„Wir Werden Gewinnen“ Frankreich Die Attentäter Von Paris Zielten Auf Ein Junges, Lässiges Paris Und Meinten Unser Aller Alltag in Der Offenen Gesellschaft
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Titel Die Anschläge von Paris „Wir werden gewinnen“ Frankreich Die Attentäter von Paris zielten auf ein junges, lässiges Paris und meinten unser aller Alltag in der offenen Gesellschaft. 10 DER SPIEGEL FH / ECDG F I A L / S S E R P A V I R / T O S I O B T N Überlebende des Anschlags auf die Konzerthalle Bataclan E C N I V DER SPIEGEL FH / ECDG 11 Titel Die Anschläge von Paris in falscher Frühling beherrscht Paris im November, seit Wochen ist das EWetter mild, die Abende sind lau, die Straßen belebt, die Terrassen voll, als käme nicht bald der Winter. In leichten Ja - cken sitzen 80 000 Menschen unter freiem Himmel im Stade de France, als sich am vergangenen Freitag die heimische und die deutsche Fußball-Nationalmannschaft zu den Hymnen am Mittelkreis aufstellen. Die Marseillaise erklingt, das alte Kriegs - lied, Frankreichs Hymne: „… Gegen uns wurde der Tyrannei blutiges Banner erho - ben! Hört ihr im Land das Brüllen der grau - samen Krieger? Sie rücken uns auf den Leib, eure Söhne, eure Frauen zu köpfen!“ Historische Verse, sie werden gleich auf grauenhafte Weise aktuell. Im Stadion hören um 21.20 Uhr alle, auch Präsident François Hollande auf der Ehrentribüne, auch der deutsche Außen - minister Frank-Walter Steinmeier neben ihm, auch die sonstigen VIPs in den von Konzernen gemieteten Logen, auch die Fa - milien mit ihren Söhnen und Töchtern, auch die mit Tickets beschenkten Geburts - tagskinder, die Sicherheitsleute, die Platz - anweiser, die Balljungen einen unerklär - lichen Knall; auch die Spieler auf dem Feld hören ihn, Verteidiger Patrice Evra macht, mitten im laufenden Spiel, eine Geste der Verwirrung: In dieser Schrecksekunde be - ginnt draußen der komplexeste Terror - angriff, den Frankreich und Westeuropa seit Jahrzehnten gesehen haben. In den nächsten zwei, drei Stunden wer - den 129 Menschen ermordet, 352 verwun - det, davon viele schwer, es werden Frauen und Männer niedergemetzelt, erschossen von mindestens sieben Terroristen, die in drei Teams durch die Stadt ziehen, Cafés und Restaurants mit automatischen Waffen unter Beschuss nehmen und im Konzert - saal des Klubs Bataclan ein Massaker an - richten, wie es brutaler kaum denkbar ist: 89 Tote allein dort, umgebracht im Zuge einer zweieinhalbstündigen Geiselnahme. Die meisten Opfer sind jung. Sie sterben, weil ihr Musikgeschmack, ihre Kleidung, ihre Frisuren, ihre Vorstel - lung von Spaß, ihre Freude am Essen und Trinken, ihre Ansichten über die Liebe, ihre Ideen vom Leben – weil all dies nach Meinung ihrer Mörder die Todesstrafe un - bedingt erforderlich macht. Sie werden zu Opfern, weil ihre zufällige Anwesenheit in einer besonders lebendigen Ecke der le - bendigen Weltmetropole Paris den Ange - hörigen einer provinziellen islamistischen Todesschwadron ein Dorn im Auge ist. Dies ist die Geschichte eines Terror - angriffs, dies sind die zu Frankreichs Schwarzem Freitag gehörigen Fakten, In - dizien und Überlegungen, zusammenge - tragen von einem Autorenteam besetzt mit Korrespondenten und Reportern von SPIE - GEL , SPIEGEL TV und SPIEGEL ONLINE . Opfer vor dem Restaurant La Belle Équipe: „Denen Angst machen, die am wenigsten Angst haben“ 12 DER SPIEGEL FH / ECDG Sie waren teils schon vor Ort, als die Mör - gen Schönen von Paris. Man findet sie im der im Bataclan noch am Werk waren, sie Chez Prune, im 25 Degrées Est, man findet können bezeugen, wie sich die Straßen sie an jeder Ecke hier. rund um die Tatorte in ambulante Laza - Der kleine Platz vor dem Petit Cam - rette verwandelten und die Stadt in ein bodge, an dem fünf Straßen zusammen - Trauerhaus. Sie haben danach Augenzeu - laufen, war bei gutem Wetter von Don - gen gesprochen, Lebensspuren der Täter nerstag bis Samstag immer voller junger verfolgt, sie haben Frankreich beobachtet Leute. Das Cambodge war über das Viertel in den Tagen danach und daran gearbeitet, hinaus bekannt für seine gute, billige Kü - den Opfern ein Gesicht zu geben. Es geht che, große Schalen Reisnudeln mit Gemü - darum zu begreifen, dass dieser Angriff se, riesige Rindfleischsuppen, alles für 14 nicht einem Pariser Stadtviertel oder vor - Euro. Weil man keinen Tisch reservieren rangig Frankreich als einer im Nahen Os - konnte, musste man beim Kellner seine ten kriegführenden Nation galt. Dieses Handynummer hinterlassen und gegen - Attentat hat sich gegen unser aller Alltags - über im Carillon bei einem Bier auf den leben gerichtet, in Frankreich, in Deutsch - freien Tisch warten. land, in Europa, Amerika, Afrika, Asien, Hier fuhren die Killer um 21.25 Uhr vor, Australien, es richtet sich gegen jeden, der zwei Männer, vielleicht auch drei. Sie ka - sein Leben in Frieden und Freiheit leben men in einem schwarzen Seat mit belgi - will. schem Kennzeichen, sie hielten mitten auf der Straße, stiegen aus und feuerten. In I. Die Tatorte und die Taten Richtung Cambodge, in Richtung Carillon. Nicht der Eiffelturm, nicht der Louvre, Es sterben im Kugelhagel 15 Menschen, 10 nicht der Arc de Triomphe, nicht die werden teils lebensgefährlich verletzt. Champs-Élysées sind in Paris das symboli - Nach solchen Szenen lautet die Frage stets: sche Ziel der Attacken, sondern Restau - Warum? Aber sie stellt sich, in diesem Fall, rants und Kneipen mit Namen wie Le Petit besonders laut. Cambodge, Café Bonne Bière, La Belle Genügt denn irgendwem die Erklärung, Équipe. Das 10. Arrondissement zwischen dass den Extremisten die Buntheit dieses der Gare de l’Est und dem Canal Saint- Stadtteils schon Provokation genug war? Martin, das 11. Arrondissement zwischen Dass sich die selbst so unreinen Fanatiker République und Bastille sind, auf den ers - der Reinheit beleidigt fühlten von der herr - ten Blick, sehr unwahrscheinliche An - schenden Lebensart? Dass sie diese an schlagsziele; kaum ein Fremder kennt diese manchen Tagen so erfolgreich gelebte Uto - Orte, nur fortgeschrittene Touristen verlie - pie einer Welt hassten, in der Menschen ren sich hierher. jeglicher Hautfarbe, Herkunft und Religion Cafés und Bars reihen sich aneinander, friedlich neben- und miteinander leben? kleine Gemüseläden, schräge Boutiquen, Es ist schwieriger. Es ist schlimmer. marokkanische Kebab-Grills, chinesische „Es war die Mitte der Gesellschaft, die Hinterzimmerlokale und Metzger, die hier getroffen wurde“, sagt der Philosoph nach islamischer Vorschrift „halal“ schlach - Patrice Maniglier, der die einst von Jean- ten. Einwanderer aus Algerien, Tunesien, Paul Sartre mitgegründete Zeitschrift „Les aus dem Sudan und Mali leben hier neben Temps modernes“ leitet und regelmäßig Studenten aus aller Welt, Handwerkern, im Petit Cambodge gegessen hat. Die An - Medienleuten und alt gewordenen Anar - schlagsorte, sagt Maniglier, waren genau chisten. Die Religion eines Menschen spielt bedacht. Es waren Orte, an denen sich die hier für das Zusammenleben weiter keine Kreativen, die Gutverdienenden, die Jun - Rolle, Morgen- und Abendland quetschen gen, die Gewinner der Gesellschaft treffen. sich in verwinkelten Straßenzügen zusam - „Die Mörder wollten denen Angst machen, men und machen das Beste daraus, es ist die am wenigsten Angst haben“, sagt Ma - ein Stadtviertel wie ein Kondensat des niglier. „Sie wollten dieses Gefühl der bunten, sympathisch chaotischen Europa. Sorglosigkeit zerstören. Die Folgen werden Überwiegende Teile des 11. und des an - gravierend sein.“ grenzenden 10. Arrondissements sind Klei - Um 21.32 Uhr kommen die Mörder in neleuteviertel bis heute, „quartiers popu - der Rue de la Fontaine-au-Roi an, vor dem laires“, doch das Gesicht der Stadt ändert Café de Bonne Bière, vor der Pizzeria sich auch hier. In die ehemalige Gewerk - Casa Nostra. Dasselbe Muster, derselbe A schafterzentrale an der Rue Jean-Pierre Ablauf, der schwarze Seat, anhalten, aus - P D / Timbaud ist ein Kulturzentrum einge - steigen, schießen, zwei Mann, fünf Tote, P A / zogen, aus Autowerkstätten werden acht Schwerverletzte. N I T R A Schmuckdesigner-Ateliers, Schneidereien Um 21.36 Uhr Rue de Charonne, Res - M E S zu Architektenbüros. Vor allem die Stra - taurant La Belle Équipe. 19 Tote, 9 Schwer - I A H C ßen und Gassen auf beiden Seiten des Ca - verletzte. E I H P nal St. Martin sind zur Bühne für die Bo - Um 21.40 Uhr, während das dritte Team O S E bos geworden, die bohémiens-bourgeois, in die Konzerthalle Bataclan am Boulevard N N A die Bürger, die wie Künstler leben oder Voltaire eindringt, sprengt sich unweit da - gar wie ewige Kinder, die Hipster, die jun - von, vor dem Café Comptoir Voltaire, ei - DER SPIEGEL FH / ECDG 13 Titel Die Anschläge von Paris Spuren des Terrors Ablauf der Pariser Anschlagsserie und die Täter 1. Terrorkommando – Stade de France Zahl der Todesopfer nach den ersten Stunden Drei Täter sprengen sich zwischen 21.20 und 21.53 Uhr während des Länderspiels Frankreich–Deutschland in die Luft. Zwei von ihnen hatten zuvor versucht, in das Stadion zu gelangen. Ein Fußballfan wird mit in den Tod gerissen. P S F S A E (20) R „Ahmad Almohammad“ bisher nicht Bilal Hadfi P N O Bei einem Attentäter wird ein auf diesen identifizierter Der Franzose mit Wohnsitz I T C A Namen ausgestellter syrischer Pass ? zweiter Täter in Belgien soll sich gefunden, Echtheit unklar. Der Täter war nach Angaben von EU- damit als Flüchtling über Griechenland Ermittlern als IS-Kämpfer nach Westeuropa eingereist. Die in in Syrien aufgehalten Griechenland genommenen Fingerabdrücke haben. Auf den Namen Ahmad Almohammad stimmen mit denen des Attentäters überein. ausgestellter Ausweis 2. Terrorkommando – Anschläge auf Bars und Restaurants Mindestens zwei Attentäter fahren mit einem schwarzen Seat verschiedene Lokale an, schießen wahllos auf die Anwesenden und töten dabei mindestens 39 Personen. 21.25 Uhr, Le Petit Cambodge und Le Carillon: 15 Tote Stade de France 21.32 Uhr, Café Bonne Bière und Casa Nostra: 5 Tote 21.36 Uhr, La Belle Équipe: 19 Tote 21.40 Uhr, Comptoir Voltaire: Selbstmordattentat ohne weitere Todesopfer Brahim Abdeslam (31) Molen- Brüssel Franzose mit Wohnsitz in Brüssel und Mieter des Tatfahrzeugs. Calais beek Lille Bruder von Salah Abdeslam. Er sprengt sich vor dem Comptoir BELGIEN Voltaire in die Luft. War möglicherweise zuvor an den anderen Cambrai Anschlägen in der Umgebung beteiligt. Der Seat wird noch am Wochenende in Montreuil, einem Vorort im Osten von Paris, sicherge- stellt.