Medien

TV-TRENDS Tränen und Talente Mit neuartigen Casting-Shows wie „“ machen die Sender aus der Nachwuchsnot eine Tugend: Sie können Ideen wie Interpreten im Windkanal eines Millionen-Publikums testen und die selbst erschaffenen Stars dann gründlich ausbeuten.

rank Elstner, 59, hat es immer ge- vom kommenden Montag an auf RTL II re- schauer. Der Sieger, so hat RTL-II-Chef wusst: Die wahren Stars sitzen nicht gelmäßig zur Hauptsendezeit um 21.15 Uhr Josef Andorfer vorab versprochen, erhält Fim Scheinwerferlicht auf Show-Sofas, vor. Von der Idee einer Handelsbetreuerin, dann mindestens drei Prime-Time-Sende- naschen Gummibärchen und grienen in die die normalerweise Nassrasierer verkauft plätze. Einer hat schon jetzt gewonnen: Kamera. Echte TV-Helden fläzen draußen und ein Reklame-Quiz namens „Alles Wer- Elstner selbst. im Schatten ihrer Wohnzimmerlampe, bung, oder was?“ vorschlug, bis zu „Ge- Mit seinen „Neuen Fernsehmachern“ knabbern Chips und starren in die Glotze. kauft wie gesehen“, der Gebrauchtwagen- will er sich an die Spitze eines Trends set- Schon einmal hat diese schlichte Er- Show eines gelernten Dokumentarfilmers. zen, der seit dem Einzug der Real-Life- kenntnis wundervolle Früchte getragen. Welches der Zuschauerformate am Formate in der Unterhaltungsindustrie um Zehn Wetten schrieb Elstner einst des Schluss gewinnt, entscheiden – die Zu- sich greift: Weil es Musikgeschäft wie Sen- Nachts spontan auf ein Blatt Papier. Aber keiner dieser Einfälle, erinnert sich der er- graute TV-Macher, sei bei seiner größten Erfindung „Wetten, dass...?“ dann tatsäch- lich gesendet worden: „Die Ideen der Zu- schauer waren einfach viel, viel besser.“ Zwanzig Jahre und diverse eigene TV- Flops später sitzt Elstner im Produktions- büro der „Info Studios“ in Monheim, einer

Retorten-Gruppe

TV-Mann Elstner im „Fernsehmacher“-Studio*

unscheinbaren Fernsehfabrik inmitten der zersiedelten Industriebrache zwischen Düsseldorf und Köln und vertraut nun voll auf die kreative Kraft des Konsumenten. „Ich habe mich praktisch selbst beklaut“, murmelt er, während im Studio 100 Schau- lustige und 8 Kandidaten auf die Auf- zeichnung von Elstners „Die neuen Fern- sehmacher“ warten. Hier geht es nicht mehr um Wettvorschläge der Zuschauer. Hier geht es gleich um deren komplette Show-Konzepte. Die acht spannendsten stellt die Pro- duktionsfirma von Elstner-Sohn Thomas

* Mit der Moderatorin Aleksandra Bechtel.

68 dern an prägnanten und vermarktungs- Wer-kommt-durch-Prinzip wurde in zwei- alle Menschenrechtskonventionen. Doch fähigen Charakteren und Ideen mangelt, erlei Hinsicht zum Programm: als Metho- Senderchefin Christiane zu Salm erzählt wird so viel gecastet wie noch nie. Am bes- de zur Talentsichtung wie als TV-Inhalt. stolz, dass zwei ihrer Eleven bereits ten gleich live auf dem Schirm. Wochenlang ließen sich mehrere tausend Plattenverträge in der Tasche hätten. Die Ob Moderatoren oder Seifenopern-Dar- Teenager vor laufenden Kameras durch Krise als neu inszenierte und damit schon steller, Pop-Sternchen oder eben komplet- Hotelfoyers schubsen, auf dass am Ende wieder erfolgreiche Konzept-Kunst der te TV-Formate – eine ganze Branche ist die Besten von ihnen zu einer neuen Gir- Branche. auf der Suche nach dem Neuen, Frischen, lie-Band verschmolzen. Die No Angels Tatsächlich stehen die Chancen, über Unverbrauchten – manchmal auch einfach waren schon ein Hit, bevor ihre erste Plat- kurz oder lang auf dem Bildschirm zu lan- Blöden. te „Daylight“ die Charts eroberte. den, derzeit hervorragend: Die Bilderma- Am Anfang waren es noch Zufallspro- Da ist Elstners Vorstoß nur die konse- schine Fernsehen braucht ebenso dringend dukte wie der arbeitslose Kfz-Mechaniker quente Weiterentwicklung einer Bewe- wie dauernd Nachschub. Und die Zu- Zlatko Trpkovski, einem breiteren Publi- gung, die das ganze Land in eine Art Pro- gangsvoraussetzungen sind niedrig wie nie. kum besser bekannt als „Sladdi“, der nach bebühne verwandelt und den Bildschirm in Minimalanforderung sei „eine gepflegte wenigen Wochen im „Big Brother“-Con- einen Windkanal. Der Zulauf ist enorm. Erscheinung“, sagt Susanna Riedrich von tainer zum Kultstar avancierte. Mit Sladdi Rund 2600 Freizeit-Kreative folgten Elst- der Kölner Casting-Agentur Mediabolo, ließen sich für kurze Zeit eine Menge CDs, ners Aufruf „Nachwuchs TV-Macher ge- die ihre Mitarbeiter in Fußgängerzonen Bier und sogar Bücher verkaufen. sucht“. Knapp 11000 Teenies wollten im und bei speziellen Casting-Partys auf die Dann kamen „Popstars“ auf RTL II, die Sommer bei der zweiten „Popstars“-Staf- Suche nach – für was auch immer – geeig- den Container-Gedanken schon weiter fel dabei sein, aus der in der vergangenen neten Gesichtern schickt. fassten. Der Casting-Prozess nach dem Woche die Retorten-Truppe Bro’Sis her- Seit mehr als zwölf Jahren sammelt und vorging. Und auch die Endemol-Veranstal- archiviert die gelernte Zahntechnikerin Bil- tung „Cast, Cast, Cast“, bei der kürzlich in der und Bewerbungsbögen von potenziel- Ihre erste Single „“ Köln, Berlin und Essen, Hamburg, Leipzig lem TV-Personal. Sie castet alles und jeden, verkauften die No Angels mehr als und Mannheim mit viel Buhei nach neuen vom Studiopublikum über Schauspieler bis Comedy-Talenten gefahndet wurde, konn- zum Nachwuchsmoderatoren. eine Million Mal, ihr Album „Elle’ments“ te sich vor Bewerbern kaum retten. Dass Sender und Produktionsfirmen das Inzwischen hat man zwölf Talente her- Geschäft nun selbst entdecken und im fand bislang 850000 Käufer ausgefiltert, drei Pilot-Shows produziert großen Stil gleich ihrem Publikum präsen- und die sichere Hoffnung, dass zumindest tieren, stört Frau Riedrich wenig. Der zwei dieser Formate „auch ihren Weg ins Markt ist groß genug. Den Hauptteil ihres Programm finden“, sagt Endemol-Produ- Acht-Millionen-Mark-Jahresumsatzes er- zent Rainer Laux. „Neue Köpfe braucht wirtschaftet Riedrich ohnehin mit Game- show-Kandidaten und der Rekrutierung adäquater Publikumskulissen. Allein RTL-II-„Popstars“-Produkt Bro’Sis bei „Oliver Geissen“ und „Bärbel Schäfer“ füllt sie die Zuschauerränge täg- lich mit jeweils 100 Leu- ten. Das dürfen bei den zielgruppenfixierten Pri- vatsendern nicht nur Kaf- feefahrt-Geschwader sein. Für die schwierigeren Fälle, wenn sie, wie gera- de geschehen, für eine Sendung einen einarmi- gen und einen einbeini- gen Kandidaten braucht, greift Riedrich auf ihre Kartei zurück: In den 260 000 Dossiers finden sich, sauber sortiert nach Größe, Nationalität, kör- perlichen Eigenheiten oder STEFAN ENDERS (L.); THORSTEN GUTSCHALK / ACTION PRESS (M); BENJAMIN WOLF / DPA (R.) Alter eigentlich alle Kom- das Land.“ Köpfe, die dann natürlich bei binationen. Vor allem jede Menge Belege Endemol unter Vertrag stehen. Der Bedarf für Riedrichs Überzeugung, dass das der Sender sei jedenfalls „enorm, zumal Medium nichts von seiner Faszination sie die eigene Nachwuchsarbeit gar nicht so verloren hat. Nach ihren Träumen befragt, detailliert leisten können wie wir“. haben viele Kartei-Laien einfach nur Sogar für die Casting-Show „Flash!“ auf „Berühmt werden“ auf den Bewerbungs- dem Trashkanal Neun Live finden sich bogen gekritzelt. genügend Freiwillige, die vor der Kamera Noch vor zehn Jahren, erinnert sich dann mitunter nichts als rührende Selbst- Riedrich, hätten viele das Wort „Casting“ überschätzung zu bieten haben. Das Schei- nicht mal richtig aussprechen können. Mitt- tern des Einzelnen als Spektakel. Die mu- lerweile kenne den Begriff jedes Kind. Und sikalischen Beiträge verstoßen häufig gegen jedes zweite – diesen Eindruck vermittelt

47/2001 69 Medien ihre Kartei – war schon mal irgendwo im Ära, als Casting-Orgien noch Talentschup- immer wieder gelöscht wurde, schimpfte Bild. „Gerade bei den Jüngeren“, so Ried- pen hießen. Sow, das ganze Auswahlverfahren sei „völ- rich, „ist die Hemmschwelle in den letzten Das bedeutendste Erfolgsmodell, das lig daneben, überflüssig und charakterlos“. Jahren deutlich gesunken.“ viele im Hinterkopf haben, wenn sie sich in Aber Tränen brächten „bekanntlich Quo- Für die neue Sat.1-Gerichtsshow „Rich- Hotels, Turnhallen und Einkaufszentren te“. Produzent Holger Roost-Macias kün- ter Alexander Hold“ zum Beispiel werden vor streng dreinblickenden Juroren-Run- digte inzwischen juristische Schritte gegen gerade junge Türken gecastet, aber es gibt den präsentieren, ist aber erst einige Mo- die Vorwürfe an. ein Problem. Gesucht werden grimmige nate alt: Die No Angels, Ergebnis der ers- „Es ist“, schrieb die „Berliner Zeitung“ Türsteher-Typen, doch die eingeladenen ten Runde der RTL-II-Serie „Popstars“, schon davor, „leider einzig der Grad der Kandidaten sind fast allesamt besonnene haben mit dem Mythos von Überra- Ausbeutung, der an den No Angels inter- und eloquente Akademiker. Selbst der Bar- schungshits so viel zu tun wie die „Bravo“ essant ist.“ Die Protagonisten sind derart keeper Murat ist Casting-Redakteur Uve mit Prostataproblemen. jung und dankbar für ihre neue Rolle im deutlich zu cool. „Lass mal den Asi raus- „Popstars“ erheben das öffentliche Rampenlicht, dass sie sich wie die No An- hängen“, fordert er. Casting zum eigenständigen Geschäftsmo- gels erst einmal mit ein paar tausend Mark Also versucht Murat den Voll-Proll. Die dell. „Popstars“ sind das perfekte Enter- pro Monat Grundgehalt abspeisen lassen – Gefahr, dass einige Zuschauer seine künf- tainment-Produkt, das nicht mal mehr die fixiert in „Knebelverträgen“, wie Sow nach tige Darbietung ernst nehmen könnten, Lüge vortäuscht, Musik könne etwas mit ihren Erfahrungen bei der aktuellen Staffel ficht den Augenblicks-Asi nicht an. Für ein glücklichem Genie oder Musenkuss zu tun meint, während der Sender, die Produk- paar Mark Aufwandsentschädigung, einige haben. „Popstars“ schuf die totale Trans- tionsfirma Tresor TV und das Plattenlabel Minuten TV-Präsenz und die vage Hoff- parenz bis in die Schlafräume der vom vie- Polydor Rekordumsätze feiern. nung, dass vielleicht einmal mehr dar- len Proben geschlauchten Neustars. Kein Wunder, dass das Konzept mit Ak- tionen wie dem „Pop Act 2001“ und dem NBC-Giga-Projekt „Song 2002“ bereits eine Reihe von Nachahmern fand. „Sol- che Formate“, sagt Endemol-Mann Laux, „hätten durchaus einen Trend gesetzt.“ Mit „Cast, Cast, Cast“ will er die Repu- blik im nächsten Schritt auch nach Mode- ratoren-Nachwuchs flöhen, selbst wenn sich da – leider, leider – kaum eine weite- re TV-Show drum herumstricken lässt: „Oder wollen Sie zehn Leute sehen, die sich beim Ablesen eines Textes verhas- peln?“ Laux ist dennoch sicher, dass „noch weitere Shows kommen, die den Prozess zum Ereignis machen“. Zwar ist etwa der Kölner Kinderkanal Viva ohnehin nicht viel mehr als so eine Art Dauercasting vor Publikum. Dennoch will der Senderchef Dieter Gorny nach der Übernahme der Produktionsfirma Brainpool („TV total“) nun eine große gemeinsame Casting-Abteilung gründen. Kontrolle ist alles in Zeiten harter Kon- kurrenz. Auch Elstner hat sich abgesichert. Die Rechte an den von ihm fertig entwickelten

9 LIVE TV-Formaten bleiben bei seiner eigenen Neun-Live-Casting-Show „Flash!“ Firma Frank Elstner Productions. Nur auf das Gewinnerformat und eine weitere Sen- dung hat sein momentaner „Haussender“ RTL II direkten Zugriff. Alle anderen kann aus wird, tun andere noch weit mehr. Pro- Eine Art „Schulmädchen-Report“ ohne Elstner nach Gutdünken vermarkten, die minente Vorbilder gibt es in allen Ge- Ausziehen, aber mit klarer Zielvorgabe: Ideengeber sollen ein Viertel der Erlöse schmackskategorien. Neue Gesichter, eine professionelle Ver- erhalten. „Wenn das bei vier der acht ge- Der arbeitslosen Sekretärin Regina marktung und eine engmaschige Verwer- lingt“, so der Produzent, „dann hat sich die Zindler reichte vor zwei Jahren der Wort- tungskette – von der TV-Sendung über CDs Sache gelohnt.“ fetzen „Maschendrahtzaun“ zur sympto- und Konzerte bis zum eigenen Kaffee- Sollten die Formatideen seiner Laien- matischen Kurzzeit-Karriere – vom Millio- becher-Merchandising. schar trotz allem floppen, versucht Elstner nen-Ruhm bis zum weniger schönen Fina- Verlogen scheint das Projekt allenfalls es demnächst vielleicht auch mit einer rei- le in der Psychotherapie. Sat.1-Beau Kai deshalb, weil es die Realität des Musikge- nen Casting-Show: Spätabends in seinem Pflaume, der heute hauptberuflich gebro- schäfts noch brutaler präsentiert, als sie ist: Stammhotel erlebt er den Trend hautnah. chene Herzen kittet („Nur die Liebe In der Endphase verabschiedete sich die Die Tochter des Besitzers wagt sich mit zählt“), fiel TV-Machern auf, als er in ei- Sängerin und Radiomoderatorin Noah Sow einer Freundin vorsichtig an Elstners Tisch. gener Sache übers Fernsehen auf Partner- aus der dreiköpfigen Jury. Grund: Die Doch, sagen die beiden Teenager artig, die suche ging: Er war Kandidat beim Kuppel- emotionalen Zusammenbrüche der Finalis- Aufzeichnung sei ganz nett gewesen. Wirk- Klassiker „Herzblatt“. Serienschauspieler ten seien „künstlich gezüchtet“ worden. lich interessieren tut die blonde Justina Mark Keller feierte seinen Einstand in der In ihrem aktuellen „Newsletter“, der im aber: „Wie kann ich bloß Moderatorin wer- „Rudi-Carell-Show“ und damit in einer RTL-II-Online-Forum zu den „Popstars“ den?“ Marcel Rosenbach, Thomas Tuma

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