Und Wir Sind Unendlich Verarmt“ Der Vergessene SPD-Vorsitzende Hugo Haase
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
Feature / Hörspiel / Hintergrund Kultur Das Feature „…und wir sind unendlich verarmt“ Der vergessene SPD-Vorsitzende Hugo Haase Autor: Karsten Krampitz Regie: Wolfgang Rindfleisch Redaktion: Wolfgang Schiller Produktion: Dlf 2019 Erstsendung: Dienstag, 08.10.2019, 19.15 Uhr Es sprachen: Axel Wandtke, Stephan Baumecker, Manfred Möck, Hans Bayer, Martin Seifert und Frauke Poolmann Ton und Technik: Christian Bader Urheberrechtlicher Hinweis Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig. © - unkorrigiertes Exemplar – 2 Musik „Enlightment“ Erzähler: Am 24. März 1916 – mitten im Ersten Weltkrieg – trifft sich der Deutsche Reichstag zu einer Sitzung. Der Notetat soll beschlossen werden. Nachdem ein Vertreter der Regierung gesprochen hat, sollen die Fraktionen Kaiser und Reich die Ehre erweisen. Sprecher v. Westarp: „Die heutige Mitteilung ist ein Gruß an die Krieger draußen im Felde … Sprecher Bravo! Sprecher v. Westarp: …, die daraus entnehmen können, dass das ganze Volk hinter ihnen steht, einig im Willen zum Siege, einig in dem heißen zuversichtlichen Wunsche, dass dieser Sieg unserem Vaterlande eine große Zukunft verbürgen möge.“ Lebhafter Beifall Sprecher Präsident: „Das Wort hat der Abgeordnete Haase.“ Sprecher Hugo Haase Meine Herren, in dem Notetat erblicke ich mit einem Teil meiner Freunde einen Vertrauensakt für die Regierung und eine Vorwegnahme des ordentlichen Etats. Meine Stellung zu dem Notetat ist deshalb abhängig von derjenigen zu dem Hauptetat, und wie ich den Hauptetat ablehne, so kann ich auch dem Notetat meine Zustimmung nicht geben… Großer Tumult Musikende 3 Erzähler: Im Namen einer kleinen Abgeordnetengruppe kündigt Hugo Haase den Burgfrieden mit der Regierung auf, den Verzicht auf jegliche Opposition in Kriegszeiten. Hugo Haase ist damals einer der beiden Vorsitzenden der SPD. Sprecherin … und wir sind unendlich verarmt – Der vergessene SPD-Vorsitzende Hugo Haase Ein Feature von Karsten Krampitz O-Ton Jörn Schütrumpf: Er ist ja nicht der einzige Fraktionsvorsitzende und Chef der SPD, der vergessen ist, aber bei Haase ist es eigentlich besonders tragisch. Weil Haase über viele Jahre hinweg versucht hat, eine wirklich vernünftige, an den Realitäten orientierte und Richtung Weltrevolution ausgerichtete Politik zu machen. Erzähler: Jörn Schütrumpf ist Historiker zur Geschichte der Arbeiterbewegung. O-Ton Gregor Gysi: Er war ein bedeutender Politiker, ein bedeutender Sozialdemokrat. Er stand so innerhalb der Sozialdemokratie ein bisschen in der Mitte. Er hat sich auseinandergesetzt mit Friedrich Ebert, mit Noske, aber hatte natürlich auch seine Kritik an Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Erzähler: Gregor Gysi über Hugo Haase. O-Ton Gregor Gysi: „Er war ein Gegner der Kriegskredite im Ersten Weltkrieg, ist von der Mehrheit der Fraktion als einer der Fraktionsvorsitzenden überstimmt worden und dann gezwungen worden, die Zustimmung zu den Krediten zu begründen, weil so die Satzung der SPD im Reichstag aussah. Ist natürlich geradezu abenteuerlich, dass ich gezwungen werde, eine Entscheidung für den Krieg zu begründen, obwohl ich 4 dagegen gestimmt habe und strikt dagegen war. Er war ja ein Pazifist. Also insofern finde ich das ein ganz spannendes Schicksal.“ Erzähler 1911 war er auf dem Parteitag in Jena für den verstorbenen Paul Singer zum Mitvorsitzenden der SPD gewählt geworden und später auch zum Vorsitzenden ihrer Fraktion im Reichstag. Hugo Haase vertrat die Partei auf internationalen Kongressen, ebenso wie in Gesprächen mit dem Reichskanzler und freilich auch in etlichen Parlamentsausschüssen. Sein US-amerikanischer Biograf Kenneth R. Calkins führt sein Vergessen darauf zurück, dass Hugo Haase von Beginn an auf verlorenem Posten stand. Sprecher Calkins: „Er trat an die Spitze der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, als diese bereits vor dem Zerfall stand, und weigerte sich selbst angesichts der tiefgreifenden Folgen des Krieges, die traditionellen Grundsätze der Partei aufzugeben.“ Erzähler Hugo Haase wurde 1863 im ostpreußischen Allenstein – dem heutigen Olsztyn – als ältestes von zehn Kindern geboren. Der Vater, ein Schuhmacher, sollte es später als Kaufmann zu einigem Wohlstand bringen und seinem Erstgeborenen ein Jura- Studium ermöglichen. Sprecher Calkins: „Er gehörte jener kleinen, aber markanten Gruppe jüdischer Intellektueller an, die in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vom Liberalismus zum Sozialismus kamen. Für diese Menschen war der Entschluss, die Sache des Proletariats zu der ihren zu machen, von Überlegungen bestimmt, die auf die Ethik des Judentums zurückgingen und mit der geschichtlichen Lage der deutschen Judenheit zusammenhingen. Das Menschheitsideal des demokratischen Sozialismus stand den ethischen Grundbegriffen des Judentums nahe, und das Programm der Sozialdemokratie sprach diese Gruppe jüdischer Intellektueller wohl deshalb besonders an, weil die gesetzliche Gleichberechtigung der Juden damals noch jüngeren Datums war.“ 5 Erzähler: Am Vorabend des Ersten Weltkriegs konnte die Sozialdemokratie auf eine wechselvolle Geschichte zurückblicken. Eugen Prager, der Chronist der 1917 von Hugo Haase gegründeten Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, schreibt: Sprecher: „Wir mögen rückschauend noch so viele Fehler und Flecken an ihr entdecken, so hat sie doch ein unendliches Stück Arbeit für den Befreiungskampf des Proletariats geleistet. Die revolutionären Luftmenschen von heute haben gut über die Parteibürokraten, über die Funktionäre und Bonzen von damals spotten… Wie leicht ist es heute, sich als Sozialist und als Revolutionär zu bekennen, wo selbst der anarchistelnde Kommunismus sozusagen zur Salonmode geworden ist; aber unendlich schwerer war es noch bis Kriegsausbruch, sozialdemokratische Flugblätter in weltabgelegenen Dörfern zu verbreiten, stets in Gefahr, mit Knüppeln und Hunden hinausgehetzt zu werden!“ Erzähler: Die Idee des Sozialismus war keine Illusion – sondern Hoffnung. Aus der „Klasse an sich“ war, wie bei Marx, eine „Klasse für sich“ geworden, die sich gegen ihre Unterdrückung auflehnte, gegen das triste Leben in den Fabriken und engen Mietskasernen. Unter August Bebel war die Sozialdemokratie zur Massenpartei aufgestiegen, die noch vor dem Ersten Weltkrieg die Millionenmarke überschreiten sollte. Wer ihr beitrat, dem gab sie Würde zurück. Die Sozialdemokratie jener Jahre war eine Glaubensgemeinschaft. In den Großstädten war eine Parallelgesellschaft entstanden, in der sich die Arbeiter und Arbeiterinnen fast nur unter ihresgleichen bewegten. In dieser Gegenwelt gab es Konsumgenossenschaften, Gewerkschaften, eine eigene Kultur mit Arbeiterchören, mit Bildungs- und Wandervereinen, mit Theatergruppen. Und nicht zu vergessen die Arbeitersportvereine. Das eigentliche Zentrum der Arbeiterkultur war die Kneipe an der Ecke. Friedrich Ebert, der 1913 neben Hugo Haase Parteivorsitzender wurde und später dann sogar Reichspräsident – er begann seinen Weg in der Arbeiterbewegung als Gastwirt. Überhaupt betrieb die SPD damals ganze Volkshäuser, in denen sie ihre Treffen und Versammlungen durchführte. 1907 schrieb der Soziologe Robert Michels: 6 Sprecher: „Denn die sozialdemokratische Partei Deutschlands ist das größte Parteiengebilde des internationalen Sozialismus. Die Ziffern ihrer Wahlstimmen übersteigen etwa um ein Zehntel das Summa Summarum der für ausgesprochen sozialistische Kandidaten in allen anderen Ländern der Welt zusammen abgegebenen Stimmenzahlen.“ Erzähler: Und nicht nur in der Größe des Apparats, auch in der Vielzahl Parteiorgane war die SPD den anderen Arbeiterparteien in Europa weit überlegen. Michels, einer Gründerväter der modernen Politikwissenschaft, verwies auf 56 Tageszeitungen, die der deutschen Sozialdemokratie gehörten und dazu noch etliche Wochenzeitungen. Während ein gewisser Wladimir Iljitsch Lenin, seinerzeit Führer der russischen Bolschewiki, im Schweizer Exil lebte, war Hugo Haase – in Vertretung des oft kranken August Bebel – für einige Zeit der wohl mächtigste linke Politiker in Europa. O-Ton Gerhard Engel: „ Ich halte Hugo Haase für eine der beeindruckendsten Figuren in der Geschichte der Arbeiterbewegung, was leider nicht Allgemeingut ist und vor allem im Geschichtsbewusstsein der Deutschen keine Rolle spielt. Dort ist er vergessen, äh zu unrecht. Wiewohl der Historiker weiß, warum das so ist: Er war ein Mann, der zwischen den Stühlen saß. Er ist zerrieben worden als ein aufrechter, demokratischer Sozialist und Revolutionär zwischen zwei Fronten. Denen, die diese Revolution nicht wollten und jene, die darüber hinauswollten auch zu Zeiten, als die Chance nicht mehr bestand.“ Erzähler: In der DDR gehörte der Historiker Gerhard Engel zum Autorenkollektiv der achtbändigen „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“, die Hugo Haase nahezu verschwiegen hat und mit der Gruppe um ihn größte Schwierigkeiten hatte. Diese hätte im März 1916 die kampfbereiten Teile der Arbeiterklasse verwirrt und es ihnen erschwert, „den prinzipiellen Unterschied zwischen dem revolutionären Antikriegskampf der Spartakusgruppe und dem Sozialpazifismus der Zentristen zu erkennen.“ – Umso bemerkenswerter scheint seine heutige Beurteilung des Sozialdemokraten Hugo Haase. 7 O-Ton Gerhard Engel: „Und er ist ein unwahrscheinlich lauterer Charakter gewesen. Das muss man auch sagen, wenn man einen Politiker betrachtet: Wie war er als Mensch?