Büchner-Rezeptionen – interkulturell und intermedial Milano, 23.-24. September 2013

ABSTRACTS DER VORTRÄGE

Paola BOZZI (Milano) Vom Aufheben. Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und der Büchner-Preis Die im Jahre 1951 erfolgte Umwandlung des Büchner-Preises in einen von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehenen Literaturpreis, der seither als bedeutendste literarische Auszeichnung im gesamten deutschsprachigen Raum gilt, hat die immerwährende Gegenwärtigkeit des Vormärzdichters institutionalisiert. Mit der Reorganisation wurde eine Rede des Preisträgers bzw. der Preisträgerin fester Bestandteil der Preisverleihungsfeier. Im Rahmen einer solchen staatlich geförderten Vereinnahmung vollzog sich bald eine Wende zur »Ritualkritik als Ritualpraxis« (B. Dücker). Die Laureaten gingen vermehrt dazu über, sich den Ehrungen zwar nicht zu entziehen, dort aber in ihrer Dankesrede die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren und die Gesetze der Situation und des Rituals performativ wenn nicht zu unterlaufen, so doch wenigstens alternativ zu aktualisieren. Dass diese Gratwanderung nicht immer leicht zu meistern war, zeigt die Rede von Thomas Bernhard (1970) bzw. von Elfriede Jelinek (1998) – jeweils die kürzeste sowie die dichteste in der Geschichte der Prämierung. Das Dilemma, das hier zu Tage kommt, ist ein grundlegendes der epideiktischen Rede, die weder auf ein Urteil noch auf einen Beschluss, sondern gänzlich auf ein Vorzeigen hinausläuft. Es gilt daher zu untersuchen, welche Haltung Bernhard bzw. Jelinek in ihren Dankesreden in Darmstadt eingenommen haben und welches öffentliche Image bzw. Ethos die Schriftsteller in ihren Reden zur Schau stellten.

Marco CASTELLARI (Milano) Verwischte Spuren. Zu Bertolt Brechts Büchner-Rezeptionen Hat die ältere Forschung die teilweise vom Augsburger selbst gezogene Büchner-Brecht-Linie vor einem so gut wie gesicherten »Grundbestand an Gemeinsamkeiten« (Hinck 1981) als selbstverständlich betrachtet – Goltschnigg hat bereits 1975 anmerken können, diese Linie sei auch »sehr strapaziert worden« –, so kommen neuere Studien zum gegenseitigen Ergebnis, dass selbst der frühe Brecht Büchner zwar »wahrgenommen« habe, ohne aber »dass er ihm allzu große Bedeutung beigemessen hätte« (Hillesheim 2011). Der Vortrag versucht einerseits anhand der heute verfügbaren Quellen zu Brecht und dessen Arbeitsumfeld die spärlichen expliziten Aussagen zu Büchner und weitere Belege als Spuren einer untergründig und zwiespältig verlaufenden Rezeption zu lesen, andererseits diese holprige Überlieferung nach den (ästhetischen, strategischen, ideologischen?) Gründen für Brechts durchaus problematische Büchner-Nachfolge zu befragen.

Alessandro COSTAZZA (Milano) Woyzeck im Gefängnis Der Titel des Vortrages bezieht sich nicht auf einen möglichen Ausgang des berühmten Kriminalfalls Woyzeck und somit auf die Folge jenes »schönen Mordes«, mit dem das Theaterstück von Büchner endet. Nicht die Figur Woyzeck ist im Gefängnis gelandet, sondern das Stück selbst. Fünf Jahre lang haben sich die Insassen der Strafanstalt von Ferrara unter der Leitung des italienisch/argentinischen Regisseurs Horacio Czertok mit Büchners Woyzeck aktiv und produktiv auseinandergesetzt und es mehrmals auch außerhalb des Kerkers aufgeführt. Eine solche Rezeption seines Werkes hätte sich Büchner nicht erträumen können, aber sie hätte ihm sicherlich gefallen. Denn die Gefängnisinsassen sind Schicksalsgefährten von Woyzeck selbst, Vertreter jener »Geringsten«, denen Büchners ganze Aufmerksamkeit und seine ganze Kunst galten. Das mag vielleicht ein Grund dafür sein, warum gerade dieses Werk für eine Aufführung im Kerker ausgewählt worden ist und es ist mit Sicherheit interessant, zu sehen, wie die Gefangenen den Fall Woyzeck sich angeeignet haben. Darüber hinaus ist auch das Verhältnis von Gefängnis und Theater von Interesse, weil das Gefängnis selbst eine Art von Theater ist, in dem gewisse Regeln gelten und bestimmte Rollen gespielt

1 Büchner-Rezeptionen – interkulturell und intermedial Milano, 23.-24. September 2013 werden. Die theatralische Aufführung von Büchners Werk gewährte sozusagen den Außenstehenden einen Blick in das Theater des Gefängnisses, während sie auf der anderen Seite den Gefangenen, über das Theater, eine Art Ausbruch aus dem Gefängnis ermöglichte.

Burghard DEDNER (Marburg) Edition und Kommentierung – Interpretation und Rezeption Interpreten betrachten das literarische Werk meist als ein Rätsel, das man lösen kann, sie vermuten in ihm einen Sinn, der sich auffinden lässt, und die Rezeptionsgeschichte ist deshalb weitgehend eine Geschichte der Zuweisungen von jeweils unterschiedlichem Sinn. Ich bezweifle, dass dieses Verfahren Büchners Werken gerecht wird. Danton’s Tod und Leonce und Lena, aber selbst Lenz und Woyzeck sind Kompositionen aus Mosaiksteinen, die monadengleich ihre jeweils eigene Bedeutung oder ihre eigenen Bedeutungen in sich tragen. Lösbare Rätsel liegen hier nicht im Ganzen der Texte, sondern allenfalls in deren Bausteinen. Aber auch diese erweisen sich gelegentlich als »Kippfiguren«, also als Gebilde mit in sich widersprüchlichem Sinn. Die Bedeutungen und auch die widersprüchlichen Bedeutungen dieser Bausteine zu ermitteln, ist naturgemäß Aufgabe des Stellenkommentars, der auf interpretatorische Sinnzuschreibungen verzichtet. Konterkariert wird die interpretatorische Sinnzuschreibung auch durch das editorische Verfahren, also durch die Rekonstruktion der Schreibprozesse und der Schreibstrategien. Der angekündigte Vortrag soll vor Augen führen, welchen Mehrwert die Verfahren des Kommentierens und des Edierens Büchners Werken abgewinnen können. Er ist damit zugleich ein Rückblick auf die Arbeit an der gerade abgeschlossenen Marburger Büchner-Ausgabe.

Elisabetta FAVA (Torino) Zwischen Schauspiel und : Dantons Tod in der Vertonung von (1947) Schon in den Kriegsjahren, und nachdem er auch schon von den Nazis einmal verhaftet worden ist, beginnt der Komponist Gottfried von Einem, sich mit der Vertonung von Büchners Dantons Tod zu beschäftigen: Das dazu (eher als echte ›Literaturoper‹ verfasst) bereitet ihm sein Lehrer und künftiger Librettist vor. 1947 bei den Salzburger Festspielen mit großem Beifall uraufgeführt, ist Einems Dantons Tod einerseits knapper als der Urtext, andererseits noch stärker chorisch geprägt. Die musikalischen Ansatzpunkte Büchners sind (erstaunlicherweise) nicht alle in der Umarbeitung erhalten; was aber übrigbleibt, ist eine Erinnerung an verlorene Schönheiten oder eine Maske, um Falschheit zu decken. Gegen die Aggressivität der Chöre dehnen sich die Solopartien zu offenen ›Ariosi‹ aus, auf halbem Weg zwischen der älteren Oper und den zeitgenössischen Deklamationsformen. Das Referat versucht, Eigenschaften und Ziele der Lektüre Einems zu erkennen und zu analysieren.

Gerhard FRIEDRICH (Torino) Die Rezeption Büchners in der »post-DDR-Literatur« Woraus die post-DDR-Literatur eigentlich besteht: aus einem Überhang an Biografie und dem Schreiben von Autoren über das Verschwinden ihres Herkunftslandes, über die historische Zäsur der Vereinigung hinaus, spiegelt sich auch in ihren Bezugnahmen auf Georg Büchner. So sind die Erinnerung des untergegangenen Landes und der eigenen Erfahrungen in ihm, und vor allem die Wahrnehmung von Krise und radikalem Umbruch der, in ihren Preisreden erkennbare, gemeinsame Nenner des Bezugs auf Georg Büchner der meisten mit dem Büchnerpreis ausgezeichneten aus der DDR stammenden Autoren. Zur Reflexion also des hart ins Individuelle schneidenden Geschichtsprozesses zunächst als Lebensproblem und – wenn überhaupt – erst in zweiter Ordnung als eins des eigenen Schreibens fühlen sich die meisten dieser Autoren aufgerufen, wenn sie in zeremoniellem Kontext Stellung beziehen zu Georg Büchner. Es ist der Büchner, der die Möglichkeit bewussten geschichtlichen Handels problematisiert und weniger der Kämpfer, dem sich einige Autoren – wie z.B. Wolfgang Hilbig und Reinhard Jirgl – nahe fühlen. Wolf Biermann hingegen erkennt sich in dem die Staatsgewalt herausfordernden und im Exilanten Büchner wieder. Durs Grünbein und – vor allem – Volker Braun reflektieren übers Biographische hinaus auf mögliche Konsequenzen von Büchners Schreiben für ihre eigene Poetik und kommen dabei zu entgegengesetzten Ergebnissen. Eine direkte Wirkung von Büchners Werk auf sein Schreiben lässt sich vor allem bei Volker Braun nachweisen.

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Michela GARDA (Pavia) Vom Text zum Song: Tom Waits’ Blood Money Mit seinen zahlreichen Bezügen auf halluzinierte Visionen und Schauspielmusik ist Büchners Woyzeck ein Text, der strukturell für eine intermediale Interpretation geeignet ist. Wenn einerseits die Verfilmung die angemessene Lösung für die Aktualisierung des Stoffes und des Mediums erscheint, bietet Robert Wilsons Produktion von 2001 für das Betty Nansen Teatret in Kopenhagen ein Beispiel von theatralischer Aufführung an, die das Prinzip der Texttreue radikal in Frage stellt und der Schauspielmusik einen zweifachen Auftrag verleiht: Musik für die und auf der Bühne zu versorgen und gleichzeitig einen lyrischen und musikalischen Kommentar über Woyzeck als archetypische Verkörperung des Schicksals vom Verlierer zu dichten. Tom Waits und Kathleen Brennans Songs für Wilsons Woyzeck erschienen im Jahre 2002 in einem Konzeptalbum mit dem Titel Blood Money. Im Vergleich zu dem üblichen Soundtrack Album und dem so genannten Original Cast Recording scheint dieses Album nur eine lose Beziehung zu seinem theatralischen Ursprung zu haben. Die Fotos auf dem Umschlag, die Tom Waits als Charakter einer kryptischen Blutgeld-Geschichte darstellen, verstärken den Eindruck, dass Büchners Drama nur in einem komplexen Netz von musikalischen und dichterischen Andeutungen als historischer Hintergrund und Katalysator einer weiteren Etappe im Tom Waits’ Spätstil überlebt. Ferner zeigt die Wilson-Waits- Zusammenarbeit eine neue Ökonomie in der Dialektik von Werk und Aufführung im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke.

Dietmar GOLTSCHNIGG (Graz) Kreuzungspunkte in der Wirkungsgeschichte Heinrich Heines und Georg Büchners Heine und Büchner sind literarisch wie politisch die beiden wirkungsmächtigsten deutschen Dichter des 19. Jahrhunderts. Nach einem Rückblick auf das ausgehende 19. Jahrhundert werden aus der Zwischenkriegszeit die für Exil und Emigration exemplarischen Arbeiten von Georg Lukács, Anna Seghers und Hans Mayer behandelt. Die Teilung Deutschlands nach 1945 hat eine gegensätzliche Rezeption sowohl Heines wie auch Büchners in der DDR und der Bundesrepublik zur Folge. Die deutsche (Wieder-)Vereinigung vollzieht sich dann in engster politischer Verschränkung der beiden Dichter, was sich an jenen Autoren veranschaulichen lässt, die den Büchner- und den Heine-Preis erhalten haben: namentlich Max Frisch, Rühmkorf und Biermann.

Serena GRAZZINI (Pisa) Leonce und Lena: Italienische Rezeptionen Mit der 1928 beim Verlag Carabba (Lanciano, Abruzzen) erschienenen Übersetzung von Leonce und Lena wurde Georg Büchner dem italienischen Lesepublikum zum ersten Mal zugänglich gemacht. Trotz dieses vielversprechenden Anfangs ist die italienische Rezeption dieses Lustspiels in den Jahrzehnten danach und bis zu den heutigen Tagen eher im Schatten der anderen Werke geblieben, und dies auch noch in einer Zeit, in der die deutsche und internationale Germanistik die Bedeutung des Stücks wohl erkannt hatte. Die Seltenheit der Auseinandersetzung soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch Italien dazu beigetragen hat, interessante Gesichtspunkte über diese seltsame Komödie zu Tage zu fördern, und diesen gilt in dem Vortrag meine besondere Aufmerksamkeit. Erst richtig zur Geltung kommen diese Gesichtspunkte aber dann, wenn der Pluralität der Perspektiven, zu der die Mailänder Tagung einlädt, Rechnung getragen wird; aus diesem Grund zieht der Vortrag drei Ebenen der Rezeption in Betracht: die italienische Literaturwissenschaft, die Übersetzungen ins Italienische und das italienische Theater. Im Besonderen werden drei voneinander sehr unterschiedliche Erfahrungen von Inszenierungen behandelt, wobei das Wort zum Teil ihren Protagonisten überlassen wird. Aus dieser Pluralität soll hervorgehoben werden, wo sich die verschiedenen Wissensfelder (hier spezifisch: Literaturwissenschaft, Übersetzungspraktiken und Dramaturgie) begegnen, wo sie aufeinanderprallen oder wo sie sich gegenseitig ignorieren.

John GUTHRIE (Cambridge) Dantons Tod auf dem zeitgenössischen englischen Theater Zu den Mechanismen des Kulturtransfers gehört es, dass ein ausländischer Dichter mit Dichtern der rezipierenden Kultur verglichen wird. So wird Büchner in Großbritannien oft mit Shakespeare in einem Atemzug genannt, der ihn tatsächlich beeinflusste, aber auch mit Dichtern in Verbindung gebracht, die ihm zeitlich näherstanden, wie dem Visionär William Blake, dem Revolutionär Shelley oder mit den ›in grellen

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Farben schreibenden Romantikern‹. Zum Kulturtransfer gehört ferner die Assimilation des unbekannten ausländischen Dichters als Vorgänger der bekannten Moderne. Büchner wird als Ahne gesehen, der die Schrecken des zwanzigsten Jahrhunderts schilderte, das Theater des Absurden vorbereitete, das Drama der Revolte und die Schilderung der metaphysischen Angst vorwegnahm oder einzelnen Schriftstellern Pate stand: so wie Arthur Miller, George Orwell, Bertolt Brecht. Komplementär zu dieser Assimilation des Bekannten ist die Aneignung des Unbekannten, Neuen, Anderen. Büchner wird als ein ausgeprägt deutscher Dichter gesehen, was Stil und Inhalt seiner Werke angeht, oder, etwas negativer, als dem teutonischen Hang zum Pathos anheimgefallen und sein Drama Dantons Tod mit obskuren historischen Details überlastet. Was dem einen als Hürde erscheint, ist dem Anderen eine Einladung zur Adaption, Umschreibung und Aktualisierung.

Ariane MARTIN (Mainz) Büchner und Wedekind Wie kommt es, dass immer wieder wie selbstverständlich gesagt wird, der Dramatiker Frank Wedekind stehe in der Nachfolge des Dramatikers Georg Büchner, obwohl das kaum handfest belegt ist, geschweige denn differenzierter untersucht? Der Vortrag geht dieser Frage nach. Er sichtet die wenigen greifbaren Rezeptionszeugnisse, die von Wedekind selbst stammen, darunter bisher unbekannte Texte, sowie die Zuschreibungen einer angeblich ausgeprägten Büchner-Rezeption aus dem unmittelbaren Umfeld des Autors (Stimmen insbesondere von Wilhelm Herzog, Artur Kutscher, Moritz Heimann, aber auch Heinrich Mann), auf die das in der Literaturgeschichte etablierte Bild von Büchner als Vorläufer Wedekinds einerseits zurückzuführen sein dürfte. Der Vortrag zeigt darüber hinaus einen kultur- und mediengeschichtlich weiter gespannten Rezeptionszusammenhang auf (so durch Alban Bergs Opern Wozzeck und Lulu und das Thema des Frauenmords), der die beiden Dramatiker andererseits in eine Verbindung bringt, die im kulturellen Gedächtnis als selbstverständlich angenommen wird. Dabei wird deutlich, dass die Rezeption Büchners sich im hier zur Debatte stehenden Fall von dem Autor und seinen Werken ablöst und ein quasi imaginäres Mischbild entsteht, das sich aus Vorstellungen zusammensetzt, die von Büchner und Wedekind im Umlauf waren.

Christian NEUHUBER (Graz) »Sehn Sie jezt die Kunst …« Woyzeck-Verbildlichungen vom Expressionismus bis zur Comic-Art Woyzeck ist nicht das Werk Büchners, das bildende Künstler zuerst inspirierte. Karl Walsers Farblithografien zu Leonce und Lena (1910) und Walo von Mays Lithografien zu Danton’s Tod (1914) entstanden für bzw. als Reaktion auf richtungsweisende Textausgaben und Inszenierungen. Die Proletariertragödie dagegen fand erst nach dem Ersten Weltkrieg bildnerische Resonanz – dafür jedoch mit einer Nachdrücklichkeit, wie sie kein anderes Werk Büchners erreichte. Inzwischen sind Verbildlichungen in kaum noch überschaubarer Zahl in aller Welt zu finden. Der Vortrag möchte einen Überblick über die Rezeption des Woyzeck in der Bildenden Kunst geben, die mit den Farbpastellen Werner Gotheins 1919 einsetzt, mit den expressionistischen Radierungen Walter Gramattés ihren ersten Höhepunkt erreicht und mit Alfred Hrdlickas skandalumwobenen Arbeiten ihren heute bekanntesten Ausdruck findet. Daneben aber gibt es noch zahlreiche weitere Werke zu entdecken, die in vielfältiger Beziehung zu ihren literarischen, theatralen und medialen Vorlagen stehen, die verschiedene Leseweisen erkennen lassen und selbst wieder unterschiedliche Interpretationen erfahren.

Moira PALEARI (Milano) Woyzeck in der Comic-Kunst: Büchners Drama in den »sprechenden Bildern« von Dino Battaglia Büchners Woyzeck erfährt im Laufe des 20. Jahrhunderts eine ausgesprochen intensive bildnerische Rezeption. Zu den zahlreichen intermedialen Umgestaltungen des Dramas gehört auch die Comic-Version des italienischen Zeichners Dino Battaglia (1923-1983), die 1974 in der Zeitschrift »Linus« in Italien erschien und 1990 in deutscher Übersetzung (Altamira Literaturcomic, Berlin) veröffentlicht wurde. Durch die Literaturadaptation des Woyzeck setzt Battaglia in der Comic-Kunst innovative Akzente und unterwirft dabei Büchners Werk einer eigenwilligen Interpretation. Mein Vortrag möchte folgende zwei Hauptaspekte nachzeichnen: 1) Wie und inwiefern wird die literarische Vorlage durch Battaglia graphisch und textuell verarbeitet bzw. welche Teile des Textes beeindrucken Battaglia am meisten? Werden Szenen ausgeblendet?

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Welche Strategien liegen der Semantisierung der Figur des Woyzeck zugrunde? 2) In welchem Verhältnis stehen Text und Bild bzw. durch welche zeichnerischen Mittel werden Figuren und Hintergrund modelliert, und welche Modalitäten werden eingesetzt, um Raum- und Zeitsequenzen darzustellen?

Gabriella ROVAGNATI (Milano) Forschung und Übersetzung. Giorgio Dolfinis doppeltes Engagement für Georg Büchner Der Beitrag von Gabriella Rovagnati, einer Schülerin Giorgio Dolfinis, behandelt sowohl die literaturwissenschaftliche Monographie Il teatro di Georg Büchner als auch den Band mit der umfassenden italienischen Übersetzung der Werke des Autors, Opere, die Dolfini beide Anfang der sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts veröffentlicht hat. Neben der Würdigung der Verdienste Dolfinis für die Rezeption Büchners in Italien will der Beitrag auch eine persönliche Hommage an einen Lehrer sein, der vor dreißig Jahren zu früh und unter tragischen Umständen ums Leben gekommen war, mit seiner Persönlichkeit jedoch die Mailänder Germanistik der siebziger Jahre und die damaligen Nachwuchswissenschaftler entscheidend geprägt hat.

Simonetta SANNA (Sassari) Isabelle Krötsch, Hans Kremer, BÜCHNER.LENZ.LEBEN. Belebung einer Dichtung durch Umsetzung vor Ort Der 2011/12 vom Atelier Kremer / Krötsch hergestellte Film BÜCHNER.LENZ.LEBEN, dem der Vortrag gewidmet ist, räumt dem Text ad quem – das dominante Kriterium, das dem Projekt Kohärenz und Kontinuität verleiht – eine zentrale Stellung ein. Sie bedingt nicht nur einen entsprechenden Umgang mit dem Referenz-Material, sondern eine umfassende Strategie, deren Umsetzung einem System von nicht- sprachlichen Zeichen wie einem doppelten Register der Bilder obliegt. Die Interpretation von Hans Kremer unterstützt seinerseits das Regie-Projekt mit einigen staunenswerten Interpretationsmomenten. Mittels der Adaptierung der Novelle kommt BÜCHNER.LENZ.LEBEN zugleich zur Problematik der Strukturierung des modernen Individuums: Die Individualität des Anderen aufnehmen, indem man die eigene erfasst, vermag eigentümliches Sein, eigentümliches Leben, eigentümliches Wesen weiter auszubilden und also die Möglichkeit des Daseins für jedes menschliche Wesen im Sinne der Selbstverwirklichung zu befördern.

Michele SISTO (Roma-Trento) Büchner im italienischen Verlagsfeld: von Carabba bis Adelphi (1928-1963) Es ist bekannt, dass Georg Büchners Werk erstmals am Ende der 1920er Jahre ins Italienische übersetzt wurde. In der Regel erforscht die Literaturwissenschaft in solchen Fällen die Gründe der verspäteten Rezeption, fragt sich also überrascht, warum der heutzutage kanonisierte Autor bis dato noch nicht auf das Interesse der Leser dieses oder jenes fremden Landes gestoßen war. Sie neigt also dazu, eine späte Übersetzung als Ausnahme zu betrachten. Die Soziologie der Übersetzung, wie sie sich in den letzten Jahren mit Bezug auf Pierre Bourdieus Theorie der Felder entwickelt hat, plädiert dafür, die Analyse nicht auf den einzigen Autor oder Text zu fokussieren, sondern sie systematisch auf den ganzen Rezeptionsraum zu erweitern. So erfährt man, dass abwesende Übersetzungen nicht die Ausnahme, sondern die Regel sind. Mein Vorschlag ist also, die Frage umzukehren: Warum wurde Georg Büchner überhaupt übersetzt? Warum gerade in den 1920er Jahren? Wer hatte ein Interesse daran, seine Werke nach Italien zu bringen, sie zu erläutern, verlegen, inszenieren? Um diese Frage zu beantworten, werde ich das Einsetzen eines Interesses für die »moderne deutsche Literatur« im Kreis der Zeitschrift La Voce (1908-16) verfolgen, sowie die Laufbahn des ersten professionellen Übersetzers deutscher Gegenwartsliteratur, Alberto Spaini (1892-1975), und die ästhetischen Programme von Verlagshäusern wie Carabba, Rosa & Ballo und Adelphi, die sich im Verlagsfeld am Pol der »eingeschränkten Produktion« positionierten, indem sie auf eine »neue« deutsche Literatur setzten.

Dagmar VON HOFF (Mainz) Woyzeck im Film Im Mittelpunkt des Vortrags steht Büchners Figur des Woyzeck. Ausgehend von Eugen Kilians Uraufführung des szenischen Konglomerats am 8. November 1913 im Residenz-Theater in München, nach Vorlagen von Hofmannsthal und mit dem bekannten Wedekind-Darsteller Albert Steinrück als erstem Woyzeck-Schauspieler, sollen die bisherigen Woyzeck-Verkörperungen in den filmischen Adaptionen untersucht werden. Für die Untersuchung herangezogen werden Georg C. Klarens Wozzeck (SBZ 1947),

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Bohumil Herlischkas Woyzeck (DE 1962), Rudolf Noeltes Woyzeck (DE 1966), Giancarlo Cobellis Woyzeck (IT 1973), Werner Herzogs Woyzeck (DE 1978), János Szászs Woyzeck (HU 1994) und Nuran Calis’ Woyzeck (DE 2013). An exemplarischen Szenen sollen die unterschiedlichen Woyzeck-Interpretationen der Regisseure herausgearbeitet und die Figur im Kontext der differierenden Schwerpunktsetzungen vorgestellt werden.

Luca ZENOBI (L’Aquila) Woyzeck als multimediales Stück: Über einige zeitgenössische Inszenierungen Ein Woyzeck von Büchner existiert nicht, keine letztgültige Fassung von Büchners letztem Werk ist nachgewiesen. Der Nachwelt bleibt ein Fragment erhalten, der Entwurf eines »offenen« Dramas, das in der Geschichte seiner Rezeption wie der sogenannte Urfaust die barocke Gattungsbestimmung »Stationendrama« wiederholt bekommen hat. Die montagenhafte Reihenfolge der Szenen bzw. der Bilder – »denn gerade in der balladenhaften Aufeinanderfolge der contrastierenden Scenen liegt das Geniale und Bezaubernde« schrieb Hofmannstahl 1913 in einem Brief an Clemens von Franckenstein –, sowie die Lücken in den erhaltenen vier Handschriften, bieten Regisseuren einen breiten Raum für eine intermediale oder multimediale Bearbeitung des Stückes. Am Beispiel von Bob Wilsons (2000) und Vesturports (2005) Inszenierungen werden grundsätzliche Elemente von Denken und Poetik Georg Büchners thematisiert.

Eine internationale wissenschaftliche Tagung zum 200. Geburtstag Georg Büchners, organisiert von Marco Castellari und Alessandro Costazza (Dipartimento di Lingue e Letterature Straniere, Università degli Studi di Milano) in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut Mailand und dem Piccolo Teatro di Milano und unter der Schirmherrschaft der AIG (Associazione Italiana di Germanistica). www.lingue.unimi.it www.goethe.de/mailand

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