweifelsohne die die an der Th eologischen Fakultät nur einige Universität Dorpat eine herausragende Rolle Semester belegten bzw. erst nach der bolsche- ein, nicht zuletzt deswegen, weil sie die einzige wistischen Machtergreifung ihre akademische Ausbildungsstätte für protestantische Pastoren Ausbildung an der in Tartu Ülikool umbenann- im ganzen Russischen Reich war. ten Universität in dem nun unabhängigen Staat Der erste Nachkomme deutscher Ansiedler, Estland begonnen oder, was wesentlich häufi - der an dieser Hochschule studierte, war wohl ger der Fall war, im Ausland, vornehmlich in Christian Bauer aus der Kolonie Orlowskoje im Deutschland, ihr Studium fortsetzten.33 Gouvernement Samara, der in den Jahren 1827- Auf deutsche Abiturienten wirkte die Alma Mater Dorpatensis vor allem in Fächern wie Me- Gouvernement Saratow, erwarb dabei große Verdienste im Kampf gegen Tollwut, Pocken, dizin und Jurisprudenz, Naturwissenschaft und Cholera und andere Ansteckungskrankheiten. Sprachkunde gleichermaßen anziehend. Das Ab 1912 Privat-Dozent an der Universität dortige wissenschaft liche und vor allem prakti- Saratow. Starb bei der Typhusepidemie 1920. sche Niveau war anderen russischen Universitä- Seine Dissertationsschrift hieß: PETER HAL- ten durchaus ebenbürtig, wenn nicht überlegen. LER: Biostatik der Stadt Narwa nebst Vorstäd- So urteilte der einstige „Kolonistensohn“, Prof. ten und Fabriken in den Jahren 1860-1885 mit Dr. med. Nikolaj Käfer, der zunächst zwei Jah- einem Anhang über die Morbidität daselbst. re an der Universität Odessa Naturwissenschaft Inaugural-Diss. Dorpat 1886; [PETR GAL- und Medizin studierte und 1885 mit einigen LER], in: Nemcy Rossii. Enciklopedija (1999), S. 459-460. 31 JOHANNES KUFELD: Die deutschen Ko- 30 Dinges wurde 1891 im Dorf Blumenfeld lonien an der Wolga. Nürnberg 2000, S. 227; geboren. Nach Absolvierung der Grimmer AMBURGER (1998), S. 254. Zentralschule und des 1. Saratower Kna- bengymnasiums studierte er in den Jahren 32 Errechnet nach dem folgenden Nachschla- 1912-1917 an der Historisch-Philologischen gewerk: ERIK AMBURGER: Die Pastoren der Fakultät der Moskauer Universität. Die 1917 evangelischen Kirchen Russlands vom Ende ausgebrochene bolschewistische Revolution des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographi- verhinderte seine wissenschaftliche Laufbahn sches Lexikon. Lüneburg 1998. in der Hauptstadt; erst 1921 konnte er das 33 Wie z.B. Jakob Eichhorn (geb. 1890 in Magisterexamen ablegen. Ab 1925 leitete er der Kolonie Bauer, Gouvernement Saratow, gleichzeitig das Zentrale Republikmuseum in gest. 1986 in Saginaw, Michigan, USA), der der wolgadeutschen Hauptstadt Pokrowsk und in Dorpat 1914-15 Philologie und 1915-1919 hatte noch weitere Ämter inne. Anfang 1930 Theologie studierte, 1920 nach Deutschland wurde Dinges verhaftet; er starb zwei Jahre übersiedelte und sein Studium 1923-24 in später in sibirischer Verbannung. NINA BE- Berlin fortsetzte. Er wurde am 23. Juli 1924 REND, HUGO JEDIG: Deutsche Mundarten in Leipzig ordiniert. Kurz darauf wanderte in der Sowjetunion. Geschichte der Forschung Eichhorn in die USA aus und betreute mehrere und Bibliographie. Marburg 1991, S. 28-33; Jahre Gemeinden wolgadeutscher Immigran- Brief v. G. Dinges an Jakob Eichhorn (Berlin) ten: Lexikon deutschbaltischer Theologen seit v. 27. September 1922. Original befi ndet sich 1920. 1967, S. 36-37, und persönliche Mittei- bei der Tochter, Prof. em. Irma Eichhorn, aus lung von Prof. em. Irma Eichhorn an d. Verf., Los Gatos in den USA, Kopie im Besitz d. Verf. 25. Oktober 2011. 85 LMDR - Heimatbuch 2014 ebenfalls russlanddeutschen Kommilitonen matologie an der Universität Odessa,35 seinen nach Dorpat wechselte:34 Kollegen Dr. med. Peter Haller, seit 1912 Privat- Dozent und später Professor an der Universität Bereits die ersten Vorlesungen zeigten uns, dass Saratow,36 oder Eduard Steinwand, in den 1950er wir die richtige Entscheidung getroff en hatten. Die Jahren Professor für praktische Th eologie an der Vorlesungen waren auch in Odessa nicht schlecht, Universität Erlangen, verweisen.37 aber in Dorpat hat man die pädagogische Seite Viele hinterließen auch im geistig-kulturel- mehr berücksichtigt... In Odessa praktizierten wir len Leben der deutschen Minderheit bleibende fast zwei Semester im histologischen Labor, aber, Spuren. Maßgeblich daran beteiligt waren vor ungeachtet des allseitigen Entgegenkommens von allem die evangelischen Pastoren. So lieferten Prof. Repjachow, führte das Fehlen jeglicher syste- Johannes Erbes und Johann Kufeld wichtige matischer Herangehensweise zu keinen bemerk- Beiträge zur Schulbildung und Geschichte der baren Ergebnissen. Bei Prof. Rosenberg erhielten wolgadeutschen Siedlungen.38 Johannes Schleu- wir im Laufe von sechs Wochen durchaus befrie- ning gehörte zu den engagiertesten Verfechtern digende Kenntnisse, die uns erlaubten, unter ei- der Selbstbestimmung der Wolgadeutschen nem Mikroskop problemlos Stoff proben zu erken- nach 1917, stand in der Zwischenkriegszeit an nen und sie richtig einzuordnen. Somit haben wir der Spitze der wolga- bzw. russlanddeutschen in sechs Wochen, genauer gesagt in 18 Stunden, Emigration, war bis ins hohe Alter publizistisch mehr erfahren als in Odessa im Laufe eines gan- sehr aktiv und zählte in der Bundesrepublik zu zen Jahres… den Gründern und führenden Vertretern der Die Dorpater Universität brachte eine An- Landsmannschaft der Deutschen aus Russland zahl herausragender Wissenschaft ler, Mediziner (LDR).39 Auch Heinrich Roemmich, der in der und Th eologen „kolonistischer“ Herkunft her- vor, die im Russischen Reich bzw. in der Sowjet- 35 Deutsche Post aus dem Osten (DPO), Nr. union oder eben in Deutschland wirkten. Man 2-3/1939, S. 36-38. könnte dabei auf Friedrich Knauer, langjähriger 36 Nemcy Rossii. Enciklopedija. Tom 1 (A-I). Ordinarius der Universität Kiew, Dr. med. Ja- Moskau 1999, S. 459-460. kob Flemmer, Hofrat und Privatdozent für Sto- 37 Siehe z.B.: AMBURGER (1998), S. 484. 34 Nikolaj (Nikolaus) Käfer, gebürtig aus der 38 Volkslieder und Kinderreime aus den Wol- Kolonie Neu-Monthal, Taurisches Gouver- gakolonien / Gesammelt und mit einem Anhang nement, studierte an der Universität Dorpat von Rätseln, zum 150-jährigen Jubiläum der 1885-90 und promovierte ein Jahr später zum Wolgakolonien hgg. von JOHANN ERBES „Doctor der Medicin“. Die deutschsprachige und PETER SINNER. Saratow 1914 (Reprint: Urfassung seiner Erinnerungen war mir nur Hildesheim 2009); JOHANNES ERBES: in russischer Übersetzung zugänglich, so dass Deutsche Volksschule in unseren Wolgakolo- hier eine Rückübersetzung notwendig wurde. nien. Saratow 1906 (Deutsche Volkszeitung. Zitat aus: VASIL’EV K.: Professor N.I. Kefer Jg. 1. Beilage Nr. 1); JOHANN KUFELD: Die (1864-1944) i ego vospominanija, in: Sumskij deutschen Kolonien an der Wolga. Hrsg. v. istoriko-archivnij žurnal, Nr. II-III/2007, S. Historischen Forschungsverein der Deutschen 80-116, hier S. 115. Vgl. hierzu: VASYLYEV aus Russland e.V. Nürnberg 2000 (Erstausgabe K.K.: Der Mediziner Nikolaj Ivanovic Käfer 1911 zum Druck vorbereitet). – Sohn eines deutschen Kolonisten im Tauri- 39 JOHANNES SCHLEUNING: Mein Le- schen Gouvernement des Russischen Reiches, ben hat ein Ziel. Lebenserinnerungen eines in: Medizin-, Pharmazie- und Wissenschafts- russlanddeutschen Pastors. Witten 1964. geschichte vom Mittelalter bis zur Gegen- Sein Lebenslauf in: HARTMUT FRÖSCHLE: wart. Festschrift für Ingrid Kastner zum 65. Wolgadeutscher Seelsorger, Organisator und Geburtstag. Hrsg. v. Regine Pfrepper. Aachen Journalist: JOHANNES SCHLEUNING (1879- 2007, S. 225-244. 1962), in: Aula 12/2002, S. 33. 86 LMDR - Heimatbuch 2014

Diese und die nächste Seite: Auszug aus dem selbst verfassten Lebenslauf des Dorpater Stu- denten Albert Jakob Koch aus Gnadental in Bessarabien, 19. November 1914.

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Tabelle 1. Verteilung der Neumitglieder der „Teutonia“ nach Eintritt sjahr und Studienfächern

Zwischenkriegszeit als Direktor des ev.-deut- den: neun kamen aus Bessarabien, acht aus den schen Knabengymnasiums in Tarutino, Bessa- übrigen südrussischen Gouvernements (Tau- rabien amtierte, prägte ab 1951 jahrzehntelang rien, Cherson und Jekaterinoslaw), fünf bzw. als Mitbegründer, Vorsitzender und Sprecher drei aus Wolgakolonien und dem Transkauka- die Geschicke der LDR nachhaltig mit.40 sus, zwei aus den westlichen Gouvernements Die Zahl der Studenten mit einem so ge- (Podolien und Wolhynien) sowie einer aus Liv- nannten kolonistischen Hintergrund machte land.42 sich unter den deutschen Kommilitonen be- Von diesen 28 Studenten war die überwiegen- merkbar und führte 1908 zur Gründung der ei- de Mehrheit „kolonistischer Herkunft “; ledig- genständigen Korporation „Teutonia“. Entgegen lich drei kamen aus anderen deutschen Milieus. der weit verbreiteten Meinung dominierten in Die meisten hatten zunächst die Zentralschulen der Verbindung nicht die künft igen Th eologen, in deutschen Siedlungen besucht, um anschlie- sondern die Mediziner (Tab. 1), was bestimmt ßend nach Ablegen der Aufnahmeprüfungen in auch für die außerhalb der Korporation stehen- die 5. bzw. 6. Gymnasialklasse einzutreten. den Studenten zutraf.41 Vor allem die Siedler aus Bessarabien hat- Die Herkunft s- und Geburtsorte für insge- ten eine deutliche Präferenz für „Krons- oder samt 28 Burschen konnten zurückverfolgt wer- Privatgymnasien“ in den baltischen Provinzen. Hier war off ensichtlich noch der „deutsche“ 40 JOSEF SCHNURR: Pfarrer Heinrich Charakter und Nationalgeist anzutreff en, was Roemmich – In dankbarem Gedenken an den für viele Eltern nicht unwichtig zu sein schien. Mitbegründer und langjährigen Vorsitzenden Allmählich entstanden sogar Familien mit und Sprecher unserer Landsmannschaft, in: akademischer Tradition und entsprechenden HDR 1985-1989, S. 11-16; UTE RICHTER- EBERL: Ethnisch oder national? Aspekte der Berufen. Verwiesen sei hier unter anderem auf russlanddeutschen Emigration in Deutschland die Chirurgendynastie der Grasmücks. Als Be- 1919-1969. Frankfurt/Main etc. 2001, S. 104- 42 Ibid., Biographien der Burschen, insgesamt 108 (Biographie von H. Roemmich). 24, davon 18 für die Eintrittszeit 1911-1915; 41 Zusammengestellt nach den Unterlagen: einige weitere Auskünfte liefert das Nachschla- Studentenverbindung (Korporation) „Teuto- gewerk: ERIK AMBURGER: Die Pastoren der nia“, in: Estnisches Historisches Archiv in evangelischen Kirchen Russlands vom Ende Tartu (Eesti Ajalooarchiiv - EAA), f. 1846, op. des 16. Jahrhunderts bis 1937. Ein biographi- 1, d. 9. sches Lexikon. Lüneburg 1998. 89 LMDR - Heimatbuch 2014

Nikolaj Käfers Doktordiplom der Universität Dorpat, 1891.

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riedrich Knauer (1849-1917), herausragender Wissenschaft - ler auf dem Gebiet der vergleichenden Sprachwissenschaft , Fv.a. zu Sanskrit; erster ordentlicher Universitätsprofessor aus der Mitt e der Siedler-Kolonisten. Knauer wurde in der Kolonie Sarata im Gouvernement Bessa- rabien als „Sohn deutscher Eltern evang.-lutherischer Confession“ geboren. Nach dem Besuch der Dorfschule ging Knauer in das ört- liche Lehrerseminar, die sog. Werner-Zentralschule. Mit 16 Jahren begann er seinen Lebensunterhalt als Lehrer zu verdienen, weil die „absolute Mitt ellosigkeit seiner Eltern“ den Wunsch nach Wei- terbildung nicht erlaubte. In der Kolonie Neu-Stutt gart unterstütz- te der örtliche Pastor Ludwig Zeller das Streben des wissbegierigen jungen Mannes „zu höherer Bildung“ und gab ihm Hilfestellung beim selbständigen Erlernen des Lateinischen und des Griechi- Friedrich Knauer schen. Ende 1871 legte Knauer an einem Dorpater Gymnasium das Abiturientenexamen ab und wurde an der Universität Dorpat immatrikuliert. 1872-76 studierte er als Kronssti pendiat Theo- logie und erhielt 1875 für eine wissenschaft liche Abhandlung eine goldene Medaille. Danach entschloss er sich, weitere drei Jahre sprachvergleichende und klassische Philologie zu studie- ren. Auf Anregungen von Prof. Dr. Leo Meyer und Doz. Dr. Leopold v. Schroeder entschied sich Knauer für eine akademische Laufb ahn und bestand im August 1880 die Prüfung zum Candida- ten der deutschen und der vergleichenden Sprachen (cand. gramm. comp.). Drei Jahre lang (September 1880 bis September 1883) widmete sich Knauer Sprachstudien, vornehmlich in Sanskrit, an den deutschen Universitäten Jena und Tübingen. Nach der Ma- gisterarbeit (1882) folgte zwei Jahre später die Inaugural-Dissertati on „Das Gobhilagrhyasutra (Text nebst Einleitung)“, die er seinem frühen Förderer, Pastor Zeller, widmete. Im Februar 1885 wurde er an den Lehrstuhl für Vergleichende Sprachen und Sanskrit an der St. Wladimir- Universität Kiew versetzt. Im Januar 1886 wurde Knauer zum außerordentlichen und 1889 zum ordentlichen Professor dieses Lehrstuhls ernannt, an dem er fast 30 Jahre lang wirkte. Er verfasste zahlreiche philologische Abhandlungen und Schrift en zu Sanskrit und insgesamt zu indogermanischen Sprachen. Nach Ausbruch des I. Weltkrieges wurde der Wissenschaft ler eines von unzähligen Opfern der grassierenden anti deutschen Hysterie. Man machte ihm zum Vorwurf, dass die Tochter und der Sohn in Jena studierten und sich seine Frau mit anderen Familienmitgliedern in Deutsch- land aufh ielt. Knauer durft e keine Lehrtäti gkeiten mehr ausüben, und am 24. Dezember 1914 wurde der 65-jährige Professor in Kiew verhaft et, ins Gefängnis gebracht und zwei Wochen später nach Sibirien, in das entlegene Städtchen Kainsk im Gouvernement Tomsk, ausgewie- sen. Die Fürsprache des Akademiemitglieds Wladimir Peretz und anderer namhaft er Gelehrter bewirkte nur seine Überführung in die Stadt Tomsk. Im kalten und frosti gen Klima zog sich Knauer eine Nierenentzündung zu und erblindete. Sein gesundheitlicher Zustand verschlim- merte sich ständig, und er verstarb am 23. Dezember 1917 in der sibirischen Verbannung. Literatur: Personalakte d. Stud. u. Priv.-Doz. Friedrich Knauer/Universität Dorpat, in: EAA (Tartu), f. 402, op. 3, d. 804; Heimatbuch Sarata: 1822 – 1940. Hrsg. CHRISTIAN FIESS. Mühl- acker 1979, S. 571-572; ČERKAZ’JANOVA I.: Nemcy- rossijskie učenye v gody Pervoj mirovoj vojna: epizody iz istorii Akademii nauk, in: Voprosy germanskoj istorii. Sb. nauč. tr. Dnjepropet- rowsk 2008, S. 23-33, hier S. 27-30.

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Persönliche Sachen von Th eodor Grasmück im Heimatkundemuseum der Stadt Marx, 2011. gründer gilt Alexander Grasmück (1869-1930), Soldaten behandelt. Zur Sowjetzeit leitete er das der im Wolgadorf Lauwe geboren wurde und Kantonkrankenhaus in Seelmann. in Saratow aufwuchs, wohin sein Vater zog, um Sein Bruder Johannes Grasmück studierte den Söhnen eine bessere Ausbildung zu ermög- ebenfalls Medizin in Dorpat und belegte an- lichen. schließend einige Semester an der Berliner und Nach Abschluss des 1. Saratower Gymnasi- Heidelberger Universität. Ab 1900 arbeitete er ums studierte er an der Universität Dorpat Me- als Arzt im Krankenhaus Simferopol auf der dizin und arbeitete anschließend mehrere Jah- Krim und emigrierte während des russischen re in deutschen Siedlungen als Semst wo-Arzt Bürgerkrieges nach Deutschland, wo er 1920 und später in Saratow, wo er zusammen mit an der Medizinischen Fakultät der Universität dem Th erapeuten Leon Buchholz eine Gemein- Leipzig seine Dissertation „Untersuchung eines schaft spraxis betrieb und 1913 ein neues Kran- Falles von akuter Poliomyelitis bei einem Er- kenhaus eröff nete. Für seine Verdienste bekam wachsenen“ einreichte. er den Titel eines persönlichen Adels verliehen. Der Sohn Alexander Grasmücks, Th eodor, Am Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 nahm studierte 1914 bis 1919 Medizin in Saratow, war er selbst als Chirurg teil, und im Ersten Welt- mehrere Jahre Chefarzt des Kantonkrankenhau- krieg wurden in seinem zu einem Lazarett aus- ses in Marxstadt und bekam im Februar 1941 gebauten Krankenhaus Hunderte verwundete den Ehrentitel „Verdienstvoller Arzt der ASSR

92 LMDR - Heimatbuch 2014 der Wolgadeutschen“. Er wurde nach Kriegsaus- traurige Schicksal des verbannten Prof. Knauer bruch in die Region Altai abgeschoben und zur ist bereits geschildert worden. Zwangsarbeit, zunächst im Gebiet Uljanowsk, Mehrere Pastoren mussten ihre Gemeinden wo er einige Monate Waldarbeiten verrichtete, Richtung Osten verlassen. So wurde Johannes abbestellt. Er durchlief mehrere Einsatzorte und Schleuning Anfang November 1914 aus Tifl is wurde ab Oktober 1944 im Lager Tagillag, Ge- nach Tobolsk ausgewiesen, wo er bis März 1917 biet Swerdlowsk, als Chirurg beschäft igt. Nach ausharren sollte.45 Sein angesehener Kollege Ja- der Entlassung blieb er in Nishni Tagil und ar- kob Stach trat nach der Denunziation als öster- beitete dort bis zu seinem Tod 1972 in der städ- reichischer Spion die Flucht nach vorne an und tischen Klinik. Einige seiner Kinder und Enkel verbrachte die Jahre 1916-1920 als Gemeinde- studierten ebenfalls Medizin und schlugen die pfarrer in Slawgorod, Region Altai.46 ärztliche Laufb ahn ein.43 Immerhin kam es zu keiner Relegation von Der Erste Weltkrieg führte neben den vielen Deutschen russischer Staatsangehörigkeit aus allgemeinen Verschlechterungen zu besonderen staatlichen Bildungseinrichtungen, und sie Belastungen der Kultur- und Bildungseinrich- durft en auch weiterhin Realschulen, Gymnasi- tungen in den deutschen Siedlungen. Vor allem en und Universitäten besuchen. An der Th eo- die Existenz vieler privater Grundschulen und logischen Fakultät der Dorpater/Jurjewer Uni- höherer Bildungseinrichtungen war gefährdet, versität lief noch bis Mitte des Jahres 1916 der da die Liquidationsgesetze viele wirtschaft lich Unterricht auf Deutsch.47 potente und wohlhabende Bauern und Guts- Nicht wenige aufs engste mit der russischen besitzer verunsicherten bzw. ruinierten, so dass Sprache und Kultur verbundene Intellektuelle diese als Träger solcher Institutionen kaum gerieten in diesem Krieg in eine ernsthaft e Iden- mehr zur Verfügung standen. Erschwerend kam titätskrise. Der berühmte sowjetische Schrift - hinzu, dass viele Lehrer zum aktiven Dienst an steller Boris Pilnjak, der als Bernhard Wogau der Front eingezogen wurden. Auch das Schul- in der Familie des wolgadeutschen Tierarztes geld konnten viele Familien nicht mehr tragen, Andrej (Heinrich) Wogau geboren wurde, legte so dass es nicht selten zum vorzeitigen Schulab- sich ausgerechnet 1915 den russisch klingenden bruch der Kinder kam. Vor- und Nachnamen zu.48 Der angehende Fol- Die entfesselte antideutsche Stimmungs- einer Studienreise 1919-1921. Stuttgart 1924, mache führte dazu, dass es nur des geringsten S. 82-90. Verdachts einer „germanophilen Gesinnung“, 45 JOHANNES SCHLEUNING: Mein Le- einer noch so absurd klingenden Verleumdung ben hat ein Ziel. Lebenserinnerungen eines bedurft e, um den guten Ruf zu verlieren und russlanddeutschen Pfarrers. Witten 1964, S. entlassen, verhaft et oder verbannt zu werden. 239-316. So verloren infolge der Denunziationen des zu- 46 JAKOB STACH: Meine dreißigjährige ständigen russischen Volksschulinspektors meh- Tätigkeit im Dienste der deutschen Kolonisten rere Lehrer der Karassaner und Neusatzer Zen- in Russland, in: HDR 1957, S. 175-180, hier tralschulen auf der Krim ihre Arbeitsstelle.44 Das S. 178. 43 Grasmücks, Alexander und Theodor, in: 47 ERICH DONNERT: Die Universität Nemcy Rossii. Enciklopedija (1999), S. 620- Dorpat-Juŕev 1802-1918. Ein Beitrag zur Ge- 621; ADOLF BERSCH: Die Grasmücks – schichte des Hochschulwesens in den Ostsee- Geschichte einer Chirurgendynastie, in: HDR provinzen des Russischen Reiches. Frankfurt 2001/2002, S. 126-130. am Main etc. 2007, S. 95. 44 Zur Geschichte der Verfolgungen deut- 48 Aus dem Brief an seinen Verleger Arseni scher Lehranstalten in der Krim in den Jahren Alwing vom 29. März 1915: BORIS PIL’NJAK: 1915-1916, in: KARL LINDEMANN: Von den „Mne vypala gor’kaja slava…“ Pis’ma 1915- deutschen Kolonisten in Russland. Ergebnisse 1937. Moskau 2002, S. 17, 20. Ausführlich 93 LMDR - Heimatbuch 2014

Kopie des Reifezeugnisses des Katharinenstädter Mädchengymnasiums, ausgestellt am 21. Mai 1916 auf Maria Hermann. Da bereits am 13. März 1915 der Samarer Gouvernementsrat über die Umbenennung des Ortes in Jekaterinograd verfügte, ist auf dem Zeugnisvordruck der alte Name gestrichen und durch den neuen russischen ersetzt. klorist Wladimir Propp konvertierte gar gegen Glauben: „Ich bin durch den Krieg und durch den energischen Widerstand der Eltern 1916 die Liebe [zu Xenia Nowikowa – Anm. d. Verf.] vom ev.-lutherischen zum russisch-orthodoxen zum Russen geworden, habe gelernt, Russland zu verstehen.“49 zu seinem wolgadeutschen Familienhinter- Aber erst die bolschewistische Machtüber- grund, darunter die engen Beziehungen zu nahme im November 1917, der darauf folgende der Großmutter Anna Wogau (1847-1931) aus Bürgerkrieg und die Hungerkatastrophe 1921- Marxstadt, vormals Katharinenstadt, die kaum 22 bedeutete eine Systemzäsur, einen tief grei- russisch sprechen konnte: NATALIE KROMM: fenden Einschnitt sowohl in die rechtlichen, „Mein richtiger Name ist Wogau (…)“ – Wol- politischen und wirtschaft lichen Verhältnisse gadeutsche Bezüge im Leben und Werk des Schriftstellers Boris Pilnjak, in: Gemeinsam als auch in das kulturelle, geistige und intel- getrennt. Bäuerliche Lebenswelten des späten lektuelle Leben beileibe nicht nur der deutsch- Zarenreiches in multiethnischen Regionen am Schwarzen Meer und an der Wolga. Hrsg. von 49 Zitiert nach: MARTYNOVA A.: Vladimir VICTOR HERDT und DIETMAR NEUTATZ. Jakovlevič Propp. Žiznennyj put’. Naučnaja Wiesbaden 2010, S. 271-293. dejatel’nost’. St. Petersburg 2006, S. 47. 94 LMDR - Heimatbuch 2014 stämmigen Siedler. Vor dem sich abzeichnen- den wirtschaft lichen Ruin (Nationalisierung), der Rechtlosigkeit, antireligiöser Politik und dem Terror der neuen Machthaber fl üchteten zahlreiche Vertreter der russischen Aristokratie, des Offi zierskorps, der breiten (Groß-)Bürger- und Bildungsschicht ins Ausland. Insgesamt betrug die russische Emigration nicht weniger als zwei Millionen Menschen, die sich in Berlin, München, Paris, Riga, Prag, Belgrad und ande- ren westlichen bzw. südöstlichen Metropolen zu Zehn- wenn nicht zu Hunderttausenden auf- hielten.50 Der Umfang der russlanddeutschen Emig- ration, die vornehmlich nach Deutschland ging, erreichte bei weitem nicht die russischen Maßstäbe: Man ging von je 2.000 Wolga- und Traueranzeige in der Emigrantenzeitschrift Schwarzmeerdeutschen und von ca. 400 Kau- „Wolgadeutsche Monatsheft e“ (Berlin), kasusdeutschen im Reich aus, unter denen sich 1924. überdurchschnittlich viele Gymnasiasten, Stu- denten, Akademiker, Geistliche und Offi ziere empfi ndlichen intellektuellen Verlust für die befanden.51 Immerhin bedeutete dies einen betroff ene Minderheit, wenn man sich die ins- gesamt doch dünne Schicht an gebildeten Per- 50 Über die russische oder besser gesagt sonen bei der mehrheitlich bäuerlichen Bevöl- russländische Emigration nach 1917 (die kerung vergegenwärtigt. sog. erste Emigration), an der alle Völker des Bei den Mennoniten setzte sich bis Ende der einstigen multinationalen Imperiums mit unter- 1920er Jahre die Abwanderung nach Übersee schiedlicher Intensität beteiligt waren, ist eine umfangreiche Literatur vorhanden. Zu Berlin fort, die besonders viele Lehrer, aktive Gemein- und Deutschland siehe z.B. Sammelbände und demitglieder und ausgebildete Prediger umfass- Editionen, die der bekannte Osteuropahisto- te. Ausgesprochen schmerzhaft für die katho- riker KARL SCHLÖGEL herausgegeben hat: lischen und evangelischen Gläubigen war der Der große Exodus: die russische Emigration Exodus der Patres und Pastoren. und ihre Zentren 1917 bis 1941. München Pastor Johannes Schleuning, Erster Vorsit- 1994; Russische Emigration in Deutschland zende des „Vereins der Wolgadeutschen“ mit 1918-1941: Leben im europäischen Bürger- Sitz in Berlin, beziff erte die Zahl der Studieren- krieg. Berlin 1995; Chronik russischen Lebens den aus dem ehemals kolonistischen Milieu an in Deutschland 1918-1941. Berlin 1999. allen höheren Anstalten in Deutschland in den 51 Um wesentlich größere Zahlenordnungen zwanziger Jahren mit bis zu 300 Personen.52 Ein handelte es sich allerdings bei den 35.000 Teil emigrierte vornehmlich aus politischen Wolhyniendeutschen, den 5.000 aus den beiden Gründen, die anderen wünschten sich geregelte Hauptstädten Moskau und Petrograd sowie Verhältnisse für das Weiterstudium. den 15.000 deutschen Bauern aus Russisch- Polen. Das waren die Schätzungen des „Ver- trauensausschusses der Deutschen Ostkolonis- 1917 und 1933. Ihre Organisationen, Publika- ten und Balten“ aus dem Jahr 1926 über die tionen und der Stellenwert der Wolgakolonien geographische Herkunft der „Rückwanderer“ für die deutsch-russischen Beziehungen. Ma- im Reich, in: MARTIN SCHMIDT: Wolgadeut- gisterarbeit. Typoskript. Freiburg 1992, S. 43. sche Emigranten im Deutschen Reich zwischen 52 Zitiert nach: SCHMIDT (1992), S. 76. 95 LMDR - Heimatbuch 2014

ladimir Propp (1895-1970), einer der bedeutendsten russischen Folkloristen und Philologen, Verfasser der Wklassischen Studien „Morphologie des Märchens“ (1928, dt. 1972) und „Die historischen Wurzeln des Zaubermär- chens“ (1946, dt. 1987). Seine Eltern stammten aus dem Wolgagebiet. Der Vater, Jakob Propp, leitete die St. Petersburger Vertretung des bekannten Sara- tower Handelshauses „Gebrüder Schmidt“. Der künft ige Wissen- schaft ler wurde auf den Namen Hermann Woldemar getauft und besuchte in der Hauptstadt die berühmte deutsche Annenschule. 1913 bis 1918 studierte Propp an der Hist.-Phil. Fakultät der Pe- tersburger (ab 1914 Petrograder) Universität. Wladimir Propp Während der Hungerjahre nach der Revoluti on zog er 1919-20 in den Geburtsort des Vaters, Hussenbach (Linewo Osero) in der damaligen Wolgadeutschen Arbeitskommune, beschäft igte sich mit der Landwirtschaft und war zeitweise Lehrer in Balzer. Nach der Rückkehr nach Petrograd (ab 1924 Leningrad) un- terrichtete er einige Jahre russische Sprache an der Annenschule und arbeitete ab 1925 als Dozent für deutsche Sprache an verschiedenen Hochschulen und an der Universität. Im August 1930 wurde Propp als „Mitglied illegaler deutsch-nati onalisti scher Gruppierun- gen“ verhaft et und nach acht Monaten Gefängnishaft entlassen. Darauf musste er sich schrift - lich verpfl ichten, seinen Aufenthaltsort ohne behördliche Genehmigung nicht zu verlassen. 1939 wurde er habiliti ert und zum Professor am Lehrstuhl für Philologie der Leningrader Universität ernannt. Den ersten Kriegswinter kaum überlebt, wurde Propp nach Saratow evakuiert und kehrte 1944 in die Stadt an der Newa zurück. 1948 wurde er im Zuge der Kampagne gegen „wurzello- se Kosmopoliten“ wegen „eindeuti g formalisti schen Charakters“ des Werkes über Zaubermär- chen stark kriti siert. Nach 1955 veröff entlichte er wichti ge Untersuchungen zu russischen Hel- denepen und Agrarfesten. In seinem Nachlass befi nden sich u.a. deutschsprachige Gedichte, die er Anfang der zwanziger Jahre schrieb. Er unterstützte tatkräft ig seine Schwestern Alma und Ella, die während des Krieges nach Osten verbannt wurden und als Deutsche berufl iche Schwierigkeiten hatt en. Literatur: REINHARD BREYMAYER: Vladimir Jakovlevič Propp (1895-1970) - Leben, Wirken und Bedeutsamkeit, in: Linguisti ca Biblica 15/16 (1972), S. 36-77; MARTYNOVA A.: Vladimir Jakovlevič Propp. Žiznennyj put’. Naučnaja dejatel’nost’. St. Petersburg 2006

Zu letzteren gehörte etwa Eduard Gersten- Er meldete sich danach beim deutschen Heer als berger aus Bessarabien, der sich um die Zulas- Dolmetscher und ersuchte noch aus der Ukra- sung zum Studium an der Universität Tübingen ine um Aufnahme zum Studium in Tübingen. bemühte. Ab August 1914 studierte er an den Bei den anderen standen ihre antibolschewisti- Universitäten Dorpat (russ. Jurjew) und Odessa schen Einstellungen klar im Vordergrund:54 Medizin, bis im Frühling 1918 „das Schulleben der Unruhen wegen nicht mehr normal war“.53 E. Gerstenberger, Universitätsarchiv Tübingen, Sign: 285/5341. 53 „Gesuch des stud. med. der Kaiserlichen 54 Gesuch Georg Leibbrandts um Immatri- Universität zu Odessa Eduard Gerstenberger kulation an der Universität Tübingen vom um Aufnahme in die Königliche Universität zu 14. Feb ruar 1920, aus: Personalakte G. Tübingen“, 15. Mai 1918, aus: Personalakte Leibbrandt, Universitätsarchiv Tübingen, 96 LMDR - Heimatbuch 2014

„Im Dezember v.J. [1919] kam ich in Deutsch- In Tübingen konstituierte sich am 13. Juni land an. Meine Vorfahren ... gründeten mit 1919 die einzige korporative Verbindung der anderen deutschen Auswanderern die Kolonie russlanddeutschen Studenten, die bis 1933 exis- Hoff nungsfeld bei Odessa. Nach Beendigung der tierte und nicht weniger als 58 Mitglieder zähl- Zentralschule trat ich auf Wunsch meines Vaters te. Die Hälft e davon stammte aus Bessarabien in die Quarta des deutschen ‚R. v. Zeddelmann- (30 Mitglieder); auch die Südukraine (ehem. schen Knabengymnasiums I. Ranges‘ in Dorpat Südrussland) und der Transkaukasus waren ein, das ich bis zur Secunda incl. besuchte. Anno mit 16 bzw. sechs Korpsstudenten entsprechend 1917 war es dank der schlechten Verbindung un- stark vertreten; dagegen waren hier nur drei möglich, nach den Sommerferien nach Dorpat Wolgadeutsche registriert. zurückzufahren. Deshalb war ich gezwungen, in Unter allen Studiengängen ragte mit Abstand das ... IV. klassische Odessaer Kronsgymnasium die Medizin heraus, die von 25 Mitgliedern einzutreten, das ich auch im Frühling 1919 absol- gewählt wurde; somit bestätigte sich die Ten- vierte. Da es mein Wunsch war, Th eologie zu stu- denz, die schon bei der Studienwahl in Dorpat dieren, so kam eine russische Hochschule nicht in zu beobachten gewesen war. Danach kamen Betracht. Doch war es ganz ausgeschlossen, wäh- die Fächer der Philosophischen Fakultät (zehn rend der bolschewistischen Schreckensherrschaft Studenten) und erst dann Th eologie (neun). wegzukommen. Da ich ja den Aufstand gegen die Weitere Fachrichtungen waren Politische Wis- Roten mitgemacht habe, war ich stets der Todes- senschaft en (fünf), Chemie (drei) und Natur- gefahr ausgesetzt, bis sich schließlich die Gelegen- wissenschaft en (zwei). Je ein Student entschied heit bot und es mir gelungen ist zu fl iehen.“ sich für Pharmazie, Mathematik und Ingenieur- wesen.56 Ein Großteil der Studenten organisierte Das Schicksal der in Sowjetrussland bzw. der sich in landsmannschaft lich ausgerichteten UdSSR verbliebenen schmalen Intellektuellen- Vereinigungen wie dem „Verein studierender schicht kolonistischer Herkunft war aufs engste Wolgadeutscher“, dem „Verband studierender mit den allgemeinen innenpolitischen Entwick- Schwarzmeerdeutscher“ und dem „Verband Kaukasusdeutschen, in: Der Auslanddeutsche studierender Kaukasusdeutscher“. 11/1928, S. 519. Zur Verfolgung der deutschen Bis 1928 gingen über 100 Kaukasusdeutsche Minderheit in der Sowjetrepublik Aserbaid- aus Siedlungen wie Helenendorf in Aserbaid- schan, ausführlich: DŽAFARLI M.: Politišeskij schan, Katharinenfeld in Georgien oder der in terror i sud’by aserbajdžanskich nemcev die georgische Hauptstadt noch Ende des 19. – Politischer Terror und das Schicksal der Jahrhundert eingemeindeten Neu-Tifl isser Ko- aserbaidschanischen Deutschen. Baku 1998, lonie nach Deutschland, um hier Universitäten, v.a. S. 20-63, 87-118. Das Buch enthält eine Hoch- und Fachschulen zu besuchen. Fast die unvollständige Namensliste der repressierten Hälft e von ihnen kehrte in den Kaukasus zurück. Deutschen, S. 157-294. Die meisten wurden dann in den 1930er Jahren 56 HARALD SEEWANN: TEUTONIA Dor- zusammen mit Hunderten anderen Deutschen pat/Tübingen – eine Verbindung deutscher repressiert, und der Aufenthalt in der Urheimat studierender Kolonistensöhne aus Russland bzw. das Vorhandensein von im Ausland leben- (1908-1933), in: Einst und Jetzt. 34. Band. Jahrbuch 1989 des Vereins für corpsstuden- den Verwandten spielte bei der Bestrafung oft 55 tische Geschichtsforschung. München 1989, eine mitentscheidende Rolle. S. 197-206; „Verein deutscher studierender Kolonisten. Tübingen. Grundsätze, Satzungen, Sign: 285/10958. Er wurde am 23. März 1920 Ehrengericht, Geschäftsordnung und Kneip- immatrikuliert und belegte hier zwei Semester ordnung“, neu festgelegt im Wintersemester im Studienfach Theologie. 1922/23, 16. S., in: Universitätsarchiv Tübin- 55 Nach: Zehntes Stiftungsfest des Vereins der gen, Sign. 117/1147, 84. 97 LMDR - Heimatbuch 2014 lungen im Land verbunden. Die Unternehmer gerschule in Kamenka zu einem wichtigen An- und Großlandbesitzer wurden bereits zu Beginn klagepunkt, weil „deren ganze Ausbildung auf 1918 enteignet. Die Überlebenden fl üchteten antisowjetischer Basis aufgebaut war und in der entweder ins Ausland oder versuchten, als ein- im Grunde antisowjetische Kader ausgebildet fache Angestellte unauff ällig durchzukommen. wurden“. 58 Die katholischen, mennonitischen und evan- Mit Unterstützung des Gustav-Adolf-Werkes gelischen Geistlichen durft en nach den Schre- in Leipzig durft e vorübergehend ein evange- cken des Bürgerkrieges bis Ende der 1920er lisch-lutherisches Predigerseminar (Bibelkur- Jahre noch ihren Dienst verrichten, wenn auch se) in Leningrad, dem einstigen St. Petersburg, zunehmend gesellschaft lich und politisch aus- eröff net werden. Es nahm seine Tätigkeit 1925 gegrenzt. Es wurden anfänglich sogar neue Aus- in Zeiten relativ enger deutsch-sowjetischer bildungsstätten gegründet, da das Studium im Beziehungen auf und konnte trotz wachsender Ausland grundsätzlich nicht mehr möglich war behördlicher Schikanierung bis zum Jahr 1934 und kaum ein Ausländer es wagte, als Geistli- wirken; insgesamt 57 Studierende schlossen das cher in das atheistisch-bolschewistische Land Seminar ab und wurden ordiniert.59 zu ziehen. Allerdings gehörten Absolventen solcher Auf der Krim eröff neten die Mennoniten im Anstalten, wie insgesamt die im sowjetischen Dorf Tschongraf bereits 1918 eine Bibelschule, Atheismus-Jargon verächtlich als „Kultdiener“ in der akademisch ausgebildete Kräft e unter- bezeichneten Geistlichen, schon nicht mehr wie richteten. Von den Lehrkräft en absolvierten die zuvor zu einem anerkannten, tonangebenden Missionare Johann Wiens und Heinrich Braun oder geschätzten Personenkreis, sondern wur- das Th eologische Seminar in Hamburg, die bei- den zunehmend ausgegrenzt, in ihren bürger- den anderen, Abraham Unruh und Gerhard lichen Rechten beschnitten, an den Rand der Reimer, belegten Kurse an russischen Hoch- berufl ichen Existenz gebracht und schließlich schulen. Erste Prediger wurden nach dem drei- strafrechtlich verfolgt. jährigen Kursus bereits 1921 entlassen. Wer im Sowjetstaat den Beruf eines Pfarrers Die Schule erfreute sich der regen Unterstüt- oder Predigers anstrebte oder ausübte, war so- zung mehrerer Gemeinden, nicht nur von der fort antisowjetischer Gesinnung verdächtig mit Krim, sondern auch durch die alten Siedlungs- allen dazu gehörigen schwerwiegenden und bis- gebiete in der südlichen Ukraine, und war auf weilen tödlichen Konsequenzen. gutem Weg, ein reguläres Predigerseminar der Mennoniten zu werden. Aber schon 1924 muss- 58 Urteil des Militärtribunals der Truppen des te sie auf Druck der Regierung geschlossen wer- Ministeriums der Staatssicherheit des Wolga- den. bezirks vom 28. Januar 1953, in: Aquila (Stein- Auch anderen Bibelschulen und Dirigen- hagen) 1(47)/2003, S. 17-28, hier S. 19. Alle tenkursen, etwa im Raum von Orenburg oder Angeklagten wurden zu 25 Jahren Strafl ager Dawlekanowo (Baschkirien), war nur eine kur- verurteilt. ze Lebensdauer beschieden.57 Noch 1953, in 59 AMBURGER (1998), S. 62; HELMUT einem Prozess gegen zwanzig Mennoniten des TSCHOERNER: Das evangelisch-lutherische Gebietes Tschkalow (Orenburg), erhoben die Predigerseminar in Leningrad 1925-1934. Anmerkungen zu seiner Geschichte. Mit 79 KGB-Ermittler den Besuch der örtlichen Predi- Briefen von Bischof D.A. Malmgren. Erlangen 2002; GERD STRICKER: Das lutherische 57 Die Mennoniten in Russland, in: KARL Predigerseminar in Leningrad (1925-1934), LINDEMANN (1924), S. 9-44, hier S. 15-19; in: Deutsche in Russland und in der Sowjet- GEORGE K. EPP: Geschichte der Mennoniten union 1914-1941. Hgg. v. ALFRED EISFELD, in Russland. In drei Bänden. Band III (2003), VICTOR HERDT, BORIS MEISSNER. Berlin, S. 148-149. Münster 2007, S. 401-416. 98 LMDR - Heimatbuch 2014

Aus dem Bericht über das Promotionsgesuch von Karl Stumpp, Universität Tübingen, 12. Mai 1922.

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Lehrerkollegium der Germanistischen Fakultät der Universität Saratow. In der 2. Reihe sit- zend ganz rechts August Lonsinger, 4. von rechts Prof. Georg Dinges, 3. Reihe stehend 2. von rechts Andreas Dulson; Ende der 1920er Jahre.

Aber auch das Studium der „weltlichen“ Fä- renden Kirchen oder Bethäuser der deutschen cher blieb der gläubigen Jugend verwehrt, weil Gläubigen mehr. nur aktive Anhänger der kommunistischen Ein Großteil der alten Schulmeister, Dorf- Ideologie und sozialistischen Gesellschaft sord- oder Gymnasiallehrer wurde sukzessive aus nung in die Fachoberschulen, Institute und Uni- dem Schulprozess verdrängt und musste ande- versitäten aufgenommen werden durft en. ren Beschäft igungen nachgehen. Die wenigen Das Schicksal der im Land verbliebenen Vertreter der gesellschaft s- und geisteswissen- Pfarrer war sehr traurig. Bis 1937 blieb fast kei- schaft lichen Berufe wie Literaten, Künstler, Ju- ner von ihnen in Freiheit, ausgenommen einiger risten, Sprachwissenschaft ler, Historiker und weniger, die sich von ihrem Glauben öff entlich dergleichen waren in den Augen der neuen losgesagt hatten.60 Seither gab es kein organi- Machthaber ständig des bürgerlichen Nationa- siertes kirchlichen Leben, keine funktionie- lismus und der Abweichung von der herrschen- den Ideologie verdächtig. Bei der deutschen 60 Ein Verzeichnis der verurteilten oder Minderheit kam erschwerend hinzu, dass bei erschossenen katholischen Priester, mehr- ihnen außerhalb der Grenzen der UdSSR eine heitlich Absolventen des geistlichen Seminars historische Heimat mit der gleichen Mutter- in Saratow noch vor dem bolschewistischen sprache existierte und jegliche außenpolitische Umsturz, hat WOLFGANG GRYCZ zusammen- Veränderung in den zwischenstaatlichen Bezie- gestellt: Verfolgt-verhaftet-vernichtet. Schick- hungen nicht ohne Einfl uss auf ihre Lage blieb. sale russlanddeutscher Katholiken. Annweiler 2006, S. 35-155; die evangelischen Opfer des Im Zuge der im ganzen Land stattfi ndenden Stalinismus sind z.T. verzeichnet in: BJORN zahlreichen Prozesse gegen die Vertreter der MENSING, HEINRICH RATHKE: Mitmensch- alten Intelligenz – so wurden etwa im Schlepp- lichkeit. Zivilcourage. Gottvertrauen. Evan- tau des politischen Strafverfahrens gegen den gelische Opfer von Nationalsozialismus und bekannten Historiker, das Akademiemitglied Stalinismus. Leipzig 2003, S. 215-318. 100 LMDR - Heimatbuch 2014

Sergej Platonow, zahlreiche russische Wissen- Etwas ruhiger verliefen die Wege der alten schaft ler in den Jahren 1929-1931 verhaft et61 – technischen, landwirtschaft lichen (Agronomen, kam es am 30. Januar 1930 zur Verhaft ung von Veterinäre) oder medizinischen Intelligenz, de- Prof. Georg Dinges, des ersten Prorektors der ren Kenntnisse die neuen Machthaber zunächst gerade eröff neten Deutschen Pädagogischen für den Aufb au des Landes und bei der Ausbil- Hochschule in Pokrowsk. dung der neuen Kader benötigten. Sie erfuhren Ihn und den einige Monate später in Lenin- bis 1941 im Großen und Ganzen ein ähnliches grad festgenommenen Peter Sinner, den in sei- Schicksal wie ihre russischen Berufskollegen ner Heimat allseits geschätzten wolgadeutschen und teilten, sofern sie die Jahre des großen Ter- Literaten und Absolventen der St. Petersburger rors überlebt hatten, das Los der deportierten Universität, beschuldigte die Staatsicherheitsbe- Landsleute. hörde OGPU „als Personen pangermanischer Aber das Hauptaugenmerk der neuen Macht- Orientierung, die der Diktatur des Proletariats haber wurde auf das Herausbilden einer neuen, in der UdSSR feindlich gesinnt sind und direkt den „Idealen des Marxismus-Leninismus“ er- mit den geheimdienstlichen (‚Osteuropa‘, ‚Der gebenen Sowjetintelligenzija gerichtet. Die nun Auslandsdeutsche‘) und den Weißemigranten- breit angewendete Selektion aufgrund der sozia- Organisationen (‚Verein der Wolgadeutschen‘) len Herkunft sollte den Angehörigen der im Za- in Deutschland verbunden waren“.62 renreich tonangebenden Schichten den Zugang Ähnliche Vorwürfe des Pangermanismus zu höherer Bildung und den verantwortlichen und der „Mitgliedschaft in illegalen deutsch- Stellen, wenn nicht vollständig untersagen, so nationalistischen Gruppierungen“ wurden zur doch wesentlich erschweren. gleichen Zeit gegen zahlreiche deutsche Intel- Im Gegenzug wies man der proletarischen lektuelle, ehemalige Mitglieder der einstigen oder armbäuerlichen Herkunft künft iger Stu- Korporation „Nevania“ und des Nachkriegsver- denten oder dem Leitungspersonal eine we- eins „Jung-Nevania“ in Leningrad erhoben. Un- sentliche Rolle zu. Bevorzugt damit verbunden ter den Verhaft eten befanden sich der bekannte waren die Mitgliedschaft in der Regierungs- Wissenschaft ler, Folklorist und Philologe Wla- partei oder im kommunistischen Jugendver- dimir Propp, erfahrene Chirurgen wie die Pro- band Komsomol und die aktive Beteiligung an fessoren Erik Hesse und Wilhelm Schaak fer- der Gottlosenbewegung und anderen von der ner Juristen, Musiker, Architekten, Lehrer und Staatsführung initiierten Kampagnen. Künstler vornehmlich deutscher Herkunft .63 Diese neue, der bolschewistischen Ideen er- gebene sowjetische Intellektuellenschicht sollte 61 PERČENOK F.: „Delo Akademii nauk“ i „velikij perelom“ v sovetskoj nauke, in: Verhaftung von P. Sinner in Leningrad scheint Tragičeskie sud’by: repressirovannye učenye mit diesem Prozess in Verbindung zu stehen. Akademii Nauk SSSR. Moskau 1995, S. 201- Von den 43 Untersuchungshäftlingen wurden 235. vier freigelassen und 39 zu langjährigem Frei- 62 Aus der „Anklageschrift gegen Georg Din- heitsentzug oder zum Tod durch Erschießen ges, Peter Sinner und Anatoli Synopalow“ vom verurteilt. Bei letzteren wandelte man später 10. Oktober 1931, in: VIKTOR KRIEGER: die Höchststrafe in zehn Jahren Strafl ager um, Der erste Geheimprozess gegen wolgadeutsche siehe: GREKOVA T.: E. R. Gesse. Neizvestnye Intellektuelle, in: Jahrbuch für internationale stranicy biografi i učenogo, in: Nemcy v Rossii. Germanistik. Jahrgang XXXVIII (2006) – Heft Rossijsko-nemeckij dialog – Die Deutschen 2, S. 105-136, hier S. 114. in Russland. Russisch-deutscher Dialog. St. 63 Über diesen Prozess der Jahre 1930-31 Petersburg 2001, S. 124-137; MARTYNOVA gegen die ehemaligen Mitglieder der Korpora- A.: Vladimir Jakovlevič Propp. Žiznennyj put’. tion „Nevania“, die seit 1847 in St. Petersburg Naučnaja dejatel’nost’. St. Petersburg 2006, S. existierte, ist noch ganz wenig bekannt. Die 105-123. 101 LMDR - Heimatbuch 2014 die alte nach und nach aus den ihr noch gelas- senen Positionen verdrängen. Somit wurden die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt. Davon betroff en war in der Zwischenkriegszeit zunächst auch die deutsche Minderheit. In den Jahren des Welt- und Bürgerkrieges und des anschließenden Hungers erlebten die Schulbildung und die kulturelle Entwicklung der russlanddeutschen Volksgruppe gravierende Einbrüche und sogar Rückschritte, verglichen mit der Entwicklung der anderen Völker. Vor allem bei den Wolgadeutschen gab es auf dem Dorf in den Jahren 1915 bis 1924 und auch spä- ter einen sehr mangelhaft en Schulunterricht. Die alten Schulmeister und Lehrer wurden Zweisprachiger Stempel des Marxstädter verstärkt aus dem Bildungsbereich entfernt, Pädtechnikums, 1927. da sie ideologisch oft nicht passten, und neue Kräft e waren kaum da, weil das frühere System zu Beginn des Jahres 1926 außerhalb der Wolga- der Lehrerausbildung für die deutschen Siedler republik zur Ausbildung an Universitäten und zerstört wurde und die wenigen neuen Lehr- Hochschulen abkommandiert wurden, lediglich anstalten noch mit Anfangsschwierigkeiten zu 92 Deutsche (37%) befanden, obwohl sie mehr kämpft en hatten. als zwei Drittel der Bevölkerung stellten.65 Erst 1926 schlossen die ersten 13 (sic!) Ab- Zwei Jahre später kritisierte Johannes Schwab, solventen den vierjährigen Kursus des 1922 der Vorsitzende des Zentralexekutivkomitees gegründeten Marxstädter Deutschen Pädago- der ASSRdWD, als ranghöchster Vertreter der gischen Technikums ab, obwohl der Bedarf an wolgadeutschen Staatsgewalt die vollkommen ausgebildeten Lehrkräft en für alle Schularten ungenügende kulturelle und intellektuelle Ent- allein in den Fächern Deutsche Sprache und wicklung der deutschen Bevölkerung: Es gebe Gesellschaft skunde auf 670 Personen geschätzt keine Möglichkeit, die ständige Abwanderung wurde.64 qualifi zierter Kräft e nach Saratow und in andere In den Dörfern fehlten die Mittelschulen bei- große Städte zu unterbinden, weil es in der Re- nahe komplett. Nur deren Abschluss berechtigte publik keine entsprechenden Institutionen gebe jedoch zur Aufnahme eines Studiums. Auch die und deshalb für sie keine vernünft igen Beschäf- mangelnde Beherrschung der russischen Spra- tigungsmöglichkeiten bestünden. Das nationa- che trug zweifelsohne entscheidend mit dazu le Presse- und Verlagswesen sei in qualitativer bei, dass sich unter den 250 Studierenden, die und quantitativer Hinsicht auf einer wesentlich niedrigeren Stufe als das russischsprachige Pen- 64 Die ersten Absolventen des Pädtechnikums dant, was zu wachsender Unzufriedenheit der in Marxstadt, in: Deutsches Leben in Russland Titularnation führe.66 11/12 (1926), S. 210-211; ERINA E.: Očerki istorii kul’tury nemeckoj avtonomii na Volge. Saratow 1995 (Kapitel: Volksbildung in der 65 GROS E. (EDUARD GROSS): Avtonomnaja Wolgarepublik. Das Pädagogische Institut und Socialističeskaja Sovetskaja Respublika Nem- seine Rolle in der Kaderausbildung), S. 21-40, cev Povolž’ja. Pokrowsk 1926, S. 105. hier S. 26. Diese Fachoberschule entstand 66 „Protokoll und Stenogramm der 16. 1922 in Seelmann und wurde ein Jahr später Gebietskonferenz der Allrussischen Kommu- nach Marxstadt, in die Räumlichkeiten der nistischen Partei (Bolschewiki) der ASSR der einstigen Zentralschule überführt. Wolgadeutschen“ vom 20.-25. August 1928, in: 102 LMDR - Heimatbuch 2014

Ausweis des Studenten des zweijährigen Lehrerinstituts an der Deutschen Staatlichen Pädago- gischen Hochschule in Engels, Johann Zimmermann, immatrikuliert am 1. Oktober 1935. Der Republikführung gelang es, die Mos- Rolle dieser Bildungsanstalt in den Plänen der kauer Entscheidungsträger zu überzeugen, dass Republikführung unterstrich.67 durch die beschleunigte Industrialisierung und Die feierliche Eröff nung fand am 6. Janu- die Kollektivierung der Landwirtschaft ein gro- ar 1930 statt. Etwas später wurde diese Hoch- ßer Bedarf an Fachleuten entstanden und des- schule um das Lehrerinstitut mit zwei Jahren wegen eine rasche Erweiterung und Verbesse- Ausbildungszeit, eine Arbeiterfakultät und eine rung vor allem des Schulwesens vonnöten sei. Abendabteilung erweitert. Bereits 1935 waren Dies sei allein mit deutschsprachigen Zügen an in der Hochschule 486 Studenten immatriku- diversen Hoch- und Fachschulen in Saratow liert; den vieljährigen Lehrgang absolvierten und anderen Städten nicht zu erreichen. gleichzeitig 148 Diplompädagogen.68 So nahm bereits im Herbst 1929 das Deut- Die zweite Rektorin der Hochschule, Anna sche Staatliche Pädagogische Institut (Pädinsti- Paul, betonte ein Jahr später noch einmal die tut) seine Tätigkeit in Pokrowsk auf. Zum Rek- Rolle der Hochschule:69 tor wurde Johannes Schwab und zum Prorektor der wohl bekannteste wolgadeutsche Wissen- 67 Beschluss des Präsidiums des Zentralvoll- schaft ler, der Saratower Professor Georg Din- zugskomitees der ASSR der Wolgadeutschen ges, ernannt, was unmissverständlich die große vom 22. November 1929 über den Bestand der Verwaltung der Deutschen Pädagogischen Hochschule zu Pokrowsk, in: Nachrichten Nr. Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no- 253 vom 24. November 1929. Političeskoj Istorii (Russisches Staatsarchiv für Soziale und Politische Geschichte) – RGASPI, 68 ERINA (1995), S. 37. f. 17, op. 21, d. 3096, l. 14-15. 69 ANNA PAUL: Zum ersten Jahrestag [des 103 LMDR - Heimatbuch 2014

Wir haben als erste deutsche Hochschule der Aber nicht nur für ideologische und propa- Sowjetunion eine schwere, aber auch ehrenvolle gandistische Kader, sondern auch für die allge- Last zu tragen – neue pädagogische Kader heran- meine Fachbildung machten sich die örtlichen zubilden, die Kämpfer für die proletarische Ideo- Funktionäre stark. Für das Studienjahr 1935/36 logie und für die internationale Erziehung in den legte das Gebietsparteikomitee für die 60 An- deutschsprachigen Rayonen der Sowjetunion... wärter der deutschen (korrekter gesagt: deutsch- Der unversöhnliche und schonungslose Kampf sprachigen) Veterinärabteilung des Saratower gegen beide Arten der rechten Abweichung in Zooveterinär-Instituts folgende Auft eilung fest: der Nationalfrage, d.h. gegen den großrussischen Es sollten zehn Parteimitglieder, 30 Komsomol- Chauvinismus [sic] als Hauptgefahr und gegen zen und 20 Parteilose sein:71 den lokalen Nationalismus, ist unabweisbare Pfl icht eines jeden Lehrers, jedes Studenten. Da- In Anbetracht der außerordentlichen Bedeu- durch, dass wir einen Dinges und einen Synopa- tung der Ausbildung deutscher Kader für die low aus unseren Reihen stoßen, vertreiben wir in sozialistische Viehzucht verpfl ichtet das Gebiets- erster Linie die Agenten des Kulakentums. parteikomitee der WKP(B) die Sekretäre der Kantonparteikomitees der WKP(B), eine unbe- Die Bildungs- und somit die Kaderpolitik be- dingte Erfüllung der Abordnungen des Gebiets- fanden sich unter ständiger Kontrolle der örtli- parteikomitees bezüglich einer rechtzeitigen Aus- chen Parteifunktionäre. Eine große Rolle bei der wahl von Abiturienten für die deutsche Abteilung Ausbildung der nationalen Partei-, Sow jet- und des Zooveterinär-Instituts sicherzustellen. Wirtschaft skader nicht nur für die Wolgarepub- lik, sondern auch für andere deutsche Sied- Deutschsprachige Abteilungen bestanden lungsgebiete spielte die am 1. September 1931 in auch an anderen Hochschulen der Stadt Sara- Engels auf Beschluss des ZK der WKP(B) eröff - tow, so am Pädagogischen, Landwirtschaft li- nete Deutsche Kommunistische Universität. Ein chen und Medizinischen Institut. Die Reservie- Jahr später wurden solche Universitäten, die in rungen von Studienplätzen an den bekanntesten jedem Verwaltungsgebiet bzw. jeder nationalen Fach- und Hochschulen der Sowjetunion, da- Republik gegründet wurden, in Höhere Kom- runter in Moskau und Leningrad, und die Zu- munistische Landwirtschaft sschulen (HKLWS) teilung von Aspiranten(Doktoranden)stellen an mit einer zwei- und dreijährigen Ausbildungs- die Anwärter aus der Republik fand indes bis zeit umgewandelt zur Liquidierung der Republik statt.72 Die 26 Absolventen des Jahrgangs 1934 etwa verteilte das Gebietsparteikomitee vor allem auf kommunističeskogo universiteta v respublike Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) und nemcev Povolž‘ja (1931-1939), in: Soobščenija Engel’skogo kraevedčeskogo muzeja. Sb. kantonale Parteikomitees. Es schickte drei Ka- naučnych tr. Vyp. 8. Posvjaščaetsja 85-letiju der zum Gebietskomitee des Kommunistischen muzeja. Saratow 2010, S. 69-77; Protokoll der Jugendverbandes und stellte vier Personen als Sitzung des Büros des Gebietsparteikomitees Redakteure der MTS- und kantonalen Zeitun- der WKP (b) der ASSRdWD Nr. 29, Punkt 13 gen ein. Dort sollten sie in Führungspositionen „Über die Verwendung der Studenten, die die für die Durchsetzung der Parteilinie sorgen.70 HKLWS absolviert haben“, 17. Juli 1934, in: RGASPI, f. 17, op. 21, d. 3136, l. 127. Pädinstituts], in: Nachrichten, Nr. 5 vom 6. 71 Protokoll der Sitzung des Büros des Januar 1931. Prof. Anatoli Synopalow, eben- Ge bietsparteikomitees der WKP (b) der falls Hochschullehrer am Deutschen Pädago- ASSRdW D Nr. 90 „Über die Verteilung der gischen Institut, wurde zusammen mit Dinges Absolventen der HKLWS“, 28. Juni 1935, in: und Sinner verhaftet und abgeurteilt. RGASPI, f. 17, op. 21, d. 3139, l. 145-146. 70 RODIONOV M.: Stanovlenie nemeckogo 72 Vgl. die Erinnerungen des aktiven wolga- 104 LMDR - Heimatbuch 2014

Der Lebenslauf von David Peters illustriert der Deutschen Philharmonie, dem Deutschen beispielhaft den steilen Aufstieg der neuen in- Staatsverlag, dem Republikradiozentrum und tellektuellen Schicht der Wolgadeutschen und einer Reihe von „Häusern der Volkskunst“ gab ihren abrupten Fall: Geboren 1904 in der Fami- es fast 30 Zeitungen und Zeitschrift en in deut- lie eines armen Bauern; Besuch der Dorfschule; scher Sprache. Dienst in der Roten Armee; Komsomol-Mit- Die schöpferische Intelligenz war in Repub- gliedschaft ; Einschreibung an der Arbeiter-und- likverbänden der bildenden Künste und Schrift - Bauern-Fakultät und Erlangung der Hochschul- steller vereinigt. Ein dichtes Netz von Techni- reife; Absolvierung des Deutschen Pädinstituts ka und Instituten sorgte für die fachliche und im Jahr 1935; Aspirant (Doktorand) in Moskau; akademische Ausbildung des Personals für das Promotion in Antiker Geschichte; seit 1939 Schulwesen, die Kulturarbeit, Landwirtschaft Lehrstuhlleiter in Engels; Vorbereitung einer und Industrie. Habilitationsschrift . Neben dem Deutschen Staatlichen Pädago- Dann kam die jähe Wende: Deportation in gischen und dem Landwirtschaft lichen Institut, die Region Altai; eine Zeitlang Lehrer der 5.-8. an denen 1.356 Studenten von 324 Dozenten Klassen an der örtlichen Schule; im Juni 1943 und Professoren unterrichtet wurden, existier- Aushebung zur Zwangsarbeit im Salzwerk Bur- ten insgesamt 18 mittlere Fachschulen: vier sol unweit von Slawgorod, Altai. Erst ab 1958 pädagogische Lehranstalten, die Lehrer für die konnte David Peters noch zehn Jahre bis zur Grund- und unvollendete Mittelschule vorbe- Verrentung Geschichte in einer Mittelschule reiteten, fünf landwirtschaft liche Fachschulen, unterrichten.73 zwei Schwesternschulen und zwei Arzthelfer- Dank der Bemühungen der örtlichen No- und Hebammenschulen sowie drei Musik- und menklatur entstand in der ASSRdWD bis An- zwei Bibliothekarschulen mit insgesamt 4.147 fang der 1940er Jahre eine verhältnismäßig Lernenden und 324 Fachlehrern, in ihrer Mehr- dichte sprachlich-kulturelle Infrastruktur, in heit Deutsche.74 der Tausende Schullehrer, Dozenten an den Wenn auch die Repressionen der 1930er Jah- Fach- und Hochschulen, Bibliothekare, Wissen- re die Wolgarepublik überdurchschnittlich hart schaft ler, Journalisten, Schrift steller und Künst- trafen und viele Intellektuelle und Funktionäre ler vornehmlich in der Muttersprache beschäf- ihnen zu Opfer fi elen, sorgten die Anerkennung tigt waren. der Wolgadeutschen als sowjetisches Titular- Neben dem Akademischen Deutschen volk und das Vorhandensein einer territorialen Staatstheater und zwei ländlichen Th eatern in Autonomie immerhin für eine, wenn auch ma- Marxstadt und Balzer, dem Zentralen Repub- kabre Kontinuität: Die repressierten deutschen likmuseum, der Zentralen Republikbibliothek, Kader wurden durch neue, wiederum nationale Fach- und Führungskräft e ersetzt. deutschen Komsomolzen Wiljam (Wilhelm) So konnten sich die nach den Jahren des Gro- Hergert, Absolvent des Marxstädten Pädago- ßen Terrors 1937-1938 an die Macht gekomme- gischen Technikums, der dank eines solchen nen Funktionäre zunehmend der sozialen und Regierungsstudienplatzes ohne Aufnahmeprü- fungen im Jahr 1933 in die führende sowjeti- wirtschaft lichen Entwicklung der Autonomie sche Hochschule, die Staatliche Universität widmen und weiterhin die sprachlich-kulturel- Moskau (Lomonossow-Universität), aufgenom- len Institutionen und Organisationen ihrer Re- men wurde: GERGERT V.: Mečta i grešnaja publik unterstützen. zemlja. Dokumental’noe vospominanie. Perm 1994, S. 8-21. 74 Errechnet nach: GERMAN A.: Istorija 73 Der Verfasser bedankt sich beim Sohn von respubliki nemcev Povolž’ja v sobytijach, David Peters (1904-1980), Boris, für diese An- faktach, dokumentach. 2. Aufl . Moskau 2000, gaben und für die Kopien einiger Dokumente. S. 254. 105 LMDR - Heimatbuch 2014

Im Gegensatz zu ihren Vorgängern waren Beim Odessaer Institut der Volksbildung diese Vertreter bereits ein umfassendes Produkt existierte seit 1924 eine deutsche Abteilung, die sowjetischer Sozialisation, die sich in ihren Bil- Fachkräft e für Schulen, Bibliotheken, Klubs und dungswegen widerspiegelte. So absolvierte der Kindergärten für die deutschen Rayons der Uk- letzte Regierungschef der Republik, Alexander rainischen Unionsrepublik ausbildete. Seit 1931 Heckmann, das Saratower Institut der Mechani- wurde diese Abteilung dem Ukrainischen Pä- sierung der Landwirtschaft ; Heinrich Korbma- dagogischen Institut unterstellt und drei Jahre cher, der 3. Sekretär des Gebietsparteikomitees, später in ein selbständiges Odessaer Deutsches studierte drei Jahre an der Höheren Kommunis- Pädagogisches Institut umgewandelt. 1935 wa- tischen Landwirtschaft sschule; der Volkskom- ren hier 384 Studenten immatrikuliert, mehr als missar für Ackerbau, Friedrich Fritzler, absol- 90 Prozent von ihnen waren Deutsche.77 vierte Ende der zwanziger Jahre die Pokrowsker Wenn auch in den vorangegangenen Jahren Sowjet- und Parteischule; sein Amtskollege zahlreiche Säuberungsaktionen der Lehrerkol- Iwan Kauz, für Justizwesen zuständig, schloss legien und der Studentenschaft von den „klas- das Juristische Institut in Saratow ab.75 senfremden Elementen“ stattgefunden hatten, In der Ukraine, auf der Krim und in ande- so wurden diese durch massive Angriff e auf die ren Siedlungsgebieten, die keine ähnlich zerstö- Minderheiteninstitutionen seit Ende 1933 weit rerische Hungerkatastrophe wie an der Wolga übertroff en. Als Vorwand dienten erschüttern- der Jahre 1920-22 erlebt hatten, war die Situa- de Berichte in der ausländischen, vornehmlich tion hinsichtlich der Ausbildung der deutschen der reichsdeutschen Presse über die Hungers- Jugendlichen, auch angesichts des vor 1914 not in der Ukraine und hier explizit über die insgesamt entwickelteren Netzes der höheren bedrückende Lage der Schwarzmeerdeutschen. Lernanstalten, zunächst günstiger als bei den Die darauf entstandene Aktionsgemeinschaft Wolgadeutschen. Auf der Grundlage der eins- „Brüder in Not“, die Geldüberweisungen und tigen Zentralschulen und Privatgymnasien Lebensmittelpakete aus Deutschland an die Be- wurden bereits Mitte der 1920er Jahre mehrere troff enen weiterleitete, wurde von sowjetischen deutschsprachige Fachoberschulen in den nati- Propagandisten als Hitler-Hilfe denunziert. Ihre onalen Rayons gegründet, wie die Chortitzaer Empfänger wurden wegen „antisowjetischer und Prischiber Deutschen Pädagogischen Tech- Handlungen“ öff entlich verurteilt und nicht sel- nika, Fachschulen für Hebammen und Arzthel- ten strafrechtlich belangt. fer in Molotschansk (Halbstadt) und Prischib Laut Berichten der ukrainischen Tschekis- (Gebiet Dnjepropetrowsk), das Chortitzaer ten hatte man am Pädagogischen Technikum Maschinenbautechnikum, das Internationale in Chortitza bereits eine „faschistische Organi- Pädagogische Technikum in der ASSR Krim sation“ ausgehoben, die aus den Dozenten des mit einer deutschen Abteilung und andere Bil- Technikums bestanden und die Studentenschaft dungsanstalten.76 und die deutsche Bevölkerung im Sinne „der fa- schistischen Ideologie“ zu beeinfl ussen versucht 75 Biographien einiger deutscher Regierungs- habe.78 vertreter der Jahre 1938-41 in: VIKTOR KRIE- GER: Secret Criminal Proceedings Against the Last Volga German Government During the 123; Nemcy Ukrainy. Pilotnyj sbornik. Moskau Years 1944-46. Lincoln 2005, S. 30-34. 2002, S. 146-152, 198, 200-202. 76 JAKOB REDEKOPP: Das Chortitzaer 77 PLESSKAJA E.: Podgotovka nacional’nych Lehrerseminar. Asuncion, Volendam/Paraguay, pedagogičeskich kadrov dlja nemeckich škol 1987, S. 6-26; EUGENIE BLANK, ANTONIE Ukrainy (1924-1938 gg.), in: Nemcy Odessy i KOSTROVSKY, JOHANN KAMPEN: Chortitza odesskogo regona. Odessa 2003, S. 287-305. – die letzte deutsche pädagogische Lehranstalt 78 Bericht des ukrainischen GPU-Chefs in der Ukraine, in: HDR 2000, Teil 1, S. 113- Wsewolod Balizki an das Zentralkomitee der 106 LMDR - Heimatbuch 2014

Im Dezember 1933 fanden Verhaft ungen Fachschulen, Parteifunktionäre, Dozenten an der führenden Dozenten und Professoren der Technika sowie einfache Arbeiter und Bauern Deutschen Abteilung des Ukrainischen Päda- schwerpunktmäßig aus den deutschen administ- gogischen Instituts statt. Es handelte sich um rativen Rayons. Es gab aber Beschuldigte nicht Prof. Robert-Helmut Mikwitz, den Leiter der nur aus der Ukraine, sondern es wurden auch Fakultät für Deutsche Literaturgeschichte, und Personen aus anderen Regionen der Sowjetuni- um Prof. Alfred Ström, Leiter des Lehrstuhls on beschuldigt, deren berufl icher Weg einst in für Deutsche Sprache und Literatur. Beide wa- der Ukraine verlaufen war.81 ren Verfasser mehrerer Lehrbücher und Li- Im Februar 1937 wurde in einer Strafsache teraturchrestomathien für deutsche Schulen, vor dem Sonderkollegium des Gebietsgerichts Technika und Institute. Ihnen folgten weitere Dnjepropetrowsk festgestellt, dass mehrere Dozenten wie der bekannte Literat Hermann Studenten und Dozenten des Deutschen Päda- Bachmann, dann die Dozenten Wilhelm Fritz, gogischen und des Maschinenbau-Technikums Sebastian Ungemach und andere Lehrkräft e, Mitglieder dieses Verbandes seien und Schäd- insgesamt zwölf Personen. Auf Beschluss der lingsarbeit unter der Leitung der Direktoren der Sondersitzung des GPU-Kollegiums der UdSSR Technika, Martin Bieligk (Pädagogisches) und wurden diese Hochschullehrer zu drei bzw. fünf Karl Heuer (Maschinenbau), betrieben hätten. Jahren Strafverbüßung in einem Konzentrati- Zwölf Studenten erhielten Strafen zwischen fünf onslager verurteilt.79 und zehn Jahren Freiheitsentzug.82 Kurz darauf, in den Jahren 1936 bis 1938, Man kann sich des Eindruckes nicht erweh- legten weitere Verhaft ungen den Lehrbetrieb ren, dass durch eine besonders unnachgiebige am Odessaer Pädinstitut faktisch lahm; mehre- Verfolgung der „bürgerlichen Nationalisten re „konterrevolutionäre faschistische“ Organi- und Faschisten“ unter den deutschen, polni- sationen hatte das NKWD unter den Studenten schen und anderen Minderheiten die örtlichen des Instituts und den Lehrern der deutschen NKWD-Orga ne und die ukrainische Partei- Schulen im Gebiet Odessa „entdeckt und un- führung ihre bolschewistische Wachsamkeit schädlich“ gemacht. Diesmal lauteten die Urtei- hervorheben wollten, um der Zentrale die „Be- le hauptsächlich Tod durch Erschießen.80 kämpfung des ukrainischen Nationalismus“ als Zu den Opfern des fabrizierten „Nationa- len Verbandes der Deutschen in der Ukraine“ 81 Nemcy Ukrainy (2002), S. 163-166. gehörten Hunderte Lehrer, Hochschuldozen- 82 Sonderinformation des Volkskommissariats ten, Studenten, Direktoren der Mittel- und für Justiz der Ukrainischen Unionsrepublik über die konterrevolutionäre Tätigkeit des Ukrainischen Kommunistischen Partei über „Nationalen Verbandes der Deutschen in der den Einfl uss der nationalistischen Organisa- Ukraine“ v. 16. März 1937, in: Die Men- tionen und der reichsdeutschen Konsulate auf noniten aus der Ukraine (2006), S. 76-80. die deutsche Bevölkerung der Ukraine und Der Name des Direktors des Pädagogischen über die „Hitler-Hilfe“, 22. Mai 1934, in: Die Technikums wird in diesem Dokument fälschli- Mennoniten aus der Ukraine und im Gebiet cherweise als Bilik angegeben. Zur Person M. Orenburg. Dokumente aus Archiven in Kiew Bieligk mehr im Aufnahmebogen zur Neure- und Orenburg. Göttingen 2006, S. 67-74, hier gistrierung als Mitglied der Deutschen Gruppe S. 72. der Russländischen Kommunistischen Partei, 79 GALINA MALINOWA: Das deutsche August 1919: Lager, Front oder Heimat. Deut- Päd[agogische] Institut in Odessa: Menschen sche Kriegsgefangene in Sowjetrussland 1917 und Schicksale, in: Russland-Deutsche Zeit- bis 1920. In 2 Bänden. Band 1. Dokumente geschichte. Band 2. Hrsg. v. ANTON BOSCH. 1917 bis 1919. Hgg. v. INGE PARDON u. Nürnberg 2002, S. 29-80, v.a. S. 30-52. WALERI SHURAWLJOW. München etc. 1994, 80 IBID., S. 57-79. S. 319-320. 107 LMDR - Heimatbuch 2014

Diplom des Prischiber Deutschen Pädagogischen Technikums, ausgestellt am 5. Juli 1929 in ukrainischer Sprache für Eugen Lutz, der dort vier Jahre studierte.

108 LMDR - Heimatbuch 2014 zweitrangig erscheinen zu lassen. Wie dem auch Dozenten und Mitarbeiter der Saratower Staatli- sei, die deutsche Minderheit in der Ukraine und chen Pädagogischen Hochschule. Darunter war anderen Siedlungsgebieten war ohne einen auch der Lehrstuhlinhaber für Deutsche Spra- (wenn auch formalen) Autonomiestatus mit der che, Prof. Andreas Dulson, der später in Tomsk auf nationale Besonderheiten pochenden loka- zum weltberühmten Erforscher indigener sibi- len Nomenklatura wie in der Wolgarepublik der rischer Sprachen aufstieg.84 Auch der Vater des Willkür und dem Gutdünken der zentralen und künft igen Nobelpreisträgers, Konstantin Heim örtlichen Machtorgane schutzlos ausgeliefert. (russ: Gejm), Lektor an der Deutschen Land- Bereits 1938-39 erfolgte die Umstellung aller wirtschaft lichen Hochschule in Engels und Do- Anfangs- und Mittelschulen auf die russische zent an der Saratower Universität, musste seine oder ukrainische Unterrichtssprache, und es Heim- und Wirkstätte für immer verlassen.85 kam das Ende aller bildungskulturellen Institu- Außerhalb der nationalen Autonomie veran- tionen der Minderheit: Das Odessaer Deutsche stalteten die Behörden eine regelrechte Jagd auf Th eater wurde geschlossen, die Odessaer Deut- alle Personen deutscher Herkunft , um sie auf- sche Pädagogische Hochschule wurde aufgelöst, zuspüren, zu erfassen, auszusondern und nach und die deutschsprachigen Technika und Fach- Osten abzuschieben. Es folgten Ausweisungen schulen wurden umprofi liert.83 aus Moskau, Gorki, Leningrad und anderen Die ungeheuren Beschuldigungen und die Industrie- und Kulturzentren. In den von den anschließende Deportation in den Herbst- Deportationen verschonten östlichen Regionen monaten 1941 bedeuteten einen gravierenden (Sibirien, Südural, Kasachstan, Mit telasien), Einschnitt in das bisherige Leben aller Sowjet- wurden die Hauptstädte Taschkent und Alma- bürger deutscher Herkunft . Besonders negativ Ata neben Gebietszentren wie Orenburg, Mo- wirkte sich ein solcher Bruch auf das Schicksal lotow (Perm), Swerdlowsk, Samarkand oder der nationalen Intelligenz und der Partei- bzw. Tschimkent von den Deutschen „gesäubert“, die Staatskader aus. In der einstigen Wolgarepub- dort zum Teil schon seit Generationen lebten.86 lik wurden alle nationalen bildungs- und kul- Sie durft en nur auf dem Lande oder höchstens turrelevanten Einrichtungen geschlossen bzw. in Rayonsstädtchen leben; der Aufenthalt in den aufgelöst; Tausenden und Abertausenden Leh- Großstädten war ihnen grundsätzlich verboten. rern, Bibliothekaren, Hochschuldozenten, Ag- In letzter Konsequenz liefen alle diese Maß- ronomen, Buchhaltern, Medizinern, Journalis- nahmen auf die Liquidierung oder Degradie- ten, Schauspielern, Musikern, Ingenieuren und rung der politischen und kulturellen Elite der anderen Fachleuten wurde, neben „einfachen“ Russlanddeutschen hinaus. So musste sich etwa Arbeitern und Angestellten, fristlos gekün- digt. Gemeinsam mit den Bauern wurden sie 84 Befehls der Institutsleitung Nr. 134a vom 1. September 1941, in: ERINA E.: Očerki istorii in ländliche Gebiete Kasachstans und Sibiriens kul’tury Nemeckoj avtonomii na Volge. Sara- verbannt. tow 1995, S. 97. So kam es bereits am 1. September 1941 zur 85 Russkaja Germanija (Berlin) v. 25. Oktober fristlosen Kündigung aller deutschstämmigen 2010, Nr. 42. 83 Beschluss des Rates der Volkskommissare 86 Siehe z.B.: Verordnung des Rates der Volks- und des ZK der Kommunistischen Partei (Bol- kommissare Nr. 57 k vom 30. Oktober 1941 schewiki) der Ukraine über die Reorganisie- „Über die Aussiedlung der Personen deut- rung der Bildungseinrichtungen für nationale scher Nationalität aus den Industriezonen aufs Minderheiten, 29. Juni 1938, in: Nemcy Sojuza Land”, in: GARF, f. 5446, op. 56, d. 42, l. 38. SSSR. Drama velikich potrjasenij. 1922-1939 Ausführlicher in: VIKTOR KRIEGER: Perso- gg. Archivnye dokumenty. Kommentarii. Mos- nen minderen Rechts: Russlanddeutsche in den kau 2009, S. 617-618; PLESSKAJA (2003), S. Jahren 1941-46, in: HDR 2004, S. 93-107, hier 303-304. S. 99-100. 109 LMDR - Heimatbuch 2014

Mitteilung der NKWD-Rayonsabteilung Schemonaicha, Gebiet Ostkasachstan, vom 3. Januar 1942, dass sich unter den verbannten 965 Familien (3.435 Deutsche) 33 Lehrer, neun Ärzte und 17 weitere Vertreter medizinischer Berufen, 22 Rechnungs- und Buchführer, 25 Mechaniker, 29 Schlosser und andere Fachkräft e befanden, die vornehmlich auf dem Feld und in der Viehhaltung der örtlichen Kolchosen beschäf- tigt wurden. 110 LMDR - Heimatbuch 2014

Professor Albert Werner, Leiter des Lehrstuhls erlaubten die örtlichen Behörden, einen Zug für Mikrobiologie an der Universität Saratow, mit 2.280 deportierten Deutschen aus Saratow nach der Entlassung und Deportation wäh- aufzunehmen. Darin befand sich eine Reihe rend der Kriegszeit als Pferdehirt in einer ka- von Hochschullehrern und Studenten aus der sachischen Kolchose verdingen und durft e sich Wolgametropole, so dass einigen Intellektuellen glücklich schätzen, nicht ins Arbeitslager über- das unglaubliche Glück im Unglück widerfuhr, führt zu werden.87 während des Krieges ihrem Beruf bzw. dem Der bekannte Orientalist Alfred Arends, Lei- Studium in der ältesten sibirischen Universitäts- ter des Lehrstuhls für Persische Sprache am Le- stadt nachgehen zu dürfen.90 Zu diesen wenigen ningrader Orientinstitut, wurde im März 1942 „Glückspilzen“ gehörte der Professor für Ver- als Deutscher aus der Stadt ausgewiesen und in gleichende Germanistik, Andreas Dulson. die Region Krasnojarsk verbannt. Im März 1943 Durch diesen Umstand ragte Tomsk auch in „mobilisierte“ ihn das Krasnoturansker Kreis- späteren Jahren durch die größte Zahl an Intel- wehrkommissariat in das Arbeitslager Tagil lektuellen und Studenten deutscher Herkunft (Tagillag), Gebiet Swerdlowsk. Dort schuft ete er nicht nur in Sibirien, sondern in der ganzen zunächst als Hilfsarbeiter und später als Werk- Sowjetunion heraus. Bereits während der Kom- zeugzubereiter im Steinbruch „Schajtanka“. Erst mandantur, im Jahr 1952, zählte man in den 1947 erlaubte man dem Wissenschaft ler, nach örtlichen Lehranstalten 51 deutsche Studenten- Taschkent an das Institut für Orientalistik der Sondersiedler, davon 19 an den Hochschulen Usbekischen Akademie der Wissenschaft en zu und 32 an den Fachoberschulen. wechseln.88 Ungeachtet der insgesamt bescheidenen An- Der später weltberühmte Pianist Rudolf Keh- zahl der Studierenden, plädierte die Gebietsver- rer wurde kurz nach Kriegsausbruch als Student waltung des KGB dennoch für eine noch stär- des Tifl isser Konservatoriums in ein Dorf im kere Einschränkung der akademischen Bildung Gebiet Südkasachstan deportiert. Dort blieb er für Sondersiedler aller Kategorien.91 Immerhin längere Zeit malariakrank und musste mit Gele- zeichnete sich diese alte sibirische Universitäts- genheitsarbeiten vorlieb nehmen. 13 Jahre lang stadt im Vergleich zu anderen Regionalzentren konnte er kein Klavier spielen, und für einen 90 KONEV E.: Social’no-ekonomičeskoe i Sondersiedler wie ihn war es bis 1953 einfach obščestvennoe položenie nemcev-specperese- unmöglich, das Musikstudium fortzusetzen.89 lencev v načal’nyi period Velikoj Otečestvennoj Die einzige Ausnahme von den rigiden Un- vojny, in: Graždanskaja identičnost‘ i vnut- terbringungsregeln war die Stadt Tomsk: Aus rennij mir rossijskich nemcev v gody Velikoj bis heute nicht vollständig geklärten Gründen Otečestvennoj vojny i v istoričeskoj pamjati potomkov. Materialy 13-j meždunarodnoj 87 [Professor Albert Werner (1904-1965)], naučnoj konferencii. Moskau 2011, S. 121-126. in: Nemcy Rossii. Enciklopedija. Tom 1: A-I. 91 „Information der Tomsker Gebietsverwal- Moskau 1999, S. 346. tung der Staatssicherheit an das Gebietspar- 88 [Arends, Alfred Karlowitsch], in: Ibid., S. teikomitee Tomsk über die Zahl der Studenten 70; Stolze Geduld. Zum Gedenken der Deut- an den höheren Lehranstalten in der Stadt, die schen der Sowjetunion den Gefangenen des einer Sonderregistrierung unterlagen“, 18. Ja- Tagillag. Hamburg 2010, S. S. 36, 227-228 nuar 1952, in: Iz istorii zemli Tomskoj. 1940- (Übersetzung der russischsprachigen Original- 1956. Nevol’nye sibirjaki. Sbornik dokumentov ausgabe aus dem Jahr 2004). i materialov. Tomsk 2001, S. 270-271. Weitere 89 THOMAS SANDVOSS: Schwere Schicksals- Kategorien der sowjetischen Bevölkerung min- jahre bis zum Erfolg... Skizzen aus dem Leben deren Rechts waren andere deportierte Völker des Pianisten Rudolf Kehrer (letzter Abruf am (Kalmücken, Tschetschenen etc.), verschickte 5. November 2013): http://www.rudolf-kehrer. Kulaken, Kinder repressierter Eltern, ehemali- info/musik/kehrer/leben_und_weg/ ge politische Häftlinge usw. 111 LMDR - Heimatbuch 2014

ndreas Dulson (1900-1973), weltbe- rühmter Sprachforscher, Ethnograph Aund Archäologe, wurde im wolga- deutschen Dorf Preuß (russ. Krasnopolje) in der Familie eines Dorfschreibers geboren. Der Vater legte großen Wert auf die Bil- dung des Sohnes, der das katholische Se- minar in Saratow, die russische Ministeri- alschule im Dorf Seelmann (Rownoje) und das Katharinenstädter Knabengymnasium besuchte. Einige Jahre wirkte er als Volksschullehrer in Preuß, als Inspektor für Volksbildung und Andreas Dulson mit Ehefrau Viktoria. als Lehrer der Siebenklassenschule in Seel- mann. Erst 1924 konnte Dulson, bereits ein erfahrener Pädagoge, das Studium an der Saratower Universität im Fach Germanische Sprach- wissenschaft en aufnehmen. Zusammen mit Prof. Georg Dinges gehörte er zu den Mitgründern der Arbeitsstelle zur Erforschung der wolgadeutschen Mundarten im Jahr 1925. Er nahm an ethnographischen Expediti onen in die Dörfer der Wolgarepublik teil, was ihm Stoff für mehrere wissenschaft liche Abhandlungen lieferte. Nach dem Studienabschluss 1929 war Dulson einige Jahre Dozent an der gerade eröff neten Deutschen Pädagogischen Hochschule in Engels. Zwischendurch ging er 1931-32 nach Moskau und schrieb seine Kandidaten(Doktor)dissertati on „Die Alt-Urbacher Mundart“ nieder, mit der er allerdings erst 1938 promoviert wurde, weil er 1934 verhaft et und nach mehrmonati ger Inhaft ierung im Januar 1935 abgeurteilt wurde. Überraschenderweise ließ man ihn aber zwei Monate später frei. Ab 1936 wirkte er als Hochschullehrer am Saratower Pädagogischen Insti tut und bereitete dort die Doktor(Habilitati ons)schrift „Das Problem der Dialektenmischung (Nach dem Quellen- material der Mundart des Dorfes Preuß)“ vor, mit der er 1939 in Moskau habiliti ert wurde. Im Oktober 1940 zum Professor des Insti tuts berufen, musste er bereits am 5. September 1941 Hals über Kopf mit wenigen Habseligkeiten im Güterzug Nr. 752, voll gestopft mit deporti erten Saratower Deutschen, die Stadt für immer verlassen. Am 17. September erreichte der Zug die Universitätsstadt Tomsk. Bei der Anstellung am 1. Oktober 1941 an der örtlichen pädagogischen Hochschule spielte wohl auch der Umstand eine Rolle, dass er zur damaligen Zeit der einzige habiliti erte Germanist in Sibirien war. Im Juni 1943 sollte er trotzdem ins Arbeitslager gebracht werden; der Rektor ließ ihn sofort entlassen. Dul- son konnte dieses Unheil jedoch u.a. durch ein Gesuch an das Komitee für Hochschulbildung in Moskau letztendlich abwenden. Vom Herbst 1943 bis zu seinem Tod leitete er den Lehrstuhl für Deutsch und Allgemeine Sprachwissenschaft am Pädagogischen Insti tut in Tomsk. Mit der wolgadeutschen Dialekto- logie beschäft igte er sich jedoch nicht mehr; er wagte den Neuanfang und wurde durch seine Pionierarbeiten über Sprachen und Kulturen der indigenen Völker Sibiriens weltberühmt. Für die Monographie „Die keti sche Sprache“ [Keten sind ein sibirisches Urvolk] erhielt er 1971 den höchsten Staatspreis der UdSSR. Trotz seiner Stellung blieb Prof. Dulson bis April 1954 deutscher Sondersiedler. Er musste sich monatlich in der Sonderkommandantur persönlich melden und sich jede Dienst- oder For-

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schungsreise und sogar einen einfachen Ausfl ug außerhalb der Stadt von ungebildeten Kom- mandanten in erniedrigenden Verhandlungen genehmigen lassen. Er ist Verfasser von 150 Publikati onen, darunter 17 Lehrbücher für Mitt el- und Hochschulen, war Betreuer von 46 Doktoranden, die sowohl zur Toponymik und zu sibirischen Sprachen als auch im Fach Germanisti k promoviert wurden. Sein Sohn, Prof. Dr. Alfred Dulson, ist anerkann- ter Forscher auf dem Gebiet der Hochspannungsimpulstechnik und war mehrere Jahre Prorek- tor der Tomsker Polytechnischen Universität. Literatur: ERIKA BECKER: Prof. Dr. Andreas Dulson (1900-1973). Sein Leben und Werk in Er- innerungen seiner Schüler. Hamburg 1999; ERINA E.: Očerki istorii kul’tury nemeckoj avtonomii na Volge. Saratow 1995, S. 88-98 (über A. Dulson); NINA BEREND, HUGO JEDIG: Deutsche Mundarten in der Sowjetunion. Geschichte der Forschung und Bibliographie. Marburg 1991, S. 72-100. durch einen deutlich liberaleren Geist aus, und berufl icher Qualifi kation – in Zwangsarbeitsla- noch im Jahr 2002 ergab die russische Volkszäh- ger ausgehoben. lung die relativ größte Zahl von promovierten Hier nur einzelne Namen aus einem Arbeits- oder habilitierten deutschen Spezialisten gerade lager, dem Tscheljabmetallurgstroj des NKWD im Gebiet Tomsk.92 der UdSSR, das für den Bau des Tscheljabinsker Nach einem kurzen Aufenthalt in den ihnen Hüttenkombinats zuständig war: die Obersten zugewiesenen sibirischen oder kasachischen Nikolaj Diepolt (Dieboldt) und Alexander Le- Orten wurden indes die meisten erwachsenen onhardt, die Militärfl ieger Viktor Fuchs und Verbannten ab Januar 1942 – ungeachtet frühe- Alexander Bamberger sowie Dutzende andere rer gesellschaft licher Stellung, des gesundheit- Offi ziere, die ab September 1941 aus den kämp- lichen Zustandes, familiärer Verhältnisse oder fenden Einheiten ausgehoben und ins Arbeits- lager überführt wurden.93 Als Gelegenheitsar- 92 Zum ersten Mal in der Geschichte der russ- beiter waren hier im Einsatz der promovierte ländischen bzw. sowjetischen Volkszählungen Biologe Woldemar Altergott, 1938-41 Dozent wurden im Jahr 2002 Personen ermittelt, die an der Saratower Universität, der Chirurg Dr. ein Promotions- bzw. Habilitations- oder ähnli- Alexander Rusch, bis 1941 Lehrstuhlleiter an ches akademisches Qualifi kationsverfahren der Medizinischen Hochschule in Samarkand, durchlaufen hatten. Für die deutsche Bevölke- rung wurden 979 solche Akademiker (1,9 Pro- Usbekistan, der Geologe Jakob Löwen, ebenfalls 94 mille) im Alter von 15 Jahren und älter regist- von der Universität Samarkand, u.v.a. riert. Für das Gebiet Tomsk war die Quote der registrierten deutschen Fachkräfte wesentlich 93 GERHARD WOLTER: Die Zone der totalen höher, nämlich 3,1 Promille. Insgesamt wurden Ruhe. Die Russlanddeutschen in den Kriegs- in diesem Jahr in der ganzen Russländischen und Nachkriegsjahren. Berichte von Augen- Föderation 369.134 Höchstqualifi zierte (3,0 zeugen. Augsburg 2003, S. 175ff; FUKS V. Promille) festgestellt. Berechnet nach: Ge- (VIKTOR FUCHS): Pogrom. Dokumental’naja samtrussländische Volkszählung 2002. Band povest‘ o prestuplenijach sovetskogo režima – 4. Nationale Zusammensetzung, Sprachen- fi zičeskom iničtoženii nemeckoj nacii v SSSR beherrschung und Staatsangehörigkeit. Tab. s 1930-ch godov i do konca stoletija. Krasno- 10: Einzelne Nationalitäten nach Altersgrup- jarsk 2001. pen, Geschlecht und Bildungsstand; Tab. 11: 94 WOLTER (2003), S. 425-426; [Wladimir Bildungsstand einzelner Nationalitäten nach Fedorowitsch (Woldemar Friedrichowitsch) territorialen Verwaltungseinheiten der Russ- Altergott], in: Nemcy Rossii. Enciklopedija. ländischen Föderation (letzter Abruf am 14. Tom 1: A-I. Moskau 1999, S. 47-48; JA. A. Oktober 2013): http://www.perepis2002.ru/ LEVEN: Kratkoe opisanie žiznennogo puti. index.html?id=17 Kaluga 1996 (Manuskript, im Besitz d. Verf.). 113 LMDR - Heimatbuch 2014

Artikel aus der Zeitung „Neues Leben“, Oktober 1957. Die deutsche Bildungs- und Führungsschicht wurden dort in einem geheimen Prozess 20 In- musste in diesen Jahren nicht nur die berufl i- sassen wegen angeblicher „Teilnahme an einer che und gesellschaft liche Degradierung, perma- antisowjetischen aufständischen Organisation“ nente Erniedrigungen und schwere körperliche verurteilt, unter anderem die ehemaligen (bis Arbeit, sondern auch zahlreiche Strafprozesse August 1941) Journalisten Alois Schmidt, der über sich ergehen lassen. bei der Republikzeitung „Nachrichten“ beschäf- Als Beispiel sei eines von vielen Strafver- tigt war, und Emil Jost, Redakteur der Marienta- fahren gegen deutsche Zwangsarbeiter ge- ler Kantonzeitung „Stoßbrigade“; ferner Rudolf nannt, das im Lager Iwdel (Iwdellag), Gebiet Hermann, bis dahin Direktor des Marxstädter Swerdlowsk, stattfand. Am 15. Dezember 1945 Dramen-Th eaters, und Viktor May, Oberarzt

114 LMDR - Heimatbuch 2014 im Kanton Mariental, der 1916-1921 an der Baustelle mussten wir täglich, mit Ausnahme Universität Saratow Medizin studierte; Fedor des Sonntags, 12 bis 14 Stunden arbeiten, nach (Th eodor) Reich, bis 1941 Buchhalter in der der Arbeit auch den drei Kilometer langen Weg Stadt Ordschonikidse, Nordkaukasus, oder Ro- zum Lager zurücklegen, danach oft noch in den bert Grosch, der noch vor 1917 die Saratower Wald und von dort mit schweren Baumstämmen Kommerzschule absolvierte und bis zur Depor- beladen [zum Heizen in der Baracke – Anm. d. tation als Vorsitzender des Industrierates der Verf.] im Dunkeln zum Lager gehen, was oft so Wolgadeutschen Republik fungierte.95 unerträglich war, dass mancher unter der Last Besonders schlimm erging es den Pädagogen der Baumstämme zusammenbrach.“ und Kulturschaff enden, Lehrern, Künstlern, Schrift stellern, Schauspielern, Journalisten u.a. Im Laufe von nur wenigen Monaten blieben Im Zwangsarbeitslager Bogoslowlag-BASStroj in dieser Erdarbeiterbrigade von den ursprüng- befand sich eigens eine ganze Brigade von stu- lichen 59 Männern ganze elf. Einige vermoch- dierten Lehrkräft en, geleitet von dem einstigen ten es, in die Verwaltung und Bedienung (Rech- Direktor der Pädagogischen Fachoberschule nungsführer, Normierer, Diensthabender in (technikum), Alexander Reusch:96 der Baracke, Gehilfe eines Lagerabteilungschefs etc.) mit körperlich leichterer Arbeit zu wech- „Unsere Brigade bestand ausschließlich aus seln, aber die meisten fanden „ihre letzte Ruhe Unterstufen-, Mittel- und Hochschullehrern. Da erst im Massengrab auf der rechten Uferseite waren, soweit ich mich erinnern kann: Dais, Rein- des Flüsschens Turja“.97 hold, Schlotthauer, Töws, Freilich, Wasenmüller... Im Lager kamen auch die bekannten Schrift - Unsere Werkzeuge waren stumpfe Spaten, Picken, steller Franz Bach (1942 in Berg-Schorien, Ost- Brecheisen und Schubkarren. Wir mussten für sibirien) und Gerhard Sawatzky (1944 in Soli- eine Wasserohrleitung einen sehr steinigen, zwei kamsk, Ural) um. In der sibirischen Verbannung Kilometer langen und zwei Meter breiten Graben starb 1953 der Patriarch der wolgadeutschen ausheben. Die Stelle stand noch fast gänzlich un- Literatur, August Lonsinger, und ein Jahr später ter dem Schneematsch, und der Grund war noch in Magadan der Mitbegründer der sowjetdeut- gefroren. Dürft ig gekleidet, hungrig, bis auf die schen Literatur in der Ukraine, David Schellen- Knochen durchnässt, schlugen wir täglich von berg, um nur einige Namen zu nennen.98 früh bis spät mit unseren stumpfen Picken auf Andere wiederum überlebten die Strapazen den gefrorenen Grund und die Steine ein, bis mehr schlecht als recht, mussten mehrere Jahre wir unser Tagessoll erfüllt hatten – eher durft en im GULag-System, etwa Reinhard Köln in Ko- wir abends nicht ins Lager kommen. ... Auf der lyma, Nora Pfeff er in Dudinka, Norillag, oder Ernst Kontschak in Norilsk, oder im Zwangs- 95 Die Strafakte ist im Staatsarchiv der admi- arbeitslager verbringen. Anschließend mussten nistrativen Organe des Gebietes Swerdlowsk, sie als Sondersiedler im Ural, in Sibirien oder Stadt Jekaterinburg, aufbewahrt, siehe hierzu Kasachstan ausharren, ehe sie in späteren Jah- ausführlicher: VIKTOR KRIEGER: Patrioten ren als Lehrer, Buchhalter, Hochschuldozenten oder Verräter? Politische Strafprozesse gegen Russlanddeutsche 1942-1946, in: Verfüh- oder Journalisten bei den wenigen deutschspra- 99 rungen der Gewalt. Russen und Deutsche im chigen Medien Arbeit fanden. Ersten und Zweiten Weltkrieg. Hgg. von KARL EIMERMACHER und ASTRID VOLPERT. 97 Ibid., S. 180-181. München 2005, S. 1113-1160, v.a. S. 1144, 98 HUGO WORMSBECHER: Mit dem Volk 1151ff. durch alle Härten gegangen (Notizen über die 96 FRIEDRICH KRÜGER: So war es (Erin- sowjetdeutsche Literatur), in: Heimatliche nerungen), in: Heimatliche Weiten (Moskau), Weiten 1/1989, S. 186-234, hier S. 197. 2/1988, S. 137-205, hier S. 174. 99 Biographisches zu den Literaten bei HE- 115 LMDR - Heimatbuch 2014

Kein einziger von ihnen konnte angesichts Laienhaft e, sprachlich Unbeholfene, politisch geringer Publikationsmöglichkeiten und feh- Harmlose bzw. Akklamative und thematisch lender sprachgewandter Leserschaft als pro- Begrenzte anhaft ete.101 fessioneller Schrift steller oder Literat arbeiten. Aber auch das siegreiche Kriegsende änder- Andreas Saks, der letzte Vorsitzende des Schrift - te an der Minderstellung der wenigen in ihrem stellerverbandes der ASSR der Wolgadeutschen Vorkriegsberuf tätigen deutschen Intellektuel- (1938-1941), beklagte sich ganz vorsichtig darü- len kaum etwas. Sie wurden wie alle anderen ber in einem Privatbrief: „Bei uns ist es nämlich Leidensgenossen als Sondersiedler erfasst, unter sehr schwierig mit den Druckmöglichkeiten in das Kommandanturregime des Innenministeri- deutscher Sprache. Ich habe über 40 Autoren- ums gestellt und noch weitere zehn friedliche bogen Manus[kript] liegen, und erst 1973 sollen Jahre ständig schikaniert und in ihren bürgerli- meine Erinnerungen (elf Bogen) erscheinen. In chen Rechten beschnitten. Engels war es in dieser Hinsicht leichter.“100 So erging es dem Komponisten Albert Leh- Wenn man die erlebten Verfolgungen mitbe- mann, der 1940 das Leningrader Konservatori- rücksichtigt, so verwundert es durchaus nicht, um glänzend absolvierte und künstlerisch aktiv dass ihren Werken, die nach 1955 in der knap- zur patriotischen Mobilisierung der Stadt wäh- pen Freizeit oder schon in Zeiten des Rentenbe- rend der Blockade beitrug. Dessen ungeachtet, zugs entstanden, unweigerlich das künstlerisch wurde er im Frühling 1942 als Deutscher in die ROLD BELGER: Russlanddeutsche Schrift- autonome Republik Tatarstan zwangsausgesie- steller. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. delt. Hier durft e er dank der Fürsprache von Biographien und Werksübersichten/2-e, einfl ussreichen Leningrader Professoren wie überarb. Aufl age. Berlin 2010. Aufschlussreich sind auch die Tagebuchnotizen und Erinnerun- 101 Vgl. z.B.: HARTMUT FRÖSCHLE: Die gen der Betroffenen selbst, siehe WOLDEMAR Wolga-Thematik in der russlanddeutschen HERDT: Brandmal (Erinnerungen, Tage- Literatur der letzten Jahrzehnte: von Victor buchaufzeichnungen), in: Heimatliche Weiten Klein und Dominik Hollmann zu Viktor Heinz, 2/1989, S. 5-103; DOMINIK HOLLMANN: in: Jahrbuch für Internationale Germanistik Ausgewählte Prosa. Bände 1 u.2. Kamyschin 1/2009, S. 77-100; ANNELORE ENGEL- 1999-2001 (v.a. im zweiten Band Kapitel BRAUNSCHMIDT: „National nach der Form, „Im Arbeitsdienst. Aufzeichnungen über dem Inhalt nach sozialistisch“. Zur besonde- die Trudarmee“, S. 321-358, und „Aus den ren Situation der deutschen Literatur in der Tagebüchern“, S. 473-593). In verschleierter Sow jetunion, in: Die Deutschen im Russischen Form schrieb über das traurige Schicksal der Reich und im Sowjetstaat. Hgg. v. ANDREAS deutschsprachigen Literaten in der Zwischen- KAPPELER, BORIS MEISSNER, GERHARD kriegszeit und während des Krieges ERNST SIMON. Köln 1987, S. 115-135. Die jahrzehn- KONTSCHAK: Unvergessliche Begegnungen. telang dauernde erbarmungslose und totale Alma-Ata 1975. Verfolgungswelle wird in ihrer Tragweite nicht 100 Brief an den Exilforscher Peter Diezel von selten stark unterschätzt und sogar verharm- der Deutschen Akademie der Künste zu (Ost) lost: ALEXANDER RITTER: Sowjetdeutsche Berlin, 24. September 1970. Original befi ndet Literatur. Patriotische Akklamationen und sich beim Adressaten, Kopie im Besitz d. Verf. nationale Existenzbeschreibung, in: Akzente Soweit bekannt, kam es nie zu einer solchen 1(22)/1975, S. 46-74. Bisweilen ist die Rede Buchpublikation. Allerdings veröffentlichte die von der „Minderdichtung“, siehe dazu: HANS- Zeitung „Neues Leben“ in mehreren Folgen Passagen aus dem Werk „Im Wirbelsturm. CHRISTOPH GRAF V. NAYHAUSS: Aspekte Eine Familienchronik“, das dann in erwei- russlanddeutscher Literatur nach 1990, in: terter Fassung im Almanach „Heimatliche Die „andere“ deutsche Literatur. Istanbuler Weiten“ 1/1983 als „Im Wirbelsturm. Roman Vorträge. Hgg. v. MANFRED DURZAK u. aus dem Leben der wolgadeutschen Bauern“ NILÜFER KURUYAZICI. Würzburg 2004, S. erschien. 181-193, hier S. 188. 116 LMDR - Heimatbuch 2014

Sondersiedlerausweis des bekannten Pädagogen und Literaturwissenschaft lers Woldemar Ekkert (1910-1991), in dem steht, dass er in Krasnojarsk noch im Jahre 1954 - er war bereits Lehrer an einer Mittel- und Fachoberschule - nur in einem bestimmten Stadtteil wohnen und sich bewegen durft e.

Michail Gnesin ab Dezember 1945 am Staats- Ein anderer bemerkenswerter Fall betrifft konservatorium in Kasan wirken. Für seine den bekannten sowjetdeutschen Literaturwis- herausragenden Leistungen, vor allem bei der senschaft ler und -kritiker Woldemar (Wladi- Weiterentwicklung der tatarischen nationalen mir) Ekkert. Ekkert absolvierte 1935 das Deut- Musikkultur, bekam Lehmann noch als Sonder- sche Pädagogische Institut in Odessa und wirkte siedler (sic!) im März 1952 eine der höchsten als Hochschullehrer und Dekan in Chortitza sowjetischen Auszeichnungen, den Stalinpreis und Krementschug, beide in der Ukraine. Nach dritten Grades. Das änderte jedoch nichts an Kriegsbeginn wurde er in die Region Krasno- der Tatsache, dass der deutsche Musiker nach jarsk evakuiert und von hier im April 1942 in der untersten Tarifstufe entlohnt wurde, jahre- das Arbeitslager Bogoslowlag BAS-Stroj auf die lang die Dozentur nicht genehmigt bekam, sich Baustelle eines Aluminiumwerkes im Gebiet regelmäßig beim zuständigen Kommandanten Swerdlowsk zwangsmobilisiert. Im Lager und melden musste und nicht – auch dienstlich – in anschließend in Krasnoturjinsk musste er fünf Städte wie Leningrad oder Moskau reisen durf- 102 te. Gasyrlar avazi – Echo vekov (Kazan‘), Nr. 1/2, 2003, S. 158-161; Istorija stalinskogo GULa- 102 „Leman i po sie vremja javljaetsja licom ga. Konec 1920-ch – pervaja polovina 1950-ch kak by ograničennym v pravach...“ (neiz- godov. Sobranie dokumentov v semi tomach. vestnaja stranica iz žizni kompozitora), in: Tom 5. Moskau 2004, S. 683. 117 LMDR - Heimatbuch 2014

Jahre ausharren, ehe es ihm 1947 mit größter Nach meinem Nachnamen urteilend, zählt Mühe gelang, in die Regionsmetropole Krasno- man mich zu einem Deutschen, und dadurch jarsk zu ziehen und dort, vorerst in der Mittel- erlebe ich eine ganze Reihe von Rechtlosigkeiten, schule und später, angesichts des Kadermangels, Erniedrigungen und Beleidigungen. Die Vorge- als Lektor für Deutsche Sprache und Literatur setzten titulieren mich oft als Fritz, und alle Schi- an örtlichen Hochschulen zu unterrichten. kanen bleiben unbehelligt. [Ich wurde mehrmals] Noch in den 1980er Jahren beklagte er sich grundlos der Arbeit enthoben, und sogar wurde bitter über das noch vorhandene behördliche mir nicht erlaubt, dem Beruf im erlernten Fach Misstrauen und ausgebliebene Publikations- nachzugehen, beim gleichzeitigen Vorhandensein möglichkeiten, über die jahrzehntelang prak- einer großen Zahl off ener Stellen. tizierte Tabuisierung der Vergangenheit der Ich habe Familie und zwei Kinder, die ich zu russlanddeutschen Minderheit, die Vernach- nützlichen Mitgliedern der sowjetischen Gesell- lässigung ihrer Literatur und das erniedrigende schaft erziehen muss. Dafür muss ich arbeiten, Verbot, Auslandsreisen anzutreten oder sich für ich bin ein Sowjetmensch, die Sowjetmacht hat einige Monate in der DDR ausbilden zu lassen, mich seit dem fünfj ährigen Alter erzogen, hat was ihm als einem der besten Lehrkräft e für Bildung und Beruf gegeben. Man hat mich 1938 Deutsch in Krasnojarsk – im Gegensatz zu vie- zu einem jungen Sowjetfachmann ausgebildet. In len andersethnischen Kollegen – ständig unter zehn Berufsjahren bekam ich keine einzige Maß- fadenscheinigen Vorwänden verwehrt wurde.103 regelung oder Bestrafung; umgekehrt gab es eine Einige versuchten in ihrer Verzweifl ung, sich Anzahl von Belobigungen. Aber wegen des deut- vom Makel des Deutschseins zu befreien, in- schen Nachnamens nehmen alle an, dass ich ein dem sie sich als stramme Russen ausgaben. Da- Deutscher bin. Ich halte mich für einen Russen, bei wandten sie sich mit ihrem Anliegen nicht für mich sind die deutsche Nationalität, Spra- selten direkt an Stalin und andere Partei- und che, Sitten und Gebräuche fremd. ... Ich möchte Staatsführer, so wie etwa der ausgebildete Agro- unter Ihrer weisen Führung zum Wohl der sozi- nom Bauer:104 alistischen Gesellschaft einträglich arbeiten, den Fünfj ahresplan verwirklichen, die kommunisti- 103 Vorwort von ANNELORE ENGEL- BRAUNSCHMIDT und HEROLD BELGER in: sche Gesellschaft bauen und ein gleichberechtigter WOLDEMAR EKKERT: Die Taiga ist in Dun- Bürger der geliebten Heimat sein. kel getaucht. Gedichte und Nachdichtungen (1944-1980). Moskau 1998, S. 5-29; „A v duše Mehr noch, die Situation verschlimmerte gorit ešče mnogoe…“, K 90-letiju Vol’demara sich zusehends Ende der 1940er Jahre im Zuge Ekerta [Briefe Woldemar Ekkerts an Herold der wachsenden xenophoben Innenpolitik des Belger, 1973-1990], in: GEROL’D BELGER: Sowjetstaates, die durch ausgeprägte Fremden- V poiskach svoego ritma. O sud’be, literature und Ausländerfeindlichkeit, Germanophobie, i kul’ture roissijskich necev. Almaty 2006, S. Antisemitismus und großrussischen Chauvinis- 151-175, hier S. 167-169; Personalakte des mus gekennzeichnet war. Sondersiedlers Wladimir Ekkert (1949-1954), Besonders schlimme Folgen hatte dabei der Eingabe vom 18. Mai 1954, in: Archiv Infor- macionnogo Centra GUVD Krasnojarskogo geheime Erlass der obersten Staatsgewalt, des kraja (Archiv des Informationszentrums der Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR, Hauptverwaltung für Innere Angelegenheiten vom 26. November 1948, der die Verschickung der Region Krasnojarsk), d. 53004, l. 22-23. der während des Krieges zwangsausgesiedel- 104 Brief des Agronomen Bauer aus der Sow- ten Völker „auf ewig“ festgeschrieben und die chose namens Sacco und Vanzetti im Gebiet Uljanowsk, die dem Innenministerium gehörte, Federacija. Uljanovskaja oblast‘. Tom 2. Ulja- an Stalin vom 23. Januar 1948, in: Kniga pam- nowsk 2001, S. 869. Fritz ist eine abwertende jati žertv političeskich repressij: Rossijskaja Bezeichnung eines Deutschen. 118 LMDR - Heimatbuch 2014

Rückkehr in die früheren Siedlungsorte aus- Der erfahrene Pädagoge Friedrich Emig, drücklich verboten hatte. Flüchtigen Sonder- der nach Absolvierung des Deutschen Päda- siedlern drohten nun 20 und den Helfern fünf gogischen Instituts 1932 mehrere Jahre in der Jahre Freiheitsentzug.105 deutschen Vorzeige-Mittelschule der Stadt En- In den folgenden Monaten und Jahren mach- gels unterrichtete, durft e nach Ableistung der te sich die Verschärfung des Regimes in den Zwangsarbeit einige Jahre als Lehrer in einem Sonderkommandanturen bemerkbar. Mit ver- entlegenen Dorf in Chakassien, Sibirien, und schiedener Stärke und Häufung durchgeführte später als Schulinspektor im Rayon arbeiten. ideologische Kampagnen und Säuberungen der Immer wieder kam es zu monatelangen Amts- Städte vom „Sonderkontingent“ brachten die enthebungen und Wiedereinstellungen, bis ihm wenigen in ihrem Beruf tätigen Fachleute an aber 1951-53 - weil als deutscher Sondersiedler den Rand der berufl ichen, familiären und sogar ideologisch höchst verdächtig und für die Erzie- Lebensexistenz. So wandte sich Leopold Bach- hung der Kinder ungeeignet - fristlos gekündigt mann, der 1938 in Odessa das Institut für Nach- wurde. Er fand keine andere Arbeit in seinem richtentechnik absolvierte und nach dem Krieg Dorf, durft e aber nicht in den Nachbarort oder in Uljanowsk als Ingenieur arbeitete, in einem in die Stadt ziehen und konnte nur mit viel Brief direkt an Stalin und bat um Hilfe, ihn vor Mühe diese schlimme Zeit überstehen.107 der drohenden Abschiebung zu bewahren:106 Auch dem überzeugten Kommunisten und Kriegsteilnehmer Erich Ohngemach, Absolvent Am 10. September dieses Jahres [1949] wurde der Historischen Fakultät der Staatsuniversität ich in die Gebietsverwaltung des Innenministeri- Baku, Aserbaidschan, gelang es nach Kriegsen- ums gerufen und wurde dort unterrichtet, dass de erst nach unzähligen Beschwerden bis an die ich, weil deutscher Nationalität, kein Recht hät- höchste Staats- und Parteispitze und mehreren te, in der Stadt Uljanowsk zu leben und zu ar- Jahren vergeblicher Arbeitssuche mit zahlrei- beiten, und deshalb in einen Landkreis des Ge- chen fadenscheinigen Absagen, eine Anstellung bietes Uljanowsk wegziehen müsse... Durch diese in einer Fachoberschule in Krasnokamsk, Gebiet Anordnung, die Stadt zu verlassen, verliere ich Perm im Ural, im August 1950 zu erwirken.108 alles, was mir lieb und teuer ist. Ich verliere die Die diskriminierenden Verordnungen und Möglichkeit, als Ingenieur zu arbeiten, weil in behördlichen Vorschrift en in Bezug auf eth- einem Landkreis eine ähnliche Arbeitsstelle fehlt, nische Minderheiten oder bestimmte soziale und ich verliere auch meine Familie, das heißt die Gruppen wurden nicht öff entlich publiziert Ehefrau und das Kind, weil die Gattin sich wei- bzw. besaßen keine formale Gesetzeskraft . Un- gert, mit mir aufs Land zu ziehen. ter Berufung auf die offi zielle Verfassung und die allseitig propagierte „lenin-stalinsche Natio- 105 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsar- nalitätenpolitik“ hatten daher hartnäckige, poli- mee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis tisch geschulte oder gut vernetzte Deutsche in so 1956. Hgg. v. ALFRED EISFELD und VICTOR manchen Fällen die Gelegenheit, ihre missliche HERDT. Köln 1996, S. 307-308. Lage wesentlich zu mildern, auch wenn sie dem 106 Bittschrift von Leopold Bachmann, des In- bitteren Los ihrer Landsleute nicht vollständig genieurs der Uljanowsker Fernmeldestelle, an entkommen konnten. den Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR, den Genossen Josef Stalin, 21. September 1949, in: Kniga pamjati žertv ... Uljanovskaja 107 FRIEDRICH EMIG: Drei Flüsse – drei oblast‘ (2001), S. 722-723. Bachmanns Frau Leben. Erinnerungen. Berlin, Bonn 1992, S. war russischer Nationalität, war deshalb 50-60, 65. nicht als Sondersiedlerin erfasst und durfte 108 ERICH OHNGEMACH: Memoiren eines selbstverständlich mit dem Kind in der Stadt Unbekannten, in: Heimatliche Weiten 1/1990, verbleiben. S. 5-120, hier S. 104-114. 119 LMDR - Heimatbuch 2014

Auch in den uralischen und sibirischen Re- die Erlaubnis für den Schulbesuch ihres Kindes gionen mit ihrem chronischen Mangel an Spe- in einem anderen Ort zu erwirken und darüber zialisten und niedriger Lebensqualität mussten hinaus jahrelang die auswärtige Unterbringung entgegen aller interner Vorschrift en und Vor- zu fi nanzieren. Nur wer in den Städten und Ra- behalte qualifi zierte deutsche Fachkräft e einge- yonszentren lebte – und das war eine deutliche setzt werden. Minderheit unter den Deutschen –, konnte in Und schließlich darf der „Eigensinn“ eines der Regel eine vollständige allgemein- oder be- konkreten Sowjetmenschen, sei es eines Beam- rufsbildende Mittelschule besuchen. ten, eines Vorgesetzten oder eines Miliz- bzw. Obwohl den Sondersiedlern auch nach den des Staatssicherheitsoffi ziers, aber auch eines geheimen Erlassen und Verordnungen das Recht geachteten Arbeitskollegen, nicht völlig igno- auf Bildung, auch an Hoch- und Fachoberschu- riert werden. Das russische Volk achtete so- len zustand, stellte man ihnen fast unüberwind- wohl im Zarenreich als auch in der Sowjetunion bare Hürden in den Weg, die den russischen, fachmännisches Können, die Arbeit versierter ukrainischen, jüdischen, tatarischen oder kasa- Handwerker, Techniker, Ingenieure oder Künst- chischen Altersgenossen kaum bekannt waren. ler. Vor diesem Hintergrund konnten sich die Zum einen war den deutschen Sondersied- jeweiligen Entscheidungsträger in erheblichem lern verboten, sich in Gegenden aufzuhalten, in Maße für einen „nützlichen“ Deutschen einset- denen es keine Kommandanturen gab, d.h. im zen, selbst unter Umgehung der geschriebenen Transkaukasus, in der Ukraine und im Baltikum und ungeschriebenen Gesetze.109 oder in Städten wie Moskau, Leningrad, Kiew Die unverhohlen germanophobe Politik des oder Saratow, kurzum im europäischen Teil der Sowjetstaates ab 1941 führte u.a. nicht nur zur UdSSR. Somit war es ihnen faktisch unmöglich, berufl ichen Degradierung der bereits ausgebil- in den wichtigsten kulturellen und intellektuel- deten Schicht der Russlanddeutschen, sondern len Zentren des Landes zu leben, zu studieren verbaute auch den meisten Jugendlichen den oder zu arbeiten.110 erwünschten Bildungsweg „erfolgreich“. Nur Aber auch die Aufnahme in die Hochschulen ganz wenige konnten nämlich in den Verban- der asiatischen Regionen war stark begrenzt. So nungsgebieten eine zehnklassige Mittelschu- le absolvieren und somit die Hochschulreife 110 Das Verzeichnis der Provinzen, in denen das Innenministerium den Sondersiedlern erlangen. In den entfernten Dörfern und La- zu wohnen erlaubte, umfasste 40 autonome gerpunkten existierte zumeist lediglich eine Republiken, Regionen und Gebiete der RSFSR, Grund- oder unvollendete Siebenklassenschule, die allesamt im hohen Norden, am Oberlauf und nur ganz wenige Eltern waren bereit und der Wolga, im Ural, in Sibirien und im Fernen in der Lage, vom zuständigen Kommandanten Osten lagen, sowie die fünf zentralasiatischen Unionsrepubliken. Das Verbot wurde rigoros 109 Auch für Verhältnisse im Stalinismus und durchgesetzt. Martin Herzog, dem man Ende für die Sowjetgesellschaft insgesamt waren 1948 aus Versehen erlaubt hatte, aus dem viele Merkmale des „eigensinnigen“ Ver- Gebiet Uljanowsk nach Jaroslawl überzu- haltens typisch, die ALF LÜDTKE in seinen siedeln, wurde einige Wochen später unter Untersuchungen herausgearbeitet hat, siehe: Bewachung zurückgebracht, weil „das Gebiet Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrun- Jaroslawl keine Gegend ist, in der die einst gen und Politik vom Kaiserreich bis in den Verbannten leben dürfen“. Der Stellvertreter Faschismus. Hamburg 1993, v.a. das Kapitel: des Abteilungsleiters für Sondersiedler beim Wo blieb die „rote Glut“? Arbeitererfahrungen Innenministerium, Oberst Ljutyj, forderte die und deutscher Faschismus, S. 221-282. Hier in disziplinarische Bestrafung der für dieses Ver- erster Linie die Unterkapitel VII: Profi le von gehen verantwortlichen Personen. in: Kniga Kooperation und Eigen-Sinn und X: Eigen- pamjati žertv. ... Uljanovskaja oblast‘ (2001), Sinn und Hinnehmen von Herrschaft. S. 857, 884. 120 LMDR - Heimatbuch 2014 standen laut einem Beschluss des ZK der Kom- Auch der bekannte Wissenschaft ler Prof. Dr. munistischen Partei Kasachstans vom Mai 1952 Wladimir Henning, einer der Begründer der für etwa eine Million Sondersiedler nur 105 Stu- Uraler Archäologieschule, hatte wegen seiner dienplätze zur Verfügung. In der Kasachischen Herkunft ständig Probleme im Studium und Staatsuniversität und der Alma-Ataer Juristi- beim Berufsanfang. Geboren 1924 in Slawgo- schen Hochschule, im Konservatorium und in rod, Region Altai, musste er 1942-46 Zwangs- einer Reihe weiterer höherer Lehranstalten war arbeit in den Gebieten Uljanowsk und Molotow ihre Zulassung zu einem Studium sogar verbo- (Perm) leisten. 1946 als Sondersiedler regist- ten.111 riert, gelang ihm trotz einiger Anfangshürden Die in den Städten erfassten deutschen ein Jahr später die Immatrikulation an der His- Sondersiedler, z.B. die Familienmitglieder der torisch-Philologischen Fakultät der Universität ehemaligen Zwangsarbeiter des berüchtigten Molotow. Lagers Tscheljabmetallunrgstroj NKWD in der Bereits in der Ausbildung begann er, sich wis- Uralmetropole Tscheljabinsk, hatten in die- senschaft lich zu betätigen. Seine studentischen ser Hinsicht einen kleinen Vorteil: Als Stadt- Arbeiten wurden vom Bildungsministerium und bewohner benötigten sie keine Erlaubnis der dem Gebietskomitee des Komsomol belobigt. MWD-Kommandantur, um an der örtlichen Er absolvierte mit glänzenden Noten die Uni- Maschinenbauhochschule oder am Institut für versität, bekam das Diplom mit Auszeichnung Mechanisierung und Elektrifi zierung der Land- und durft e deshalb die Stelle eines wissenschaft - wirtschaft an den Aufnahmeprüfungen teilneh- lichen Mitarbeiters im Heimatkundemuseum in men zu dürfen. Nach einigen Zeugenaussagen Ishewsk, der Hauptstadt der autonomen Repub- studierten an diesen und anderen Hochschulen, lik Udmurtien, wählen; die Sonderkomman- etwa am Pädagogischen Institut, bereits 1946 dantur erlaubte ihm jedoch den Umzug nicht. um die 20 Deutsche – angesichts der mehr als Die heiß ersehnte berufl iche Laufb ahn stand auf 45.000 dort unfreiwillig wohnenden Landsleute der Kippe, und so fragte Henning bitter nach allerdings eine sehr bescheidene Zahl.112 den Ursachen seiner Lage: „Wo liegt denn meine Vor allem wegen der betrieblichen Praktika Schuld? Was habe ich verbrochen? Womit habe außerhalb Tscheljabinsks hatten diese Studie- ich gegen das Heimatland gesündigt? All meine renden ständig Probleme, da eine Genehmigung Schuld liegt eigentlich nur in der Tatsache, dass für ein zeitweiliges Verlassen der Stadt stets von meine Eltern deutscher Nationalität waren...“114 den Launen des örtlichen Kommandanten ab- Nach dem Tod des Diktators Stalin im März hing. Viele Dozenten und Professoren brachten 1953 kam es bis Ende 1955 zu einer abgestuf- immerhin Verständnis für die Lage der deut- schen Jugendlichen auf, umso mehr, als diese genbericht von FRANZ HARDER, Leopolds- aufgrund der bedingten „natürlichen Auslese“ höhe, v. Februar 1998. Im privaten Archiv des überwiegend gute Leistungen zeigten: Wer mit Verfassers. Auszeichnung oder sehr guten Noten die Schu- 114 „Brief von W. Henning an den Vorsitzen- le absolviert hatte und sich allen Hindernissen den des Präsidiums des Obersten Sowjets der zum Trotz immatrikulieren ließ, lernte in der UdSSR, Nikolaj Schwernik, mit der Bitte um Regel sehr fl eißig.113 die Wiederherstellung der Rechte und um die Abmeldung von der Sondersiedlung“, 27. Au- gust 1952, in: Nemcy v Prikam’e. XX vek. Tom 111 Iz istorii nemcev Kazachstana. 1921-1975. 1. Archivnye dokumenty. Kniga 1. Perm’ 2006, Sbornik dokumentov. Almaty-Moskau 1997, S. S. 423-424. Die Bittschrift bewirkte nichts, und 176-177. Henning wurde erst zwei Jahre später, am 20. 112 Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsar- August 1954, im Zuge der allgemeinen Ab- mee (1996), S. 336. schaffung des Systems der Sondersiedlungen, 113 „Mein Studium nach dem Krieg“, ein Zeu- von der Kommandanturaufsicht befreit. 121 LMDR - Heimatbuch 2014 ten Aufh ebung der gravierendsten Einschrän- kalmückische Jugendliche in den Genuss zahl- kungen im Leben der Russlanddeutschen und reicher Fördermaßnahmen zur Weiterbildung anderer deportierter Völker. Allerdings leistete der einheimischen Intelligenzija und durft en der Staat gegenüber der deutschen Minderheit ohne Aufnahmeprüfungen die für sie reser- überhaupt keine materielle, kulturelle und mo- vierten Studienplätze in den führenden sowjeti- ralische Wiedergutmachung, wie es bei den an- schen Universitäten und Hochschulen belegen. deren ebenfalls betroff enen Nationalitäten der Ab 1964 diente die in der Hauptstadt Elista Fall war. wieder eröff nete Pädagogische Hochschule als So leitete etwa die Verordnung des Minis- „Schmiede“ der nationalen Kader; sie wurde terrates der RSFSR „Über die Hilfsmaßnahmen bereits 1970 zu einer klassischen Universität, für das Kalmückische autonome Gebiet in der der Kalmückischen Staatsuniversität, ausge- Region Stawropol“ vom 22. Februar 1957 ein baut und erweitert. Jährlich wurden Dutzende umfangreiches staatliches Wohnbauprogramm Promotions- und Habilitationsstipendien an für die Rückkehrer ein. Man überstellte 220 die Anwärter aus dieser Republik vergeben, die Traktoren und andere Technik für die neuen dann ihre Dissertationen nicht selten an Institu- Maschinen-Traktoren-Stationen und veranlass- ten der Akademie der Wissenschaft in Moskau te den Neubau von Schulen, Krankenhäusern, oder Leningrad anfertigten. Telefonstationen und anderen sozialen Einrich- Nicht von ungefähr lag der akademische tungen. Bildungsgrad der Kalmücken im Jahr 1989 mit Gleichzeitig sah diese Regierungsverordnung 145 pro 1.000 Personen im Alter ab 15 Jahren vor, in der Hauptstadt Elista das Lehrerinstitut wesentlich höher als bei den Deutschen (57), und das Kalmückische Wissenschaft liche Insti- obwohl vor dem Krieg das Verhältnis genau tut zur Erforschung ihrer Sprache, Literatur und spiegelverkehrt gewesen war. Siehe Tabellen 2 Geschichte neben einem Verlag und einer Dru- und 3. ckerei wieder herzustellen sowie ein professio- Die einzige Ausnahme, die der Staat der deut- nelles Ensemble für Volkslieder und Tänze zu schen Minderheit im akademischen Bereich zu- berufen. In einem weiteren Beschluss vom 2. gestand, war die Ausbildung von Lehrern für September 1957 waren neben der Fortsetzung das Schulfach Deutsch als Muttersprache. An zahlreicher sozioökonomischer Fördermaßnah- den Fakultäten für Fremdsprachen der pädago- men aus dem Haushalt der Russländischen Uni- gischen Hochschulen in Nowosibirsk, Barnaul, onsrepublik der Bau eines zentralen Museums Omsk, Orenburg, Koktschetaw und Alma-Ata und einer Republikbibliothek, die Eröff nung ei- etablierte sich bis Anfang der sechziger Jah- nes nationalen Dramentheaters und einer Mu- re ein Studiengang, mit dem solche Lehrer für sikschule geplant.115 Mittelschulen im Direkt- und Fernstudium Für die akademische Ausbildung der betrof- ausgebildet wurden. Pädagogische Fachschulen fenen Nationalität sorgte anfänglich die Ver- (russ. utschilischtsche) in Issilkul, Gebiet Omsk, gabe von Studienplätzen für verschiedene Bil- Slawgorod, Region Altai, Orenburg und Saran, dungsinstitutionen, schwerpunktmäßig in den Gebiet , bereiteten solche Lehrer für benachbarten Großstädten Stawropol und Ast- die Grundschule vor.116 rachan. Bis zum Ende der Sowjetunion kamen Die meisten Abiturienten kamen aus dem deutschsprachigen Milieu. Für viele Lehrer, die 115 Reabilitacija: kak eto bylo. Dokumenty berufstätig waren, war das Fernstudium oft die Prezidiuma CK KPSS i drugie materialy. Tom II. Fevral’ 1956 – načalo 80-ch godov. Moskau 116 HEINRICH ROEMMICH: Der mutter- 2003, S. 227-233, 286-292. Im Juli 1958 wurde sprachliche Unterricht für deutsche Kinder in das Kalmückische Gebiet zu einer Autonomen der Sowjetunion, in: HDR 1965, S. 26-36, hier Republik aufgewertet. S. 31-32. 122 LMDR - Heimatbuch 2014

Absolventen des dritten Jahrgangs der Fernabteilung „Deutsche Sprache“ der Fakultät für Fremdsprachen des Kasachischen Pädagogischen Instituts „Abaj“ in Alma-Ata, 1960. einzige Möglichkeit, das Hochschuldiplom zu dienplätze entbrannte deshalb ein regelrechter erwerben oder das durch den Krieg unterbro- Kampf, in dem die Deutschen aufgrund ihrer chene Studium zu beenden. gesellschaft spolitischen Minderstellung fast im- Sonst war der Weg zu einer höheren Ausbil- mer den Kürzeren zogen. dung sehr mühselig, vor allem in den nationa- Um die Aufnahmeprüfungen zu bestehen, len Republiken. Das Niveau der Dorfschule war mussten vor allem in der Breschnew-Zeit hor- in der Regel wesentlich niedriger als das in der rende Summen an Schmiergeldern gezahlt wer- Stadt, und die Deutschen konnten, im Gegen- den, was auf die in eiserner Sparsamkeit auf- satz zu ihren Altersgenossen aus den etablierten gewachsenen Eltern abschreckend wirkte. Und Völkern, nicht als Nationalkader ohne Aufnah- schließlich empfahl die ältere Generation, das meprüfungen immatrikuliert werden. bittere Schicksal vieler Intellektueller während Nach dem Krieg zeigte sich bereits, dass vor des „Großen Terrors“ 1937-38 und die eigenen allem ein akademischer Abschluss, verbunden Arbeitslagererfahrungen vor Augen, ihren Kin- mit der Parteimitgliedschaft , eine unabding- dern und Enkeln, praktisch-handwerkliche Be- bare Voraussetzung für den berufl ichen Auf- rufe zu erlernen. stieg oder eine Karriere im Partei-, Staats- oder Diese Umstände führten neben der latenten Wirtschaft sapparat war. Um die knappen Stu- Germanophobie dazu, dass Ende der achtzi-

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Tabelle 2. Akademikerquote ausge- 1 Die Angaben der Volkszählung 1939 sind wählter sowjeti scher Nati onalitäten, die Zahlen der Akademiker pro 1.000 Perso- Volkszählungen 1939 und 1989, nen der entsprechenden Nationalität, wäh- 1 pro 1.000 Personen rend bei der Volkszählung 1989 die Quote pro 1.000 Personen ab 15 Jahren errechnet wurde, so dass die beiden Kennzeichen nicht direkt vergleichbar sind, die Entwicklungstendenz aber genau widergegeben wird. Errechnet nach: Itogi Vsesojuznoj perepisi naselenija 1989 goda. Tom VII. Nacional’nyj sostav na- selenija. Čast’ 5. Minneapolis-Moskau 1993; Vsesojuznaja perepis‘ naselenija 1939 goda. Osnovnye itogi. Moskau 1992.

ger Jahre die Deutschen die geringste Akade- mikerquote im Vergleich nicht nur mit ihren nordkaukasischen Leidensgenossen aufwiesen. Besonders anschaulich wird diese gravierende intellektuelle Rückentwicklung im Kontrast zu anderen Völkern, wenn man die Ergebnisse des letzten Vorkriegszensus 1939 als Vergleich he- ranzieht (Tabelle 2). Regional gesehen, hatten deutsche Anwärter ab den 1970ern Jahren am wenigsten Schwie- rigkeiten, wenn sie sich an den provinziellen Hochschulen in Sibirien und im Ural mit tech- nischen, pädagogischen und landwirtschaft li- chen Studiengängen immatrikulieren wollten. Dagegen waren sie an den führenden Universi- täten in den Republikhauptstädten und in den europäischen Metropolen wie Moskau, Kiew, Riga oder Leningrad wie auch in den mili- tärrelevanten Fachrichtungen (Flugzeugbau, Kernphysik, Offi ziershochschulen u.ä.) oder an Bildungsanstalten, die mit dem Ausland zu tun hatten (Schiff fahrtsschulen, Institute für inter- nationale Beziehungen), kaum präsent. Noch bemerkenswerter war die Tendenz, dass der Anteil der Deutschen im Vergleich zu den etablierten Völkern umso geringer wurde, je anspruchsvoller und prestigeträchtiger der Bildungsweg oder der Beruf war. In Kasachstan stellten sie 1989 5,8 Prozent * Angaben bezogen auf das Gebiet der RSFSR der Bevölkerung, aber nur 8.364 oder 2,9 Pro- ** Angaben bezogen auf das Gebiet der Kasachi- zent aller an den kasachischen Hochschulen schen SSR, in der zu diesem Zeitpunkt nahezu eingeschriebenen Studenten. Unter den Pro- die Hälft e der Deutschen lebte.

124 LMDR - Heimatbuch 2014 movierten und Habilitierten in dieser Unions- Eine zusätzliche Hürde auf dem Weg der in- republik waren sie noch stärker unterrepräsen- tellektuellen Entwicklung stellte im Sowjetstaat tiert: 229 bzw. 1,5 Prozent von insgesamt 15.749 trotz der offi ziell propagierten Religionsfreiheit Trägern wissenschaft licher Grade.117 Unter den das religiöse Bekenntnis dar. Der Sowjetstaat 124 ordentlichen und korrespondierenden diskriminierte seine gläubigen Bürger massiv Mitgliedern der Akademie der Wissenschaft en und schloss sie faktisch von der akademischen (AdW) der Kasachischen Unionsrepublik, die Bildung aus, da laut der ideologischen Grund- 1945 gegründet wurde, befand sich 1988 nur sätze nur die aktiven Erbauer des Kommunis- ein einziger Deutscher, Prof. Dr. Ernst Boos (0,8 mus in den Genuss höherer Bildung kommen Prozent).118 durft en. Schließlich sollten die Besitzer eines akademischen Grades in Führungs- und verant- 117 Narodnoe chozjajstvo Kazachstana v 1988 wortungsvolle Positionen aufrücken und dort g. Statističeskij ežegodnik. Alma-Ata 1989, eine erzieherische und ideologische Vorbild- S. 150; ABSATTAROV R., SAMIKOV G.: funktion darstellen. Ein bekennender Gläubiger Nemeckoe naselenie Kazachstana i problemy hatte praktisch kaum eine Chance, an einer Uni- social’noj i nacional’noj spravedlivosti, in: versität oder einer Hochschule immatrikuliert Sovetskie nemcy: istorija i sovremennost’. Materialy Vsesojuznoj naučno-praktičeskoj zu werden, und der Anteil von Gläubigen war konferencii, Moskva, 15-16 nojabrja 1989 g. bei den Russlanddeutschen aus vielerlei Grün- Moskva 1990, S. 328-336, hier S. 332. den höher als bei den übrigen Sowjetbürgern. 118 Erstaunlicherweise sind von der Recht- Außerdem ging die Ablehnung der als feind- sprechung des Bundesverwaltungsamtes (BVA) lich, gottlos und insgesamt amoralisch angese- gerade die wenigen Deutsche betroffen, die henen Umwelt bei so manchen streng gläubigen sich trotz widriger Umstände im Studium, Eltern bisweilen so weit, dass sie ihren Kindern in der berufl ichen Karriere oder im Wis- den Besuch der Schule und des Kinos sowie das senschaftsbetrieb durchgesetzt haben. Das Lesen von „weltlichen“ Büchern verboten.119 Al- passierte auch Dr. Arwed Lutz (1936), der lerdings konnten sie angesichts des staatlichen nach der Deportation aus dem Nordkaukasus Bildungsmonopols keinen vergleichbaren Er- 1941 die Mittelschule im Gebiet Dschambul satz bieten, und so blieb manch einem begabten mit glänzenden Leistungen abschloss (bekam Jugendlichen eine weiterführende Ausbildung die Goldmedaille) und sich noch als Son- und ein vielversprechender Berufsweg ver- dersiedler ohne Aufnahmeprüfungen an der Kasachischen Pädagogischen Hochschule in wehrt. Alma-Ata immatrikulieren lassen konnte. Von Zum anderen billigte die Regierung den Kir- 1961 bis 1998 war er Mitarbeiter des Instituts chen anerkannter Titularvölker eine Reihe von der Chemischen Wissenschaften der AdW Ka- geistlichen Akademien, Priesterseminaren und sachstans und wurde dort 1970 zum Dr. chem. ähnlichen Ausbildungsstätten zu, die allerdings promoviert. Seine studentischen und wissen- nur eine begrenzte Zahl von Anwärtern aufneh- schaftlichen Leistungen interpretierte das BVA men durft en. Letztere mussten zudem über eine in einer Entscheidung aus dem Jahr 1996 als behördliche Erlaubnis verfügen. „enge Bindung an das gesellschaftliche und politische System der ehemaligen UdSSR, ohne die eine derart gehobene (sic!) berufl iche am 23. September 2009 in Alma-Ata, Kopien Stellung nicht zu erreichen“ gewesen wäre. diverser Dokumente im Besitz d. Verf. Dr. Lutz wurde die Anerkennung als Spätaus- 119 So z.B. aus einem Inspektionsbericht über siedler verwehrt, obwohl die Generalstaats- deutsche, tschetschenische und inguschische anwaltschaft der Republik Kasachstan ihn als Sondersiedler im Gebiet Koktschetaw, 15. De- Verfolgten wegen seiner deutschen Nationalität zember 1952, in: Iz istorii nemcev Kazachsta- in einer Entscheidung vom 29. Mai 1995 reha- na. 1921-1975. Sbornik dokumentov. Almaty- bilitiert hatte: Interview des Verf. mit A. Lutz Moskau 1997, S. 184-187, hier S. 186. 125 LMDR - Heimatbuch 2014

rnst Boos (1931), bekannter Physiker, Mitglied der Akade- mie der Wissenschaft en der Republik Kasachstan, wurde in Edem kleinen luth. Dorf Kir-Itschki auf der Krim geboren. Seine Mutt er starb während der Geburt, und Ernst Boos wurde fakti sch von seiner Tante, einer Lehrerin, erzogen. Die Familie zog Mitt e der 1930er Jahre nach Moskau. Der Vater heiratete erneut, wurde nach Kriegsausbruch verhaft et und später erschossen. Im Herbst 1941 wurde Ernst Boss mit seiner Tante, wie alle Deutschen, aus Moskau nach Südkasachstan, in einen entlegenen Aul des Gebietes Ksyl-Orda deporti ert. 1943 gelang es den beiden, in das Rayonszentrum Kasalinsk zu ziehen, wo die Tante wegen des herrschenden Lehrermangels in ihrem Beruf arbeiten durft e. Dort ging der künft ige Wissenschaft ler in die kasachische Schu- le, die er 1949 mit ausgezeichneten Noten absolvierte. Doch die Ernst Boos Goldmedaille und somit das Recht, ohne Prüfungen an einer be- liebigen Hochschule des Landes immatrikuliert zu werden, wurde ihm als Sondersiedler verwehrt. Nur mit größter Mühe konnte er die Genehmigung erhalten, in die Republikmetropole Alma-Ata zu ziehen, wo er studieren wollte. Als Ausnahme durft e Boos dank seines außergewöhnlichen Wissens als deutscher Sonder- siedler an der Mathemati sch-Physikalischen Fakultät der Kasachischen Staatsuniversität stu- dieren, die er 1954 glänzend mit einem roten Diplom absolvierte. Wegen seiner Nati onalität verwehrte man ihm jedoch den Eintritt in die Aspirantur (Promoti onsstelle), die ihm als Bes- tem seines Jahrgangs zustand, und besti mmte ihn zum Lehrer einer Dorfschule. Es gelang ihm dennoch, an der Universität zu bleiben und Jahre später (1961) zu promovieren. Am Insti tut für Kernforschung in Dubna unweit von Moskau verteidigte er 1975 erfolgreich seine Habilita- ti onsarbeit; einige Jahre später wurde ihm der Professorenti tel zuerkannt. Mehrere Jahre leitete Ernst Boos das Insti tut für Hochenergiephysik der AdW und wurde noch zu Sowjetzeiten 1983 als erster Deutscher zum korrespondierenden Mitglied der Akade- mie gewählt. 2000 wurde er zum vollständigen Mitglied gewählt. Prof. Ernst Boos ist Verfasser und (Mit-)Autor von mehreren Monographien und über 400 Aufsätzen. Erfolgreich betreute er 13 Doktor- und drei Habilitati onsarbeiten. Er gilt als Begrün- der des Internets in Kasachstan und arbeitet eng mit Kollegen aus Deutschland (Deutsches Elektronen-Synchrotron DESY in Hamburg) zusammen. Seit 1990 ist er Vorsitzender der „Wis- senschaft lichen Vereinigung der Deutschen Kasachstans“, bündelt die Akti vitäten der verblie- benen Forscher und fördert verti eft e Kontakte zu deutschsprachigen Ländern. Alle zwei Jahre werden unter seinem Vorsitz interdisziplinäre Tagungen der Vereinigung veranstaltet; bislang sind sieben Sammelbände mit den Ergebnissen der Konferenzen erschienen. Literatur: ERNST BOOS: „Ungeachtet aller Schwierigkeiten habe ich mich selbst verwirk- licht“, in: Deutsche Allgemeine Zeitung (Almaty) v. 12. August 2011; TOKMOLDIN S.: Ernst Gerbertovič Boos (k 80-leti ju so dnja roždenija), in: Chabaršasy–Vestnik NAN Respubliki Ka- zachstan (Almaty) 4/2011, S. 66-68; Ernst Gerbertovič Boos. Materialy k biobibliografi i učenych Kazachstana. – Materials for biobibliographies of the ’s scienti sts. Almaty 2001, v.a. S. 7-31; Interview d. Verf. mit Ernst Boos in Almaty am 1. Oktober 2009.

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Für die deutschen katholischen oder lutheri- in mehreren, größtenteils aus deutschen Katho- schen Kirchengemeinden wie auch für die Bru- liken bestehenden Gemeinden in Kasachstan, dergemeinden der Mennoniten, Baptisten und an der Wolga (in Marx, ehem. Katharinenstadt) Anhänger anderer Glaubensrichtungen war die und in Nowosibirsk.120 Situation wesentlich schlimmer, weil sie im Ge- Für die vor 1917 oder in der Zwischenkriegs- gensatz zur Zarenzeit keine Möglichkeit hatten, zeit ausgebildeten Th eologen bedeuteten die Zä- eine theologische Ausbildung an der Universität sur des Jahres 1929 mit der Annahme der Ver- Dorpat bzw. am katholischen Priesterseminar in ordnung „Über die religiösen Vereinigungen“ Saratow zu erhalten oder an Bibelkursen, Missi- am 8. April, die eine systematische Verfolgung onslehrgängen und theologischen Seminaren im der Geistlichen und eine verstärkte Diskrimi- Ausland teilzunehmen. In dieser Hinsicht hatte nierung der Gläubigen einleitete, vor allem aber der Sowjetstaat bereits Anfang der 1930er Jahre das Schicksalsjahr 1941 eine einschneidende strikt verboten, irgendwelche Ausbildungsstät- gesellschaft liche und berufl iche Degradie- ten für deutsche Geistliche zu errichten oder sie rung. Einige überlebende Prediger und Pfarrer im Ausland studieren zu lassen. Die wenigen stellten sich trotz schwerer Entbehrungen und Fälle gläubiger Akademiker unter ihnen gingen permanenter Anfeindungen in den Dienst der auf den Umstand zurück, dass sie sich entweder langsam entstehenden evangelisch-lutherischen erst nach dem Studium bekehrten oder im inne- und freikirchlichen (mennonitischen, baptisti- ren Zwiespalt nach außen den durch und durch schen, adventistischen...) Gemeinden. konformen Jugendlichen gaben. Einer von ihnen war Johannes Fast, der die Nur vereinzelt konnten Deutsche aus Sibiri- Bibelschule der Pilgermission St. Chrischona in en oder Zentralasien an einem russischen Bap- der Schweiz nach einigen Studienjahren 1913 tistenkurs in Moskau teilnehmen oder an einem absolvierte. Anschließend diente er als Prediger Priesterseminar in den baltischen Republiken in der Mennoniten-Brüdergemeinde Alexan- studieren. dertal im Gouvernement bzw. Gebiet Samara. Zu diesen wenigen gehörte Joseph Werth, Im Jahr 1931 wurden er und seine Familie in Diözesanbischof des Bistums Nowosibirsk und den Fernen Osten verbannt. Erst 1954 durft e 2005 bis 2011 Vorsitzender der Katholischen Fast nach Temir-Tau, Kasachstan, ziehen, wo Bischofskonferenz in Russland. Er wurde 1952 er als Reiseprediger viele Jahre mit großem per- in Karaganda, in der „heimlichen Hauptstadt sönlichem Einsatz und trotz schwerer gesund- der Katholiken in der Sowjetunion“, in einer tief heitlicher Probleme unter den versprengten gläubigen Familie geboren. Sein wolgadeutscher deutschen Brüdergemeinden wirkte. Nach 1970 Vater Johannes Werth und die Mutter Maria begann er, seine Predigten niederzuschreiben, aus dem Dorf Speyer bei Odessa waren bereits die dann handschrift lich vervielfältigt und spä- in den dreißiger Jahren aus ihren Heimatorten ter in Deutschland gedruckt wurden.121 nach Zentralkasachstan verbannt worden. Die sowjetischen Religionsforscher beschei- Seit früher Kindheit träumte er vom Priester- nigten den protestantischen Gläubigen einen beruf und trat 1975 im Untergrund der Gesell- 120 NINA PAULSEN: Mutiger Weg des Ge- schaft Jesu (Jesuiten) bei. Erst nach zähem Rin- wissens. Bischof Joseph Werth: Den Menschen gen mit Behörden um die Zulassung durft e er neue Hoffnung durch den Glauben geben, in: 1979 in das Priesterseminar in Litauen HDR 2007/2008. Stuttgart o.J., S. 130-161. aufgenommen werden, einem von nur zwei An- Das zweite Priesterseminar befand sich in stalten in der einstigen Sowjetunion, die katho- Riga. lische Geistliche ausbildeten. Nach fünfj ährigem 121 Aus: Vorübergehende Heimat. 150 Jahre Studium in litauischer Sprache (sic) empfi ng er Beten und Arbeiten in Samara (Alexandertal die Priesterweihe und arbeitete dann als Pfarrer und Konstantinowka). Hrsg. v. VIKTOR FAST. Steinhagen 2009, S. 606-609. 127 LMDR - Heimatbuch 2014 sehr niedrigen Bildungsgrad: 79 Prozent der So hatte die sowjetische Sozial- und Nationa- Mitglieder der mennonitischen und baptisti- litätenpolitik eine der gebildetsten, loyalsten und schen Gemeinden – wobei letztere größten- wirtschaft lich innovativsten Bevölkerungsgrup- teils ebenfalls mennonitischer Herkunft waren pen des Zarenreichs „erfolgreich“ gesellschaft - – wurden zum Beispiel in Kirgisien Ende der lich ausgegrenzt und ihre Bildungsregression 1960er Jahre als Analphabeten und Halban- verursacht. Diese randständige Rolle setzte sich alphabeten geführt. Andere besuchten nur die bei nicht wenigen Mitgliedern der freikirchli- siebenklassige (unvollendete) Mittelschule, und chen Gemeinden auch nach der Übersiedlung nur 1,9 Prozent absolvierten eine Mittel-, Fach- in die Bundesrepublik fort. oder Hochschule.122 Diese Werte lagen deutlich Die 1985 eingeleitete Reformpolitik und niedriger als etwa bei der kirgisischen Titular- spürbare Demokratisierung der sowjetischen bevölkerung. Dabei wiesen die erst in der Zwi- Gesellschaft und vor allem der Zusammen- schenkriegszeit sesshaft gewordenen Nomaden bruch des real existierenden Sozialismus haben vor den 1930er Jahren keine nennenswerte Zahl – zumindest in der Russländischen Föderation lese- und schreibkundiger Personen auf. – viele Hürden auf dem Weg der intellektuellen Ein anderer Forscher schrieb fern jeglicher und berufl ichen Entwicklung der deutschen Ironie, dass nur „dank der uneigennützigen Minderheit beseitigt. und freigebigen Hilfe der russischen und an- Das wohl spektakulärste Beispiel Andrej Heim deren Landsleute“ die Mennoniten in der Sow- (Andre Geim), Nobelpreisträger für Physik des jetunion „bald ihre kulturelle Rückständigkeit Jahres 2010, zeigt die bestehenden Diskriminie- überwanden“.123 rungen in der vormaligen Sowjetunion, aber auch die unverkennbaren Normalisierungsten- 122 Siehe z.B. BELIMOV A.: Kritika fi losofs- denzen und neue Möglichkeiten, welche die Pe- kich i social’no-etičeskich koncepcij ideologii restrojka und die postsowjetische Zeit mit sich baptizma i mennonitstva (na materialach brachten. Diese und ähnliche Höchstleistungen Kirgizskoj SSR). Avtoref. kand. diss. Taschkent hätte es bestimmt schon früher gegeben, wäre 1972, S. 16. die massive Degradierung der Deutschen nach 123 IPATOW A.: Wer sind die Mennoniten? 1941 ausgeblieben. Alma-Ata 1977, S. 89.

Johannes Fast (1886-1981) mit seiner ersten Frau Agathe um 1913 und 40 Jahre später in der Verbannung mit seiner zweiten Frau Wilhelmine und Tochter Lili.

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ndrej Geim (eigentlich „Heim“, geb. 1958), bekannter Phy- siker, der 2010 für seine bahnbrechenden Forschungen an AGraphen zusammen mit Konstanti n Nowoselow den No- belpreis für Physik erhielt. Er besitzt die briti sche und niederlän- dische Staatsangehörigkeit. Sein Vater Konstanti n Heim (1910-1998) wuchs als Sohn des Schulmeisters Alois (Alexander) Heim in der wolgadeutschen An- siedlung Kamenka auf, studierte Physik und war in den 1930er Jah- ren Lektor an der Deutschen Landwirtschaft lichen Hochschule in Engels und Dozent an der Saratower Universität. Er wurde 1941 aus Saratow deporti ert und musste Zwangsarbeit im Gebiet Mo- lotow (Perm) beim Bau eines Wasserkraft werkes leisten. Als Son- Andrej Geim dersiedler arbeitete er später in einem Elektrowerk in Nowosibirsk und heiratete dort Nina Beier aus der Ukraine, die ebenfalls ein naturwissenschaft liches Fach studiert hatt e. Konstanti n Heim war von 1964 bis zu seiner Pen- sionierung als leitender Ingenieur im größten Betrieb von Naltschik, Nordkaukasus, im Elektro- vakuumwerk täti g. Die Leidenschaft für Physik haben die beiden Söhne Walter, der längere Zeit als Ingenieur im gleichen Werk arbeitete, und Andrej sicherlich von ihren Eltern geerbt. Andrej Geim besuchte in Naltschik die Schule mit verti eft em Englischunterricht, belegte zusätzlich Kurse in Mathemati k und Physik und erlangte die Hochschulreife mit besten No- ten (Goldmedaille). Trotz des ausgezeichneten Abschlusses gelang es ihm wegen seiner deut- schen Herkunft jedoch in zwei Anläufen nicht, in der Elite-Ausbildungsanstalt, dem Moskauer Ingenieur-Physischen Insti tut, immatrikuliert zu werden. Ein Jahr arbeitete er im heimischen Naltschik als Schlosser. Zusätzlich mit einem positi ven Betriebszeugnis ausgestatt et, hatt e An- drej Geim letztendlich mehr Glück und konnte sich am renommierten Moskauer Physik-Tech- nischen Insti tut (MFTI) einschreiben. Nach dem glänzenden Abschluss seines Studiums 1982 wurde er in das Insti tut für Festkörperphysik der AdW der UdSSR aufgenommen und 1987 dort auch promoviert. 1990 nutzte Geim die sich auft uende Gelegenheit und ging mit einem Sti pendium an die Universität Notti ngham, England. Weitere Stati onen seiner wissenschaft lichen Laufb ahn wa- ren Universitäten in Bath und Kopenhagen, bevor er 1994 zur Radboud-Universität Nijmegen in den NIederlanden wechselte. Seit 2001 lehrt und forscht er an der Universität Manchester. Seine Eltern und die Familie des Bruders Walter leben seit 1997 im sächsischen Coswig. 2009 bekam Andrej Geim den hoch doti erten Körber-Preis. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk unterstrich der Nobelpreisträger: „Zum ersten Mal wurde ich Russe genannt, als ich nach England kam. Meine Eltern sind Deutsche, mein Name ist deutsch, ich habe deut- sche Vorfahren, und bis zum Alter von sechs oder sieben war Deutsch meine Mutt ersprache; heute beherrsche ich es nicht mehr. Ich betrachte mich als Globetrott er.“ Literatur: FIC A. ALEXANDER FITZ: Raduemsja za Andreja i mečtaem o vnukach, in: Russ- kaja Germanija (Berlin) Nr. 42 v. 25. Oktober 2010, Interview mit Walter Heim (letzter Abruf am 6.8.2012) htt p://www.rg-rb.de/index.php?opti on=com_rg&task=item&id=2402; KLAUS HERBST: Die Entdecker des Wunderstoff s. Ein Porträt der Physik-Nobelpreisträger Andre Geim und Konstanti n Novoselov, 5. Oktober 2010 (letzter Abruf am 3.7.2012) htt p://www.dradio.de/ dlf/sendungen/forschak/1289148/

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Die eigenhändig geschriebene Biographie des Nobelpreisträgers für Physik 2010, Andrej Geim, bei der Bewerbung um einen Studienplatz, 1976.

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Das Schicksal des Bauernjungen Wilhelm Gewiss stellt sich auch die Frage, ob die Hergert, der 1933 bis 1939 gerade als Wolga- jüngste Generation, die die Hochschulreife und deutscher an der Moskauer Universität studie- das Diplom bereits in der postkommunistischen ren durft e, ist nur ein Beispiel der weitgehend Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion erlangt ungenutzt gebliebenen intellektuellen Potenzia- hat, im Vergleich zu anderen Nationalitäten im- le dieser Minderheit. Dank sehr guter Studien- mer noch benachteiligt ist. Zu diesem Zweck noten und wissenschaft licher Neigung wurde haben wir genau die akademische Bildung in ihm nach der Verteidigung des Diploms eine der Altersgruppe der 25-29jährigen analysiert Aspirantur-Stelle bei dem bekannten sowjeti- (Tabelle 3). schen Chemiker Alexander Nesmejanow, Prä- Positiv fällt dabei auf, dass die Akademi- sident der Akademie der Wissenschaft en der kerquote der deutschen Jugend in den Städten UdSSR in den Jahren 1951 bis 1961, in Aussicht (212,5 auf 1.000 Personen) nur geringfügig un- gestellt. Doch dann kamen die Einberufung zum ter dem Landesdurchschnitt für diese Altersko- Militärdienst, der Krieg und, obwohl bereits Of- horte liegt (244,2). Allerdings signalisiert die ex- fi zier, die Abschiebung in ein Arbeitslager im trem niedrige Zahl von Hochschulabsolventen Gebiet Molotow (Perm) sowie im Anschluss der unter der ländlichen Bevölkerung (62,9), dass erniedrigende Status eines Sondersiedlers. Trotz diese Deutschen von der allgemeinen Entwick- dieser widrigen Umstände erwarb sich Wilhelm lung kaum profi tiert haben. Bei keiner anderen Hergert später als Bauleiter zahlreicher Wasser- russländischen Ethnie ist das Stadt-Land-Gefäl- kraft werke in der Uralregion große Verdiens- le so ausgeprägt – hier um das 3,4-fache - wie te.124 bei der deutschen Minderheit. Trotz aller unbestrittenen Fortschritte, die in Im Vergleich dazu schneiden die ländlichen Russland seit 1991 hinsichtlich der Überwin- Einwohner der Titularnationalitäten mit eige- dung der sowjetischen Hinterlassenschaft en nem Territorium auch im heutigen Russland gemacht wurden, bleiben auch im ethnischen wesentlich besser ab. Lediglich die Alterskohor- Bereich gravierende Unterschiede bei der Par- te der Tschetschenen, die sich in den 1990ern tizipation an gesellschaft lichen Entwicklungen faktisch im Kriegszustand befanden, weist eine bestehen. Die Volkszählung von 2002 in der ähnlich niedrige absolute Kennziff er auf. Russländischen Föderation zeigte, dass die ge- Auch die Quote der Höchstqualifi zierten genwärtige Akademikerquote der deutschen unter den Deutschen ist im Vergleich zu den Minderheit (105 Hochschulabsolventen auf meisten anerkannten Völkern relativ niedrig. 1.000 Personen im Alter von 15 Jahren und äl- Dieser Umstand ist vor allem auf die fehlen- ter) noch wesentlich unter dem Landesdurch- de autonome Republik mit ihren Institutionen schnitt (160) liegt, was eine unmittelbare Folge zurückzuführen. Dazu gehören etwa nationale der jahrzehntelangen direkten und indirekten Akademien der Wissenschaft en, geistes- und Diskriminierungen ist. naturwissenschaft liche Forschungseinrichtun- Sicher hätte so manche langfristige Entschei- gen, Museen, Bibliotheken oder Hochschulen, dung zur dauerhaft en Förderung der Fach- und die eine starke Nachfrage nach promovierten Hochschulbildung der Russlanddeutschen, zum bzw. habilitierten deutschkundigen Experten Beispiel die Gründung einer deutsch-russischen verschiedener Fachbereiche verursacht hätten. Universität oder von Stift ungen, die zielgerich- Wenn auch die erste Generation der Russ- tet Stipendien zum Studium im In- und Ausland landdeutschen in der Bundesrepublik berufl i- vergeben, für sie bessere statistische Ergebnisse che und sprachliche Anpassungsprobleme hatte, im Bildungsbereich zur Folge. so nutzt die zweite, hier in Deutschland aufge- wachsene Generation die vielfältigen Bildungs- 124 GERGERT V.: Mečta i grešnaja zemlja. und Berufsangebote praktisch im gleichen Dokumental’noe vospominanie. Perm 1994. 131 LMDR - Heimatbuch 2014

Tabelle 3. Akademikerquote pro 1.000 Personen im Alter von 25-29 Jahren am Beispiel ausgewählter russländischer Nati onalitäten, Volkszählung 2002*

* Errechnet nach: Gesamtrussländische Volkszählung 2002. Band 4. Nationale Zusammensetzung, Sprachenbeherrschung und Staatsangehörigkeit. Tab. 10: Einzelne Nationalitäten nach Altersgrup- pen, Geschlecht und Bildungsstand (letzter Abruf am 6. November 2013): http://www.perepis2002. ru/ct/doc/TOM_04_2_03.xls Unter „Höchstqualifi zierten“ verstehen die Organisatoren der Volks- zählung Personen, die ein Promotions- bzw. Habilitations- oder ähnliches akademisches Qualifi kati- onsverfahren durchlaufen haben, um den Grad eines Kandidaten oder Doktors der Wissenschaft en zu erlangen.

Maße wie ihre alteingesessenen Altersgenossen, Diese Tatsache ist eine der wichtigsten Vor- was in erster Linie auf eine kontinuierliche Bil- aussetzungen für eine erfolgreiche Integration dungstradition zurückzuführen ist – trotz der der russlanddeutschen Aussiedler in die deut- jahrzehntelangen Unterdrückung und Diskri- sche Aufnahmegesellschaft , die sicherlich nur minierung.125 eine Frage der Zeit ist. Man kann nur erahnen, welche tatsächlich vorhandenen, aber noch 125 Das ist eine der Kernbotschaften der weitgehend ungenutzten intellektuellen Poten- bahnbrechenden Studie des Berlin-Instituts für ziale der Millionen russlanddeutschen Bundes- Bevölkerung und Entwicklung: Ungenutzte Po- bürger in nicht allzu ferner Zukunft freigesetzt tenziale. Zur Lage der Integration in Deutsch- werden können. land. Berlin 2009, v.a. S. 34-35.

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