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SWR2 Musikstunde

Zweiter Sieger ist erster Verlierer David Nadien, der Magier im Schatten (2)

Von Jörg Lengersdorf

Sendung: Dienstag, 2. Dezember 2014 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau

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Zweiter Sieger ist erster Verlierer Stunde 2: David Nadien, der Magier im Schatten

Die einen sind im Dunkeln, und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht. Bühnenlicht ist gleißend hell, fällt aber normalerweise in einem ziemlich eng umgrenzten Kegel auf jene riesige weltweite Schar von fantastischen Geigern, von denen es viele verdient hätten, auch mal ganz im Zentrum der Strahlen zu stehen. Die Welt der Spitzensolisten, der Geigenstars, deren Karriere alle Unwägbarkeiten überdauert hat, die Jahrzehnte im Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit unbeschadet überstanden haben, ist eine kleine Welt. Der Lichtkegel ewiger Berühmtheit ist schmal, und verteilt seine Strahlen keineswegs gerecht auf die Aspiranten des Ruhms. Einige wenige Geiger werfen riesige Schatten, viele andere warten im Dunkeln auf ihren Durchbruch. Nun kann so eine Existenz am Rande der ganz großen Weltkarriere durchaus etwas Beglückendes sein. Denn natürlich ist nicht jeder hochbegabte Geigenvirtuose überhaupt so erpicht darauf, an jedem Konzertabend als leuchtender Held und Einzelkämpfer vors Publikum zu treten. Auch bescheidene Naturen können ja fantastische Musiker sein, sie werden eben nur seltener bemerkt. Bescheidenheit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne Ihr. Aber man muss vielleicht gar nicht allzu weit kommen wollen, um ein schönes Leben zu führen. Einer der bescheidensten Spitzengeiger aller Zeiten machte zum Beispiel folgende Aufnahme, und man darf ihn sich als einen glücklichen Menschen dabei vorstellen:

Musik 1, 0.40 Sekunden Lightly Row (Hänschen klein) Arr: Suzuki David Nadien (Violine) Suzuki Method Vol 1 Playback CD Label Alfred Music Item: 00-0346 UPC: 029156150247 ISBN 10: 0874873460 ISBN 13: 9780874873467

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David Nadien hieß der Violinsolist in diesem zugegebenermaßen etwas direkt aufgenommenen Kinderklassiker “Hänschen klein”. Und David Nadiens Geigenspiel dürfte Millionen kleiner Geigenschüler auf diesem Planeten zum Geige üben motiviert haben, denn David Nadien machte für eine der erfolgreichsten Violinmethodiken der Welt, für die japanische Suzuki Lernmethode, Mitspielkassetten. Nadien spielte auf Tonträgern Kinderstückchen ein, die mit Lehrbüchern zusammen verkauft wurden. So konnten Geigenschüler der Suzuki Methode sich daheim mit dem Kassettenrekorder anhören, wie sie im Idealfall nach dem fleißigen Üben klingen sollten. Und damit dürfte David Nadien einer der weltweit häufigst gehörten Geiger überhaupt sein, auch wenn sich selten jemand für seinen Namen interessiert hat.

Nun könnte man das Einspielen von winzigen Übungsstücken für Kinder für eine ziemlich obskure Karrieresackgasse halten, aber sicher verdiente David Nadien eine Menge Geld damit. Und man darf im Falle des sympathisch unaufgeregten Mannes davon ausgehen, dass er es gern getan hat.

Auch im Fall von David Nadien lohnt sich ein Blick auf die ganze Biografie, denn er hat noch eine Menge anderer Sachen gemacht. Geboren wird David Nadien 1926 in , , als Sohn eines russischen Einwanderers. Der Vater verfolgt eine kleine aber erfolgreiche Karriere als Berufsboxer. Eigentlich heißt der Herr Papa George Nadien, verpasst sich aber im Boxring den ambitionierten Künstlernamen: Georgie Vanderbilt. Mutter Nadien ist Sekretärin beim Ölkonzern Standard Oil. Sie soll eine Virtuosin an der Schreibmaschine sein, die schnellen Finger hat sie wohl ihrem Kind vererbt.

Musik 2, 4.31min Nicolo Paganini Moto Perpetuo David Nadien (Violine) Simon Barere (Klavier) Cembal d´Amour CD 117 EAN 798167757928

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David Nadien und Simon Barere mit Nicolo Paganinis „Moto Perpetuo“. Ersten Geigenunterricht erhält David Nadien bereits mit 2 Jahren, auf einer winzigen Kindergeige, die sein Vater, der Boxer, besorgt hat. „Mein Vater spielte Geige, aber schlecht. Immerhin hatte er Spaß dabei, das habe ich sogar als Kind bemerkt“ wird David Nadien später in einem Interview sagen. Offenbar hat der Junge ebenso Freude beim Üben, er geht zur Musikschule in New York und erzielt mit ersten kleinen Auftritten bereits so große Erfolge, dass reiche Förderer ihm schon als Teenager ein Studium beim großen Adolfo Betti ermöglichen, einem weltweit gefeierten Quartettprimarius mit Villa am Comer See in Italien. Adolfo Betti nimmt seinen jungen Wunderschüler tatsächlich zwei Sommer lang zu sich in das Herrenhaus am Seeufer mit. Betti versteht es auf einfache Art, seinen Schüler zu motivieren. Nadien wird später sagen, er habe stets Glück mit seinen Lehrern gehabt, sie hätten ihn vor allem in Ruhe gelassen. Adolfo Betti ist wohl auch nicht gar zu streng beim Überwachen des täglichen Übepensums. Und so besteht der von den New Yorker Sponsoren geförderte Auslandsaufenthalt in Bella Italia vor allem aus Fußballspielen mit den Raggazzi.

Nach Ausbruch des 2. Weltkriegs wird indes die Idylle gestört. Betti, dessen ganze Familie in der italienischen Villa residiert, will in den unsicheren Zeiten nicht mit seinem Schüler zurück nach New York fahren. Ohnehin sind Boote aus Europa nach Amerika hoffnungslos überfüllt mit US Bürgern, die zurück in die Heimat wollen. Zudem ist Teenager David nach Aussage der Bootsreederei zu jung, um alleine überzusetzen. Ein katholischer Priester, ebenfalls auf der Flucht nach Übersee, bemerkt den Jungen am Hafen und erklärt sich bereit, David nach New York zu bringen. Kabinen gibt es nur noch für Frauen mit Kleinkindern. David schläft mit Geige unterm Arm unter freiem Himmel.

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Musik 3, 2.57 Gabriel Faure Berceuse David Nadien (Violine) David Hancock (Klavier) Cembal d´Amour CD 151 EAN 798167 997997

Gabriel Faures Berceuse mit David Nadien, Violine. Der 14 jährige David Nadien ist nach Kriegsausbruch glücklich zurück in Amerika und hat zunächst Unterricht bei Adolf Busch, dem deutschen Vorzeigegeiger, der inzwischen in den USA lebt und öffentlich erklärt, er werde mit Freuden wieder in Deutschland spielen, aber erst dann, wenn man Hitler und seine Brut gehängt habe. Busch ist privat ein freundlicher Lehrer, dem sich David Nadien in technischer Hinsicht wahrscheinlich bald überlegen fühlt. Der Krieg holt David Nadien indes auch in den USA ein. Mit seinem 18. Geburtstag wird David Nadien einberufen zur Armee, und da er vermutlich nie viel Aufhebens um sein spezielles Talent gemacht hat, erwartet ihn auch als heimliche Hochbegabung keine Sonderbehandlung bei den Truppen. David Nadien bekommt zwar vom Vater eine billige Geige ins Ausbildungscamp geschickt, aber die bespielt er allenfalls mit Unterhaltungsmusik an den Abenden mit den anderen Rekruten.

Nachdem David nun bei einem Rhythmustest für angehende Funker besonders positiv aufgefallen ist, soll er im Übermitteln von Morsecodes ausgebildet werden. Aber kurz vor Kriegsende überschlagen sich die Ereignisse, die Ausbildung zum Funker wird abgebrochen, David Nadien soll als einfacher Frontsoldat zur Invasion der Alliierten nach Europa.. Erst auf dem Weg zur Verschiffung nimmt das Schicksal einen anderen Lauf, kurz vor dem Abschied begegnet David rein zufällig einem Oboisten aus dem Philadelphia Symphony Orchestra, der ihn einmal hat spielen hören. So einen Geiger dürfe man doch nicht mit Gewehr in den Krieg schicken, nur durch Fürsprache dieses Oboisten wird der 18jährige David 6

Nadien in letzter Minute versetzt. Er wird Konzertmeister des Truppensinfonieorchesters: Kein Fronteinsatz, stattdessen kulturelle Betreuung der heimkehrenden Veteranen. Unverhofft kommt oft.

Musik 4, 1.59min Fritz Kreisler Schön Rosmarin David Nadien (Violine) Samuel Sanders (Klavier) Cembal d´Amour CD 117 EAN 798167757928

David Nadien und Samuel Sanders mit Fritz Kreislers „Schön Rosmarin“. Bei Kriegsende ist David Nadien gerade einmal 19 Jahre alt und hat im besten Alter beste Karriereaussichten, ein großer Solist zu werden. 1946 gewinnt er die vierte Ausgabe des Leventritt Wettbewerbs in New York, jenes Wettbewerbs, der später Solisten wie Alexis Weissenberg, Van Cliburn, Itzhak Perlman oder Pinchas Zukerman den Aufstieg bereiten wird. Dirigentenheroen wie und werden auf David Nadien aufmerksam. Er spielt eine ganze Reihe prestigeträchtiger Konzerte in den USA. Aber schon jetzt entscheidet er sich für eine Laufbahn eher im Schattenreich der Musikindustrie. Er wird Studiomusiker, spielt in kleinen Formationen Produktionen für die Unterhaltungsbranche ein, bei denen oft nicht einmal sein Name genannt wird. Einen Orchesterposten hat David Nadien seit seiner Zeit in der Armee nicht mehr bekleidet, als George Szell ihn in den 60er Jahren bittet, eine Führungsrolle bei den Geigen des zu übernehmen. Nadien lehnt ab. Aber eine Festanstellung bei einem Spitzenorchester scheint ihn doch zu reizen. 1966 geht er zum Probespiel für einen Konzertmeisterposten bei den New Yorker Philharmonikern. Ein Wettbewerb um eine unglaublich gutbezahlte Stelle: ein Konzertmeisterauswahlvorspiel ist in vielerlei Hinsicht nervenzerfetzender als jedes Solokonzert. Zuhörer sind nur die Orchestermitglieder und der Dirigent, in der ersten Runde reichen oft 30 Sekunden Musik aus, damit die 7

Kommission abwinkt und erklärt: „der Nächste, bitte“. 30 Sekunden können über die Karriere entscheiden. Wer länger spielen darf, macht sich Hoffnungen, in die zweite Runde zu kommen. Konzertmeister haben oft bessere Nerven als Solisten, und ein regelmäßigeres Einkommen. Nadien gewinnt den Posten gegen eine Weltelite, die zum Auswahlvorspiel angetreten ist. Er wird Chef der Streichersektion eines der besten Orchester der Welt.

Musik 5, 5.06min Ralph Vaughan Williams Fantasie über „Greensleeves“ Orchestra, David Nadien, Konzertmeistersolo

Direkt unter der Nase des Dirigenten und an der Schwelle zum Publikum sitzt David Nadien, außen,am vordersten Pult der ersten Geigen, und tut das, wofür ein Konzertmeister so gut bezahlt wird: Nerven behalten, aus dem Kollektiv heraus ein großes Solo spielen, ohne ganz vorn im Rampenlicht zu stehen. David Nadien war in dieser legendären Aufnahme Chef der Geigen des New York Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein, sein direkter Vorgesetzter, stand am Pult. Ab 1966, als Konzertmeister der New Yorker Philharmoniker, arbeitet David Nadien mit zahllosen Stardirigenten zusammen, und natürlich auch mit großen Solisten. Geiger wie David Oistrach schätzen seinen Rat mitunter höher als den der jeweiligen Dirigenten, Yehudi Menuhin bittet in einer Probenpause David Nadien gar um eine Unterrichtsstunde in Sachen Bogentechnik, was dieser ablehnt.

David Nadien wird später erzählen, er habe die Problematik mit Menuhins Bogenarm verstanden, hätte sicher dazu etwas sagen können, aber so habe er zu seinem einstigen großen Vorbild nicht sprechen wollen.

Nadien nimmt sich selbst überhaupt wenig wichtig. Als er dem Geigengott vorgestellt wird, erwähnt er nicht einmal, dass er auch Geige spiele, geschweige denn, dass er von 8

Geigenkennern häufig mit Heifetz verglichen wird. Nadiens Stellenwert erkennt man eher mittelbar an den Namen jener Musiker, die gern mit ihm arbeiten. Die folgende Aufnahme von Prokofieffs Sonate für 2 Violinen entsteht 1970 in New York an der Seite von Virtuosen-Ikone .

Musik 6, 2.43min Sergei Prokofieff Sonate für 2 Violinen op. 56 Ruggiero Ricci David Nadien (Violinen) Cembal d´Amour CD 151 EAN 798167 997997

David Nadien und Ruggiero Ricci mit dem zweiten Satz aus Prokofieffs Sonate op. 56. Zwei absolut gleichwertige Partner, der eine, Ruggiero Ricci, ist heute noch Legende, David Nadiens Name ist nur noch Insidern der New Yorker Orchesterszene wirklich ein Begriff. Konzertmeister sind die Magier im Schatten. Während der Dirigent wie im Falle vom New Yorker Chef Leonard Bernstein das Scheinwerferlicht auf sich bündelt, die Blicke der Zuschauer, arbeitet der Konzertmeister nach innen ins Orchester hinein. Er ist verantwortlich für die Bogenstriche seiner Geiger, die Artikulation der Streicher, für den gemeinsamen Atem. Oft bestimmt der Konzertmeister den Klang einer Streichersektion mehr als der Mann am Pult. Und doch kennt jeder im Publikum den Namen des Dirigenten, kaum jemand den Namen des Konzertmeisters. Kein Grund für Mitleid, David Nadien, Konzertmeister der New Yorker Philharmoniker in den späten 60ern geniesst höchstes Ansehen in der US Szene und bekleidet wahrscheinlich damals abgesehen von Spitzensolisten und Dirigenten den bestbezahlten Posten der gesamten Musikwelt. Und dann gibt es eben im Konzertmeisterleben Momente wie den folgenden: Tschaikowsky, Schwanensee. Anderthalb wunderschöne Minuten lang produzieren die New Yorker Philharmoniker unter Bernstein süffigsten Streichersound, geführt von David Nadien, dann ein großer Tusch… und dann ist der Konzertmeister plötzlich doch der Star. Alle Augen aufs erste Pult, 9 dort sitzt David Nadien, er steht nicht etwa auf, und ist doch Solist in einer der exponiertesten Stellen der Violinliteratur.

Musik 7, 5.34min Peter Tschaikowsky Schwanensee New York Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein David Nadien, Konzertmeistersolo

Das erste große Violinsolo aus Tschaikowskys Schwanensee Ballettsuite, David Nadien am ersten Pult der New Yorker Philharmoniker unter Leonard Bernstein. Gilt schon ein Bewerbungsvorspiel um einen Konzertmeisterposten als nervenaufreibender, als manches Solokonzert, so birgt auch das berufliche Anforderungsprofil extreme Herausforderungen. Ein Solo zu spielen, nach dem man sich noch wenige Momente vorher in den Gesamtklang einer Gruppe einordnen musste, erfordert ein blitzschnelles mentales Umschalten. Plötzlich muss man einen hundertköpfigen Klangkörper übertönen, dessen Teil man kurz vorher war. Der Puls von stressanfälligen Menschen kann da schon einmal Achterbahn spielen. Daneben spielen Konzertmeister ihre großen Passagen im Sitzen, genießen keine akustische Privilegierung wie Solisten, die ein ganzes Konzert lang vor dem Orchester stehen, Konzertmeister werden bei Plattenaufnahmen auch keinesfalls so günstig mikrofoniert wie Solisten. Ein Konzertmeister wie David Nadien, dessen vibrierender Ton auch ohne technische Verstärkung bis in den letzten Winkel eines Saales dringt, ist ein Hauptgewinn für jedes Orchester. Und bei allem schluchzenden Schmalz verlor sein Spiel nie an Eleganz. Wenn David Nadien als Kammermusiker auftrat, auch das tat er mitunter, überschlugen sich häufig die Kritiken: „Klanglicher Gigant, umwerfend.“ Und sicher hatte jener Kritiker recht, der Nadiens Spiel nach einem Recital als im besten Sinne „altmodisch“ qualifizierte: „So spielt heute einfach keiner mehr“

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Musik 8, 7.12min Cesar Franck Sonate für Violine und Klavier David Nadien (Violine) David Hancock (Klavier) Cembal d´Amour CD 151 EAN 798167 997997

Mitreißender ist dieser 2. Satz aus der Violinsonate von Cesar Franck selten gespielt worden als hier von David Nadien und David Hancock. 1968 entstand diese Aufnahme in New York, bis heute ist sie ein Geheimtipp und inzwischen wenigstens als Import aus den USA auf CD erhältlich. Als Konzertmeister der New Yorker Philharmoniker hatte David Nadien trotz seines Wirkens in der zweiten Reihe, hinter Solisten und Dirigenten, eine prestigeträchtige Position, auch wenn er wohl nicht alle Aspekte des Orchesterdaseins mochte. Für einen Geiger, der künstlerisches Potential für eine Solistenkarriere mitbringt, ist es nicht immer einfach, sich in die klanglichen Visionen häufig wechselnder und keineswegs immer erstklassiger Dirigenten einzuordnen. Aus einem Taktstock kommen keine Töne, aus dem Instrument des ersten Geigers schon. In David Nadiens Falle stets Weltklassetöne.

Nadien galt als „Bernsteins Konzertmeister“, aber gefragt, welchen Dirigenten er denn am meisten schätze, erwähnte er Bernstein jedenfalls nicht namentlich. Ob es zwischen Chefdirigent Leonard Bernstein und Konzertmeister David Nadien Schwierigkeiten gab oder nicht, muss Spekulation bleiben. Jedenfalls verlässt David Nadien 1970, nach nur 5 Jahren am ersten Pult der New Yorker Philharmoniker, den sicheren Posten, und macht wieder das, was er vorher lange Jahre gemacht hat: Produktionen als Studiomusiker. Und jetzt produziert Nadien eben jene Hörkassetten, die Millionen Geigenschüler der Suzuki Methode nach dem Unterricht mit nach Hause nehmen.

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Musik 9 Long, long ago (Variationen über „Lang, lang ists her“ Arr: Suzuki David Nadien (Violine) Suzuki Method Vol 1 Playback CD Label Alfred Music Item: 00-0346 UPC: 029156150247 ISBN 10: 0874873460 ISBN 13: 9780874873467

Ehemalige Geigenschüler der Suzuki Methode, die diese Aufnahme noch irgendwo im Schrank haben, dürfen sich glücklich schätzen, inzwischen gibt es die Kinderstücke aus der Schule in anderen Aufnahmen auf dem Markt, das hier war jene Aufnahme mit David Nadien, die, obwohl sie natürlich eher pedantisch am Rhythmus eines imaginierten Metronoms klebt, schon Kultstatus unter Geigenfanatikern genießt. Warum David Nadien 1970 den New Yorker Philharmonikern den Rücken gekehrt hat, ist er natürlich auch gefragt worden. Seine Antwort war entwaffnend naheliegend, der große Künstler war auch ein unprätentiöser Pragmatiker: „Ich wollte eine Gehaltserhöhung, und auf dem freien Markt konnte ich sie mir selbst bewilligen.“ „Der Magier im Schatten“, so ist diese SWR2 Musikstunde über David Nadien überschrieben, und tatsächlich verdiente er das meiste Geld seiner Karriere vermutlich mit Produktionen, auf denen sein Name allenfalls im Kleingedruckten zu lesen war: Für Popproduktionen stellte Nadien kleine, aber extrem feine Ensembles von handverlesenen Streichern auf die Beine, leitete sie oft selbst. Und es gibt manchen US Charthit aus den 80ern, bei dem man als Klassikfan immer schon denken konnte: Nicht mein Geschmack, aber wirklich gut gespielt.

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Musik 10, 1.09min Carly Simon The King and I Soundtrack

Als David Nadien kurz nach seiner Verpflichtung in New York 1966 einmal in einem Interview gefragt wurde, warum er, der gutverdienende Studiomusiker für Pop, Werbung und Fernsehspots sich überhaupt in einem seriösen Orchester beworben habe, hatte er noch geantwortet: Manche Leute schauen auf uns kommerzielle Musiker herab, irgendwann dachte ich, das mich das kümmere“. Am Ende seiner Karriere kümmerte es ihn jedenfalls nicht mehr. Man muss sich David Nadien, den Magier aus dem Schatten, als einen glücklichen Geiger vorstellen. Aufnahmen mit Nadien sind immer noch extrem rar auf dem Markt und hierzulande nur als Import zu bestellen. Vieles ist zudem stark rauschend aufgenommen, Amateurmitschnitte, nur für besessene Sammler interessant, von Nadien gibt es fast ausschließlich Live Aufnahmen. Die wenigen prominent auf dem Markt vertretenen Aufnahmen führen seinen Namen allenfalls in der zweiten, kleingedruckten Reihe, als Konzertmeister der New Yorker, wo er nur 5 Jahre lang wirkte, aber einen bleibenden Abdruck hinterließ. Im Mai dieses Jahres verstarb er im Alter von 88 Jahren nach einer Lungenentzündung in New York.

Musik 11, auf Schluss Georges Bizet Carmen-Suite Nr. 2 Nocturne New York Philharmonic Orchestra, Leonard Bernstein David Nadien, Konzertmeistersolo