PERSPEKTIVE | FES POLEN

Kabinettswechsel in Polen Ein Zeichen politischer Reife

JOANNA ANDRYCHOWICZ-SKRZEBA | ROLAND FEICHT | BASTIAN SENDHARDT Oktober 2014

n Am 22. September wurde die neue polnische Regierung vereidigt. An ihrer Spitze steht die neue Ministerpräsidentin von der Bürgerplattform (PO), zudem wurden fünf Ministerien neu besetzt. Für Aufsehen sorgte eine Änderung im Au- ßenministerium. So wechselte der bisherige Amtsinhaber Radosław Sikorski auf den Posten des -Marschalls, die Wahl des Nachfolgers fiel auf den außenpolitisch unerfahrenen .

n Die Berufung von Tusk zum Präsidenten des Europäischen Rates ist von großer in- nenpolitischer Bedeutung: Zum einen stehen 2015 Parlamentswahlen an, zum an- deren wird die PO mittelfristig eine neue Parteiführung brauchen. Viel wird davon abhängen, ob die neue Regierung Kopacz das Vertrauen der Polen gewinnen und die eigene Partei stabilisieren kann.

n Tusks Wechsel nach Europa gilt in Polen als politischer Erfolg des gesamten Landes. Die neue Premierministerin setzt insgesamt den Weg ihres Vorgängers fort und be- schränkt sich auf einige wenige eigene Akzente, so etwa eine stärkere Betonung so- zialpolitischer Aspekte. Ein Euro-Beitritt ist vorerst kein Thema, und auch in Sachen Ukraine ist kein Kurswechsel zu erwarten.

n 25 Jahre nach der Wende von 1989 lässt sich ein Prozess der demokratischen Kon- solidierung feststellen, den Polen seither durchlaufen hat. Die Regierungsumbildung verlief auffallend unauffällig, mit anderen Worten: normal. Diese Normalität ist nicht zuletzt auch ein Zeichen politischer Reife, welche Polen in den vergangenen Jahren erworben hat. ANDRYCHOWICZ-SKRZEBA, FEICHT, SENDHARDT | KABINETTSWECHSEL IN POLEN

Die Berufung von Premierminister Donald Tusk zum Die neuen Gesichter in der Regierung Präsidenten des Europäischen Rates zum 1. Dezember 2014 ist insbesondere im Hinblick auf die polnischen Ewa Kopacz – Ministerpräsidentin Parlamentswahlen im kommenden Jahr von großer in- nenpolitischer Bedeutung. Tusks Weggang hat nicht nur Die gelernte Ärztin trat 2001 in die PO ein. Im gleichen zur Folge, dass in Polen eine neue Regierung gebildet Jahr wurde sie als Abgeordnete in den Sejm gewählt, werden musste, sondern auch, dass die regierende li- dem sie seither ohne Unterbrechung angehört. Von beral-konservative Bürgerplattform (PO) mittelfristig ei- 2007 bis 2011 bekleidete Ewa Kopacz das Amt der Ge- nen neuen Parteichef brauchen wird. Ob der Verlust des sundheitsministerin, nach den Wahlen 2011 übernahm Parteichefs Tusk die PO langfristig schwächt, wird stark sie schließlich den Posten der Sejm-Marschallin. Inner- davon abhängen, wie sich die Machtübergabe gestaltet halb der PO ist sie stellvertretende Parteivorsitzende und und wer Tusk in das Amt des Parteivorsitzenden folgt, wird voraussichtlich nach Tusks Abschied in Richtung aber auch davon, ob die Regierung von Tusks Nachfol- Brüssel den Vorsitz übernehmen. Ewa Kopacz gilt Tusk gerin Ewa Kopacz das Vertrauen der Pol_innen gewinnt. gegenüber als loyal. Es ist davon auszugehen, dass sie Schon jetzt sehen Tusks Konkurrenten in der PO – unter den von ihm eingeschlagenen politischen Kurs weiter- ihnen der ehemalige Innenminister und Sejm-Marschall verfolgen wird. Innerhalb der Partei gehört sie dem libe- Grzegorz Schetyna, der bis zuletzt auch Vorsitzender ralen Flügel an und gilt als unideologisch. In ihrer Zeit als des Auswärtigen Ausschusses im Sejm war – ihre Zeit Gesundheitsministerin zeichnete sie sich für die Vorbe- gekommen, Tusk als Parteivorsitzenden zu beerben. reitung der Reform über die Rückerstattung von Arznei- Neuwahlen der Parteiführung werden wahrscheinlich mittelkosten verantwortlich. Die von ihrem Nachfolger Ende 2015 stattfinden. Möglicherweise wird die neue Bartosz Arłukowicz umgesetzte Reform führte zu teil- Ministerpräsidentin Ewa Kopacz auch den Parteivorsitz weise chaotischen Zuständen in den Apotheken und zu bis zu Neuwahlen übernehmen. Ärzteprotesten. In den Meinungsumfragen vom August 2014 sprachen 35 Prozent der Befragten Ewa ­Kopacz das Vertrauen aus. Damit lag sie auf Platz drei hinter Die neue polnische Regierung Präsident Komorowski (73 Prozent) und dem schei- denden Außenminister Sikorski (40 Prozent). Nach der Die Wahl der Nachfolge Tusks für das Amt des Verkündung von Tusks Wechsel nach Brüssel konnte sie Ministerpräsidenten fiel auf Ewa Kopacz, bislang Prä- ebenso wie Komorowski (79 Prozent) und Sikorski (49 sidentin des polnischen Parlaments Sejm (Sejm-Mar- Prozent) noch einmal zulegen und erreichte 48 Prozent. schallin). Vorgeschlagen von Tusk, erhielt sie die Unter- stützung des PO-Parteivorstands und danach auch des Präsidenten Komorowski. Die Vereidigung der neuen Grzegorz Schetyna – Außenminister Regierung fand am 22. September statt. Im Zuge des- sen kam es zu einem Kabinettswechsel: Fünf Ministerien Die Ernennung des Nachfolgers von Radosław Sikorski wurden neu besetzt, zwölf blieben unverändert. Dabei sorgte bei einer insgesamt eher geräuschlosen Regie- wurde unter anderem Elżbieta Bieńkowska verabschie- rungsumbildung für die größte Überraschung. Die Per- det. Die scheidende Ministerin für Infrastruktur und re- sonalie des Außenministers erregte vor allem deshalb die gionale Entwicklung folgte Donald Tusk nach Brüssel, Gemüter, da mit Sikorski ein äußerst versierter Außen- wo sie als Kommissarin für Binnenmarkt, Industrie, Un- politiker auf den zwar prestigeträchtigen, letztlich aber ternehmertum und KMU tätig sein wird. Eine weitere wenig einflussreichen Posten des Sejm-Marschalls ab- Änderung betrifft die Ernennung des Verteidigungs- geschoben wurde und dies in einer außen- und sicher- ministers zum Vizepremier. Seine heitspolitisch heiklen Situation (Krise in der Ukraine). Der Ernennung zeugt von der gestiegenen Bedeutung des neue Mann im Außenministerium, Grzegorz Schetyna, Ministeriums angesichts der anhaltenden Krise in der gilt außenpolitisch als unbeschriebenes Blatt, zuletzt Ukraine und ist auch ein Zeichen der Priorität, die man stand er dem Sejm-Ausschuss für auswärtige Angele- sicherheitspolitischen Fragestellungen derzeit einräumt. genheiten vor. Seit 1997 ist Schetyna Mitglied des Sejm, von 2010 bis 2011 bekleidete er das Amt des Sejm-

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Marschalls. Er gilt als moderater Befürworter eines Euro- bis 2011 war er Minister für Infrastruktur, anschließend Beitritts, betont die Bedeutung der Beziehungen zu den stellvertretender Sejm-Marschall. Seit 2013 ist er zudem USA und spricht sich für eine harte Haltung gegenüber stellvertretender Vorsitzender der PO und dürfte nach Russland aus, allerdings in Abstimmung mit den ande- Tusks Abschied in Richtung Brüssel eine der Schlüsselfi- ren EU-Mitgliedern. Seine Ernennung dürfte vor allem guren innerhalb der Partei sein. So galt er als einer der innerparteiliche Gründe haben. Der größte Konkurrent wichtigsten Befürworter von Ewa Kopaczs Aufstieg ins von Donald Tusk innerhalb der PO soll durch die Einbin- Amt des Premiers. Im Konflikt zwischen Tusk und Sche- dung in die Regierung zu mehr Zusammenarbeit und tyna führte er die Gruppe der Unterstützer des früheren weniger Konfrontation bewegt werden. Die politische Premiers an. Von Experten wird er als möglicher Linie Sikorskis wird Schetyna weitestgehend fortführen. Kandidat für den Parteivorsitz genannt. Als Chef des Aufgrund der im Vergleich zu seinem Vorgänger schwa- strategisch nachrangigen Justizministeriums sind bis chen Position könnte der Einfluss des Präsidenten auf zu den kommenden Sejm-Wahlen keine bedeutenden die polnische Außenpolitik steigen. Hierfür spricht, dass Änderungen zu erwarten. sich der Präsident zuletzt häufiger zu außenpolitischen Fragestellungen äußert (zuletzt etwa zum Euro-Beitritt) und kürzlich in einem Fernsehinterview verkündete, es – Ministerin für Infrastruktur wäre das Beste gewesen, wenn Sikorski sein Amt bis und Entwicklung zum Ende der Wahlperiode behalten hätte. Maria Wasiak folgt auf die nach Brüssel abgewanderte Elżbieta Bieńkowska. Wasiak ist eine langjährige Mit- Teresa Piotrowska – Innenministerin arbeiterin von Ewa Kopacz aus Zeiten der Partei Unia Wolności (Freiheitsunion) in den 1990er Jahren. Viele Die Nachfolgerin von Bartłomiej Sienkiewicz ist die Jahre lang arbeitete sie bei der PKP (Polnische Bahn), wo zweite Überraschung im neuen Kabinett von Ewa Ko- sie für den Dialog mit den Gewerkschaften zuständig pacz. Teresa Piotrowska ist seit 2001 Mitglied der PO war. Sie blieb trotz wechselnder Regierungen in Polen wie auch Abgeordnete des Sejm. Im Sejm war sie zu- (SLD, PiS, PO-PSL) in unterschiedlichen Spitzenpositio- letzt stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für nen bei staatlichen Gesellschaften der Gruppe PKP. Zu- staatliche Kontrolle und Mitglied des Ausschusses für letzt war sie Vorstandsmitglied von PKP S.A. und dort öffentliche Finanzen. Sie verfügt jedoch bislang über kei- zuständig für die Restrukturierung der PKP-Gruppe. Ihre nerlei innenpolitische Erfahrung. Daher verwundert ihre Nominierung kann als Absicht gewertet werden, die pol- Ernennung, insbesondere angesichts der anstehenden nische Bahn zu stärken, nachdem diese jahrelang ver- Reformen der polnischen Sicherheitsdienste. Hauptziel nachlässigt worden ist – im Vordergrund standen bislang der Reformen ist es, die Aufgabenbereiche des Inland- Investitionen in das Schnellstraßen- und Autobahnnetz. geheimdienstes ABW und des Auslandsgeheimdienstes Obwohl sie Kontakte zu zahlreichen Politiker_innen AW klarer zu definieren und die Zusammenarbeit zwi- pflegt, könnte sich ihre lange Abwesenheit von der akti- schen beiden Organen besser zu koordinieren. Inner- ven Politik als Nachteil erweisen, wenn sie als Ministerin parteilich steht Piotrowska der neuen Premierministerin um politische Unterstützung werben muss. nahe, pflegt jedoch auch gute Beziehungen sowohl zu Tusk als auch zu Schetyna. Eigenen Äußerungen zufol- ge wird sie in einem Jahr in Pension gehen, was dafür – Minister für Verwaltung spricht, dass Piotrowska nur eine Übergangslösung im und Digitalisierung Amt der Innenministerin darstellt. Die Nominierung Halickis ist, wie bei Grzegorz Schetyna, Ausdruck der Bemühungen von Ewa Kopacz die Bürger- – Justizminister plattform und ihre drei rivalisierenden Flügel zu konsoli- dieren und die inneren Spannungen abzubauen. Halicki Der neue Justizminister Cezary Grabarczyk sitzt seit – ein enger Freund und Befürworter Schetynas – wird 2001 für die PO im polnischen Parlament. Von 2007 in die Regierungsarbeit einbezogen, um ihn u.a in die

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Verantwortung für die Zukunft der PO zu nehmen und terstrich Kopacz ihren langfristigen Führungsanspruch. kontrollieren zu können. Halicki ist seit Gründung der PO Hierfür spricht auch das auf mehrere Jahre angelegte im Jahre 2001 Parteimitglied und seit 2007 Abgeordne- Regierungsprogramm und die Erwähnung der EU-Fi- ter im Sejm sowie Vorsitzender der PO in der Woiwod- nanzmittel in Höhe von über 400 Mrd. Złoty (rund 100 schaft Masowien. Er war Pressesprecher der PO-Fraktion Mrd. Euro) für die Jahre 2014 bis 2020 sowie die Regie- und leitete ein Jahr lang (bis 2010) den Auswärtigen rungsumbildung. Ausschuss des Sejm, um danach den Vorsitz des Aus- schusses für Konstitutionelle Verantwortung (Komisja Anschließend wendete sich Kopacz an den gesamten odpowiedzialności konstytucyjnej) zu übernehmen. Sejm mit der Aufforderung, Parteiengezänk und persön- liche Ränkespiele dem Wohl des Landes unterzuordnen. Ihre Hauptaufgabe sei es, das Vertrauen der Polen in die Die Regierungserklärung von Regierung, die Politik und die Politiker wiederherzustel- Premierministerin Ewa Kopacz len. Zudem sprach sie auch direkt den PiS-Vorsitzenden Jarosław Kaczyński an. »Wir alle wissen, dass das polni- Am Abend des 2. Oktober 2014 sprach der Sejm der sche öffentliche Leben seit Jahren von der persönlichen neuformierten Regierung um Premierministerin Ewa Ko- Abneigung Jarosław Kaczyńskis gegenüber Donald Tusk pacz das Vertrauen aus. Den 259 Ja-Stimmen aus dem belastet ist. […] Es ist höchste Zeit, diese persönliche Regierungslager der Koalitionspartner PO (200) und PSL Verbissenheit zu durchbrechen. Ich appelliere an Herrn (32) sowie von Twój Ruch (13) und insgesamt 14 unab- Kaczyński, Herr Vorsitzender, entfernen wir aus Polen hängigen Abgeordneten standen 183 Nein-Stimmen diesen Fluch des Hasses.« Im Anschluss an die Regie- seitens der PiS (133), des SLD (29), der rechtskonserva- rungserklärung ging Kaczyński dann schließlich zu Tusk, tiven Fraktion Sprawiedliwa Polska1 (14) und 7 Stimmen reichte diesem die Hand und beglückwünschte ihn zu unabhängiger Parlamentarier_innen gegenüber. Zudem seinem neuen Amt. Dass diese Reaktion Kaczyńskis zu gab es insgesamt sieben Enthaltungen. Zuvor hatte sie einer dauerhaften Änderung des Verhältnisses zwischen den Abgeordneten in einer rund 45-minütigen Regie- PiS und PO führt, kann jedoch als ausgeschlossen gelten. rungserklärung (dem sog. Exposé) die Grundzüge ihres Programms vorgestellt. Mit ihrem Auftreten dürfte die neue Regierungschefin vor allem drei Ziele verfolgt haben: Nach ihren ersten, eher glücklosen Medienauftritten in den vergangenen Stärke zeigen: Abnabelung von Tusk Wochen galt es zunächst, sich der polnischen Bevölke- und ein Friedensangebot an Kaczyński rung als starke und entschlossene Premierministerin zu zeigen, was ihr gelungen sein dürfte. Zum zweiten, ver- Im Rahmen ihrer Ansprache nutzte Ewa Kopacz die Ge- deutlichte sie ihrer Partei ihren persönlichen Führungs- legenheit, um sich gegenüber ihrem Vorgänger Donald anspruch. Schließlich versuchte sie der überaus streitba- Tusk abzugrenzen und damit ihren Anspruch auf das ren Opposition um Kaczyński den Wind aus den Segeln Amt der Premierministerin zu unterstreichen. So würdig- zu nehmen. Damit zog Ewa Kopacz symbolisch einen te sie zwar einerseits Tusks Leistungen in den letzten sie- Strich unter die Amtszeit von Donald Tusk, wenngleich ben Jahren sowie dessen Berufung zum Präsidenten des sie inhaltlich die Politik ihres Vorgängers im Großen und Europäischen Rates, machte aber andererseits deutlich, Ganzen fortsetzt. dass sie sich keineswegs als Interimslösung betrachtet und sich eine Machtperspektive über die kommenden Parlamentswahlen im Herbst 2015 hinaus ausrechnet. Im Osten nichts Neues »Ich habe heute auch für dich, Donald, und für alle eine Botschaft. Ich bin es, die an der Spitze der polnischen Im Bereich der Außenpolitik beschwor die neue Regie- Regierung steht […] und für diese Regierung trage ich rungschefin den parteiübergreifenden Konsens ange- die gesamte Verantwortung.« Mit diesen Worten un- sichts der angespannten Sicherheitslage im Zusammen- hang mit dem Konflikt in der Ukraine. Zudem bekräftigte 1. Sprawiedliwa Polska (Gerechtes Polen) ist eine Fraktion innerhalb des Sejm und vereint die beiden rechtskonservativen Parteien Polska Razem sie die Bedeutung von Polens EU- und NATO-Mitglied- (Polen Zusammen) und Solidarna Polska (Solidarisches Polen).

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schaft für die Sicherheit des Landes. In der Frage der Uk- Umweltschutz sei zwar wichtig, dürfe aber nicht zu Las- raine kündigte Kopacz eine »pragmatische Politik« an. ten der heimischen Wirtschaft und der Verbraucher ge- Gleichzeitig stellte sie jedoch klar, dass weder die terri- hen. In diese Richtung deuten auch ihre Ausführungen toriale Souveränität der Ukraine zur Disposition gestellt, zum Thema Kohle. Diese habe der Ministerpräsidentin noch an der Unverletzlichkeit der Grenzen in Europa zufolge eine »strategische Bedeutung für Polen«, ihre gerüttelt werden dürfe. Zwar werteten die polnischen Konkurrenzfähigkeit müsse sichergestellt werden. Dem Medien die Äußerungen von Ewa Kopacz als dezente anstehenden Freihandelsabkommen zwischen der Euro- Abkehr vom klar pro-ukrainischen Kurs sowohl des vo- päischen Union und den Vereinigten Staaten (TTIP) steht rangehenden Premiers Donald Tusk als auch des bishe- Kopacz ohne jegliche Vorbehalte und grundsätzlich rigen Außenministers Radosław Sikorski. Allerdings lie- wohlwollend gegenüber. ßen Mitarbeiter des Außenministeriums verlauten, dass der neue Chef des Ministeriums, Grzegorz Schetyna, im Wesentlichen den Kurs seines Vorgängers weiterverfol- Euro-Beitritt Polens im nächsten Jahrzehnt gen werde. Dementsprechend wird Ewa Kopacz auch an der geplanten Erhöhung des Verteidigungshaushalts Zurückhaltend äußerte sich die neue Premierministerin festhalten. Dieser soll ab 2016 auf zwei Prozent des BIP im Hinblick auf einen Euro-Beitritt Polens. Voraussetzung steigen. Polen setzt damit den bereits zuvor eingeschla- für einen Beitritt seien eine reformierte und gestärkte genen Weg einer Erhöhung der Verteidigungsausgaben Euro-Zone sowie eine starke polnische Wirtschaft. Ex- fort und ist eines der wenigen NATO-Mitglieder, das ge- pert_innen zufolge wird Polen nicht vor 2018 in der willt ist, den 2002 im Rahmen des Bündnisses gefassten Lage sein, die Stabilitätskriterien für den Euro-Beitritt zu Beschluss zur Erhöhung der nationalen Verteidigungs- erfüllen, so dass mit einer Einführung des Euro in Polen budgets umzusetzen. Der aktuelle Konflikt in der Ukrai- frühestens nach den übernächsten Parlamentswahlen ne dürfte die neue Regierung in diesem Vorhaben noch 2019 zu rechnen sein wird. Damit zollt die neue Minis- einmal bestärkt haben. terpräsidentin vor allem der geringen Popularität einer Euro-Einführung unter der polnischen Bevölkerung Tri- but. Sie setzt den von ihrem Vorgänger eingeschlagenen Europapolitik: Im Zweifel für Polen abwartenden Kurs fort, selbst angesichts der jüngsten Vorstöße des Präsidenten Bronisław Komorowski, der In den vergangenen zehn Jahren seiner EU-Mitglied- sich für eine öffentliche Debatte zum Euro-Beitritt stark schaft hat Polen einen rasanten Wandel vollzogen: vom machte. »entwicklungsbedürftigen« Neumitglied hin zu einem Mitgliedstaat, der sich durch eigene Initiativen wie die Östliche Partnerschaft oder die Idee einer Energie-Union Die Sozialpolitik: All in the family einbringt und die Ambition hat, gegenüber den »großen Drei«, Deutschland, Frankreich und Großbritannien, auf Durchaus mit Spannung wurden die sozialpolitischen Augenhöhe zu agieren. Die Berufung von Donald Tusk Vorstellungen der für PO-Verhältnisse eher sozial orien- auf den Posten des Präsidenten des Europäischen Rates tierten Ewa Kopacz erwartet. Am Ende waren die Reak- passt da gut ins Bild. Und so verwundert auch nicht dass tionen auf das sozialpolitische Programm der Regierung seine Nachfolgerin Ewa Kopacz das Land mittlerweile in gespalten. Während aus dem linken SLD Stimmen ka- der »europäischen ersten Liga« angekommen sieht. Zu- men, die das Exposé als »sozialdemokratischstes Regie- dem machte die neue Premierministerin klar, dass Polen rungsprogramm aller Zeiten« bezeichneten, attestierten auch unter ihrer Führung gewillt ist, seine nationalen In- ihr andere Beobachter_innen ein wenig ambitioniertes teressen auf der europäischen Bühne durchzusetzen. So sozialpolitisches Programm. Mit Sicherheit gewährte möchte sich auch Kopacz für die von Tusk ins Spiel ge- Kopacz sozialpolitischen Themen weitaus mehr Raum brachte Energie-Union stark machen. Weiterhin deutete als es Tusk in seinem Exposé aus dem Jahre 2011 tat, sie an, dass in der EU-Klimapolitik auch in Zukunft mit ohne jedoch den großen Wurf zu wagen. Gleichzeitig polnischem Widerstand zu rechnen sein wird, womög- setzt Kopacz auf diese Weise den SLD und die bisweilen lich bereits Ende Oktober bei dem EU-Gipfel in Brüssel. sozial­orientierte PiS unter Druck.

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Die ambitionierten Vorhaben sind im Bereich der Famili- 3,8 Mrd. Złoty (etwa 0,95 Mrd. Euro) aufgewendet wer- enpolitik zu finden. Hier ist eine Erhöhung der Mittel für den. den Bau von Kinderbetreuungseinrichtungen von 50 auf 100 Mio. Złoty (ca. 12,5 bzw. 25 Mio. Euro) für das Jahr 2015 geplant. Bis zum Jahr 2020 sollen zudem Betriebs- Reaktionen auf das Exposé kindergärten und -kinderkrippen eingeführt werden. Die hierfür veranschlagten rund 2 Mrd. Złoty (rund 500 Mio. Das mediale Echo auf das Exposé der Regierung Kopacz Euro) sollen nicht zuletzt aus dem Europäischen Sozial- fiel gemischt aus. Während die konservative Tageszei- fonds kommen. Desweiteren kündigte Kopacz an, den tung Rzeczpospolita in der Erklärung ein weitgehend Kreis der Anspruchsberechtigten für den zwölfmonati- zusammenhangloses »Wunschkonzert« politischer gen Elternurlaub zu erweitern. In Zukunft werden auch Versprechungen erblickte, wertete die liberale Gazeta Eltern ohne normales Beschäftigungsverhältnis, also auf Wyborcza den Auftritt der neuen Premierministerin ins- der Basis von Werkverträgen Beschäftigte, Arbeitslose, gesamt als Fortsetzung der Politik Tusks und attestierte Studierende und Landwirt_innen einen Anspruch auf Kopacz ein pragmatisches Vorgehen. Elternurlaub haben. In den Meinungsumfragen nach dem Exposé konnte die Beim Thema Jugendarbeitslosigkeit identifizierte die PO mit 34 Prozent ihren im Vormonat erlangten Vor- Premierministerin mangelnde Berufserfahrung bei Ab- sprung gegenüber der PiS (28 Prozent inkl. Solidarisches solvent_innen als Haupthindernis für einen möglichst Polen und Polen Zusammen) leicht ausbauen. Der SLD reibungsfreien Übergang von der Ausbildung ins Ar- käme auf acht Prozent, die PSL auf sechs Prozent. Eben- beitsleben. Dass die in Aussicht gestellte Einführung falls in den Sejm einziehen würde der ultrakonservative eines Praktikums in der öffentlichen Verwaltung für Stu- Kongress der Neuen Rechten um Janusz Korwin-Mikke dierende diesem Missstand Abhilfe schafft, darf hinge- mit fünf Prozent. Twój Ruch würde mit zwei Prozent gen bezweifelt werden. Weit wichtiger scheint da die den Sprung ins Parlament klar verpassen. Im Hinblick Feststellung der Reformbedürftigkeit des polnischen auf mögliche Koalitionen nach der Sejm-Wahl im Herbst Berufsschulwesens. Wie Kopacz ankündigte, wird das 2015, wäre eine Fortsetzung der PO/PSL-Koalition mög- Bildungsministerium noch in diesem Jahr ein Programm lich. Gesetzt den Fall, dass die PSL an der Fünf-Prozent- vorstellen, dessen Ziel der Wiederaufbau der polnischen Hürde scheitert, wäre auch eine Koalition aus PO und Berufsschulen ist. Als Reaktion auf den anhaltenden SLD denkbar. Auf eben dieses Szenario scheint der Bund Brain-Drain, der gerade junge und gut ausgebildete Pol_ der Demokratischen Linken derzeit zu setzen, glaubt innen betrifft, kündigte Kopacz zudem ein besonderes man Äußerungen von Parteifunktionären. Stipendium für ein Auslandsstudium an. Ab dem Jahr 2016 sollen herausragende polnische Studierende die Durch den moderaten Fokus auf sozialpolitische Themen Möglichkeit erhalten, an renommierten Universitäten im und der zumindest rhetorisch größeren Zurückhaltung Ausland zu studieren. Das Studium finanziert der polni- im Hinblick auf den Konflikt in der Ukraine besetzt Ewa sche Staat unter der Bedingung, dass die Studierenden Kopacz Positionen, die zuvor eher dem SLD wie auch nach Abschluss ihres Studiums für mindestens fünf Jahre Twój Ruch zuzurechnen waren. So wurde Janusz Pali- in Polen arbeiten. kots Twój Ruch von der Opposition heftig für die Zu- stimmung zur Regierung kritisiert. Die Partei rechtfertig- Neben jungen Menschen und Familien standen auch te ihr Abstimmungsverhalten mit dem Hinweis auf das ältere Menschen im Fokus der sozialpolitischen An- Exposé, welches in zahlreichen Punkten mit dem eige- kündigungen. So versprach Kopacz unter anderem die nen Programm übereinstimme. Diese Ausrichtung des Einführung von Tageseinrichtungen für Senior_innen. Regierungsprogramms der neuen Premierministerin Ewa Die entstehenden Kosten sollen zu gleichen Teilen vom Kopacz könnte sowohl den Versuch darstellen, dem SLD Staatshaushalt, den Kommunen und den privaten Nut- Wähler_innen abspenstig zu machen, als auch ein Hin- zern getragen werden. Zudem beabsichtigt sie das von weis auf eine mögliche Koalition mit dem SLD nach den Tusk gegebene Versprechen einer Anhebung der Ren- Parlamentswahlen im Herbst 2015 sein. tenbezüge einzulösen. Hierfür sollen im Jahr 2015 rund

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Schlussfolgerung Im Jahr des 25. Jahrestags der ersten (halb-) freien Wah- len nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lässt sich je- Der Wechsel von Tusk nach Europa wird in Polen all- doch auch eine grundlegendere Beobachtung machen, gemein als politischer Erfolg wahrgenommen. Seiner die in der Eile der medialen Berichterstattung unter den Nachfolgerin Ewa Kopacz ist wenig an einer radikalen Tisch zu fallen droht: Polen hat in vergangenen Jahren Kursänderung gelegen, sie beschränkt sich auf einige einen überaus beachtenswerten Prozess demokratischer wenige eigene Akzente. Im Wesentlichen ist eine Fort- Konsolidierung durchlaufen. Diese Entwicklung ist für führung des eingeschlagenen Weges zu erwarten. So sich genommen bereits ein großer Erfolg, sticht jedoch hat die vorgenommene Kabinettsumbildung auch eher im Vergleich mit anderen Entwicklungen in der Region innerparteiliche Gründe. Die Ernennung von Grzegorz (z.B. Ungarn) noch einmal besonders hervor. Dass ein Schetyna zum neuen Außenminister sowie von Andrzej Kabinettswechsel nicht ohne mediale Spekulation und Halicki zum Minister für Verwaltung und Digitalisierung politisches Geplänkel hinter den Kulissen vor sich geht, zeugen davon, dass Ewa Kopacz die Bürgerplattform versteht sich von selbst. Aber wo waren die Skandale, und ihre drei rivalisierenden Flügel konsolidieren und die die Verleumdungen, die Schlammschlachten in aller inneren Spannungen abbauen will. Diese Ernennungen Öffentlichkeit? Fehlanzeige! Selbst die Versetzung des bedeuten auch, dass die Position des Präsidenten Ko- hochgeschätzten Außenministers Radosław Sikorski auf morowski, auch in der Außenpolitik, stärker wird. Zum die vielleicht prestigeträchtige, politisch aber nachrangi- einen stehen Schetyna wie auch Halicki dem Staatspräsi- ge Position des Sejm-Marschalls ging letzten Endes ohne denten nahe, zum anderen besitzt Schetyna keine große größere Verwerfungen über die Bühne. Und das in ei- Erfahrung in der Außenpolitik und befindet sich in einer nem Land, das bis vor einigen Jahren seinen Nachbarn schwachen Position. Seinen Einfluss machte Komorow- in Ostmitteleuropa in Sachen politische Aufgeregtheit ski bereits deutlich, als er Jacek Rostowski, ehemaliger in nichts nachstand und mit der diesjährigen Abhöraf- Finanzminister in der Regierung von Donald Tusk, als färe gar in alte Muster zu verfallen drohte. Stattdessen neuen Außenminister verhinderte. Polens neue Premi- wurden wir Zeuge eines bemerkenswert professionel- erministerin Ewa Kopacz steht nun vor mehreren Her- len Machtwechsels ohne viel Aufhebens, der gerade ausforderungen. Zum einen muss sie die Bürger_innen deshalb Erwähnung finden sollte, weil er dem westeuro- von der neuen Regierung überzeugen, was ihr den letz- päischen Beobachter so normal vorkommen mag. Diese ten Umfragen zufolge erst einmal gelungen sein dürfte. Normalität ist nicht zuletzt auch ein Zeichen politischer Darüber hinaus muss sie die PO auf die anstehenden Reife, welche Polen in den vergangenen Jahren erwor- Kommunalwahlen am 16. November vorbereiten und ben hat. die Position der Partei mit Blick auf die Sejm-Wahlen im Herbst 2015 stärken. Bedeutende Reformen sind daher nicht zu erwarten, auch aufgrund der kurzen Amtszeit von nur einem Jahr.

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Dr. Joanna Andrychowicz-Skrzeba ist wissenschaftliche Friedrich-Ebert-Stiftung | Referat Mittel- und Osteuropa Mitarbeiterin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Polen. Hiroshimastr. 28 | 10785 Berlin | Deutschland

Roland Feicht ist Leiter des Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung Verantwortlich: in Polen. Dr. Reinhard Krumm, Leiter, Referat Mittel- und Osteuropa

Bastian Sendhardt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Tel.: ++49-30-26935-7726 | Fax: ++49-30-26935-9250 Friedrich-Ebert-Stiftung in Polen. http://www.fes.de/international/moe

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