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11. »Sometimes I Live in the Country, Sometimes I Live in Town« Von Folklore zu Folk

Katrin Horn

»Sometimes I live in the country / Sometimes I live in town« ist eine Text­ zeile aus dem Song »Goodnight, Irene«, der wie kaum ein anderer mit der Geschichte und Entwicklung der US-amerikanischen Folk-Tradition verbunden ist. 1933 wurde »Goodnight, Irene« von Hudson »Huddie« William Ledbetter (1989-1949), besser bekannt als Lead Belly,1 gesungen und vom Musikforscher und -Sammler Alan Lomax (1915-2002) aufge­ zeichnet, als Lomax in ländlichen Gefängnissen mit hauptsächlich afro­ amerikanischen Insassen nach nicht durch kommerzielle Musik verun­ reinigtem Stimmen und Liedern suchte. Als weitverbreitetes Volkslied ohne bekannten Autor, jedoch Stil prägend vorgetragen von einem Blu­ esmusiker und aufgezeichnet von einem Forscher auf der Suche nach den Wurzeln US-amerikanischer Musik, vereinigt »Goodnight, Irene« viele der charakteristischen Merkmale von Folk Music2 in sich: anonyme Au­ torschaft mit Wurzeln in angelsächsischer Tradition, Einflüsse von Ins- trumentierungs- und Aufführungspraktiken aus unterschiedlichen Kul­

1 Häufig auch »Leadbelly«. Die hier verwendete Schreibweise orientiert sich an der von Lead Belly selbst bevorzugten Schreibweise sowie an den Veröffentlichungen der Folkways-Reihe des Smithsonian Institute. 2 Im Englischen bezeichnet »folk« sowohl die Volksliedtradition als auch moder­ ne, neu komponierte und kommerziell vertriebene Musik, die auf diese zurückgeht und zumeist in der Singer-Songwriter-Tradition von , Joni Mitchell und anderen steht. Um in der deutschen Übersetzung klarer zu unterscheiden, wird mit Folk im Folgenden nur letzteres bezeichnet, während die eigentliche »Volkstra­ dition« als Folklore bezeichnet wird. 272 Katrin Horn

turkreisen und erstmalige Verschriftlichung und Aufzeichnung in einem eher ethnografischen als kommerziellen Kontext. Trotz des ländlichen Hintergrunds ist »Goodnight, Irene« allerdings kein Phänomen, das nur »in the country« stattfand. Sinnbildlich für die urbane Aneignung der Folkloretradition insgesamt steht die Coverversi­ on der Band The Weavers, die 1950 mit dem Song einen Nummer-eins- Hit landeten. Ihre nachfolgende Karriere war nur von kurzer Dauer, da sie im Zuge der »Red Scare« der 1950er Jahre aufgrund ihrer Nähe zu kommunistischen Gruppen teilweise vor dem House Committee on Un- American Activities (HUAC) erscheinen mussten und im Anschluss auf die Schwarze Liste gesetzt wurden. Die Weavers repräsentieren somit bei­ de gegenläufigen Entwicklungen des Genres während des Folk Revivals nach dem Zweiten Weltkrieg: Politisierung in der Tradition von (1912-1967) zum einen und Kommerzialisierung zum anderen. Bestes Beispiel für letztere war das Kingston Trio, welches 1958 mit seiner Version eines weiteren Volksliedes, »Tom Dooley«, Platz 1 der Pop-Charts erreichte. »Tom Dooley« gehört zu den in der angelsächsischen Balladen­ tradition verbreiteten Murder Ballads und fällt somit schon textlich aus der Reihe der Liebeslieder, die, wie Conway Twittys »It s Only Make Belie- ve«, die 1958er Pop-Charts ansonsten prägten. Auch »Goodnight, Irene« enthielt selbst in der durch die Weavers von Referenzen auf Drogenmiss­ brauch befreiten Version noch sperrige und Charts-untypische Textzeilen wie »Sometimes I have a great notion / To jump into the river and drown«. Nichtsdestotrotz wurde der Song in der Folge wiederholt von so unter­ schiedlichen Sängerinnen und Sängern wie Frank Sinatra, Johnny Cash und Dusty Springfield interpretiert. Der Erfolg des Kingston Trios und der Weavers mit diesen Volkslied­ adaptionen läutete das Urban Folk Revival ein, welches Ende der 1950er Jahre den Gegenpol zum Rock’n’Roll darstellte, respektive an seine Erfolge anknüpfte, insofern die Fans aus ähnlichen sozialen Schichten stammten: junge Angehörige der urbanen Mittelklasse mit zumeist europäischen und angelsächsischen Wurzeln. Mit akustischen Instrumenten - allen voran Banjo und Gitarre, jedoch auch typischen Instrumenten der Appalachen3

3 Ein Gebirgszug im Osten der USA, der sich in Nord-Süd-Richtung über mehrere Staaten erstreckt und aufgrund seiner frühen Besiedlung in Verbindung mit relati­ ver Abgeschiedenheit von urbanen Zentren als besonders interessant für als typisch US-amerikanisch wahrgenommene kulturelle Formen gilt. Von Folklore zu Folk 273

wie Autoharp und Dulcimer - und sperrigen, teils politischen, teils auf tradierten Balladen basierten Texten wurde Folk, verkörpert insbesondere von Bob Dylan (geb. 1941) und (geb. 1941), zum Soundtrack so­ wohl eines neuen Lebensgefühls als auch zahlreicher Protestbewegungen wie des Civil Rights Movements und der Anti-Kriegs- sowie Anti-Atom­ demonstrationen. Explizit nicht als Tanzmusik, sondern als Medium mit ernstem Anspruch und häufig sozio-politischer Aussage positioniert, war Folk auf Festivals und Kundgebungen eher zu Hause als in Bars und Clubs. Entsprechend unterscheidet sich die vokale Gestaltung von Folk von der ihr in Instrumentierung (Gitarre, Geige) und geografischen wie sozialem Ursprung nahestehenden Country Music. Zwar teilen Folk und Coun- try die klare Artikulation der Texte, anders als Country ist Folk jedoch einerseits geprägt von hellen, klaren Stimmen - gerade bei weiblichen Stars -, die von der unbegleiteten Balladentradition der Appalachen (01- son 2011:106) zeugen, sowie andererseits von Songs mit narrativem und politischem Fokus, welcher sich in einer eher deklamierenden als emotio­ nal expressiven vokalen Gestaltung niederschlägt.

Roots of Roots Music: Folklore im Folk

Folk Music - genauer definiert von Kip Lornell (2012:82) als »Anglo- American secular « - wird häufig (zusammen mit Country Mu­ sic) auch als »roots music« bezeichnet. Beide Begriffe, »folk« ebenso wie »root«, unterstreichen den vermeintlich >ursprünglichen<, volksnahen Charakter des Genres und die Abtrennung von kommerziellen musikali­ schen Strukturen beziehungsweise die enge Bindung an distinkt US-ame­ rikanische Traditionen. Für Bill C. Malone (2004:114) liegt der Reiz dieser Musik darin, dass sie gleichzeitig »die Wurzeln, aus denen sich unsere Kultur entwickelt hat« repräsentiert und eine Alternative darstellt zu »an­ deren, mutmaßlich seelenlosen Musikstilen«.4 Die Wurzeln dieser Vorstel­ lung von Roots Music liegen im aufkeimenden volkskundlichen Interesse an der Kultur der USA um 1900. Sogenannte »song collectors« begannen Musik zu sammeln, welche sich - so ihre Überzeugung - in entlegenen

4 » simultaneously suggests the roots from which our culture evolved and Stands as an alternative to other presumably soulless musical styles that have become dominant in populär culture« (Malone 2004:114). 274 Katrin Horn

ländlichen Gegenden, vorwiegend den Appalachen, unberührt von popu­ lären Einflüssen entwickelt beziehungsweise erhalten hatte und so Aus­ kunft geben konnte über die Ursprünge US-amerikanischer Kultur. Der Ansporn zur Sammlung solcher Lieder (zunächst lediglich als Liedtext ohne Notation der Melodie) lag meist in der Angst begründet, dieses kul­ turelle Erbe würde im Zuge der Verbreitung populärer Musik in Verges­ senheit geraten. Die Voreingenommenheit der frühen Liedsammler und -Sammlerinnen führte jedoch dazu, dass bis in die 1930er Jahre nur solche Musik als Folklore anerkannt und gesammelt wurde, welche sich auf die englische Balladentradition vor dem 19. Jahrhundert zurückführen ließ. Sowohl afroamerikanische als auch indigene Einflüsse und Ausrichtun­ gen (beispielsweise Spirituals) sowie sperrige oder anstößige Elemente in angloamerikanischen Balladen (wie sexuelle Anspielungen) oder >jüngere< Folklore (wie die Cowboy-Songs, die sich im Westen der USA tradierten), wurden aus dem um 1910 entstehenden Kanon ausgegrenzt. Maßgeb­ lich geformt wurde dieser eng gefasste Kanon von Francis James Child (1825-1896), Professor für Englisch an der Harvard University, und dem englischen Sammler Cecil James Sharp (1859-1924). Childs Sammlung, die 305 Lieder umfasst, wurde so einflussreich, dass bis heute Balladen der englischen und schottischen Tradition nach seiner Unterteilung und Nummerierung benannt werden (beispielsweise »Geordie«, Child 209; in­ terpretiert u.a. von Joan Baez). sammelte zwischen 1916 und 1918 Folklore in den Appalachen, konzentrierte sich jedoch stark auf den >Nachweis< der Verbreitung von Child-Balladen (Filene 2000:21), was sich auch im Titel seines daraus entstandenen Buches niederschlägt: English Folk Songs from the Southern Appalachians. 1910 unternahm John A. Lo- max (1867-1948) einen ersten, zunächst erfolglosen Versuch, den Kanon aufzubrechen. Er veröffentlichte Cowboy Songs and Other Frontier Ballads:

mostly drawn from scrapbooks, newspapers, and the responses he had re- ceived from the thousand circulars he had mailed. [...] In contrast to Child and Sharp [...] Lomax pointed toward a recent, indigenously American vernacular-music tradition. (Filene 2000:32-33)5

5 Für eine nähere Auseinandersetzung mit der Segregation von Folklore im Zuge der Sammlung und Kommerzialisierung des Genres siehe Karl Hagstrom Millers Segregating Sound> in dem er anschaulich nachzeichnet, wie die Musik des Südens bis 1920 - wie er es ausdrückt - »developed a color line« (2010:2): »Through a pro- Von Folklore zu Folk 275

Ein weiterer wichtiger Unterschied zu seinen Vorgängern war Lomax’ Praxis, unterschiedliche Varianten desselben Songs miteinander zu kom­ binieren, statt die diversen Versionen in ihrer Vielfalt zu erhalten. Dar­ über hinaus begann Lomax bei späteren Reisen durch die USA, die von ihm gesammelten Lieder nicht nur niederzuschreiben, sondern auch auf­ zunehmen und so neben den Texten auch Melodie und Vortragsweise zu erhalten. Alle drei Aspekte standen mit einem geänderten Anspruch in Verbindung: Anders als Child und Sharp ging es Lomax und seinen Nach­ folgern und Nachfolgerinnen nicht mehr ausschließlich um die Konser­ vierung eines schwindenden kulturellen Erbes in rein wissenschaftlichen Kontexten, sondern darum, diese Musik über ihre Erhaltung hinaus einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Aufnahme von Songs statt ihrer Niederschrift führte zu einer weiteren Neuerung innerhalb der Folklore-Sammlung und der daraus entstehenden Folk Music, nämlich der Herausbildung von Stars:

In a pioneering move, the Lomaxes began to promote not just the songs they gathered but the singers who sang them. In doing so they produced a web of criteria for determining what a »true« folk singer looked and sound- ed like and a set of assumptions about the importance of being a »true« folk singer. In short, they created a »cult of authenticity,« a thicket of expecta- tions and valuations that American roots musicians and their audiences have been negotiating ever since. (Filene 2000:49, Herv. i. O.)

Das beste Beispiel hierfür war der 1933 von John und Alan Lomax in ei­ nem Gefängnis >entdeckte< Lead Belly - eine der wichtigsten Figuren der US-amerikanischen Folk-Bewegung -, der nach seiner Freilassung dem Publikum in New York einerseits stark exotisiert (seine ländliche, ver­ meintlich ungebildete und >rohe< Authentizität unterstreichend) darge­ stellt wurde, gleichzeitig jedoch fest in ein modernes Musikvermarktungs­ system eingebunden war. Neben dem Vater-Sohn-Gespann John und Alan Lomax trugen auch andere entscheidend zum Umbruch von der Katalogisierung hin zur Po­ pularisierung von Folklore bei. 1927 veröffentlichte beispielsweise Carl Sandburg (1878-1967) American Songbag: 280 Lieder in der Folkloretradi­

cess I call segregating sound, a variety of people - scholars and artists, industrialists and consumers - came to compartmentalize Southern music according to race« (ebd.). 276 Katrin Horn

tion, aufbereitet mit einfacher Klavierbegleitung für den >Hausgebrauch< statt mit Informationen zur historischen Verortung. Sandburg nahm zu­ dem Lieder afroamerikanischen Ursprungs in seine Sammlung auf und trug damit zur Ausweitung des Child-Kanons bei (Filene 2000:39-40). Nicht durch Liederbücher, sondern durch Schallplatten wiederum prägte Ralph Peer (1892-1960) von Okeh Records die Entwicklung des modernen Folk. Im Unterschied zum Kanon von Balladensammlern wie Child und Sharp hatten kommerzielle Plattenlabels größtenteils Interesse an Balla­ den mit instrumentaler Begleitung.6 Darüber hinaus war Peer eher darauf fokussiert, Sängerinnen und Sänger zu finden, welche Lieder zu seinem »Old Times Music«-Katalog beisteuern konnten, die >authentisch< klan­ gen - unabhängig davon, ob sie neu komponiert oder tradiert waren. Tat­ sächlich hatten neu komponierte Lieder für Peer sogar einen Vorteil, da er darauf Copyright erheben und somit auch jenseits einzelner Aufnahmen Umsatz generieren konnte (Filene 2000:37-38). So erweiterten sich der Kanon von Folk sowie die Vorstellung davon, was Folk ist und ausmacht, bis in die Zeit des New Deal in den 1930er Jahren enorm. Hier erfuhr Folk durch die Arbeit verschiedener staatlicher Programme, die zur Sammlung des American Folklife Centers der Library of Congress beitrugen, eine weitere Aufwertung und Verbreitung. Musikforscher wie Charles Seeger (1886-1979, Vater von Sammler und Sänger ), der ab 1935 für die Resettlement Administration tätig war, waren bei ihren Aufnahmen auch für Songs kommerziellen Ursprungs offen:

In a move that would have made Shark cringe, Seeger even accepted com- mercial music, dubbing it a »super-hybrid form of genuine folk elements which have intruded into the mechanism of populär music«. (Fi­ lene 2000:142)

Die Great Depression und ihre Politik wirkten sich auch jenseits von Ka­ nonbildung und Sammelinteressen auf die Entwicklung und Rahmung von Folk aus. Wie kein anderes musikalisches Genre ist Folk in den USA mit der politischen Linken assoziiert7 - eine Verbindung, die ihren Ur­

6 Jean Ritchies Album Ballads From Her Appalachian Family Tradition aus dem Jahr 1961 gehört zu den wenigen Aufnahmen im Rahmen des Urban Folk Revi­ vals, die eine rein beziehungsweise überwiegend rein vokale Balladentradition fortführten. 7 La Chapelle (2007:68-69) verweist darauf, dass in der Zeit des New Deal auch Country-Songs häufig politisch gefärbt waren und mit wenigen Ausnahmen den Von Folklore zu Folk 277

sprung in den 1930er Jahren nahm und von den Leitfiguren Aunt Molly Jackson (1880-1960), Woody Guthrie und Pete Seeger (1919-2014) symbo­ lisiert wurde. 1935 kündigte die kommunistische Partei mit anderen Ar­ beiter- und Gewerkschaftsverbünden die »Populär Front Policy« an und änderte hierdurch ihren Umgang mit US-amerikanischen Musiktraditio­ nen. Waren die von der kommunistischen Partei verwendeten Songs zuvor hauptsächlich europäischen Ursprungs oder extra für die Verwendung als Protestsongs in einer europäischen Tradition komponiert,8 öffnete sich die Partei nun - im Rahmen einer die gesamte New Deal Era übergrei­ fenden Hinwendung zum »Common Man« beziehungsweise »Real Folk« - gegenüber der nationalen Folkloretradition als »Stimme des Volkes« (Lornell 2012:284):

They became fascinated with music that seemed to speak in the voice of the people, and folk songs enjoyed party approval. [...] With the party’s new attitude, folk music became an established part of left-wing functions, and folk performers enjoyed quite a vogue among the white radicals and intellectuals who sustained the CP. Lead Belly from Louisiana; Aunt Molly Jackson, Sarah Ogan, and Jim Garland, from Kentucky; and (after 1940) Woody Guthrie, from Oklahoma, all became folk celebrities among the Left in a vibrant New York-based scene.9 (Filene 2000:70)

Die 1930er Jahre gelten somit als Zeit des ersten Folk Revivals der USA, welches in seiner musikalischen wie politischen Ausrichtung wichti­ ge Weichen für das nachfolgende Urban Folk Revival der späten 1950er Jahre stellte. Woody Guthrie beispielsweise wurde zur zentralen Bezugs­ figur für spätere politisch engagierte Folksängerinnen und -sänger, ins­ besondere für Bob Dylan. Lead Belly, wie Filene (2000:75) es formuliert, wurde nach seinem Tod zu einer legitimierenden Instanz für Fans und

Demokraten beziehungsweise linken Ideen nahestanden. Als Beispiel sei hier Fiddliri John Carsons »Hurrah for Roosevelt« genannt. Die Verbindung zwischen politischer Linke und Folk ist jedoch von längerer Dauer und darüber hinaus im öffentlichen Bewusstsein eindeutiger. 8 Eines der frühesten Anzeichen für die Relevanz von Musik für die Organisation links-politischer Aktivisten und Aktivistinnen ist das Little Red Songbook, welches 1919 von den Industrial Workers of the World (IWW), auch »Wobblies« genannt, veröffentlichte wurde. 9 Siehe Filene (2000:67-75) und Cohen (2002:19-27) für nähere Ausführungen zur Verbindung zwischen Folk und der politischen Linken. 278 Katrin Horn

Stars gleichermaßen, die in einem vermeintlich flüchtigen Popmarkt nach einem Gefühl von Verwurzelung suchten. Als Bindeglied zwischen den beiden Revival-Phasen kann Pete Seeger gesehen werden, der einerseits durch Anekdoten den Mythos um wichtige Folk-Pioniere fortschrieb und andererseits als Sänger entscheidenden Einfluss auf die Ausprägung und Wahrnehmung von Folk nach 1950 nahm. Wie sich diese Entwicklung von Folk als kulturelles Phänomen musikalisch und im vokalen Ausdruck niederschlug, wird im Folgenden an ausgewählten Beispielen erörtert.

This Land is Your Land: Das erste Folk-Revival

Für die Verbindung zwischen der musikalischen Folklore der Appala­ chen und dem politischen Aktivismus der Gewerkschaften in der Zeit der Great Depression stellte Aunt Molly Jackson eine der bedeutsamsten Fi­ guren dar. Sie wurde zum einen zur wichtigen Quelle für >authentische< US-amerikanische Balladen - und damit zur Brücke zwischen urbanen Interessierten und »plain people, in plain places« (Siegmeister 1941:144). Zum anderen wurden die von ihr komponierten Protestlieder wie »Poor Miner’s Farewell«, »Kentucky Miner’s Wife«, und »I Am a Union Woman« zum festen Bestandteil des Repertoires von Gewerkschaftsmärschen- und kundgebungen. Die Darbietung von »I Am a Union Woman« 1933 vor dem kommunistischen Composers’ Collective10 führte jedoch zunächst zu Protesten ganz anderer Art: Die klassisch ausgebildeten Mitglieder des Kollektivs, wie beispielsweise Charles Seeger, empfanden Aunt Mol­ ly Jacksons »pinched and nasal tones« (Pratt 1990:100), ihre »squeaky high-pitched voice« (Siegmeister 1940:133) als künstlerischen Affront, während ihr selbst und anderen Aktivistinnen und Aktivisten - dem in­ tendierten Zielpublikum des Composers Collective - wiederum deren >hochkulturelle< Herangehensweise fremd blieb. Im Zuge des von Filene besprochenen »cult of authenticity« wurde Jackson mit ihrem traditio­

10 Mitglieder des Kollektivs, welches zu dem der kommunistischen Partei naheste­ henden Pierre Degeyter Club gehörte, waren neben Charles Seeger unter anderem Elie Siegmeister, Ruth Crawfowd, Earl Robinson und Henry Cowell. Ziel war es »to create a new music, simultaneously revolutionary in content and form, which would inspire dass struggle and uplift the Musical tastes of American workers« (Dunaway 1980:159-60). Von Folklore zu Folk 279

nellen Vokalstil, typisch für den »slow, declamatory way of singing which America shares with several European folk music« (Nettl 1976:70), in New Yorker Folk-Kreisen jedoch zunehmend zur festen Größe: Sie trat auf, gab Interviews und wurde zur zentralen Ansprechpartnerin für Folk-Inter­ essenten, unter anderem in den Seminaren von Mary E. Barnicle (1891— 1978), Professorin für Englisch und Folklore an der New York University.11 Trotz ihres Einflusses und ihrer Einbindung in die sich in der Metropole entwickelnde Folk(lore-)kultur sowie das Folk Revival wurde lediglich »Kentucky Miner s Wife« (1931) in einer von Aunt Molly Jackson selbst ge­ sungenen Version kommerziell veröffentlicht, weswegen ihre Kompositio­ nen deutlich einflussreicher wurden als ihr Gesangsstil.12 Anders verhielt es sich bei zwei anderen zentralen Figuren des Folk Revivals der 1930er Jahre, die wie Jackson in den Metropolen vor allen Dingen aufgrund ih­ rer als authentisch wahrgenommen musikalischen wie sozialen Wurzeln geschätzt wurden: Woody Guthrie und Lead Belly. Beide wurden ähnlich wie Aunt Molly Jackson für den Erhalt beziehungsweise die Erweiterung des Folk-Kanons geschätzt: Lead Belly trug neben Eigenkompositionen wie »The Bourgeois Blues« (1938) vornehmlich tradierte Balladen (insge­ samt über 500 Lieder) in von ihm abgewandelten Versionen vor - darunter zahlreiche Murder Ballads, eine Gattung, die ab den 1950er Jahren zu neu­ er Blüte reifte13 -, während sich Woody Guthrie als politischer Songwri- ter positionierte. Gleichzeitig wurden beide durch ihre Teilhabe an kom­ merziellen musikalischen Aufführungen und Aufnahmen auch stilistisch

11 Aunt Molly Jackson war Hebamme in Kentucky, bis sie anfing, sich politisch zu engagieren und durch ihre Aussage sowie die Performance von »Kentucky Miners Wife« vor einem Komitee zur Untersuchung der Arbeitsbedingungen in Minen von der politischen Linken >entdeckt< wurde. In den 1930er Jahren lebte sie in New York 12 Einige ihrer Lieder wurden für die Sammlung der Library of Congress aufge­ nommen, jedoch nicht digitalisiert beziehungsweise außerhalb der Bibliothek zu­ gänglich gemacht. 13 Neben dem bereits erwähnten Hit des Kingston Trios, »Tom Dooley«, zählen dazu unter anderem »Cruel Mother« (Child 20) in den Versionen von Judy Collins (1964) und Joan Baez (1967); »Down in the Willow Garden«, eine traditionelle Bal­ lade aus den Appalachen, interpretiert von den Everly Brothers (1958) und Ram- blin Jack Elliot (1959); »Frankie and Johnny« (auch »Frankie and Albert«) in den Versionen von Jimmie Rodgers (1929), Lead Belly (1940), Johnny Cash (1958), Pete Seeger (1959), Lena Home (1963) und Sam Cooke (1963); »Lily ofthe West« in den Versionen von Peter, Paul and Mary (1962) und The Alley Cats (1962). 280 Katrin Horn

wegweisend. So wurde Lead Belly als »time capsule that had preserved the pure voice of the people« (Filene 2000:58) vermarktet und wahrgenom­ men. Die New York Times urteilte in ihrer Rezension zu Work Songs ofthe U.S.A. Sung by Lead Belly entsprechend:

He sings without the polish of a trained vocalist but with the conviction of a man who knows the roots and usefulness of these songs. If his voice is raucous, it adds to the sense of action, sweat and strain in the music. (Taubman 1942: X2)

Den hier angesprochenen, grundsätzlich heiseren Klang seiner Stimme intensiviert Lead Belly allerdings nicht noch zusätzlich durch bewusst ge­ setzte Rauheit auf einzelnen Silben, sodass der Klang insgesamt homoge­ ner ist als Taubmans Formulierung »sweat and strain« nahelegt. Vielmehr etablierte sich Lead Belly als »voice of the people« durch einen dunklen und weitgehend entspannten Stimmklang, dessen Ambitus im Bereich der Sprechstimme liegt und der durch Verzicht auf vokale Effekte und eine geringe Dynamik den Eindruck einer unverstellten Singstimme erweckt. Darüber hinaus fällt sein verschleifendes Intonieren am Phrasenbeginn auf. Seine Aussprache ist verständlich, jedoch von kleineren Verkürzun­ gen (Weglassen des »g« in Worten, die auf »-ing« enden; Aussprache von Diphthongen als Monophthonge) geprägt, die Rückschlüsse auf seine geo­ grafische und soziale Herkunft zulassen, ohne dabei Hörergruppen aus­ zugrenzen.14 Ungewöhnlich im Folk-Kontext sind Lead Bellys Einschübe von Moans, welche beispielsweise in den unterschiedlichen Varianten des Tom Hughes' Themas (»Im onMy Last Go-Round« 1940; »Fannin Street« 1948)15 verwendet werden. Bei seinem größten Erfolg, »Goodnight, Irene«, hingegen singt Lead Belly ohne zusätzliche klangliche Elemente wie Mo­ ans und betont hierbei das gleichmäßige Dreier-Metrum des Liedes durch ein leichtes Vibrato auf den melismatisch gesungenen Silben wie »Irene, goodniiight« (u. a. 0:26). Obwohl die Coverversion der Weavers,16 die kurz

14 In ähnlicher Form trifft dies auch für den Einsatz des Südtstaatendialekts von Guthrie zu, der zudem einige linguistische Gemeinsamkeiten mit dem African American English (AAE) aufweist. 15 Für eine Auseinandersetzung mit der Anpassung von Text und Melodie dieses Liedes im Zuge von Lead Bellys wachsender Prominenz und Vermarktung in urba- nen Kontexten, insbesondere New York, siehe Filene (2000:67). 16 Zum Sound der seit den 1950er entstehenden Gesangsgruppen, die im Folk durchaus verbreitet waren, schreibt Ray Allen (210): »The Weavers, the Kingston Von Folklore zu Folk 281

nach Lead Bellys Tod entstand, sowohl textlich als auch in der instrumen­ talen Begleitung - Streicheruntermalung statt Lead Bellys zwölfsaitige Gitarre - einige Zugeständnisse an populäre Hörgewohnheiten machte, wurde Lead Bellys Form der vokalen Interpretation auch von der Gesangs­ gruppe und später von Pete Seeger in seinen Soloversionen übernommen. Ebenfalls bei Pete Seeger wiederzufinden waren Lead Bellys rhythmisierte Song-Kommentare, untermalt von einfachen Akkordfolgen auf der Gitar­ re, welche Inhalt und Kontext seines Vortrags vorwegnahmen - ein Stil­ mittel, das insbesondere für politisch motivierte Auftritte von Seeger und anderen Folksängern und -Sängerinnen relevant wurde. Woody Guthrie wiederum war 1940 Gast in Lead Bellys Radiosen­ dung und wurde hier ähnlich exotistisch angekündigt wie Lead Belly selbst (»that great negro folk singer of Louisiana Huddie Leadbetter, better known to you as Lead Belly. [...] his guest today the dustiest Dust Bowler of them all: Woody Guthrie of Oklahoma«, Yurchenco 2007). Im Laufe der 1940er Jahre entwickelte er sich von einem vom Dust Bowl vertriebenen »Okie«,17 der seine Karriere im kalifornischen Radio als Countrysänger begann und durch die Great Depression zunehmend politisiert wurde, zum »founding architect of the American protest-music movement and an inspiration to progressive-leaning artists« (La Chapelle 2007:1). Zu Guthries einflussreichsten Alben zählt das 1940 veröffentlichte Dust Bowl Ballads,18 In seiner vokalen und instrumentalen Darbietung folgte Guthrie hier in noch ausgeprägterer Form als Lead Belly den Grundsätzen der Folk

Trio, and other pop folk groups favored more vernacular vocal styles but tended to stick to the pitches of the diatonic scale and consonant harmonies built around simple major and minor triads. Their singing was generally accompanied by banjo and guitar chords and a rudimentary bass line, with occasional string and brass or- chestrations for sweetening. Absent in both cases were the distinctive bends, slurs, blues tonalities, and pinched nasal timbres common to much traditional Southern mountain singing« (Allen 2010:279-280). Siehe auch Kapitel 15. 17 Abfälliger Ausdruck für Migranten und Migrantinnen aus Oklahoma und be­ nachbarten Staaten im Mittleren Westen, welche während der durch Dürre und Misswirtschaft ausgelösten Sandstürme 1935-38 (Dust Bowl) nach Kalifornien einwanderten. Trotz ihrer weißen Hautfarbe werden die so genannten Okies in Ka­ lifornien häufig als eigene Ethnie behandelt und in vielen Bereichen ähnlich diskri­ miniert wie die afroamerikanische Bevölkerung. 18 Das Originalalbum erschien 1940 bei RCA Victorais »two volumes [...] six ten- inch sides each« (Taubman 1940:108). 1950 wurde das Album als Langspielplatte von Folkways Recordings neu aufgelegt. 282 Katrin Horn

Music, wie Simon Frith (1981) sie in seiner Auseinandersetzung mit den ideologischen Aspekten von Folk Music beschreibt, allen voran Gemein­ schaftsgefühl und Authentizität:

The folk emphasis was on lyrics and their plain presentation; the central musical Instrument was the voice and it was by reference to vocal conven- tions that sincerity could be judged. In peoples music there were no stars or hits, no distinctions between performers and audiences, and this too was established by musical convention, by the norms of collective performance - the use of repetition and chorus and cliched melody, the lack of vocal flourish, the restriction of instruments (guitars, piano) to accompaniment. (Frith 1981:162)

Eben diese Zurücknahme des Interpreten unterstrich Guthrie in einem Interview gegenüber der New York Times. Hier äußerte er die Hoffnung, dass die Käuferinnen und Käufer von Dust Bowl Ballads die Songs als ihre eigenen betrachten würden: »I hope [...] that you say, well, you made ’em up yourself« (zitiert in Taubman 1940:108). Entsprechend einfach gestal­ tete er auch die instrumentale Begleitung - eine einzelne Gitarre - bezie­ hungsweise den melodischen Aufbau, der sich laut Guthrie aus »the same old notes as ever« (ebd.) zusammensetzte. Neben der vergleichsweise ein­ fachem (»plain«) vokalen beziehungsweise musikalischen Gestaltung ent­ sprachen Dust Bowl Ballads auch in ihrer textlichen Komposition Friths Beobachtungen. Rezensent Howard Taubman kommentierte: »The meat of the albums is in the words, and in the rather dry twangy manner of de- livery« (Taubman 1940:108). »The meat«, also der Gehalt oder Inhalt des Albums, reflektierte »the life of the migratory workers, their wanderings, their aching search for a job, their illnesses, their enemies« (ebd.). Die­ ser genretypische Fokus auf die Texte, die eine Geschichte erzählen (statt beispielsweise eine Emotion zu beschreiben) und überwiegend politische und soziale Missstände ins Zentrum rücken, wird unterstrichen durch die im Folk gängige Diskrepanz zwischen Inhalt und Form. Wie Bruno Nettl (1976:69) für die englische Balladentradition insgesamt konstatiert, spiegeln Instrumentierung und Gesang bewusst nicht die Dramatik und Emotionalität der Lieder wider:

This might be considered detrimental to the total effect of the bailad, but in fact it seems to improve the performance, for the contrast between the dramatic tension in the plot and the quiet, detached delivery is in itself Von Folklore zu Folk 283

effective and helps to make the old folk ballads unique artistic phenomena. (Nettl 1976:69)

Entsprechend setzen sich bei Guthrie selbst Textzeilen wie »my wife took down and died upon the cabin floor« (»I Ain’t Got No Home« 1938) mu­ sikalisch nicht von anderen, vergleichsweise eher belanglosen Versele- menten ab. In der New York Times wurde dieser Gesangsstil zeitgenös­ sisch als »not romanticize[d]« beziehungsweise »straight out« beschrieben (Taubman 1940:108). Insgesamt schwankt Guthries vokale Gestaltung eher zwischen lakonischen und ironischen Tönen, statt der Bitterkeit und Hoffnungslosigkeit seiner Themen auch gesanglich Ausdruck zu verlei­ hen. Textlich drückt sich diese Haltung deutlich im »Dust Pneumomia Blues« aus, dessen Songpersona der Diagnose einer Lungenentzündung, welche durch den Dust Bowl ausgelöst wurde und sie das Leben kosten wird, mit Galgenhumor begegnet. Anders als in der klassischen englischen Balladentradition singt Guthrie in der ersten Person, statt einer epischen Erzählform zu folgen. Dies verbindet den Song zum einen mit den soge­ nannten Broadside Balladen. Diese unterscheiden sich vom Childs-Kanon nicht nur durch die Erzählperspektive, sondern auch durch typisierte Charaktere, stärkere Wertung sowie ihren Fokus auf aktuelle Ereignisse (Lornell 2012:88). Darüber hinaus bezieht Guthrie sich auch auf den Blu­ es, dem er entsprechend seinem Titel »Dust Pneunomia Blues« schema­ tisch folgt. Die Strophen bestehen jeweils aus drei Zeilen, wobei sich die ersten beiden wiederholen, während die dritte Zeile eine humorvolle bis sarkastische Pointe enthält:

Yeah, there ought to be some yodelin’ in this song

Yeah, there ought to be some yodelin in this song

But I cant yodel for the rattlm in my lung

Auch gesanglich orientiert sich Guthrie am Blues, wenn er gerade zum Versanfang Worte durch die Länge des gehaltenen Tons betont. Dieses lange Aussingen des ersten Tons einer Textzeile (meist auf der Oktave) ist typisch für den frühen langsamen Downhome Blues, beispielsweise bei Charley Patton (siehe Kapitel 10).19 Dabei singt er jedoch mit einer für Folk typischen, die instrumentale Begleitung dominierenden Stimme, gleich­ bleibender Lautstärke, deutlicher Aussprache und nasalem Stimmklang,

19 Ich danke Tilo Hähnel für den Hinweis. 284 Katrin Horn

was insgesamt den Eindruck einer direkten Kommunikation mit dem Pu­ blikum erweckt. Die Pointe ist im Rhythmus freier und wird sehr sprech­ nah gestaltet, was den Kontrast zu den ersten beiden Textteilen sowie den unsentimentalen Umgang mit der beschriebenen Situation unterstreicht: »Down in Texas, my gal fainted in the rain / 1 throwed a bücket o’ dirt in her face just to bring her back again«. Trotz der persönlichen Betroffen­ heit der Songpersona folgen Guthries Blues-Adaptionen (u. a. auch »Dust Bowl Blues« 1940; »Muleskinner Blues« 1944) so der im Albumtitel (Dust Bowl Ballads) angelegten Nähe zur Balladentradition, in der nicht Iden­ tifikation im Vordergrund steht, sondern - gerade im Fall der Broadside Balladen - die Vermittlung bestimmter Themen und Ereignisse. Dieser Schwerpunkt wird noch deutlicher in einer Song-Gattung, für die Guth­ ries Stil prägend war, dem Talking Blues. Diese Kompositionen Guthries belebten eine Liedform der 1920er Jahre wieder, die hauptsächlich im Vau­ deville und in Minstrel-Shows verbreitet war und außer dem Namen we­ nig mit dem Blues gemein hat:20

It is characterized by humorous or satirical verses rhythmically spoken, rather than sung, almost invariably over solo guitar accompaniment. [... ] The basic rhythm is always two-four or four-four at a tempo of about 114 to 132 beats per minute. The verse comprises four lines with (usually) four main stresses in each, with the main stresses falling on each beat of the bar, employing a rhyme scheme AA BB, normally followed by an unrhymed tag line of typically three of four stressed syllables on the first beats of the bar, but often with additional unstressed syllables. (Wise 2012:483)

In Guthries Repertoire finden sich mehrere Talking-Blues-Songs, die sich allerdings von der ursprünglich humoristischen Prägung der Texte ab­ wenden und den Fokus stattdessen auf die Anprangerung sozialer Miss­ stände legen. In dieser Umdeutung wurde der Talking Blues auch von Pete Seeger (»Talkin Union« 1941; als Mitglied der Almanac Singers) und Bob Dylan (»Talking New York« 1962) adaptiert.21 Zu den interessantesten

20 »The term blues may have been intended, therefore, to signify ethnicity and to connote predominating stereotyped ideas relating to that« (Wise 2012:483). Wise bezieht sich in seiner historischen Analyse hauptsächlich auf den Sänger Chris Bouchilon aus South Carolina. 21 In Ansätzen findet sich diese Form auch bei Countrysänger Johnny Cash (z. B. »Boy Named Sue«), der in den 1960er Jahren insgesamt eine große Affinität zum Folk Revival an den Tag legte und somit die Gemeinsamkeiten der beiden Roots- Von Folklore zu Folk 285

Beispielen kann Guthries »Mean Talking Blues« (1945) gezählt werden, in dem Songpersona und lyrisches Ich ironisch voneinander distanziert wer­ den. Dies geschieht sowohl auf der Textebene als auch auf der Ebene der vokalen Gestaltung. Somit schlüpft die Songpersona in Form einer Ich- erzählung in die Rolle des personifizierten politischen Feindes: jemand, der Gewerkschaften unterdrückt, Rassenressentiments schürt und die Ar­ beiterschicht ausbeutet. Textlich eskaliert die Selbstbeschreibung von an­ fänglichen Allgemeinplätzen (»I laugh my loudest when other people cry«) zu politischen Vergehen (»Keep you without no vote / Keep you without no Union«) hin zu absurd anmutenden Bedeutungszusammenhängen (»God hates unions / And I hate God« und schließlich »And I hate to love / I love to hate«) beziehungsweise einer sprichwörtlichen Verteufelung (»And I sprouted a six-inch stinger right in the middle of the tail / And I growed horns«). Der Sprechgesang ist dabei eng am 4/4-Takt orientiert, Silbenbe­ tonungen fallen auf Grundschläge, während Phrasenenden häufig synko­ pisch gestaltet sind und bedeutungsschwangere Sprechpausen enthalten, was - ähnlich dem »Dust Pneunomia Blues« - die Pointen unterstreicht beziehungsweise »a suitably weighted verbal riposte« (Heylin 2011:50) er­ möglicht. Ironische Distanz zum Gesagten entsteht vor allem durch den energetischen Vortrag, der höher und lauter als die mittlere Sprechstimm­ lage angelegt ist und so eine stärkere Stimmintensität hat als andere Tal- king-Blues-Songs von Guthrie. Die dadurch transportierte Freude an der Zerstörung gepaart mit den ins Absurde verzerrten Textelementen führt zu einer Karikierung der besungenen »mean person« und deren politi­ scher An- und Absichten. Die konstante Vermeidung von vokalen Ornamentierungen und Regi­ sterwechseln prägt nicht nur Lieder in der Tradition des Talking Blues - auch wenn sie hier besonders deutlich zutage tritt -, sondern kann sowohl als typisch für Woody Guthrie als auch insgesamt für Folk Music gelten. Bei Guthrie lässt sie sich auch in Liedern feststellen, die sich melodisch nach der Balladentradition richten und entsprechend gesungen, nicht gesprochen werden. Berühmtestes Beispiel ist »This Land Is Your Land« (1940), dessen Text Guthrie zur Melodie einer Ballade geschrieben hatte, welche durch die Interpretation der Carter Family berühmt geworden war: »When the World’s on Fire« (1930). Auch hier wird seine Stimme - »nasal,

Traditionen unterstrich. Trotz der eigentlich tragischen Geschichte des Songs inte­ grierte Cash in »A Boy Named Sue« allerdings die frühere humorvolle Komponente. 286 Katrin Horn

raw, yet compelling« (Cray 2011:144) - eingesetzt, um politische Inhalte zu transportieren, seinem Starimage als Common Man gerecht zu werden und eine gemeinschaftsstiftende Darbietung zu unterstreichen. Letztere ist insofern von großer Bedeutung für den Folk, als, wie Guthrie im oben zitierten Interview betont, die Idee im Vordergrund steht, dass das Publi­ kum die Musik in den eigenen Alltag integriert, statt sie als Konsumgut zu betrachten. Diese Grundhaltung drückt sich bei Guthrie und anderen der Populär Front nahestehenden Musikern und Musikerinnen - allen voran Pete Seeger - insbesondere dadurch aus, dass die vokalen Darbietungen auf das gemeinsame Singen mit dem Publikum abzielen. Der »high lo- nesome sound«, der als typisch für die Gesangstradition der Appalachen galt, rückt dadurch in den Hintergrund:

Older Anglo-American singers [...] commonly sang with a high-pitched, harsh-toned, highly melismatic voice, with many vocal decorations such as passing tones and a metrically uneven presentation reminiscent of speak- ing tempo [...] proloning certain notes arbitrarily, generally not the strong accented ones. (Cohen 2005:79)

Um als landesweit Gemeinschaft stiftende Musik fungieren zu können - als musikalisches Werkzeug der Populär Front musste Folk Music bis zu einem gewissen Grad ihre lokale und soziale Partikularität aufgeben, sich also von Folklore zu Folk entwickeln (engl, lore: »a particular body of knowledge or tradition«; »Lore« 2014). Neues Zielpublikum von Folk Music - dazu gehören neben vokal dominierten Gattungen auch Volks­ tänze - waren das New Yorker Künstlerviertel und landesweit Universitäten, die durch den wirtschaftlichen Aufschwung der Nachkriegsjahre mehr Menschen offen standen als jemals zuvor. An die Stelle des »high lonesome sound« trat in Verbindung mit einem neuen Anspruch auf Universalität entsprechend »an apparently neutral voice be- speaking a young, white, middle-class sensibility« (Cherlin und Gopinath 2009:225-26). Michael Cherlin und Sumanth Gopinath sprechen in die­ sem Zusammenhang auch von einer »Abstraktion« musikalischer Folklo­ re in eine Singstimme, weiche durch »clear tone and clear, regionally neut­ ral speech« charakterisiert ist (ebd.). Für diese Wende kann Pete Seeger als wegweisend angesehen werden. Von Folklore zu Folk 287

Turn! Turn! Turn! Folk und (Nach-)Kriegszeit

Der von Frith (1981) als zentral definierte Aspekt der Gemeinschaft war allgegenwärtig in der Musik Pete Seegers, des >Patriarchen< der Folk-Be- wegung (»Newport Folk« 1966), angefangen bei den Almanac Singers (zu denen zeitweise auch Woody Guthrie, der afroamerikanische Folksänger Josh White sowie Mitglieder der späteren Weavers gehörten) über sei­ ne Charterfolge mit den Weavers bis hin zu seiner späteren Solokarriere während und nach seiner Zeit auf der schwarzen Liste der anti-kommu­ nistischen Regierung. Ausgehend von sogenannten Hootenannies22 - in­ formellen Treffen, bei denen gemeinschaftlich (auch von Amateuren) Folk Music vorgetragen wurde - zogen sich das gemeinsame Singen be­ ziehungsweise Vorträge, die auf gemeinsames Singen ausgerichtet waren, als Merkmal durch die Folk Music der späten 1940er und 1950er Jahre und teilweise darüber hinaus. Im Repertoire der Weavers wird dies beson­ ders deutlich an ihrem Song »On Top of Old Smokey« (1951). Hier kündigt Pete Seeger im Sprechgesang jeweils eine Zeile des Liedtextes an, die dann chorisch vom Rest der Gruppe vorgetragen wird. Diese Art des Vortrags findet sich später auch auf den Live-Alben Seegers, unter anderem Pete Seeger at Carnegie Hall (1963), mit dem Unterschied, dass der Chor hier aus dem gesamten Publikum besteht. »The best folk songs are the ones that people can sing together«, konstatiert Seeger auf einem weiteren Liveal­ bum, With Voices Together With Sing, aus dem Jahr 1956. Zeitgenössische Rezensionen spiegeln diese besondere Qualität in Seegers Folk-Vorträgen:

Long skilled in leading group singing, he can build such excitement even on a solo record that it is difficult not to Start singing with him using the words provided in the accompanying booklet. (Shelton 1958: X10)

Ein weiterer wichtiger Aspekt seines Einflusses auf Folk Music, auch als Autor des Magazins Sing Out! (ab 1950), war Seegers Propagieren ei­

22 »A is to folk singing what a jam session is to jazz«, schreibt das T/me-Magazin (»Folk Singing« 1962). Zur Begriffsentstehung erläuterte Woody Guthrie gegenüber Time: »We was playiri for the Lumber Workers’ Union. We was singiri around in the shingle mills. There was a lady out West out there in the lum­ ber camp and her name was Annie and so every time they’d have a songfest Annie would outshout all of them. So people got to call her Hootin Annie but the name got spread all over and so out there when they are going to have a shindig they call it Hootenanny« (»Hootenanny« 1946). 288 Katrin Horn

ner »diverse perspective on the music of the « (Mitchell 2006:503), ein Herausstellen der kulturellen Vielfalt US-amerikanischer Musik. Entsprechend zog sich ein grundsätzliches Interesse an anderen Kulturen durch die Folk-Bewegung und Seegers Repertoire im Besonde­ ren. Lieder wie »The Wreck of John B« (1950), ein Song der Weavers, zoll­ ten beispielsweise dem aufkeimenden Interesse an lateinamerikanischer Musik Tribut.23 Als Mitglied der Weavers hatte Seeger zudem Hits mit der Adaption des jüdischen Folksongs »Tzena, Tzena, Tzena« (1950) und des südafrikanischen »Wimoweh« (1952). Als Solokünstler ergänzte er seine Songs US-amerikanischer Provenienz beispielsweise um das kubanische »Guantanamera« (1963) oder das norwegische »Oleanna« (1956).24 Seegers American Favorite Ballads, Vol. 1-5 (1957-1962) erweiterten den Folk-Ka- non neben internationalen Komponenten auch um kommerzielle Blues-, Tin-Pan-Alley- und Country-Songs. Dazu gehören »St. Louis Blues« von W. C. Handy, »T.B. Blues« von Jimmie Rodgers, George und Ira Gershwins »Summertime« sowie Jimmie Davis’ »You Are My Sunshine« (Filene 2000:193):

[They] appear on American Favorite Ballads not because Seeger had decid- ed that they were folk songs but rather because he wanted to demonstrate the process by which they could be made into folk songs. (ebd.)

Entsprechend versuchte Seeger in seinen Interpretationen der Lieder meist nicht die Originalversionen nachzuempfinden und beispielsweise im Blu­ es »the mournful, moaning tone of Bessie Smith« zu imitieren (2000:195). Stattdessen begleitete sich Seeger auf dem Banjo und passte den Gesangs­ stil an seinen Anspruch an, dass Folk-Songs auch vom Publikum bezie­ hungsweise ungeübten Sängern und Sängerinnen mitgesungen werden

23 Für die Überschneidung zwischen Folk und lateinamerikanischen beziehungs­ weise karibischen Einflüssen in Form des »Calypso-Craze« in den 1950er Jahren war Harry Belafonte der wahrscheinlich wichtigste Sänger. Zur Auseinanderset­ zung mit seinem Starimage vor dem Hintergrund der »anxieties of integration bet- ween African Americans and whites« siehe McGill (2005:25). 24 Zur Auseinandersetzung mit dem »Cultural Pluralism« von Folk Music siehe Mitchell (2006). Sie zeichnet die Verbindung zwischen der multikulturellen Offen­ heit des Urban Folk Revivals und den Folk-Wurzeln in politischem Aktivismus und dem New Deal der 1930er Jahre nach: »the folk revival of late 1950s and early 1960s was the point at which this vision of diversity reached its peak, promoted and rev- elled in by young people who embraced the idealism of civil rights and Peace Corps politics« (2006:594). Von Folklore zu Folk 289

konnten. Im »St. Louis Blues«, so Filene (2000:195), »[Seeger] gives it a bouncy tempo, firmly accents the words that fall on the beat, and sings them in his full-voiced tenor«. Insgesamt lässt sich Seegers Gesangsstil, entsprechend seinem Auftreten als Sänger und Aktivist, als unprätenti­ ös beziehungsweise »modest« und »unassuming« (Logsdon 2009:3) be­ schreiben. Wie Baez und Dylan nach ihm, überspielte Seeger seine bür­ gerliche Herkunft durch einfache, teils antiquierte Kleidung (Baez nutzte hierfür teilweise folkloristische Kleidung, während Dylan sich an Guth- ries Hoboimage orientierte): »On and off stage, Seeger worked endlessly to transform himself into the embodiment of the common man« (Filene 2000:201). Als ein solcher Common Man sang Seeger zumeist mit klarer Artikulation, die zwar kurze idiomatische Ausdrücke und Phrasen aus Dialekten ebenso wie Silben- und Endungselisionen zuließ, insgesamt aber auf Verständlichkeit ausgerichtet war. Vokale Gestaltungsmittel See­ gers - insbesondere in den Refrains seiner Songs - waren die Betonung des Phrasenbeginns durch Lautstärke sowie ein Vibrato auf den länger gehal­ tenen, melismatischen Tönen am Phrasenende. Gerade bei Liveauftritten sang Seeger meist metrisch genau mit Betonung auf den schweren Zähl­ zeiten. Innerhalb der Strophen überwogen kurze Noten und syllabische Gestaltung. Sein Körper ist dabei lediglich Resonanzraum und nicht etwa Einschreibeort von Emotionen - beispielsweise durch hörbares Einatmen, welches die Verbindung zwischen dem besungenen Erlebnis und der Auf- führungspersona betonen würde. Authentizität wurde stattdessen bei See­ ger, wie im Folk im Allgemeinen, über Textauswahl, Auftreten und das für das Starimage essenzielle soziale und politische Engagement kreiert. Dazu gehörten bei Seeger Auftritte im Rahmen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung (beispielsweise beim March on Washington oder zugunsten des Student Non-Violent Coordination Committee) sowie bei Anti-Kriegs-Demonstrationen. Ein zentrales Stichwort war entsprechend »Überzeugung« (»conviction«): »the hero of the College folk revival [...] sings with unequaled verve and a kind of rough-hewn sense of convic­ tion« (»Folk Frenzy« 1960). Diese grundsätzlich stärkere Gewichtung auf Inhalte ließ sich selbst in der auf Massenerfolg ausgerichteten Musik der Weavers nachvollziehen. Die Songs waren mit Streichinstrumenten und Background-Gesang versehen, was sie - trotz des eindeutigen Folk-Reper­ toires - stilistisch in die Nähe der zeitgenössischen Popmusik brachte. Dies schlug sich auch im Gesangsstil der Gruppe nieder, der geprägt war von ungestützten Stimmen (bei Ronnie Gilbert und Fred Hellerman zu­ 290 Katrin Horn

dem häufig vom Einsatz der Kopfstimme),25 angeschliffenen Phrasenan­ fängen mit linkssteilen Glissandi, Phrasenenden versehen mit Vibrato und wenig bis keiner Rauheit in der Stimmgebung. Dabei verzichteten die Weavers jedoch auf jegliche Form von Behauchtheit oder andere Intimi­ tät vermittelnde Stilmittel. Darüber hinaus war ihr Chorgesang bestimmt vom Duktus des einfachen, gemeinsamen, teilweise abwechselnden Sin- gens und nicht vom kunstvollen Nachempfinden instrumentaler Klänge und ähnlicher, den Gruppengesang anderer Genres prägender Elemente. Damit ebneten die Weavers den Weg für spätere Folk-Gruppen wie Peter, Paul and Mary und das Kingston Trio, während sie gleichzeitig die An­ bindung an frühere, politisch motivierte Gruppen (z. B. People s Songs) aufrechterhielten. Seegers Solokarriere wiederum war schon wegen seines Auftrittsver­ botes im landesweiten Fernsehen aufgrund seiner Verbindung zur kom­ munistischen Partei weniger an kommerziellen Gesichtspunkten ausge­ richtet. 1955 musste er sich vor dem House of Un-American Activities Committee verantworten. Noch 1963 war er von der Fernsehsendung Hootenanny (ABC) ausgeschlossen.26 Seine Musik erschien zumeist bei Folkways, dem speziell auf Folk- und Weltmusik ausgerichteten Label von Moses Asch (1905-1986). Viele seiner hier erschienenen Alben verfolgten einen dezidiert pädagogischen Anspruch - beispielsweise seine Banjo- und Gitarrenlehralben, aber auch Alben über US-amerikanische Arbeiter­ lieder sowie Alben mit Kinderliedern. Seine Eigenkompositionen, darun­ ter »Where Have All the Flowers Gone« (komponiert 1955), widmeten sich politischen und sozialen Reformen. Entsprechend kehrte Seeger zu dem Gesangsstil zurück, der in seiner frühen, von der Kooperation mit Woody Guthrie geprägten Phase prominent war: einem deklamatorischen Grund­ ton, der auch rufartige Elemente beinhaltete und zudem mehr >Fehler< zu­ ließ. In »Mary, Don’t You Weep« (1959) beispielsweise bricht seine Stimme an einigen Stellen kurz (zum Beispiel 1:13). An anderen Stellen nutzt See-

25 Ronnie Gilbert, die weibliche Stimme der Weavers, singt in vielen Partien mit einer hohen, klaren Kopfstimme, die sich später bei Sängerinnen wie Judy Collins und Joan Baez wiederfindet. 26 Ab 6. April 1963 wurde das halbstündige Hootenanny Samstagabends ausge­ strahlt. Joan Baez und andere Stars des Folk schlugen jedoch aus Protest gegen See­ gers Blacklisting die Einladung in die Sendung aus. Für eine detaillierte Auseinan­ dersetzung mit der Berichterstattung über diesen Protest sowie seine Hintergründe siehe Cohen (2002:194 ff). Von Folklore zu Folk 291

ger Folk-typische Gestaltungsmittel wie Wechselnoten (zum Beispiel 0:21 und 0:43) und den unbegleiteten Vortrag (u.a. 0:02-0:05 und 1:26-1:31). Insgesamt ist der Gesang durch ein schnelles Vibrato (circa 7 Hz) gekenn­ zeichnet, das besonders deutlich bei »Mary« und «moan« (u.a. 0:16 und 0:20) zu hören ist. Der Eindruck eines, wie oben beschrieben, bescheide­ nem Sängers entsteht bei Seeger also vor allem durch den weitgehenden Verzicht auf Ornamentierung und starke expressive vokale Mittel zuguns­ ten eines sprechnahen Vortrages, welcher die Lieder zugänglicher für eine Beteiligung des Publikums beziehungsweise Aneignung durch das Pub­ likum machte. In »John Henry« (1957) beispielsweise, einer Ballade über den gleichnamigen Arbeiterhelden, betont Seeger zentrale Textelemente durch einen kombinierten Anstieg von Lautstärke und Tonhöhe - hier ge­ radezu lautmalerisch bei der ersten Silbe von »hammer« (u.a. 0:16, 0:19 und 0:23) und parallel dazu bei »die [with a hammer in my hand]« (1:16, 1:19 und 1:23). Das rufnahe, raue »John Henry« (3:03) unterstreicht zu­ sätzlich die Dramatik der Narration, ohne die Verständlichkeit des Textes negativ zu beeinflussen. Als Seeger-typischer Gesangsauftritt kann sei­ ne Version von »We Shall Overcome« als Schlusslied seines Konzerts in der Carnegie Hall im Jahr 1963 gelten. Hier steht nicht das stimmliche Nachempfinden des kraftvollen Songtextes im Vordergrund. Stattdessen leitet Seeger mit sanfter Stimme sein Publikum ähnlich an, wie er dies für die Mitglieder der Weavers bei »On Top of Old Smokey« getan hatte. Die Phrasenanfänge werden syllabisch gesungen, während die jeweils zentra­ len Begriffe am Ende einer Phrase (»overcome«, »someday«) melismatisch intoniert werden. Während das Publikum jeweils die letzte von Seeger vorgegebene Silbe >zu Ende< singt, kündigt Seeger die nächste Textzeile rhythmisch gesprochen an, sodass er zum Phrasenbeginn wieder in den Chor einsteigen kann. So ergibt sich ein organischer Gruppengesang, der Botschaft und Gemeinschaft in den Vordergrund stellt und Seeger gewis­ sermaßen als Vermittler zwischen »folks« und Folk Music, nicht jedoch als Gesangskünstler in den Vordergrund rückt. Ein interessantes Gegenbeispiel zu Seegers Image als Common Man und Liedsammler findet sich bei (geb. 1922), die 1952 ihr erstes Album Jean Ritchie Singing the Traditional Songs of Her Kentucky Mountain Family veröffentlichte. Im Unterschied zu Pete Seeger sang sie in der Tradition des »Southern Mountain Singing«, welches durch »slides, slurs, and bent notes«, also unterschiedliche Arten von Glissandi, geprägt ist (Ray 2007:240). Ritchie gehörte somit zu den wenigen kommerziell er­ 292 Katrin Horn

folgreichen Folksängern und -Sängerinnen nach dem Zweiten Weltkrieg, die sich direkt auf eine mündlich überlieferte Tradition beriefen, in die sie selbst durch familiäre und soziale Verbindungen eingebunden wa­ ren. In diese Kategorie fiel wenig später auch Hedy West (1938-2005),27 deren Balladeninterpretationen sich allerdings durch ein zumeist höhe­ res Tempo auszeichneten, was durch Wests eigene Begleitung auf dem Banjo gegenüber Ritchies rein vokalen beziehungsweise durch Dulcimer begleiteten Songs unterstrichen wurde. Im Unterschied zu Ritchie sang West deutlich seltener mit der Kopfstimme, dafür mit mehr Rauheit und Twang, und erreichte somit eine Gratwanderung zwischen dem Stil von Sängern wie Guthrie und Lead Belly und Sängerinnen wie Ritchie. Ele­ mente von Jean Ritchies >reinerem< vokalem Ausdruck fanden sich ins­ besondere bei Sängerinnen des Urban Folk Revivals wie Joan Baez und Judy Collins wieder, die wiederum als Stil prägend bis ins Werk von Joni Mitchell und anderen zeitgenössischen Folksängerinnen gelten können. Zeitgenössische Rezensionen bemerkten neben Ritchies »haunting vocal quality« (»Reviews« 1959:64) vor allem ihre Anbindung an die Wurzeln der Balladentradition: »These are songs with an unusual sing-song, up and down melodic content, with interesting vocal slurs appearing at the end of phrases« (»Specialty« 1961:32c), hieß es in Bezug auf British Traditionell Ballads in the Southern Mountains Volume L Auf diesem 1961 veröffent­ lichten Album sang Ritchie unter anderem eine Version der Child-Ballade »Barbara Allen«, welche im selben Jahr auch auf dem zweiten Album von Joan Baez, Joan Baez, Vol. 2, erschien, weshalb dieser Song hier als Grund­ lage für den Vergleich der beiden Sängerinnen herangezogen wird. Bereits die unterschiedliche Schreibweise in den jeweiligen Titellisten der Alben (»Barbry Ellen« bei Jean Ritchie, »Barbara Allen« bei Joan Baez) verweist auf die verschiedenen Quellen (mündliche Tradierung gegenüber schrift­ licher Weitergabe). Der jeweils andersartige Umgang mit der Liedvorlage schlägt sich sowohl in der textlichen als auch in der vokalen Gestaltung nieder. Während Ritchie dialektale Elemente (»-in« statt »-ing«) im Text

27 Hedy Wests Debütalbum erfolgte 1963 als Beitrag zum Vanguard-Records- Sampler New Folks. 1963 erschien Hedy West Accompanying Herseif on the 5-String Banjo, das unter anderem ihre Komposition »500 Miles« enthielt. Daneben sang West sowohl hier als auch auf ihren nachfolgenden Alben zumeist Balladen (»Sha- dy Grove«) und tradierte Folk-Lieder (u. a. den Cowboy-Song »Bury Me Not on the Lone Prairie«). Von Folklore zu Folk 293

Abbildung 11.1: Jean Ritchie, »Barbry Ellen« (1961). Ritchie singt, wie sie selbst sagt, eine >Familienversion<. Entsprechend weicht ihre Interpretation von denen ab, die sich auf unterschiedliche Verschriftlichungen der Ballade beziehen und deren Melodien auf Dreiklangsbrechungen von Durakkorden beruhen (meist I, IV und V). Ritchies Version dagegen ist modal angelegt. Die Abbildung zeigt zudem ihren Einsatz von Wechselnoten und die ungewöhnliche Gestaltung des Vibratos auf »she«.

i i i i i 0:55 0:56 0:57 0:58 0:59 1:00 Zeit in Minuten beibehält, singt Baez die Ballade im Standard American English (SAE), auch wenn sie einige veraltete Worte, wie »nigh« statt »near«, beibehält. »Barbara Allen« besteht aus vierzeiligen Strophen (ABCB) und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die einen Verehrer zunächst wegen sei­ nes Fehlverhaltens ihr gegenüber zurückweist, nach seinem Tod jedoch bereut, an seinem Sterbebett so kalt gewesen zu sein. Die Ballade endet mit dem Bild der nebeneinanderliegenden Gräber, die durch einen Dor­ nenstrauch und eine Rose, die ineinander wachsen, verbunden sind. Was Billboard in Ritchies Version »interesting vocal slurs« nennt, lässt sich genauer beschreiben als Einschub von nach oben ausschlagenden Wech­ selnoten (u.a. bei 0:32, 0:57 und 1:21) gefolgt von nach unten orientierten kleineren Melismen jeweils in der zweiten Textzeile einer Strophe (B), wel­ che auf das Vibrato jeweils am Zeilenfang folgen (wie hier »And slow-lie she came a-nigh him«, siehe Abbildung 11.1). Dabei bedient sich Ritchie einer eher ungewöhnlichen Form des Vibratos. So beginnt sie, die in Balla­ den typischerweise lang ausgehaltenen Töne ohne Vibrato zu singen, dann kurz mit Vibrato, bevor sie die Silbe auf dem gleichen Ton ohne Vibrato, dafür mit den oben genannten Verzierungen zu Ende bringt. Ihr Vibrato ist dabei gleichermaßen von einem hohen Tempo und geringer Tonhö­ henschwankung (+/- 16 Cent) geprägt. Den Eindruck eines »unusual sing- 294 Katrin Horn

song« unterstreicht in der Folge die jeweils dritte Textzeile (C), welche zwei Silben mehr als die achtsilbige B-Zeile beinhaltet. Hier folgen auf die zweisekündige Anfangssilbe (»no«) die restlichen Silben in kurzer Folge und stufenartig abfallender Tonhöhe. Die regelmäßigen Registerwechsel im Bereich des fsind zudem - anders als im restlichen, sehr klar gesungen Lied - von Rauheit gekennzeichnet. Diese stilistischen Markierungen ver­ weisen auf die angelsächsisch geprägte Tradition der Appalachen. Dem­ gegenüber steht Baez’ Version des Songs, welche trotz ihrer klaren Anbin­ dung an vorangegangene Balladentraditionen dennoch die von Cherlin und Gopinath angesprochenen Universalisierungstendenzen (»clear tone and clear, regionally neutral speech«) erkennen lässt.

G irl From North County: Urban Folk Revival

Ihren Durchbruch erlebte Joan Baez beim ersten Newport Folk Festival im Jahr 1959.28 Im selben Jahr veröffentlichte sie auch ihr Debütalbum Joan Baez, gefolgt von Joan Baez, Vol 2 (1961), Joan Baez in Concert (1962; Part 2 1963) und Joan Baez/5 (1964). 1963 erschien ihr Duett mit Bob Dylan (»With God on Our Side«) auf dem Festival-Sampler Newport Broadside. Wie James E. Perone über ihren Einfluss retrospektiv konstatiert, wurde ihr »distinctive soprano voice and fast, sometimes fairly wide, vibrato [...] almost stereotypical of female folksingers of the 1960s« (Perone 2012:2). Ihrem Einfluss zollte bereits 1962 das Time-Magazin Tribut, indem es Baez auf sein Cover setzte und so zum Gesicht des Urban Folk Revivals machte. Im Leitartikel »Sibyl with Guitar (»Seherin mit Gitarre«) beschrieb Time den rasanten Siegeszug des Folk, inklusive steigender Verkaufszahlen von Gitarren und Banjos sowie die scheinbar allgegenwärtigen Hootenanies und schließlich Baez' zentrale Bedeutung für Anhänger und Anhänger­ innen >authentischer< Folk Music (»authentics«):

28 1963 verzeichnete das Festival 47000 Besucher und Besucherinnen und war damit weitaus erfolgreicher als sein Vorgänger, das Newport Jazz Festival. Unter­ stützt wurde die Organisation des Festivals unter anderem von Pete Seeger und Jean Ritchie. Um die ganze Bandbreite des Folk-Interesses abzudecken, umfasste das Programm neben bekannten Stars wie Baez, Dylan, Jim Garland, Peter, Paul and Mary und Maybelle Carter (ehemalige Sängerin der Carter Family) auch indi- gene Tanzgruppen, afroamerikanische Ring Shouts, unbekannte Sängerinnen und Sänger sowie wissenschaftliche Vorträge zu Alan Lomax’ Forschungsergebnissen. Von Folklore zu Folk 295

Her voice is as clear as air in the autumn, a vibrant, strong, untrained and thrilling soprano. [...] In performance she comes on, walks straight to the microphone, and begins to sing. No patter. No show business [...] The pu- rity of her voice suggests purity of approach. [...] She sings Child ballads with an ethereal grace that seems to have been caught and stopped in pas- sage in the air over the 18th Century Atlantic. Barbara Allen (Child 84) is one of the set pieces of folk singing, and no one sings it as achingly as she does. (»Folk Singing« 1962)

Die genannte »purity of approach« prägte Baez’ Starimage und spiegelte sich unter anderem in ihrem Repertoire, das sich aus traditionellen Bal­ laden, wie dem erwähnten »Barbara Allen«, sowie Spirituals und später Kompositionen von Singer-Songwritern der Folk-Bewegung, allen voran Bob Dylan, zusammensetzte. Diese >Reinheit< findet sich auch in der in­ strumentalen Begleitung, die weitestgehend aus einer einzelnen Akus­ tikgitarre besteht. Diese spielte Baez, wie beinahe alle Sängerinnen und Sänger des Folk Revivals, darüber hinaus selbst - ein wichtiger Aspekt in Bezug auf den Folk-typischen »concern with authenticity« (Mitchell 2006:609) und die kommerzkritische Grundhaltung:

[Joan Baez] personified the anti-commercial roots of folk with her long hair, casual clothes, the simplicity of her playing and the reedy clarity of her vocal style. In particular, her whoop to a high note confirmed her Status as pure, untrained, unsophisticated, and by implication, non-commercial. (Whiteley 2000:73)

Hier zeichnen sich die inneren Widersprüche der Folk Music ab. Einer­ seits verstand sie sich als Roots Music - also folkloristisch im Sinne ei­ nes gemeinsamen kulturellen Erbes ebenso wie einer gemeinschaftli­ chen musikalischen Praxis. Andererseits erhoben Presse und Publikum gerade die Elemente des Personalstils, die vermeintlich Gewöhnlichkeit und Universalität ausdrückten, zu Alleinstellungsmerkmalen sich etab­ lierender Starpersönlichkeiten. Dabei stellte die Akustikgitarre insofern einen interessanten Kompromiss dar, als sie einerseits leicht zugänglich, erschwinglich und relativ einfach zu erlernen war (wie man u. a. an dem im Time-Artikel erwähnten Anstieg der Verkäufe sehen kann), und damit durchaus für >handgemachte< Musik stehen konnte. Andererseits war sie als Instrument weniger stark kulturell markiert als Hawaii-Gitarre, Ban­ jo oder Dulcimer und darüber hinaus für die meisten potenziellen Fans zugänglicher als die im Rahmen populärer Musik eher ungewöhnlichen 296 Katrin Horn

Abbildung 11.2: Joan Baez, »Barbara Allen« (1961). Baez singt weitestgehend im 4/4-Takt, an einigen Stellen unterbrochen von 2/4. Zudem ist ersichtlich, dass Baez höher singt als Ritchie und ein stärker ausgeprägtes Vibrato einsetzt.

'n slow- ly she drew nigh him

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A-cappella-Vorträge von Jean Ritchie. Baez’ Anpassung foikloristischer Quellen an ein modernes, urbanes Publikum schlug sich auch in ihrem vokalen Ausdruck nieder. Anders als Ritchie bedient sich Baez für die Intervallsprünge am Phra­ senende jeweils eines Abwärtsglissandos (Abbildung 11.2). Derartige Glis­ sandi waren in der populären Musik üblicher als die stufenartigen Ab­ senkungen der Tonhöhe, wie sie sich bei Ritchie finden. Baez interpretiert »Barbara Allen« darüber hinaus in höherem Tempo als Ritchie und singt einzelne Silben kürzer. Die verbleibenden, lange gehaltenen Töne sind mit einem deutlicher ausgeprägten Vibrato gesungen. Zusätzliche Dynamik erhält der Song über Baez’ Variieren der Lautstärke sowohl in der Gitar­ renbegleitung als auch im Gesang, was besonders im Kontrast zwischen den Abschiedsworten des sterbenden Verehrers (1:27-1:50) und Barbara Aliens »dig my grave«-Bitte (2:46-2:55) auffällt. Diese Modernisierung eines traditionellen Songs findet sich bereits auf Baez’ Debütalbum aus dem Jahr 1960, auf dem sie unter anderem den Hit »Wildwood Flower« der Carter Family aus dem Jahr 1928 singt. Erneut ist Baez’ Stimme schon dadurch >universeller<, das heißt regional wie sozial schwerer zuzuordnen, dass sie ohne Twang, ohne Rauheit, dafür in SAE singt. Auch die Steige­ rung des Tempos in »Barbara Ellen« wird hier bereits vorweggenommen. Interessant ist zudem, dass Baez den Song synkopisch interpretiert und durch kurze, angeschliffene Töne einen sprechnahen Duktus erzielt. Un­ gewöhnlich für Folk Music (ebenso wie für die der Carter Family eigent­ lich zugeschriebene Country Music), jedoch prominent in Baez’ »Wild­ Von Folklore zu Folk 297

wood Flower« eingesetzt, findet sich ein gebeitetes ds2 bei »my pure heart« (1:36-1:38). Maybelle Carter vollzog an vergleichbaren Stellen kurz einen Registerwechsel in die Kopfstimme (1:59). All diese Elemente können als Übersetzung des tradierten Materials für ein zwar an kulturellen Wurzeln interessiertes, jedoch nicht an dessen formale Gestaltungsmittel gewöhn­ tes Publikum verstanden werden. Gillian Mitchel konstatiert in diesem Zusammenhang als einen Grund für den Erfolg von Folk das Verlangen eines jungen, gebildeten, zumeist euroamerikanischen Publikums nach »community and cultural identity in a sterile, mass culture-driven world« (Mitchell 2006:606). Die Folk Mu- sic von Joan Baez und anderen Vertreterinnen und Vertretern des Urban Folk Revivals bot diese Anbindung an alte Traditionen und damit an Ge­ meinschaften über ihr Repertoire und ihren vokalen Stil. Darüber hinaus kreierte das Folk Revival durch , aber vor allem auch durch politisches Engagement neue Gemeinschaften: »the folk revival grew out of a disillusionment with Cold War consensus culture and drew on the [...] energies of social protest and political criticism shaping the Civil Rights movement and the women s movement« (Edwards 2009:37). In der Tradition Woody Guthries und fortgeschrieben von Pete Seeger wa­ ren Singer-Songwriter zentral für das Urban Folk Revival. Dementspre­ chend bezeichnete ein ausführliches Portrait im New Yorker Dylan 1964 neben Joan Baez - die sich ebenfalls politisch engagierte - als einen der beiden »preeminent spokesmen« zeitgenössischer Folk Music (Hentshoff 1964:64). Das Time-Magazin wiederum zollte seinem Einfluss Tribut, zeigte sich dabei aber wenig enthusiastisch und urteilte: »There is some- thing faintly ridiculous about such a citybilly, yet Dylan is the newest hero of an art that has made a fetish out of authenticity« (»Folk Singers« 1963).29 Entsprechend finden sich auf Dylans Debütalbum (Bob Dylan, 1962), ähnlich wie bei Baez, beinahe ausschließlich Interpretationen von Roots Music. Dabei reicht die Auswahl von Country Music über Downhome

29 Time weiter: »At its very best, his voice sounds as if it were drifting over the walls of a tuberculosis sanitarium - but thats part of the charm. Sometimes he lapses into a scrawny Presleyan growl, and sometimes his voice simply sinks into silence beneath the pile-driver chords he plays on his guitar. But he has something unique to say, and he says it in songs of his own invention that are the best songs of their style since Woody Guthries« (Time, 31. Mai 1963 »Folk Singers: Let Us Now Praise Little Men«). 298 Katrin Horn

Abbildung 11.3: Bob Dylan, »Masters of War« (1962). Offbeat-Phrasierung und lange, nach unten verschliffene Glissandi bei Dylan.

Blues und schottische Balladen30 bis hin zu Spirituals. Bei den Neukom­ positionen handelt es sich um einen Song, der seinem Vorbild Woody Guthrie gewidmet ist (»Song to Woody«), sowie um eine Hommage an diesen (»Talking New York«), welche auf Guthries Erzählungen beruht (Filene 2000:209) und in Form eines Talking Blues vorgetragen wird. Auf dem Nachfolgealbum The Freewheeliri Bob Dylan (1963) verschob sich Dylans Schwerpunkt auf politisch motivierte Songs, die jedoch größten­ teils zu Balladenmelodien komponiert oder von Balladen textlich und motivisch inspiriert waren, beispielsweise »A Hard Rains A-Gonna Fall« nach »Lord Randall« (Child 12), »Masters of War« nach »« (gesungen u.a. von Jean Ritchie, 1957), »Girl From North County« nach »Scarborough Fair« und »Blowin’ in the Wind« nach dem Spiritual »No More Auction Block«. Ähnlich wie Baez adaptierte Dylan die traditionel­ len Vorlagen mit Gitarrenbegleitung, höherem Tempo und synkopierter Rhythmisierung des Gesangs sowie mit angeschliffenen Tönen. In seinem bekannten Protestsong »Blowin’ in the Wind« verschiebt Dylan die Be­ tonungen teilweise auf die Offbeats und intensiviert so die Dynamik des Songs (auch in »Masters of War« ist die Offbeat-Gestaltung deutlich, siehe Abbildung 11.3). In seiner Version der Ballade »Man of Constant Sorrow« hingegen finden sich zahlreiche traditionelle Folk-Elemente vokalen Ausdrucks wie die lange gehaltenen Töne zum Phrasenbeginn (»I’m«, 0:02-0:05), die

30 Für weitere Ausführungen zu Dylans Umgang mit Balladen beziehungsweise der Erweiterung der Form (speziell nach 1965) siehe Filene (2000:218-19). Von Folklore zu Folk 299

an einigen Stellen (u. a. »said«, 0:47) zusätzlich mit Wechselnoten verziert werden. Wie bereits Baez, verleiht Dylan der traditionellen Ballade mehr Intimität, indem er die Lautstärke variiert (1:31). Dies geschieht vor allem an den Phrasenenden, die insgesamt sprechnah gestaltet sind. Einige der langen Töne (u.a. 2:20) werden kratzig gesungen, was als Teil von Dylans Personalstil in vielen Songs dieser Zeit zu hören und im Spektrogramm als Subharmonic zu erkennen ist. Mit dieser bei Seeger, Baez und den die Charts dominierenden Folk-Gruppen (wie dem Kingston Trio, siehe Ka­ pitel 15) vermiedenen Form vokaler Gestaltung schließt Dylan an die Tra­ dition Woody Guthries an. Diesem ähnelt er zudem durch seinen »nasal tone and restrained narration style« (Middleton 2003:165). Sheila White- ley (2000) verbindet Dylans Stimme, »characterized by a whining, nasal delivery and an abrasive intensity«, mit seiner Fähigkeit, »human and in- tellectual injustices« Ausdruck zu verleihen (Whiteley 2000:73). Diese von Whiteley beobachtete >grobe Intensität entsteht in »Blowin’ in the Wind« unter anderem durch Dylans ungleichmäßiges Vibrato, die freie Gestal­ tung des Rhythmus (u. a. 2:12) und die Setzung von Pausen vor wichtigen Worten (häufig vor »times«), welche in der vorletzten Strophe bei »how many ears« noch zusätzlich durch einen Glottisschlag betont wird. Dieser trennt »many« deutlich von »ears«, obwohl die Anfangs- und Endvokale ineinander übergehen könnten. Der von Whiteley beschriebene Eindruck des »whining«, welches sich neben der Rauheit als weiteres Element des Personalstils fassen lässt, entsteht durch die Verbindung von kurzen Auf­ wärtsglissandi mit einer Lautstärkesteigerung und dem stark nasalen Timbre (häufig auf »times«, u.a. 1:18). In »Masters of War« (siehe Abbildung 11.3) werden die anklagenden Textelemente in ähnlicher Weise unterstrichen. Hier gestaltet Dylan die Silben am Phrasenende (u. a. 0:44, 0:55) rufähnlich und wechselt diese mit Phrasenenden ab, welche durch relativ lange rechtssteile Abwärtglissandi (0,5 sek) markiert sind. An den Stellen, an denen diese Abwärtsglissandi auf Konsonanten fallen, greift Dylan auf betont weich ausgeführte stimm­ hafte Konsonanten zurück, die er zudem auch rhythmisch auf die schwe­ ren Zählzeiten platziert (u.a. »hand«, 0:54, »eyes«, 0:58 oder »blood«, 2:06). Im Gegensatz dazu werden jeweils die letzten beiden Zeilen einer Strophe leiser und sprechnah intoniert. Der insgesamt sprechähnliche Rhythmus und die teilweise im Legato gesungenen und so eng verknüpften Worte unterstreichen den von Simon Frith (1981) herausgearbeiteten narrativen Fokus der Folk Music, durch den wiederum die kritischen Inhalte der 300 Katrin Horn

Songs in den Vordergrund gerückt werden. Whiteley spricht von einer »untrained personalised delivery [that] signaled authenticity« (White­ ley 2000:73).31 Durch Dylans Pausensetzung und das Spiel mit Lautstär­ ke und der Härte des Stimmansatzes entsteht ein ebenso spontaner wie belebter beziehungsweise engagierter und dringlicher Eindruck, der dem Image des jungen Dylan als Pop- und Protestpoet entspricht. Während die Offbeat-Phrasierung und die Gitarrenbegleitung seinen Songs eine Dynamik verleiht, die ein junges, urbanes Publikum anspricht, transpor­ tiert seine Stimme und die teilweise undeutliche beziehungsweise nicht SAE-konforme Aussprache sowohl die Nähe zu vorangegangenen Folk- Traditionen als auch eine aufsässige Attitüde, die den anti-kommerziellen und anti-autoritären Anspruch der Folk-Bewegung widerspiegelt. Durch seine Verbindung von rauer Stimme, stärkerer Rhythmisierung und selbst komponierten Texten wurde Dylan nicht zuletzt wegweisend für den die ausgehenden 1960er Jahre prägenden Folk Rock.

Folk nach 1962

1963 konstatierte die New York Times einen entscheidenden Umbruch in der Folk Music: »It appears [...] that 1962 was the year when the folk-music revival outlived its period as a fad and became an established staple in the popular-music diet of this countrys listeners« (Shelton 1963:144). In der Tat war 1963 mit Sendebeginn der Folk-Show Hootenanny, der Veröffent­ lichung von Alben von Baez, Seeger und Dylan, dem Nummer-Eins-Hit der Rooftop Singers (»Walk Right in«), dem Erfolg von Peter, Paul and Mary mit Dylans »Blowin in the Wind« und dem gemeinsamen Auftritt von Baez und Dylan während des March on Washington ein Jahr, in dem die Folk Music in den US-amerikanischen Medien außergewöhnlich prä­ sent war. Ein inhaltlicher Umbruch ging damit jedoch nicht einher. Der Protestsong und themenbezogene Texte im Allgemeinen ebenso wie die Anbindung an Traditionen sowie (ländliche) kulturelle Gemeinschaften blieben auch über die Charterfolge der frühen 1960er Jahre hinaus be­ stimmende Elemente im Folk - schon allein deswegen, weil viele Prot- agonistinnen und Protagonisten des Folk Revivals lange darüber hinaus

31 Für eine Auseinandersetzung mit Dylans Verwendung von dialektalen Elemen­ ten siehe Cherlin und Gopinath (2009:225 ff.). Von Folklore zu Folk 301

das Genre bestimmten. Gleichzeitig öffnete sich das Genre jedoch gegen­ über Liedern, die stärker auf das Innenleben der Songpersona ausgerichtet waren, wie sich dies bereits in Dylans Freewheelin ankündigte. Auch in diesen Songs mit eher introspektiven und persönlichen Texten bestimm­ ten aber narrative Komplexität und Wortwitz beziehungsweise ironische und lakonische Elemente die inhaltliche Gestaltung der Songtexte. Zu­ gleich behielt die Grundidee des einfachen stimmlichen Vortrags als Teil der Überzeugungskraft und Ernsthaftigkeit der Musik ihre Bedeutung für das Genre.