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-Handbuch

Bearbeitet von Walter Werbeck

1. Auflage 2014. Buch. xxxiii, 583 S. Hardcover ISBN 978 3 476 02344 5 Format (B x L): 17 x 24,4 cm Gewicht: 1231 g

Weitere Fachgebiete > Musik, Darstellende Künste, Film > Musikwissenschaft Allgemein > Einzelne Komponisten und Musiker Zu Inhaltsverzeichnis

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Richard Strauss Handbuch

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Strauss-Bilder

Von Walter Werbeck

Richard-Strauss-Bilder gibt es nicht wenige. Man- einflussreichen und von Strauss gefürchteten Paul che wie das Bild des eher dem schnöden Mammon Bekker standen zahllose andere gegenüber, die als der hohen Kunst verpflichteten und am liebs- Strauss zum Klassiker erhoben (s. Kap. 26) –, so ten skatspielenden Bajuwaren sind zum Klischee errang spätestens Theodor W. Adorno 1964 mit geronnen. Ähnlich stabil hat sich, trotz wachsen- seinem Essay zum 100. Geburtstag des Kompo- der Skepsis, das Bild des Verräters an der musika- nisten die Hoheit über eine zwischen Faszination lischen Moderne gehalten, während das Bild des und Verdammung oszillierende Strauss-Deutung, NS-Musikfunktionärs in den letzten Jahren zu- und Carl Dahlhaus, der bis 1989 einflussreichste nehmend an Konturen gewonnen hat. Noch wei- Musikologe deutscher Sprache, gab dem Narrativ tere Bilder gäbe es in dieser Einleitung vorzustel- die definitive Form, als er 1980 schrieb, der Rosen- len, doch sei der Leser dazu auf die weiteren Texte kavalier sei von einem zeitgleichen Werk wie des Handbuchs verwiesen. Im Folgenden sollen Schönbergs Pierrot lunaire »durch eine Kluft ge- nur wenige Strauss-Bilder näher betrachtet wer- schieden, die unüberbrückbar erscheint. Die den: einige wie der Familienmensch, der Ge- Moderne spaltet sich […] in Neue Musik und schäftsmann und der Politiker, um sie zu ergänzen, Klassizismus« (Dahlhaus 1980, 282). Daran gab es andere, wie der Verräter an der Moderne, um sie scheinbar nichts zu zweifeln, lediglich über die zu korrigieren. Mit letzterem Bild soll der Anfang Frage, ob Strauss sich nicht vielleicht doch erst gemacht werden. mit der Frau ohne Schatten von der Moderne verabschiedet hatte, wurde diskutiert (Walter 2000, 243; Danuser 1984, 85). Aber noch 2000 konnte man bei Udo Bermbach lesen, der Rosen- Konservativer Modernist kavalier habe den »mit und zuvor erhobenen avantgardistischen Anspruch« konter- Lange dominierte das Bild vom Wagnerianer kariert, schon weil Hofmannsthals Libretto mit Strauss, der, durch Alexander Ritter um 1885 be- seiner »Plattheit und intellektuellen Anspruchslo- kehrt und mit seinen Tondichtungen schlagartig sigkeit nur als Kapitulation vor dem Unterhal- an der Spitze des Fortschritts marschierend, in tungsverlangen eines anspruchslosen Publikum den Einaktern Salome (1905) und Elektra (1909) verstanden werden« könne (Bermbach 2000, 6): konsequent der Moderne die Bahn geebnet habe, ein Argument, dessen Brüchigkeit sich längst um sie danach, mit der »klassizistischen« Wen- angedeutet hatte (vgl. Kap. 26). Bei manchen dung im Rosenkavalier, geradewegs zu verraten Autoren – Thomas Mann wäre zu nennen (Vaget und mit seinen weiteren Opern das 19. Jahrhun- 2006, 189 f.), in jüngster Zeit der ähnlich argu- dert überflüssig zu verlängern. War eine derartige mentierende Gerhard Splitt (Splitt 1987) – waren Sichtweise zu Lebzeiten des Komponisten durch- derartige Werturteile auch biographisch kontami- aus umstritten – kritischen Autoren wie etwa dem niert. Je mehr man Strauss’ antidemokratische,

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nationalistische Neigungen und seine Einlassun- schreibt, hat sich keineswegs eo ipso aus einer gen mit dem NS-Regime verurteilte, desto leich- Musikgeschichte, deren Telos zweifelhaft gewor- ter fiel es, auch über seine Werke den Stab zu den ist, verabschiedet. Doch gerade weil die brechen und selbst in den frühen Tondichtungen Strauss-Verächter über Jahrzehnte auf eine kriti- aus der Kaiserzeit Vorzeichen des braunen Terrors sche Sichtung seiner Partituren nach dem Rosen- auszumachen. kavalier verzichteten und ihre Vorurteile pflegten, Strauss selbst scheint das eingangs skizzierte bleibt der Blick auf die Musik eine unverändert Bild zu stützen. Am 9. Februar 1889 – er arbeitete aktuelle Aufgabe. gerade an seiner dritten Tondichtung Tod und Seine Tondichtungen (vgl. Kap. 21), sympho- Verklärung – bezeichnete er sich als »musikalischen nische Programmmusik in der Nachfolge von Fortschrittler (äußerste Linke)« (Strauss 1996, 125); Berlioz und vor allem Liszt, komponierte Strauss, Pfingsten 1907 – Elektra lag auf dem Schreib- um sich auf das Schreiben von Musikdramen im tisch – proklamierte er den »naturnotwendigen Sinne Wagners vorzubereiten. Hier entwickelte er Prozeß des Fortschritts« (Strauss 1981, 15). In den seinen persönlichen, rasch als ultramodern gefei- 1920er Jahren hingegen diffamierte er (wenngleich erten wie geschmähten Stil: mit einer Musik, privat) atonale Komponisten und deren Sympa- deren klangliche Raffinesse wie instrumentale thisanten als »Bolschewiken« (John 1994, 104) und Virtuosität noch diejenige Wagners übertraf, in mokierte sich in einem Brief an Alma Mahler über der neben dem Klang auch Parameter wie Tempo Schönberg, dem »nur mehr der Irrenarzt helfen« und Dynamik zu primären Kategorien der Form könne (Schäfers 2001, 123). Doch belegen derar- avancierten, ohne freilich die noch immer domi- tige Äußerungen nur, dass Strauss sich zunächst nierenden Eigenschaften des Tonsatzes, Melodie einigermaßen sicher war, mit dem von ihm propa- und Harmonie, in ihrer Bedeutung zu beschnei- gierten Fortschritt einem musikalischen Main- den, und in der zentrale instrumentale Formen stream anzugehören, während er später Konkur- wie Sonate, Rondo und Variation zu immer renten sah, die ihm seine Vorherrschaft streitig neuen Lösungen kombiniert wurden. Liszt fol- machten und mit deren Fortschritt er nichts zu gend erhielt jedes Stück ein eigenes Programm tun haben wollte. Da Strauss aber dem historisch- und eine eigene Form, und deren Realisierung ästhetischen Konzept Schönbergs, dessen Sen- hing wesentlich von einer aktiven, synthetischen dungsbewusstsein ihm ebenso fehlte wie dessen Hörhaltung des Publikums ab. Strauss setzte auf pädagogischer Eros, kein eigenes öffentlichkeits- eine Psychologisierung der Form, weil er wie wirksam entgegensetzte, nahm man seine Vorstel- Wagner seinem Publikum mit seiner Musik einen lungen einer sinnvollen Musik im 20. Jahrhundert Gehalt »mitteilen« wollte. Um das Verständnis kaum oder gar nicht wahr. Aufklärung erhoffte der Mitteilung zu erleichtern, zielte Strauss neben Strauss durch seinen Biographen Willi Schuh, der höchster Plastizität, höchster Bestimmtheit des allerdings in seiner erst 1976 publizierten Darstel- Tonsatzes stets auch auf formale Orientierungs- lung über die Jahre bis 1899 nicht hinauskam und punkte: klare Themenkontraste, Durchführun- auf ästhetische Diskussionen verzichtete. gen als Verwicklungen, deutliche Reprisen und Strauss sprach in seinen Werken. Erst ihre triumphierende wie verlöschende Schlüsse. Es ist kritische Analyse kann, wenn überhaupt, zu einer wichtig, sich diese Spezifika der Musik ebenso wie Revision des für Strauss so fatalen Bildes vom die aktive Einbeziehung des Publikums zu ver- Verräter an der Moderne führen – fatal, weil es gegenwärtigen, weil beide Elemente in den die wissenschaftliche Beschäftigung mit seiner Opern wiederkehren. Das gilt cum grano salis Musik ebenso lähmte wie die Bereitschaft von auch für den inhaltlichen Kern der jeweils vermit- Opernintendanten, seine Werke nach der Frau telten Botschaft: die Auseinandersetzung zwi- ohne Schatten in ihre Spielpläne aufzunehmen. schen einem Individuum, einem Menschen mit Zwar wird das Bild einer musikalischen Moderne, Ecken und Kanten (der künstlerische, heroische, die, Adorno folgend, eindimensional dem jewei- anarchische wie verrückte Züge tragen kann) ligen Stand des Materials entsprechen müsse, mit einer Gesellschaft von bornierten Philistern, schon länger nicht mehr akzeptiert; wer tonal die nach verstaubten Gesetzen leben und jegli-

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che Kreativität, jeglichen Sinn für wahre Kunst, ebenso wie des Einakters, auf den Strauss noch aber auch für wahre Menschlichkeit verloren ha- mehrfach zurückgreifen sollte, es steht zudem mit ben. seinen zahlreichen, durchaus parodistisch gemein- Hinzu kommt ein Weiteres: die Emanzipation ten Zitaten (einschließlich Münchner Lieder) und von einem christlichen gefärbten Wagnerbild, das seinen Walzersequenzen paradigmatisch für die Ritter ebenso wie Bayreuth gemalt hatten. Begon- »Stilkunst« (Kristiansen 2000), das raffinierte nen schon im Schlussakt von (vgl. Kap. Spiel mit historischen Stilen, das Strauss’ Opern 12), hat sie in den Tondichtungen seit Till Eulen- (und damit, wenn man will, seine spezifische spiegel vor allem zu einer gesteigerten illustrativen »Moderne«) im Weiteren prägen sollte. Vor die- wie parodistischen Tonsprache geführt; selbst vor sem Hintergrund erscheinen Salome und Elektra Geräuschen (Hammelblöken) schreckte Strauss, eher als Ausnahmen, nach denen Strauss sein ganz im Sinne des zeitgleich auf den Theaterbüh- Konzept mit unverminderter Energie fortsetzte. nen dominierenden Naturalismus, nicht zurück Doch auch in diesen beiden Opern finden sich (Werbeck 2001, 43–46). Seit 1895 war Strauss kein Walzer (am Ende von Elektra) ebenso wie parodis- orthodoxer Wagnerianer mehr: ein Schritt, dessen tische Effekte: In Salome ist das schmachtende Radikalität angesichts eher konservativer Wagner- As-Dur von Jochanaans »Er ist in einem Nachen« Anhänger wie Schillings, Pfitzner oder selbst (Zi. 132), das später die Nazarener aufgreifen Mahler nicht zu unterschätzen ist. Neben Wagner (7 Takte nach Zi. 211) fraglos musikalischer Kitsch, trat Mozart (vgl. Kap. 8), den Strauss als »Inkarnat mit dem Strauss seiner antichristlichen Überzeu- des reinen Künstlers« (Kristiansen 2000, 410) und gung Ausdruck gab – und zugleich für die not- damit als antimetaphysisches Idol schlechthin wendige Entspannung in einer ansonsten eher verehrte. nervösen Partitur sorgte. Ähnlich funktioniert in Dennoch blieb Strauss Wagnerianer, weil er bis Elektra die Erkennungsszene zwischen Elektra und zuletzt an Wagners historisch-ästhetischer Kon- Orest (9 Takte nach Zi. 148a), die, vielleicht nicht zeption festhielt, der zufolge die Musikgeschichte zufällig, wiederum in As-Dur steht: Ihre musika- im Musiktheater kulminieren müsse und die lische Schwelgerei über langen Orgelpunkten Komposition von Instrumentalmusik seit Beetho- dient zugleich als kadenzierende Ruhe nach ven ihre Berechtigung verloren habe. Musik, die hochgespannt-chromatischen Partien; man ernst zu nehmen war, konnte sich Strauss nur als könnte auch vom Nacheinander von Dissonanz Musik theater vorstellen. Folglich fanden seine und Konsonanz im Großen sprechen. So fragil die Tondichtungen, wie schon Hanslick prognosti- Tonalität geworden war: Für Strauss bildete sie zierte, ihre Konsequenz in seinen Opern. Hier unverändert ein zentrales Koordinatensystem – setzte er auf die dort erprobten musikalischen und zwar als Mittel musikalischer Charakterisie- Mittel ebenso wie auf die enge Kommunikation rung ebenso wie als struktureller Halt. Wie kein mit seinem Publikum; wie Schönberg seine Musik Zweiter verstand er es, ihr Fundament, die Ka- einem exklusiven »Verein für musikalische Privat- denz, noch einmal in großem Stil in Szene zu aufführungen« vorzubehalten, wäre Strauss nicht setzen und so die Dissonanzen, die seine teils im Traum eingefallen. Und natürlich bewegte er rücksichtslose Orchesterpolyphonie zeitigte, zu sich auch in der Oper – nach dem zögerlichen balancieren. Beginn mit Guntram – konsequent vom Wagner Gewiss, zur Drastik der musikalischen Sprache des Erlösungsdramas fort, zielte vielmehr, wie in von Salome und Elektra ist Strauss später nicht den Tondichtungen, auf Individualität und musi- mehr zurückgekehrt. Der Differenzierungsgrad kalische Vielfalt. Lapidar als »Oper« firmieren nur seiner Musik ist allerdings eher noch gewachsen – drei seiner Stücke (, Die ohne dass Strauss in seiner Anstrengung nachge- Ägyptische Helena, ), ansonsten ändern lassen hätte, die Musik aus dem Käfig ihrer selbst- sich die (partiell hybriden) Untertitel von Werk zu referentiellen ästhetischen Nabelschau zu befreien, Werk. in dem sie sich seiner Überzeugung nach am Ende Das »Singgedicht« steht nicht nur am des 19. Jahrhunderts gefangen hatte. Unbeirrt Beginn einer Reihe komödiantischer Stücke schrieb er Musik des 20. Jahrhunderts – für ein

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Publikum, das seine Kunst so ernst nahm, wie sie sungen in Heilanstalten notwendig machten, ihm war. Sie hat es verdient, auch heute ernstge- warfen allerdings einen Schatten auf die frühen nommen zu werden. Jahre (Schuh 1976, 93 ff.). Auch mit dem Vater, der zum Jähzorn neigte, war nicht immer leicht umzugehen. Dennoch: Strauss hat die Bedeutung der Familie für seine eigene Entwicklung nie Der Familienmensch vergessen und zumal den Pschorr-Verwandten durch die Widmung seines wohl populärsten Richard Strauss zählte seit den frühen 1890er Jah- Werkes, des Rosenkavaliers, ein würdiges Denk- ren zu den bekanntesten deutschen Komponisten, mal gesetzt. seit dem Sensationserfolg von Salome (1905), der Mit 30 Jahren gründete Strauss seine eigene durch den des Rosenkavalier (1911) noch übertrof- Familie. 1894 heiratete er die Sängerin Pauline de fen wurde, galt er als der berühmteste und neben Ahna, 1897 wurde Sohn Franz geboren. Dieser Giacomo Puccini erfolgreichste Komponist seiner heiratete 1924 Alice Grab und hatte mir ihr zwei Zeit. Natürlich war er in der Kultur- und speziell Söhne, Strauss’ Enkel Richard (geb. 1927) und in der Musikszene eine öffentliche Person, über Christian (geb. 1932). Die Startphase von Richards deren Musik man – durchaus auch polemisch – eigener Familie verlief allerdings keineswegs rei- diskutierte, aber gesucht hat er die Öffentlichkeit bungslos. Seine Eltern kamen nur schwer mit der nicht. Sie bestand für ihn wie für seine Kollegen in neuen Schwiegertochter aus; Strauss schlug ihnen erster Linie aus dem Publikum, das Konzerte bzw. allen Ernstes vor, Pauline, weil sie »so gar nicht zu Opernaufführungen besuchte und damit für den Euch zu passen scheint«, aus »dem Familienkalen- Fortbestand des öffentlichen Musikbetriebs sorgte, der zu streichen« (undatierter Brief, Schuh 1954, von dem seine Existenz abhing. Außerhalb des 202 f.). So weit kam es nicht, aber ein harmoni- Musikbetriebs mied Strauss weitgehend jegliche sches Miteinander hat es wohl auch später nicht Publizität. Stattdessen pflegte er ein intensives immer gegeben. Privatleben, das um nichts anderes als um ihn Will man Strauss und seine Familie näher cha- selbst und seine Familie kreiste; es verwundert rakterisieren, muss man bei seiner Frau etwas wenig, dass die Sängerin Lotte Lehmann Strauss länger verweilen. Tochter eines bayerischen Gene- einmal als »egocentric in the extreme« beschrieb rals, fühlte sich Pauline ihrem Mann, dem Spross (Kater 2000, 217). Neben dem Komponieren und einer bürgerlichen Musikerfamilie, durchaus der Aufführung seiner Werke interessierte Strauss überlegen, auch wenn sie ihm als Schülerin und nichts so sehr wie das Wohlergehen seiner Familie; später als Ehefrau eine veritable Sängerinnen- diesen drei Maximen ordnete er in seinem langen Karriere verdankte. Strauss schätzte Paulines große Leben alles unter. Musikalität, ihre darstellerische Leistung auf der Welche Bedeutung ein intaktes, kulturell auf- Opernbühne, ihre Einfühlung vor allem in seine geschlossenes, musikalisch aktives und, nicht zu eigenen Lieder und deren »poetischen« (Strauss vergessen, ökonomisch abgesichertes Familien- 1981, 248) Vortrag über alles. Vor allem aber: Pau- leben hatte, durfte Strauss schon als Kind erfah- line inspirierte ihn, sie war seine Muse. Hatte er ren. Sein Vater Franz, professioneller Hornist und als Jugendlicher Lieder für seine Tante Johanna Dirigent von Liebhaberorchestern, sowie die Pschorr komponiert, so schrieb er sie später für Großfamilie Pschorr, der seine Mutter Josephine seine Frau; als sie nach 1904 ihre Karriere been- entstammte, ermöglichten ihm eine alles in allem dete, ging seine Liedproduktion merklich zurück. sorglose Jugendzeit und eine intensive Pflege sei- Ihr Sopran dürfte zudem wesentlich mit dafür nes musikalischen Talents (vgl. Kap. 24) – ein- verantwortlich gewesen sein, dass Strauss in seinen schließlich früher Besuche von hochrangigen Opern die großen musiktheatralischen Sopran- Konzert-, Opern- und Kammermusikaufführun- rollen bzw. überhaupt Opernstoffe mit besonde- gen –, von der andere nur träumen konnten. Die ren Frauentypen bevorzugte (Werbeck 2003). In Depressionen, an denen Strauss’ Mutter immer Strauss’ Leben als Opernkomponist spielten neben wieder erkrankte und die mehrfache Einwei- Pau line ausnahmslos Sopranistinnen eine heraus-

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ragende Rolle, ob sie nun Lotte Lehmann, Elisa- Anhänglichkeit auch als eine Last empfand, lässt beth Schumann oder, als zentrale Figuren, Maria sich, solange die einschlägigen Dokumente noch Jeritza und hießen. nicht ausgewertet sind, nur vermuten. Auch das Doch Paulines Einfluss auf den Komponisten Kind wurde »komponiert«: in der Symphonia do- Strauss reichte noch weiter: Wir wissen, dass sie als mestica, in sowie im Parergon zur Muster wenigstens für »Des Helden Gefährtin« in , jenem Klavierkonzert für der Tondichtung ebenso diente den einarmigen Pianisten Paul Wittgenstein, in wie für die »Frau« in der Symphonia domestica, dessen Musik sich die Angst um den 1924 während aber auch für die Rolle der Färbersfrau in Die Frau seiner Hochzeitsreise in Ägypten lebensgefährlich ohne Schatten (zumindest im Frühstadium der an Typhus erkrankten Sohn niedergeschlagen hat. Arbeit) und schließlich, unübersehbar, für die Weil Franz das einzige Kind blieb, konzentrierte Rolle der Christine Storch in Intermezzo; weitere sich alle elterliche Fürsorge auf ihn. Während Ri- Beispiele sind zwar nicht bekannt, aber keineswegs chard Strauss sich früh bereits von seinem Vater auszuschließen. Hier fungierte Pauline allerdings emanzipierte, ist dies dem Sohn, wie es scheint, weniger als Sopranistin denn als Frau, deren kom- bis zuletzt nicht gelungen. Mediziner durfte er plexer Charakter ihren komponierenden Ehe- nach dem Willen des Vaters nicht werden (Wil- mann zeitweise derart faszinierte, dass er sich helm 1984, 279); so diente er ihm als promovierter während der ersten Arbeiten am Intermezzo-Text Jurist, zog 1925, nur gut eineinhalb Jahre nach vorstellen konnte, aus Pauline »10 Stücke« zu seiner Hochzeit, ins neu erbaute Haus des Vaters machen (Brief an Hermann Bahr vom 12.7.1917, in Wien und auch seine Frau Alice ordnete sich als Gregor 1947, 104), in denen jeweils ein anderer unentbehrliche Privatsekretärin in eine Familie Charakterzug dominieren würde. ein, deren Leben ganz auf die Interessen von Ri- Solchen künstlerisch-poetischen Qualitäten und chard Strauss zugeschnitten war. Er bestimmte dem Stolz auf ihren berühmten Mann, um dessen jederzeit den Kurs; seinen Arbeiten, seinen Reisen, Wohlergehen sie sich permanent sorgte, standen seinen Auftritten als Dirigent, seinen Freiräumen immer wieder kritisierte Eigenschaften Paulines fürs Komponieren hatte sich die Familie anzupas- gegenüber, die Richard – nach einer anfangs sen und wurde, soweit möglich, in die Organisa- schwierigen, 1901 fast bis zur Scheidung führenden tion seiner vielfältigen Aktivitäten einbezogen. Phase (TrChr, 215) – mehr oder weniger gelassen Strauss war und blieb das Oberhaupt. Und als tolerierte, auch wenn sie die Zeitgenossen damit solches fühlte er sich für die Familie verantwort- gehörig vor den Kopf stieß: sei es ihr mangelndes lich. Nicht nur viele seiner geschäftlichen, sondern Taktgefühl, ihre Streit- und Klatsch lust (auch unter auch seiner politischen Aktivitäten waren durch mehr als vier Augen; Harry Graf Kessler sprach die Sorge um die Familie motiviert. einmal von Paulines »halbhysterischen Unartigkeits Anfällen«; Tagebucheintrag vom 21.2.1910, Schuster 2005, 190) oder ihre Pedanterie in allen häuslichen Dingen, zudem ihre antidemokratischen, nationa- Freunde und gesellschaftliches listischen und wohl auch antisemitischen Überzeu- Leben gungen, mit denen sie bisweilen recht offen umging (Hettche 1996, 18). Für ihren Mann – der, wenn Konnte ein Genie wie Strauss, dessen Leben ganz man das Libretto von Intermezzo wörtlich nehmen dem eigenen Komponieren, den Auftritten als will, all dies »brauchte« –, bildete Pauline ungeach- Dirigent und dem Wohlergehen der Familie ge- tet aller unvermeidlichen Streitigkeiten einen uner- widmet war, belastbare Freundschaften schließen? setzlichen Stabilitätsanker; auf sie konnte er sich Gewiss, der junge, aufstrebende Musiker hatte jederzeit verlassen. Beide hingen mit größter Zärt- Freunde – etwa die zur »Ritterschen Tafelrunde« lichkeit am gemeinsamen Sohn wie auch an dessen (gemeint ist Alexander Ritters Tisch in der Familie. Münchner Weinstube Leibenfrost) zählenden Wie weit Franz Strauss, von den Eltern be- Ludwig Thuille, Friedrich Rösch und Arthur zeichnenderweise bis zuletzt »Bubi« genannt, diese Seidl, die Ritter seit 1886 in München zu einer

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schlagkräftigen Propagandatruppe für seine an immerhin schätzte Strauss ihn so hoch, dass er mit Wagner orientierten künst lerischen Ziele zu for- ihm zusammen das Libretto seiner letzten Oper men suchte. Mit allen war Strauss per Du, und verfasste (vgl. Kap. 16). allen dreien widmete er seine frühen Tondichtun- Mit Freunden hat Strauss in seinen jüngeren gen, die ihn als Komponisten bekannt machten: Jahren auch einen Teil seiner Freizeit verbracht. wurde Thuille, Tod und Verklärung Man lud sich gegenseitig ein, man reiste zusam- Rösch, Till Eulenspiegel Seidl dediziert. Später, men, unternahm Ausflüge. Vom jungen Strauss während der zweiten Münchner Zeit von 1894– weiß man, dass er in Berlin 1883/84 gezielt Be- 1898, freundete sich Strauss auch mit Max Schil- kanntschaften aufnahm und ein Netzwerk lings an. Doch die Freundschaften waren bald knüpfte, von dem er auch noch profitieren Belastungen ausgesetzt. Ende 1903 kritisierte Otto konnte, als er 1898 als Hofkapellmeister in die Julius Bierbaum Strauss’ – mit dem Resul- Reichshauptstadt zurückkehrte. Gleiches gilt für tat, dass der verärgerte Komponist für einige Jahre Verbindungen zu Dirigenten- und Komponisten- den Kontakt zu seinen Münchner Freunden ab- kollegen: Man traf sich, tauschte sich aus und brach bzw. auf ein Minimum reduzierte. Schon führte die jeweiligen Werke des oder der anderen vorher, Ende 1899, hatte die Beziehung zu Seidl auf – jeweils zum allseitigen Nutzen. Wie weit unter Eifersüchteleien gelitten. Mit Thuille kam es Strauss über beruflich nützliche Kontakte hinaus immerhin, kurz vor dessen Tod 1907, noch zu ei- allerdings auch gesellschaftliche Beziehungen ner Aussöhnung, während die zunächst persönlich knüpfte bzw. pflegte, mit anderen Worten: In gehaltenen Briefe mit Schillings einer eher ge- welchem Umfang er am gesellschaftlichen Leben schäftsmäßigen Korrespondenz wichen. Auch die der jeweiligen Städte teilnahm, in denen er Freundschaft mit Rösch wurde mit dessen Tätig- wohnte, lässt sich bislang nicht abschätzen, weil keit in der Genossenschaft Deutscher Tonsetzer vor allem die Familienkorrespondenzen noch im- (GDT) sowie der Anstalt für musikalisches Auf- mer der Auswertung harren. Andererseits: Wäh- führungsrecht (AFMA) insofern Belastungen aus- rend der Saison fehlte Strauss, solange er noch gesetzt, als Strauss sich bei seinen Verhandlungen hauptamtlich dirigierte, vermutlich schlicht die mit Verlegern in eigener Sache keineswegs immer Zeit, die durch Proben, Aufführungen und das an die Regeln, auf deren Einhaltung Rösch pochte, Schreiben von Partituren bis zum Rand gefüllt gebunden fühlte. war. Verständlich also, dass Strauss bislang jeden- Enge Freundschaften, die zum gegenseitigen falls nicht als Gesellschaftslöwe aufgefallen ist; Du führten, scheint Strauss später kaum noch Harry Graf Kessler bekannte er, anders als seine geschlossen zu haben. Eine wichtige Rolle als Frau am Verkehr in der »Gesellschaft« nur mäßig Vertrauensperson spielte seit 1902 der Berliner interessiert zu sein (Eintrag vom 4.8.1912; Schuster Kaufmann und Kunstmäzen Willy Levin, den 2005, 854). Die Zahl etwa der Salons, die er be- Strauss zeitweise, etwa bei den Verhandlungen suchte, hielt sich offenbar in Grenzen: Er soll über die Uraufführung von , wie (TrChr enthält dazu keine Angaben) zu den Gäs- einen persönlichen Manager einsetzte (Hettche ten des Salons des Ehepaars Max und Elsa Bern- 1996) und mit dem er gerne Skat spielte; auch zu stein gehört haben, den mit ihm u. a. Hans Pfitz- dem Wiener Musiker und Musikkritiker Ludwig ner, , Thomas Mann, Karpath, seit 1923 in der Bundestheaterverwaltung Rainer Maria Rilke und Gerhart Hauptmann für musikalische Angelegenheiten tätig und damit frequentierten (Machatzke 1985, 146 f.). Sicher Strauss, dem künstlerischen Oberleiter der Wiener und häufiger zu Gast war er im Münchner Hause Staatsoper, vielfältig verbunden, pflegte der Kom- des Verlegers Thomas Knorr – dagegen ist von ponist ein offenbar recht vertrautes Verhältnis. Als Besuchen im Salon von Elsa und Hugo Bruck- Karpath 1936 starb, waren alle diese »Freunde« mann nichts bekannt. Gleiches gilt für die be- dahingegangen, und es scheint, als habe später vor rühmten Wiener Salons von Berta Zuckerkandl allem Clemens Krauss, Strauss’ »Leibdirigent«, oder Eugenie Schwarzwald; dagegen hat Strauss noch die Rolle eines Freundes, zumindest jeden- offenbar in frühen Jahren den Salon von Jella falls eines musikalischen Beraters spielen können; Oppenheimer in Wien aufgesucht (Martynkewicz

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2011, 23). Außerdem gehörte er zu den Gästen im allem aber Skat. Seine Leidenschaft für das Spiel Wiener Hause Wittgenstein, wo er mit dem pia- war notorisch; es entspannte ihn, weil er während nistisch begabten Sohn Paul vierhändig spielte der Partien ausnahmsweise nicht ständig innerlich (Werbeck 1999, 17). In Berlin zählte Strauss zu den Musik hörte (Wilhelm 1984, 274). Dennoch Stammgästen im Salon von Willy Levin, auch mit wurde auch diese Passion »komponiert«: In Inter- der Salonnière Helene Nostitz war er bekannt. mezzo gehört die Skatszene zu den eindrucksvolls- Über Kontakte zum Berliner Salon von Cornelie ten Abschnitten und mit dem skatspielenden Richter hingegen, zu dessen Besuchern Hof- Kommerzienrat setzte Strauss seinem Freund mannsthal und Harry Graf Kessler zählten, wissen Willy Levin ein Denkmal – für den er sogar einen wir bislang nichts. Während Strauss als Kompo- Skatkanon (TrV 210) geschrieben hat. Natürlich nist auf die repräsentativste, festlichste aller Gat- besuchte Strauss auch Bälle und gelegentlich tungen setzte, die große Oper, hielt er sich als Sportveranstaltungen wie etwa das Berliner Trab- Privatmann von Festivitäten eher fern. rennen in Hoppegarten – zu seinen Favoriten Kontakte, auch zu politischen Personen, pflegte zählten derartige Vergnügungen allerdings wohl Strauss außer in Salons in Vereinen oder Gesell- nicht. schaften. Er gehörte dem 1897 in Berlin gegründe- ten »Verein zur Förderung der Kunst« als Ehren- präsident bzw. später, zusammen mit Gerhart Hauptmann, als Ehrenvorsitzender an (Machatzke Musiker, Geschäftsmann 1987, 503) – ohne dass bislang Näheres darüber und Funktionär bekannt wäre, wie er sich hier tatsächlich enga- gierte. Ähnlich ungewiss ist, ob Strauss 1903 der Vom eigenen Vater lernte Strauss, dass und wie Aufforderung zur Unterzeichnung eines Grün- man als professioneller Musiker leben und sein dungsaufrufs für den u. a. von Harry Graf Kessler Brot verdienen konnte. Angesichts seiner kompo- betriebenen »Sezessionsklub« folgte (dabei hätte er sitorischen Begabung lag es allerdings nahe, sich sich in der Gesellschaft etwa von Richard Dehmel, ein finanzielles Standbein als Dirigent zu suchen. Alfred Lichtwark und Gerhart Hauptmann befun- Mit dem Engagement des 21-Jährigen an den den), geschweige denn, ob er Mitglied wurde Meininger Hof (gegen Konkurrenten wie Gustav (Machatzke 1987, 679). Auf sicherem Boden hin- Mahler, Herman Zumpe, Felix Weingartner und gegen bewegen wir uns mit Strauss’ Zugehörigkeit Jean Louis Nicodé; Bülow 1907, 359) erfüllte sich zum Präsidium der »Deutschen Gesellschaft 1914«, dieser Traum schon früh. Sein Mentor und Vorge- die sich im November 1915 konstituiert hatte und setzter Hans von Bülow dürfte Strauss als vorbild- als Medium zur Koordinierung der deutschen licher Dirigent und Interpret lebenslang vor Au- Intelligenz im Hinblick auf die Kriegsführung gen gestanden haben. Aber nicht nur von Bülow, sowie zur Vermittlung zwischen geistiger und po- auch von Brahms, dem Strauss in Meiningen be- litischer Elite verstand (Sprengel 1997, 340–342). gegnete, konnte er Einiges lernen – nicht zuletzt, Am 14. Oktober 1915 etwa verzeichnet die Chronik dass es möglich war, allein von den Einnahmen einen »1. Clubabend« der Gesellschaft im Hotel aus eigenen Werken zu leben und nur dann als Esplanade, an dem neben Strauss noch der Präsi- Musiker aufzutreten, wenn es galt, eigene Werke dent Wilhelm Solf (Staatssekretär im Reichskolo- zu spielen oder zu dirigieren. Dieses Ideal verlor nialamt), der Publizist Maximilian Harden, der Strauss in der folgenden Zeit nie mehr aus den Industrielle, Schriftsteller und spätere Reichsau- Augen. So sehr er einerseits sich als Dirigent ßenminister Walther Rathenau sowie Gerhart künstlerische Ziele setzte – seit Weimar vor allem Hauptmann teilnahmen. Auch 1916 bis 1918 hielt die Aufführung der Werke der Neudeutschen sich Strauss mehrfach mit anderen Mitgliedern Schule mit Beethoven, Berlioz, Liszt und Wagner; der Gesellschaft im »Club« auf. in der zweiten Münchner Zeit kamen die Opern Zu den für Strauss angenehmsten Dingen ge- Mozarts als Schwerpunkte hinzu –, so war ihm die sellschaftlichen Zeitvertreibs gehörte das Karten- ökonomische Seite seines Berufs doch alles andere spiel: Rommé, Piquet, Tarock und Schafkopf, vor als gleichgültig. Auch seine Konzertreisen, die ihn

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seit der Mitte der 1890er Jahre in wachsendem der 1903 gegründeten AFMA, für die er sich meh- Maße durch das Deutsche Reich ebenso wie ins rere Jahre lang zusammen vor allem mit Friedrich europäische Ausland führten (1904 und 1921/22 Rösch und Hans Sommer (vgl. Kap. 2) stark ge- kamen Tourneen in die USA, 1920 und 1923 sol- macht hatte. Aber erst mit den auch finanziell che nach Südamerika hinzu), dienten immer zu- höchst einträglichen Erfolgen der Trias Salome, gleich der Mehrung des eigenen Vermögens – eine Elektra und Rosenkavalier, mit dem Bau einer re- Funktion, mit der Strauss, was seine Kritiker be- präsentativen Villa in Garmisch, die Strauss 1908 sonders irritierte, ganz offen umging. Als er in bezog, mit dem Erwerb eines ersten Autos im New York im April 1904 zwei Konzerte in einer selben Jahr schien das ersehnte Ziel erreicht – fol- freigeräumten Etage des Wanamaker-Warenhauses gerichtig löste sich Strauss schon in den Jahren vor dirigierte, brachte ihm das in Deutschland den dem Ersten Weltkrieg sukzessive aus seinem Berli- Vorwurf ein, sich »an der Würde und dem Anse- ner Kapellmeisteramt. Als jedoch im August 1914, hen der deutschen Kunst […] schwer versündigt« kurz nach Beginn des Krieges, sein in London zu haben (Spanuth 1908, 597); Strauss konterte deponiertes Vermögen beschlagnahmt wurde, mit dem Satz »Wahre Kunst adelt jeden Saal und strebte der 50-Jährige noch einmal eine feste Stel- anständiger Gelderwerb für Frau und Kind schän- lung an – wobei jetzt mit der Wiener Hofoper al- det nicht – einmal einen Künstler« (ebd., 594). In lein das prestigeträchtigste Operntheater seiner den frühen 1920er Jahren, als Deutschland und Zeit in Frage kam. Noch vor dem Ende seiner Österreich durch eine bislang nie gekannte Infla- Wiener Amtszeit, im Frühjahr 1923, plante und tion erschüttert wurden, zog es mit zahlreichen begann er mit dem Bau einer zweiten Villa in anderen europäischen Künstlern auch Strauss Wien; ein Jahr nach seinem Rücktritt, im Herbst nach Übersee, wo harte Dollars winkten; erst 1925, zog die Familie ein. Später wurde das Bau- 1924/25, nach der allmählichen Stabilisierung der recht für die Villa in dauerndes Eigentumsrecht wirtschaftlichen Verhältnisse, war es mit solchen umgewandelt; Strauss verpflichtete sich als Gegen- Reisen vorbei. leistung u. a. dazu, zwischen 1926 und 1931 jährlich Strauss’ Worte vom Gelderwerb für Frau und zwanzigmal umsonst in der Staatsoper zu dirigie- Kind unterstreichen, wie wichtig ihm ökonomi- ren – was er auch einhielt. Bei den Verhandlungen sche Sicherheit von Anfang an war, wie sehr er argumentierte Strauss wiederum mit seiner Fami- auch hier die Familie mit einschloss und wie we- lie: Er habe, so schrieb er dem Generaldirektor der nig er sich durch Neider stören ließ. Zielstrebig österreichischen Bundestheater, Franz Schneider- trachtete er danach, sich und den Seinen ein sor- han, am 16. November 1926, auf seine ursprüngli- genfreies Leben zu ermöglichen. Nach der Schlie- che Bedingung, zeitweise von der Steuer befreit zu ßung aller deutschen Theater im September 1944 werden, verzichtet, weil er seinen Kindern nicht und der Zerstörung aller ihm wichtigen Bühnen das Glück versagen wollte, nach seinem Tode »in trieb ihn in seinen letzten Jahren lange die Angst ihrem eigenen Hause zu wohnen« (Brosche 2000, um, sich und seine Nachkommen an den Bettel- 28). stab gebracht zu haben; eine Sorge, von der ihn Als Manager in eigener Sache agierte Strauss erst der Vertrag mit dem Verlag Boosey & Hawkes alles in allem höchst erfolgreich – gleich, ob Ein- sowie die politische Entlastung durch die Garmi- sätze als Dirigent oder Verlagsverträge auf seiner scher Spruchkammer 1948 entließ. Pauline hat die Agenda standen (vgl. Kap. 6). Mit seinen adminis- gemeinsame Lebensmaxime schon früh, in einem trativen Verpflichtungen hingegen hatte er wenig Brief vom 1. September 1897, auf den Punkt ge- Glück. Solange es sich um ehrenamtliche Posten bracht, als sie ihrem Mann schrieb: »[…] trachten handelte – wie etwa der Vorsitz des Allgemeinen wir, uns viel zu verdienen, damit Du bald Dir Deutschen Musikvereins (ADMV) oder der selbst leben kannst« (Grasberger 1967, 107). GDT –, fielen Strauss’ Schwierigkeiten, im Team Strauss’ notorisch hohe Honorarforderungen ge- zu arbeiten, nicht weiter ins Gewicht, weil ihm genüber Verlegern wie Konzertveranstaltern hat- alte Freunde wie vor allem Rösch die Arbeit ab- ten ihr erstes Ziel darin, allein dem Komponieren nahmen. Als Strauss aber in Berlin glaubte, er leben zu können. Natürlich profitierte er auch von könne als künstlerischer Leiter nach dem Ende des

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Ersten Weltkriegs den Kurs der neuen Staatsoper Politiker bestimmen, gelangte er rasch an Grenzen. Zwar wurde er (der schon erste Verhandlungen mit Strauss bezeichnete sich gerne als unpolitischen Wien geführt hatte) am 11. November 1918 dank Künstler, im März 1933 behauptete er sogar, sich seines »großen autoritativen Namens« (Brief an »nie in politische Dinge eingemischt« zu haben Pauline, 12.11.1918; RSA) in den neu geschaffenen (Brief an Otto Fürstner, RSA). Damit lag er auf Künstlerrat der Berliner Oper gewählt und über- einer Linie mit seinen deutschen Zeitgenossen, die nahm mit dem Oberregisseur Georg Droescher Kunst gegen Politik ausspielten. Thomas Mann auch provisorisch deren Leitung, reichte jedoch hat das Verhältnis zum Gegensatz zwischen bald darauf seine Entlassung ein, weil das Personal »Deutschtum und Zivilisation« stilisiert und da- sich gegen ihn als Direktor aussprach. Dennoch mit einer gerade im Ersten Weltkrieg verbreiteten begann er neue Verhandlungen in Berlin wie auch nationalen Stimmung Ausdruck gegeben (Berm- in Wien mit dem Ziel, hier wie dort die künstleri- bach 1999, 252). Auch Strauss dachte so. Dennoch sche Oberleitung wahrzunehmen, während ein darf man ihn als einen über weite Strecken seines anderer (Droescher in Berlin, Franz Schalk in Lebens recht aktiven politischen Künstler bezeich- Wien) die Verwaltungsarbeit leisten, für »das nen. Freilich engagierte er sich nicht für eine der Bureaukratische« (Brief an Max Schillings vom politischen Parteien seiner Zeit, er kandidierte 28.8.1921; Schlötterer 1987, 195) zuständig sein nicht für parlamentarische Ämter und es ist auch sollte. Dabei spielten auch finanzielle Motive eine nicht bekannt, ob und mit welchen Präferenzen er gewichtige Rolle – wie Strauss Hofmannsthal in bei Wahlen seine Stimme abgab. Was ihn einzig einem als »privatissime« deklarierten Brief vom interessierte, war Kulturpolitik, und das hieß 29. Dezember 1918 unmissverständlich auseinan- konkret: Strauss engagierte sich (angeregt vermut- dersetzte (RSHH 429–433). Doch ging der Plan lich vor allem durch Richard Wagner), um den nur für Wien auf: Strauss wurde am 1. Mai 1919 als institutionellen Musikbetrieb in der Vielfalt, wie Künstlerischer Oberleiter neben dem Direktor er ihn seit seiner Jugendzeit im Kaiserreich kannte, Schalk an die Spitze der Staatsoper berufen. Diese auch während der Republik zu erhalten. Er nahm wenig tragfähige Konstruktion hielt immerhin Einfluss auf die Besetzung von Dirigentenposten gute fünf Jahre, bis Strauss aus Protest gegen ebenso wie die Gestaltung von Spielplänen, wenn Schalks Weiterbeschäftigung am 31. Oktober 1924 es darum ging, dass Werke der Klassiker (ein- von seinem Amt zurücktrat. Ein letztes Mal ver- schließlich Wagner) ebenso wie die seinen regel- suchte Strauss, als Präsident der Reichmusikkam- mäßig gespielt wurden. Aber Strauss dachte nicht mer nach dem vertrauten Muster zu agieren: nur an sich selbst. Er investierte auch einige Ar- Während er von Garmisch aus die Richtlinien beitskraft in die Gründung eines Musikerverban- bestimmen wollte, sollte der Geschäftsführer der des wie der GDT mit angeschlossener Anstalt zur RMK, Heinz Ihlert, in Berlin vor Ort seine Direk- Einziehung und sinnvollen Ausschüttung von tiven umsetzen. Doch wiederum hatte Strauss sich Tantiemen sowie in die Verlängerung der Schutz- über- und die Machtverhältnisse in Berlin erheb- frist (s. Kap. 2) – Maßnahmen, die allen Kompo- lich unterschätzt. Auch deshalb, nicht nur wegen nisten ernster Musik zugutekamen. seiner Zusammenarbeit mit dem jüdischen Wie viele Künstler seiner Zeit war Strauss zu- Schriftsteller und dem abgefangenen nächst durchaus zufrieden mit der herkömmli- Brief an ihn vom Juni 1935 (s. Kap. 5), war Strauss’ chen Aufgabenverteilung zwischen Obrigkeit und Rücktritt nach nur eineinhalb Jahren unvermeid- Kunst: Der jeweilige Souverän garantierte den lich. Bestand kultureller Organisationen und künstleri- sche Freiheit, während seine Untertanen sich um die Spielpläne von Konzerteinrichtungen und Operntheatern und deren Realisation kümmerten (Werbeck 2012). Gerne ging Strauss 1898 nach Berlin, obwohl der Kaiser, sein oberster Dienst- herr, einen notorisch bornierten Kunstverstand an

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den Tag legte. Strauss konnte sicher sein, sich in planpolitik. In Deutschland agierte Strauss wäh- seiner Kreativität nicht einschränken zu müssen. rend der Jahre der Republik eher im Verborgenen. Und der überwältigende Erfolg von Salome zeigte Wie viele seiner Zeitgenossen leitete ihn dabei die ihm, dass er genau den richtigen Kurs einer Ver- Überzeugung, angesichts der politischen wie bindung von Modernität und Publikumswirksam- ökonomischen Wirren könne nur die Kultur die keit gefunden hatte. Gesellschaft überhaupt zusammenhalten. Vor al- Schwierig wurde es allerdings, als Fragen der lem müsse die ernste Musik und hier vorab die Kunst den Reichstag beschäftigten und damit den Oper als kultureller Orientierungspfad gestärkt Bedingungen parlamentarischen Handelns unter- werden, sie habe sich mit neuen Spielstätten, ak- worfen waren. Denn damit schlug, wie Strauss tuellen Werken und neuen Darbietungsformen argwöhnte, die Stunde der Nicht-Fachleute. Sich auch dem modernen Publikum zu öffnen. Strauss auf deren Interessen einzulassen war er nicht be- hatte allerdings seine eigenen Vorstellungen von reit. Angelegenheiten der Kunst hatten für ihn der Machart aktueller Werke. Zu ihnen gehörten grundsätzlich Vorrang, und im Übrigen, so nicht vor allem seine Stücke, nicht aber solche der nur seine Überzeugung, waren sie in den Händen Komponisten um Arnold Schönberg, die Strauss von Fachleuten am besten aufgehoben. Als der in privaten Äußerungen (wie erwähnt) als »ato- erste Anlauf, die Schutzfrist zu verlängern, im nale Bolschewiken« schmähte. Zu ihnen wahrte Reichstag scheiterte, notierte Strauss im Schreib- er Distanz, ohne polemisch zu werden. Auch im kalender empört: »Der Böotier Eugen Richter ADMV, in dem Strauss 1909 zum Ehrenvorsit- spricht dagegen u. der ganze Reichstag fällt um. zenden bestimmt wurde, legte er »linken« Mit- Saubande!« (TrChr, 209), und als 1912 der Reichs- gliedern wie Alban Berg, Heinz Tiessen, Her- tag über die von Cosima Wagner betriebene Ver- mann Scherchen oder Paul Hindemith, die zwi- längerung des Parsifal-Schutzes diskutierte, schen 1919 und 1932 im Musikausschuss aktiv machte er auch nach außen aus seiner Einstellung waren (Okrassa 2004, 104), keine Steine in den keinen Hehl: Das »blöde Allgemeine Wahlrecht«, Weg. Weitaus zielstrebiger agierte Strauss, wenn so formulierte er in einem öffentlichen Brief, es darum ging, sich hinter den Kulissen in die dürfe nie dem Willen Wagners übergeordnet Besetzungs- und damit auch Repertoirepolitik werden; Stimmen seien zu wiegen statt zu zählen, führender deutscher Bühnen einzumischen – na- denn dann hätte ein Genie wie Wagner das Ge- türlich mit dem Ziel einer Förderung seiner wicht von 100.000 Stimmen, während 10.000 Werke bzw. ihm gewogener Dirigenten. Vehe- Hausknechte allenfalls eine einzige Stimme be- ment opponierte er 1925/26 gegen eine drohende anspruchen könnten (Strauss 1981, 89 f.; Seidl Berufung Paul Bekkers als Nachfolger von Max 1913). Schillings an die Lindenoper in Berlin (das wäre Anders als beispielsweise Thomas Mann sah »für die Oper eine Katastrophe, für mich direkt Strauss auch nach dem Zusammenbruch der al- ein Unglück«, schrieb er am 4. Dezember 1925 an ten Ordnungen am Ende des Ersten Weltkriegs seinen Verleger Fürstner; RSA); tatsächlich wurde keinen Anlass, seine negative Meinung über die Heinz Tietjen als Generalintendant aller drei Demokratie als Form politischer Herrschaft zu Berliner Opernhäuser eingesetzt. Strauss hatte in revidieren, im Gegenteil, seine Abwahl als kom- der Sache nicht nur Mittelsmänner wie Fürstner missarischer Opernchef in Berlin zementierte sie eingespannt, sondern auch den preußischen Kul- weiter. Als künstlerischer Oberleiter der Wiener tusminister Carl Heinrich Becker zu beeinflussen Oper mit größten Vollmachten ausgestattet, versucht. Anfang März 1926 unterhielt er sich mit nahm er denn auch auf nichts als auf seine Inter- ihm eine Stunde lang über Angelegenheiten der essen Rücksicht, stellte für seine Werke »die Staatsoper und setzte den Kontakt schriftlich höchsten Ausstattungsansprüche« (Rode-Brey- fort. Auf einen (bislang nicht vorliegenden) Brief mann 1994, 241) – die ihm auch erfüllt wurden – von Strauss antwortete Becker am 15. September und betrieb eine ganz auf seine kulturhistorischen des Jahres in liebenswürdigstem Ton (RSA). Er Konfessionen (vgl. Kap. 9) abgestimmte, allen dankte Strauss »aufrichtig für das warme Inter- Novitäten (außer den eigenen) abholde Spiel- esse« für die Staatsoper, hoffte, ihn »recht häufig

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am Dirigentenpult unserer Opernhäuser begrüs- Zu diesem Kulturdiktator schwang sich Ende sen zu dürfen«, freute sich, Strauss »in der nächs- 1933 der fast siebzigjährige Richard Strauss auf. ten Zeit hier in Berlin sprechen zu können«, und Mit großer Befriedigung dürften er und seine Fa- erwartete »sehr dankbar« dessen »Ratschläge und milie zu Jahresbeginn den Einzug Adolf Hitlers Winke«. Ähnliche Kontakte, Korrespondenzen und damit eines bekennenden Wagnerianers und und Audienzen (auch mit Diktatoren wie Mus- »Künstlers« ins Amt des Reichskanzlers registriert solini 1924 oder Pangalos 1926) bestärkten Strauss haben; endlich würde es mit der »Kulturpest« in dem Bewusstsein eines von den Inhabern (Splitt 2002, 286), mit dem atonalen »Bockmist« staatlicher Macht gesuchten Partners, der sich als (Tagebucheintrag von 1947, RSA), mit der Verar- Künstler außen- wie innenpolitisch einmischte, mung zahlloser Musiker und hoffentlich auch mit ohne Amt und damit ohne jegliche Legitimation, dem unproduktiven Neben- und Gegeneinander weil sein Ansehen als erfolgreichster Komponist der diversen musikalischen Standesorganisationen seiner Zeit eine solche gar nicht erforderlich ein Ende haben, würde die musikalische Vor- machte. Und aus seiner unerschütterlichen Über- machtstellung Deutschlands wieder die ihre ge- zeugung von der Bedeutung von Kultur, Kunst bührende politische Anerkennung finden. Zwar und Musik für die deutsche Nation – deren war Strauss nie Mitglied der NSDAP und ver- einzigartiger Status als »Land der Musik« auf mochte für das Gebaren von Verbänden wie der keinen Fall gefährdet werden durfte –, folgerte er SA wenig Sympathie aufzubringen, aber die neuen ganz selbstverständlich, dass eben nicht Neutöner politischen wie kulturellen Perspektiven begrüßte à la Schönberg oder überflüssige Novitäten, er ohne jede Einschränkung. Am 16. März 1933 sondern seine eigenen Werke neben den Klassi- reiste Strauss nach Berlin, wohnte, bemerkenswert kern bevorzugt auf den Spielplänen zu stehen genug, der Eröffnung des neuen Reichstags bei, hatten. traf am Rande einer Elektra-Aufführung Hitler Doch selbst ein Strauss, obschon unter den und Göring und brachte nach Garmisch »große zeitgenössischen Opernkomponisten auch in den Eindrucke […] und gute Hoffnung für die Zu- 1920er Jahren noch immer viel gespielt (Thrun kunft der deutschen Kunst« mit, »wenn sich erst 1995, 564), konnte nichts gegen die Weltwirt- die ersten Revolutionsstürme ausgetobt haben!« schaftskrise und die mit ihr einhergehende ökono- (Brief an Anton Kippenberg, 29.3.1933; Schuh mische Bedrohung von Orchestern, Theatern etc. 1959/60, 120). Die »Stürme« hatten es freilich in ausrichten. Er reagierte, freilich wiederum in sich: Nicht nur war es seit Ende Februar zu ersten Briefen, mit sarkastischen Äußerungen, die verra- reichsweiten Übergriffen auf jüdische Geschäfte ten, wie suspekt, ja geradezu verhasst ihm das gekommen (die im Zusammenhang mit den System inzwischen geworden war. Am 27. No- Reichstagswahlen vom 5. März noch zunahmen), vember 1930 etwa hieß es: »Gott gebe, daß bald auch Strauss selbst war unmittelbar betroffen: In bessere Zeiten für die deutschen Theater anbre- Dresden wurden Anfang März der Dirigent Fritz chen und deren Subventionen nicht mehr für Busch sowie der Generalintendant Alfred Reu- faulenzende Kommunisten (genannt Arbeitslose) cker, denen er die Uraufführung seiner beiden verwendet werden müssen. Es ist eine Kultur- gewidmeten Oper zugesagt hatte, aus schande!« (Splitt 2002, 287). Eine in dieser Lage ihren Ämtern gejagt. Strauss, der öffentlichen unter Konservativen verbreitete Hoffnung brachte Protest vermied, brach sein Versprechen: Nicht der Musikkritiker Paul Schwers auf den Punkt, als Busch, sondern Clemens Krauss hob die Oper am er im Oktober 1931 in einem Aufsatz mit dem be- 1. Juli aus der Taufe, und nicht Reucker, sondern zeichnenden Titel »Musiknot und Kulturzerstö- Josef Gielen führte Regie. Zurückgehalten hatte rung« die Klage formulierte: »Schade, daß von Strauss sich auch, als Anfang März in Leipzig der Reichs wegen nicht ein Kulturdiktator bestellt Generalmusikdirektor der Oper, Gustav Brecher, werden kann, der in dieser Notzeit allenthalben entlassen wurde, der zu Strauss’ frühesten und vernünftigen Ausgleich und damit künstlerisches treusten Parteigängern zählte, sich bei diesem Niveau zu schaffen hätte. Aber vielleicht kommt freilich durch seine Repertoirepolitik (u. a. mit es noch dazu« (Okrassa 2004, 195). Kreneks Jonny spielt auf) unbeliebt gemacht hatte

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(vgl. den letzten Brief Brechers vom 16.3.1933; Musiklebens zur Verwirklichung eigener Vorstel- Strauss 1998, 148 f.). Und schließlich hatte Strauss lungen von Kultur und Musik in Deutschland während der Berliner Tage zwei Konzerte der nutzen zu können. Er verzichtete deshalb auf jeg- Philharmoniker geleitet – anstelle von Bruno lichen öffentlichen Protest, ließ vielmehr seine Walter, der der Drohung massiver Störungen ge- Sympathie mit der neuen Kulturpolitik erkennen. wichen war (Stargard-Wolff 1954, 275–279; Splitt Vielleicht auch aus diesem Grund gehörte er zu 1987, 42–59). Brecher und Walter waren Juden; den Mitunterzeichnern des von Hans Knapperts- Strauss nahm wissentlich in Kauf, sich zum Hand- busch initiierten und am 16./17. April 1933 er- langer der antijüdischen Politik des neuen Regi- schienenen öffentlichen »Protestes der Richard- mes gemacht zu haben. Kaum anders wurde seine Wagner-Stadt München«, der sich gegen Thomas Bereitschaft interpretiert, im Sommer 1933 in Manns Wagner-Vortrag richtete (und das Exil des Bayreuth Parsifal zu dirigieren, und zwar für Ar- Schriftstellers zur Folge hatte; Borchmeyer 1983; turo Toscanini, der seine Teilnahme aufgrund der Vaget 1994). Während der Bayreuther Festspiele Diskriminierung jüdischer Musiker abgesagt hatte traf sich Strauss erneut mit Hitler sowie erstmals (Splitt 1987, 59–64). auch mit dem für die Kultur zuständigen Minister Nicht, dass Strauss in allen Fällen als über- Joseph Goebbels; beiden übergab er ein Papier, in zeugter Antisemit gehandelt hätte. Ein solcher dem er seine Vorschläge zur Verbesserung der war er nicht (im Gegensatz zu seiner Frau); dage- Musikkultur in Deutschland zusammengefasst gen spricht schon seine Wertschätzung der Musik hatte. Bei solchen Kontakten dürfte Strauss mit beispielsweise von Mendelssohn, mit Einschrän- hoher Wahrscheinlichkeit sich selbst als mögli- kungen auch von Meyerbeer und Mahler, aber chen Führer der deutschen Musik ins Gespräch auch seine zeitweise enge Verbundenheit mit den gebracht haben. Im November des Jahres hatte oben erwähnten Karpath und Levin. Und sein er mit der Berufung als Präsident der neu einge- Salon-Antisemitismus, den er in seiner Jugendzeit richteten Reichsmusikkammer sein Ziel erreicht pflegte und mit dem er Leuten wie seinem Vater, (s. Kap. 5). Bülow oder Cosima Wagner nach dem Munde Strauss’ Hoffnung, im neuen Amt dank seines redete, hatte sich längst abgeschliffen. Wenn er Renommees Kulturpolitik als »Nebenarbeit« (an Vorbehalte gegen das Judentum pflegte, dann vor Zweig vom 21.1.1934; RSSZ 54) von Garmisch aus allem, weil er es mit dem von ihm rigoros abge- betreiben und als Hauptarbeit weiterhin kompo- lehnten Christentum in enge Verbindung brachte. nieren zu können, erwies sich schon angesichts der Juden hatten die »christliche, jüdische Meta- alles andere als eindeutigen Zuständigkeiten in- physik« ersonnen (Tagebucheintrag, RSA), die nerhalb von Partei und Regierung rasch als Illu- Strauss für eine künstlerische Sackgasse hielt, weil sion (Okrassa 2004, 279). Deshalb trug er sich sie zur Preisgabe künstlerischer Verantwortung bereits Ende 1934 mit Rücktrittsgedanken, stellte führe. Unproduktives Räsonieren über ewige sie jedoch zurück – wohl auch, weil er die Premi- Gesetze einer vorgeblich heiligen Tonkunst lehnte ere seiner neuen Oper auf er ab, plädierte vielmehr für die individuelle ein Libretto des jüdischen Schriftstellers Stefan künstlerische Tat. Strauss’ antisemitische Vorbe- Zweig nicht gefährden wollte. Im Übrigen war halte waren durch seine Künstlerästhetik moti- Strauss erst im Juni 1934 Präsident des neugegrün- viert; eine rassisch grundierte und offen bekannte deten Ständigen Rates für die Internationale Zu- Judenfeindschaft gab es bei ihm nicht. Deshalb sammenarbeit der Komponisten geworden: eine reagierte er auf die Kritik an seinem Verhalten weitere Aufgabe, die er allerdings nicht besonders 1933 eher trotzig, ließ sich jedenfalls zunächst engagiert betrieb, wie sein Fehlen bei mehreren nicht von seinem Ziel abbringen, endlich auch Musikfesten des Rates dokumentiert (vgl. Kap. 4). offiziell der Führer der deutschen Musik zu wer- Über die Umstände von Strauss’ Rücktritt, nach- den. dem sein Brief an Zweig vom 17. Juni 1935 von der Von Anfang an sah Strauss die Chance, kultu- Gestapo abgefangen worden war, muss an dieser relle Interessen der neuen Machthaber und deren Stelle nicht gehandelt werden (s. die Kapitel 5 und Pläne einer grundlegenden Neuorganisation des 15). Strauss stürzte nicht nur diese Niederlage,

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sondern mehr noch der Verlust seines Librettisten linge 1. Grades. Dennoch betrieb er seine »Versöh- Zweig in eine tiefe Krise; hinzu kam im Septem- nung« (TrChr 589) mit den Machthabern, wobei ber 1935 die Verabschiedung der Nürnberger ihn wiederum seine Lebensmaxime leitete: die Rassegesetze, die seine Schwiegertochter als Voll- Sorge um seine Familie und um seine Werke. Als jüdin ebenso ächteten wie seine Enkel als Misch- Politiker aber hatte er ausgespielt.

Literatur

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1. Kapellmeister und Dirigent

Von Roswitha Schlötterer-Traimer †

Richard Strauss übte lebenslang zwei Berufe ne- neue Suite TrV 132 im Münchner Odeon spielen beneinander aus, jeden vollgültig und uneinge- sollten, ordnete Bülow überraschend an, dass sie schränkt: Er war Komponist und Dirigent, Schaf- der Komponist selbst dirigieren sollte. So kam es fender und Nachschaffender. Das forderte eine zu Strauss’ erstem Dirigieren und durch Bülows unglaubliche Arbeitsleistung. Dabei hätte er, spä- Empfehlung bald darauf zu seinem ersten Engage- testens nach dem auch wirtschaftlich so großen ment als Hofmusikdirektor in Meiningen. Erfolg der Salome, keinen Brotberuf mehr nötig gehabt. Aber er sah diese beiden Tätigkeiten für seine Person als etwas natürlich Zusammengehö- riges an, sie standen in einem unmittelbaren Meiningen 1885–1886 Wechselverhältnis und förderten sich gegenseitig. Die Welt des Orchesters und des Theaters war Meiningen war berühmt für sein Sprechtheater ihm schon durch seinen Vater Franz Strauss, den und sein Konzertorchester: kein sehr großes, aber Ersten Hornisten des Münchner Hoforchesters, ein renommiertes Ensemble, dem gute Solisten von Kindheit an vertraut. Dieser hatte auch die zur Verfügung standen. Außerdem gab es einen Musiklehrer für seinen Sohn aus seinem Kollegen- Chor und damit auch größere Chorkonzerte. kreis ausgewählt: den Harfenisten August Tombo Überhaupt war dieses erste Jahr, das der junge für das Klavier, Benno Walter für die Violine und Strauss in Meiningen verbrachte, nicht ganz das, Friedrich Wilhelm Meyer für die theoretischen was man gemeinhin unter einer festen Stellung Fächer. In seine Dirigententätigkeit wuchs der versteht, eher könnte man es als eine Art Volonta- junge Richard Strauss, wie es damals üblich war, riat bezeichnen. Strauss hatte an Bülows täglicher durch die Praxis hinein, und zwar unter der Hand Probenarbeit mit dem Orchester vormittags von 9 keines Geringeren als Hans von Bülow. Obwohl bis 12 Uhr teilzunehmen und, wenn dieser durch dieser mit Strauss’ Vater in einem sehr gespannten Konzertreisen als Pianist abwesend war, selbst die Verhältnis stand, besaß er, als er die Begabung von Proben zu leiten. Weiterhin musste er die Kam- dessen Sohn erkannt hatte, die menschliche Sou- mermusikveranstaltungen organisieren und gege- veränität, ihn in großzügiger Weise zu fördern. benenfalls dabei mitwirken; außerdem dirigierte Von ihm ging auch der unmittelbare Anstoß für er den Frauenchor. In den Proben mit Bülow Strauss’ erstes öffentliches Dirigieren aus. Bülow, konnte er dessen (und damit auch Wagners) Musik- damals Hofmusikintendant bei Herzog Georg II. auffassung sowie seine Interpretation von Beet- in Meiningen, hatte nämlich die Bläserserenade hoven kennenlernen. Besonders seine Art, den TrV 106 des jungen Strauss auf dem Programm poetischen Gehalt der Werke von Beethoven und der Meininger Hofkapelle und wollte von ihm ein Wagner auszuschöpfen, war für den jungen weiteres Stück in gleicher Besetzung haben. Als Strauss maßstabsetzend. Nichts geschah aus Will- die Meininger Bläser am 18. November 1884 diese kür, sondern war immer aus Form und Inhalt

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selbst heraus entwickelt. Es war, wie Strauss später für eine Kapellmeistertätigkeit in seiner Heimat- beschrieb, »eine Lehrzeit, wie sie interessanter, stadt vorlag, zog er München vor. eindrucksvoller und – amüsanter nicht zu denken ist« (Strauss 1981, 186). So musste er beispielsweise gleich in den ersten Meininger Tagen das Violinkonzert von Tschai- München (I) 1886–1889 kowsky vom Blatt dirigieren, seine eigene, soeben im Druck erschienene zweite Symphonie in f-Moll Am 1. August 1886 trat Strauss eine Stelle als drit- TrV 126 einstudieren und als Solist das Klavier- ter Kapellmeister an, neben dem Chef Hermann konzert c-Moll KV 491 von Mozart unter Bülows Levi und dem zweiten Kapellmeister Franz Fi- Leitung spielen. Nach Bülows Abschied von Mei- scher. Daneben musste er erneut den Damenge- ningen am 1. Dezember 1885 leitete Strauss am sangsverein betreuen, der unter dem Protektorat 6. Dezember ein Konzert mit Glucks Ouvertüre von Frau von Perfall stand. In München gab es zu Iphigenie in Aulis, einer Händel-Arie sowie zwei kein ungebundenes Proben und Musizieren, hier großen Chorwerken: Brahms’ Schicksalslied und stand ein renommiertes Opernhaus im Zentrum Mozarts Requiem, was eine gründliche Vorberei- und der laufende Opernalltag stellte seine präzisen tung voraussetzte. Die Vormittage nutzte Strauss Anforderungen. Das bedeutete einerseits, dass zu Proben der verschiedenen Werke, bis er an Strauss – meist ohne Proben – in die laufenden Weihnachten das große Festkonzert zu leiten Produktionen einsteigen musste. Auf der anderen hatte, in dem er unter anderem Schuberts Unvoll- Seite gab es aber auch Neuinszenierungen, die er endete, Schumanns Manfred-Ouvertüre und die selbständig vorbereiten und einstudieren konnte. 3. Symphonie von Brahms dirigierte. Als Bülow Im Übrigen musste er, wenn Levi krank war, je- bald darauf noch einmal nach Meiningen zurück- derzeit kurzfristig einspringen. kehrte, fand am 29. Januar 1886 ein fast familiär Sein Debüt am Münchner Hoftheater war wirkendes Konzert mit ihm zusammen statt: Boieldieus Oper Johann von Paris, für die er auch Strauss dirigierte am Anfang Rheinbergers Ouver- Klavierproben geleitet hatte. Bald folgten Der türe zu Shakespeares Der Widerspenstigen Zäh- König hat’s gesagt von Delibes (eine Oper, die mung, Bülow am Ende die Eroica; dazwischen Strauss sehr schätzte) sowie zwei Werke von Au- spielte Bülow als Solist unter Strauss’ Leitung das ber. Stellvertretend für Levi musste er im Januar 3. Klavierkonzert von Anton Rubinstein und die 1887 Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouver- Fantasie über ungarische Volksmelodien von Liszt. türe dirigieren, ebenso die letzte Vorstellung von Und wiederum zwischen diesen beiden Werken, Rheinbergers Thürmers Töchterlein und Gold- also im Zentrum des Konzerts, dirigierte Bülow marks Königin von Saba. Die Neueinstudierung seine eigene Orchesterfantasie Nirwana (mit von Cherubinis Wasserträger war ihm dagegen Strauss an den Becken!). Überdies lernte Strauss in ganz übertragen. Meiningen Brahms persönlich kennen, der damals Solche Aufgaben waren für den jungen Kapell- häufiger bei Herzog Georg II. zu Gast war. Am meister nicht besonders attraktiv. Aber sie ließen 2. April 1886 veranstalteten beide ein gemeinsames ihn Erfahrung sammeln und eine Routine erwer- Abschlusskonzert, bei dem Strauss seine Concert- ben, die am Theater unentbehrlich ist, wie er ouver ture c-moll TrV 125 sowie Wagners Tristan- selbst am besten wusste. Später kamen noch zwei Vorspiel kombiniert mit »Isoldes Liebestod«, Lortzing-Opern dazu, weiterhin Verdis Trouba- Brahms seine Haydn-Variationen und die 4. Sym- dour und Die lustigen Weiber von Otto Nicolai. phonie dirigierte. Nun klingen die Operntitel schon vertrauter und Es war also ein sehr lebendiges und anregendes gehören mit Flotows Alessandro Stradella, Verdis Musikleben, in das der junge Strauss in Meinin- Maskenball und Webers Freischütz zum allgemei- gen einbezogen war. Als Bülow die Stelle schließ- nen Repertoire. Bemerkenswert ist, dass Der Bar- lich ganz verließ, trug ihm der Herzog sogar die bier von Bagdad von Peter Cornelius, den Strauss Nachfolge an. Da Strauss aber auch ein Angebot ebenfalls von Levi übernahm, damals im viel des Münchner Intendanten Freiherr von Perfall kleineren Residenztheater gespielt wurde. Zu

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nennen wäre noch die Münchner Uraufführung war Hofkapellmeister Eduard Lassen, der dem der Oper Faust von Heinrich Zöllner, die Strauss jungen Dirigenten Anerkennung und Wohlwollen empfohlen hatte, die zunächst aber von Levi diri- entgegenbrachte und sich sogar zu dem Satz hin- giert wurde. Mit der Uraufführung der frühen reißen ließ: »Strauss ist ein Genie, ich aber nur ein Wagner-Oper Die Feen kam es dann zum Eklat, Talent« (Schuh 1976, 182). der den Ausschlag für Strauss’ Weggang von Mün- In Weimar umfasste das Opernrepertoire, das chen gab. Da Levi wegen Krankheit beurlaubt Strauss zu übernehmen hatte, vor allem den deut- war, hatte Strauss die gesamte Einstudierung gelei- schen Bereich: Mozarts Zauberflöte (zugleich seine tet und dabei auch eine Einlage zum zweiten Akt Antrittsvorstellung), Die Entführung aus dem Se- geschrieben (TrV 154). Die Premiere am 29. Juni rail und Figaros Hochzeit, weiterhin Freischütz und 1888 jedoch wurde kurzerhand Franz Fischer über- Preziosa von Weber und zwei Lortzing-Opern, geben, da sie, wie der Intendant Perfall meinte, Glucks Iphigenie in Aulis, dann Fidelio, Die Lusti- nicht unter einem ›dritten‹ Kapellmeister stattfin- gen Weiber von Windsor, Hans Heiling, Die Stumme den konnte. von Portici, Meyerbeers Prophet und Afrikanerin, Einen Lichtblick in dieser etwas trüben sowie Norma von Bellini und Flotows Alessandro Münchner Zeit stellte für Strauss die Neueinstu- Stradella. Es waren zum großen Teil Werke, die dierung von Mozarts Così fan tutte KV 588 dar, ein Strauss noch nicht dirigiert hatte und für deren Werk, für das er sich zeitlebens mit besonderer Einstudierung ihm keine Proben zur Verfügung Liebe einsetzte. Er hatte Proben und Aufführun- standen. gen zu übernehmen, wobei sein Vater, der als Vor allem aber war es Wagner, für den er sich Hornist im Orchester saß, wegen seiner eigenen nach seiner unmittelbar vorangegangenen Tätig- heiklen Solostellen ebenso wie wegen der allzu keit als musikalischer Assistent in Bayreuth mit raschen Tempi besorgt war, die der Sohn anschla- großem Enthusiasmus einsetzte. Er hatte zunächst gen könnte (Strauss 1981, 49). Denn Richard stieß die Neueinstudierungen von Lohengrin und von mit seinen Tempovorstellungen in dem eingefah- Tannhäuser zu leiten. Die Vorbereitungszeit für renen Münchner Opernbetrieb immer wieder auf Lohengrin am 28. August 1890 mit zwei fünfstün- Schwierigkeiten, so beispielsweise bei der Ouver- digen Orchesterproben, einer Arrangierprobe und türe der Lustigen Weiber. Seine Tempi waren, wie vorher einer Reihe von Klavierproben mit Solisten Strauss in der Rückschau auf diese Münchner und Chor war für Weimarer Verhältnisse außerge- Jahre sagte, »der geforderten glatten Erledigung wöhnlich großzügig angesetzt; nach eigenem Be- der Opern oft hinderlich« (Strauss 1981, 212). Er richt hatte Strauss in den Klavierproben mit den bekannte auch offen, durch seine ungewohnten Sängern so ziemlich alles umgekrempelt, was sich Tempomodifikationen manche Aufregung im an schlechten Gewohnheiten und Inkorrektheiten Orchester und einmal sogar einen Schmiss hervor- eingeschlichen hatte. Ähnlich intensiv war die gerufen zu haben. Strauss hatte eben ›modernere‹ Vorbereitung für Tannhäuser. Hier kümmerte Vorstellungen, wie sie durch sein Vorbild Bülow Strauss sich, wie schon bei Lohengrin, um die Re- geprägt waren. giearbeit, war er doch in Bayreuth vom inneren Zusammenhang von Musik und Bühne überzeugt worden. Den Höhepunkt seiner Wagner-Aktivitä- ten bildeten im Januar 1892 Vorbereitung und Weimar 1889–1894 Aufführung von Tristan und Isolde. Musikalisch versuchte er, durch eine subtile Nuancierung der Mit fliegenden Fahnen ging Strauss an das Hof- Instrumente eine intime, kammermusikalische theater nach Weimar, wohin ihn 1889 Bülows Durchsichtigkeit der Partitur zu erreichen. Als Freund Hans von Bronsart als Zweiten Kapell- Regisseur stand ihm der Weimarer Oberregisseur meister engagiert hatte. In Weimar war der Atem Fritz Brandt zur Seite, der später in Bayreuth tätig Liszts noch zu spüren, die Stadt galt als Hochburg sein sollte. der Neudeutschen, und Strauss hoffte, dort seine Auf den persönlichen Einsatz von Strauss gin- Ideen verwirklichen zu können. Sein Vorgesetzter gen die Aufführungen der beiden heiteren Einak-

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