Büchner-Rezeptionen – interkulturell und intermedial Milano, 23.-24. September 2013 ABSTRACTS DER VORTRÄGE Paola BOZZI (Milano) Vom Aufheben. Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und der Büchner-Preis Die im Jahre 1951 erfolgte Umwandlung des Büchner-Preises in einen von der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung verliehenen Literaturpreis, der seither als bedeutendste literarische Auszeichnung im gesamten deutschsprachigen Raum gilt, hat die immerwährende Gegenwärtigkeit des Vormärzdichters institutionalisiert. Mit der Reorganisation wurde eine Rede des Preisträgers bzw. der Preisträgerin fester Bestandteil der Preisverleihungsfeier. Im Rahmen einer solchen staatlich geförderten Vereinnahmung vollzog sich bald eine Wende zur »Ritualkritik als Ritualpraxis« (B. Dücker). Die Laureaten gingen vermehrt dazu über, sich den Ehrungen zwar nicht zu entziehen, dort aber in ihrer Dankesrede die eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren und die Gesetze der Situation und des Rituals performativ wenn nicht zu unterlaufen, so doch wenigstens alternativ zu aktualisieren. Dass diese Gratwanderung nicht immer leicht zu meistern war, zeigt die Rede von Thomas Bernhard (1970) bzw. von Elfriede Jelinek (1998) – jeweils die kürzeste sowie die dichteste in der Geschichte der Prämierung. Das Dilemma, das hier zu Tage kommt, ist ein grundlegendes der epideiktischen Rede, die weder auf ein Urteil noch auf einen Beschluss, sondern gänzlich auf ein Vorzeigen hinausläuft. Es gilt daher zu untersuchen, welche Haltung Bernhard bzw. Jelinek in ihren Dankesreden in Darmstadt eingenommen haben und welches öffentliche Image bzw. Ethos die Schriftsteller in ihren Reden zur Schau stellten. Marco CASTELLARI (Milano) Verwischte Spuren. Zu Bertolt Brechts Büchner-Rezeptionen Hat die ältere Forschung die teilweise vom Augsburger selbst gezogene Büchner-Brecht-Linie vor einem so gut wie gesicherten »Grundbestand an Gemeinsamkeiten« (Hinck 1981) als selbstverständlich betrachtet – Goltschnigg hat bereits 1975 anmerken können, diese Linie sei auch »sehr strapaziert worden« –, so kommen neuere Studien zum gegenseitigen Ergebnis, dass selbst der frühe Brecht Büchner zwar »wahrgenommen« habe, ohne aber »dass er ihm allzu große Bedeutung beigemessen hätte« (Hillesheim 2011). Der Vortrag versucht einerseits anhand der heute verfügbaren Quellen zu Brecht und dessen Arbeitsumfeld die spärlichen expliziten Aussagen zu Büchner und weitere Belege als Spuren einer untergründig und zwiespältig verlaufenden Rezeption zu lesen, andererseits diese holprige Überlieferung nach den (ästhetischen, strategischen, ideologischen?) Gründen für Brechts durchaus problematische Büchner-Nachfolge zu befragen. Alessandro COSTAZZA (Milano) Woyzeck im Gefängnis Der Titel des Vortrages bezieht sich nicht auf einen möglichen Ausgang des berühmten Kriminalfalls Woyzeck und somit auf die Folge jenes »schönen Mordes«, mit dem das Theaterstück von Büchner endet. Nicht die Figur Woyzeck ist im Gefängnis gelandet, sondern das Stück selbst. Fünf Jahre lang haben sich die Insassen der Strafanstalt von Ferrara unter der Leitung des italienisch/argentinischen Regisseurs Horacio Czertok mit Büchners Woyzeck aktiv und produktiv auseinandergesetzt und es mehrmals auch außerhalb des Kerkers aufgeführt. Eine solche Rezeption seines Werkes hätte sich Büchner nicht erträumen können, aber sie hätte ihm sicherlich gefallen. Denn die Gefängnisinsassen sind Schicksalsgefährten von Woyzeck selbst, Vertreter jener »Geringsten«, denen Büchners ganze Aufmerksamkeit und seine ganze Kunst galten. Das mag vielleicht ein Grund dafür sein, warum gerade dieses Werk für eine Aufführung im Kerker ausgewählt worden ist und es ist mit Sicherheit interessant, zu sehen, wie die Gefangenen den Fall Woyzeck sich angeeignet haben. Darüber hinaus ist auch das Verhältnis von Gefängnis und Theater von Interesse, weil das Gefängnis selbst eine Art von Theater ist, in dem gewisse Regeln gelten und bestimmte Rollen gespielt 1 Büchner-Rezeptionen – interkulturell und intermedial Milano, 23.-24. September 2013 werden. Die theatralische Aufführung von Büchners Werk gewährte sozusagen den Außenstehenden einen Blick in das Theater des Gefängnisses, während sie auf der anderen Seite den Gefangenen, über das Theater, eine Art Ausbruch aus dem Gefängnis ermöglichte. Burghard DEDNER (Marburg) Edition und Kommentierung – Interpretation und Rezeption Interpreten betrachten das literarische Werk meist als ein Rätsel, das man lösen kann, sie vermuten in ihm einen Sinn, der sich auffinden lässt, und die Rezeptionsgeschichte ist deshalb weitgehend eine Geschichte der Zuweisungen von jeweils unterschiedlichem Sinn. Ich bezweifle, dass dieses Verfahren Büchners Werken gerecht wird. Danton’s Tod und Leonce und Lena, aber selbst Lenz und Woyzeck sind Kompositionen aus Mosaiksteinen, die monadengleich ihre jeweils eigene Bedeutung oder ihre eigenen Bedeutungen in sich tragen. Lösbare Rätsel liegen hier nicht im Ganzen der Texte, sondern allenfalls in deren Bausteinen. Aber auch diese erweisen sich gelegentlich als »Kippfiguren«, also als Gebilde mit in sich widersprüchlichem Sinn. Die Bedeutungen und auch die widersprüchlichen Bedeutungen dieser Bausteine zu ermitteln, ist naturgemäß Aufgabe des Stellenkommentars, der auf interpretatorische Sinnzuschreibungen verzichtet. Konterkariert wird die interpretatorische Sinnzuschreibung auch durch das editorische Verfahren, also durch die Rekonstruktion der Schreibprozesse und der Schreibstrategien. Der angekündigte Vortrag soll vor Augen führen, welchen Mehrwert die Verfahren des Kommentierens und des Edierens Büchners Werken abgewinnen können. Er ist damit zugleich ein Rückblick auf die Arbeit an der gerade abgeschlossenen Marburger Büchner-Ausgabe. Elisabetta FAVA (Torino) Zwischen Schauspiel und Literaturoper: Dantons Tod in der Vertonung von Gottfried von Einem (1947) Schon in den Kriegsjahren, und nachdem er auch schon von den Nazis einmal verhaftet worden ist, beginnt der Komponist Gottfried von Einem, sich mit der Vertonung von Büchners Dantons Tod zu beschäftigen: Das Libretto dazu (eher als echte ›Literaturoper‹ verfasst) bereitet ihm sein Lehrer und künftiger Librettist Boris Blacher vor. 1947 bei den Salzburger Festspielen mit großem Beifall uraufgeführt, ist Einems Dantons Tod einerseits knapper als der Urtext, andererseits noch stärker chorisch geprägt. Die musikalischen Ansatzpunkte Büchners sind (erstaunlicherweise) nicht alle in der Umarbeitung erhalten; was aber übrigbleibt, ist eine Erinnerung an verlorene Schönheiten oder eine Maske, um Falschheit zu decken. Gegen die Aggressivität der Chöre dehnen sich die Solopartien zu offenen ›Ariosi‹ aus, auf halbem Weg zwischen der älteren Oper und den zeitgenössischen Deklamationsformen. Das Referat versucht, Eigenschaften und Ziele der Lektüre Einems zu erkennen und zu analysieren. Gerhard FRIEDRICH (Torino) Die Rezeption Büchners in der »post-DDR-Literatur« Woraus die post-DDR-Literatur eigentlich besteht: aus einem Überhang an Biografie und dem Schreiben von Autoren über das Verschwinden ihres Herkunftslandes, über die historische Zäsur der Vereinigung hinaus, spiegelt sich auch in ihren Bezugnahmen auf Georg Büchner. So sind die Erinnerung des untergegangenen Landes und der eigenen Erfahrungen in ihm, und vor allem die Wahrnehmung von Krise und radikalem Umbruch der, in ihren Preisreden erkennbare, gemeinsame Nenner des Bezugs auf Georg Büchner der meisten mit dem Büchnerpreis ausgezeichneten aus der DDR stammenden Autoren. Zur Reflexion also des hart ins Individuelle schneidenden Geschichtsprozesses zunächst als Lebensproblem und – wenn überhaupt – erst in zweiter Ordnung als eins des eigenen Schreibens fühlen sich die meisten dieser Autoren aufgerufen, wenn sie in zeremoniellem Kontext Stellung beziehen zu Georg Büchner. Es ist der Büchner, der die Möglichkeit bewussten geschichtlichen Handels problematisiert und weniger der Kämpfer, dem sich einige Autoren – wie z.B. Wolfgang Hilbig und Reinhard Jirgl – nahe fühlen. Wolf Biermann hingegen erkennt sich in dem die Staatsgewalt herausfordernden und im Exilanten Büchner wieder. Durs Grünbein und – vor allem – Volker Braun reflektieren übers Biographische hinaus auf mögliche Konsequenzen von Büchners Schreiben für ihre eigene Poetik und kommen dabei zu entgegengesetzten Ergebnissen. Eine direkte Wirkung von Büchners Werk auf sein Schreiben lässt sich vor allem bei Volker Braun nachweisen. 2 Büchner-Rezeptionen – interkulturell und intermedial Milano, 23.-24. September 2013 Michela GARDA (Pavia) Vom Text zum Song: Tom Waits’ Blood Money Mit seinen zahlreichen Bezügen auf halluzinierte Visionen und Schauspielmusik ist Büchners Woyzeck ein Text, der strukturell für eine intermediale Interpretation geeignet ist. Wenn einerseits die Verfilmung die angemessene Lösung für die Aktualisierung des Stoffes und des Mediums erscheint, bietet Robert Wilsons Produktion von 2001 für das Betty Nansen Teatret in Kopenhagen ein Beispiel von theatralischer Aufführung an, die das Prinzip der Texttreue radikal in Frage stellt und der Schauspielmusik einen zweifachen Auftrag verleiht: Musik für die und auf der Bühne zu versorgen und gleichzeitig einen lyrischen und musikalischen Kommentar über Woyzeck als archetypische Verkörperung des Schicksals vom Verlierer zu dichten. Tom Waits und Kathleen Brennans Songs für Wilsons Woyzeck erschienen im Jahre 2002 in einem Konzeptalbum mit dem Titel Blood Money. Im Vergleich zu dem üblichen Soundtrack Album und dem so genannten Original Cast Recording scheint dieses Album nur eine lose
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