Rembrandts Einsamkeit. Diskursanalytische Studien zur Konzeption des Künstlersubjekts in der Moderne.

Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie in der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum

vorgelegt von

Martin Hellmold

Referentin: Prof. Dr. Sykora Korreferentin: Prof. Dr. Steinhauser

Tag der mündlichen Prüfung: 27. Juni 2001 Veröffentlicht mit Genehmigung der Fakultät für Geschichtswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum Inhaltsverzeichnis

Einleitung 1 „ ist interessanter...“ 3 2 Erkenntnisinteresse und Forschungsstand 6 2.1 Zum Problem der Rezeptionsgeschichte 6 2.2 Zur Figur des ‘modernen Künstlers‘ 10 2.3 Subjektivitätskonzepte als Problem moderner Kunstgeschichtsschreibung 14 2.4 Michel Foucaults Beschreibung der „Funktion Autor“ 16 3 Die drei Teile und ihre methodischen Unterschiede 22

Erster Teil Anwälte. Die Verteidigungsrede als Modus der Neubewertung um 1850 25 1 Paul Scheltema und der bürgerliche Nationalstolz (1852) 28 1.1 Rembrandts privates Umfeld 32 1.2 Heureux voyage de Rembrandt 35 2 Gustave Planche und die Auseinandersetzung mit der Akademie (1853) 39 2.1 Das Naturstudium und die klassizistischen Kunstregeln 40 2.2 Rembrandts Erhebung unter die größten Meister der Malerei 45 3 Eduard Kolloff und der ‘moralische Prozeß‘ gegen Rembrandt (1854) 48 3.1 Kolloffs Umwertung der ‘Sammlung Rembrandts‘ 51 3.2 Kolloffs Abwehr der anekdotischen Biographik 55 3.3 Autor und Werk bei Kolloff 57 3.4 Ein Beispiel der Verkennungstopik nach Kolloffs Vorbild: Anton Springer 59 4 Im Zeichen des ‘homme libre‘: Rembrandt und die Holländer bei Théophile Thoré (1858) 63

Zweiter Teil Der autonomisierte Künstler. Rembrandtrezeption um 1900 73 1 Einführung: Rembrandtrezeption als ‘diskursives Feld‘ 75 1.1 Zur raum-zeitlichen Eingrenzung der Untersuchung 75 1.2 Zur typologischen Differenzierung des Untersuchungsmaterials 78 1.3 Chronologische Skizze der Rembrandtrezeption in Deutschland, 1880 - 1950 82 1.4 Passage: Vom integrierten zum marginalisierten Individuum 89

2 Analyse 2.1 Kunstschaffen 2.1.1 Die Unterscheidung des Werks nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘ 103 2.1.2 Rembrandts Verhältnis zur Auftragsarbeit 109 2.1.3 Die Privatisierung der Kunstproduktion: Zur Einheit von Leben und Werk 116 2.1.3.1 Biographische Bildtitel 117 2.1.3.2 Werk und Leben 124 2.1.3.3 Werk und Charakter 131 2.1.4 Exkurs: Hermeneutik als geisteswissenschaftliches Paradigma 133 2.1.4.1 Zur historischen Stellung hermeneutischer Theoriebildung 133 2.1.4.2 Beispiele hermeneutischer Programmatik in der Rembrandtliteratur 136 2.1.4.3 Zur hermeneutischen Tendenz anti-wissenschaftlicher Einfühlungsmethoden 140 2.1.5 Beispiele zur Topik hermeneutischer Kunstgeschichtsschreibung 147 2.1.5.1 Die metaphorische Paraphrasierung der Dichotomie ‘Oberfläche/Tiefe‘ 148 2.1.5.2 Psychologistisches Vokabular 153 2.1.5.3 Die Folgerichtigkeit des Gesamtwerks 162

2.2 Künstlerleben 2.2.1 Autonomisierung als Läuterungsprozeß 167 2.2.2 Zur Verkennungstopik 172 2.2.2.1 Das Leiden als körperliches Zeichen der Verkennung 173 2.2.2.2 Die Armut als Veranschaulichung der gesellschaftlichen Marginalisierung 179 2.2.2.3 Rembrandts Einsamkeit - Endpunkt der Autonomisierung und ‘Ort der Kunst‘ 184

2.3 Grenzziehungen: Die Eigentümlichkeit des Künstlers und der Korpus des Werks 193 2.3.1 Lehrer und Ahnen, Schüler und Erben - Zwischen Individualität und Genealogie 194 2.3.2 Exkurs: Die juristische Konzeption des Eigentums und die künstlerische Eigentümlichkeit 204 2.3.3 Zur Reichweite des Konzeptes der ‘Eigentümlichkeit‘ 208 2.3.4 Metaphoriken der Umwandlung von allgemeinem und fremdem Gut in Eigentum 212 2.3.5 Über den Umgang mit den Vorbildern 214 2.3.6 Die Abgrenzung von Original und Reproduktion: Rembrandt retuschiert Schülerwerke 217 2.3.7 Zuschreibungspraxis: Von der Authentizität der Werke zur Autorität des Künstlers 221

3 Ergebnisse des zweiten Teils 3.1 Zusammenfassung 231 3.2 Hypothesen zur Funktion der diskursiven Künstlerfigur 234 3.3 Autonomes Kunstschaffen und Hermeneutik als Arbeit am Subjekt 245

Dritter Teil Rezeptionsgeschichtliche Fallstudien 249 1 Die Ablehnung der Nachtwache als Ursprungsmythos der künstlerischen Autonomie 252 1.1 Rezeptionsgeschichtlicher Stellenwert der Nachtwache 252 1.2 Exkurs: Die ‘sogenannte Nachtwache‘ 257 1.3 Zur Entstehung der Ablehnungslegende: Vosmaer, Fromentin, Michel 261 1.3.1 Fromentins zwiespältiges Urteil über die Nachtwache 263 1.3.2 Exkurs: Fromentins Kritik an Rembrandt und am Impressionismus 265 1.3.3 Emile Michel baut Fromentins Schilderung zur Ablehnungslegende aus 267 1.4 Die Ablehnungslegende in der deutschsprachigen Literatur 273 1.5 Die Nachtwachenlegende - Beispiele der populäre Rezeption 280

2 Rembrandts Selbstbildnisse 2.1 Zum Stellenwert der Selbstbildnisse in der Geschichte der Rembrandtrezeption 287 2.2 Vom Studienkopf zur Selbsterkenntnis 293 2.3 Exkurs: Rembrandts Eitelkeit, Rembrandts Häßlichkeit 296 2.4 Authentische Quellen: Die Selbstporträts als ‘Selbstbiographie‘ 302 2.5 Die Selbstbildnisse als Dokumente der Persönlichkeitsentwicklung 304 2.6 Metaphorische ‘Zuschreibungen‘ an Rembrandt 312 2.6.1 Das Gesicht als Landschaft 312 2.6.2 Löwe, Sieger, König 318 2.7 Die Selbstbildnisse als Anreiz zur Psychologisierung 322 2.8 Zusammenfassung 326

Abschluß und Ausblick 329

Abkürzungen 331 Filmographische Angabe 331 Literaturverzeichnisse 332 1. Quellen 332 2. Sekundärliteratur 341

Einleitung

1 „Rembrandt ist interessanter...“

Im Wintersemester 1925/1926 hielt Theodor Hetzer in seiner Funktion als Privatdozent für Kunstgeschichte an der Universität Leipzig eine Vorlesung mit dem Titel Rubens und Rem- brandt. Seine Planung sah dabei nicht den Stunde für Stunde erneuerten direkten Vergleich dieser beiden Meister vor, sondern eine gerechte Zweiteilung der zur Verfügung stehenden Termine, wobei zunächst der Flame und dann der eine Generation jüngere Holländer behan- delt werden sollte. Im Verlauf des Semesters sorgten der Umfang des Rubensschen Œuvres und die dadurch beim Vortragenden erweckte Begeisterung für eine ständige Ausdehnung des ersten Teils, und als dieser schließlich, mehr abgebrochen als erschöpft, zu einem Ende ge- bracht war, blieben für die Beschäftigung mit Rembrandt nur noch wenige Termine. Um in den neuen Abschnitt seiner Vorlesung überzuleiten, stellte Hetzer einen Vergleich sei- ner beiden Titelfiguren im Hinblick auf deren aktuelle Bedeutung an:

„(...) in Rembrandt und Rubens [haben wir] die größten Künstler des 17. Jahrhunderts zu erblicken. Es wird sogar wohl viele geben, die Rembrandt den Vorzug geben und ihn für den größeren der beiden halten. Die Gründe für eine solche Bevorzugung können sehr verschiedener Natur sein. In dem landläufigen Urteil werden wohl die Gefühlsmomente überwiegen, man sieht in Rembrandt den tieferen, frömmeren, wohl auch germanischeren Meister, man rühmt ihn, weil er nicht nach Italien gegangen ist, man ist geneigt, sein schweres Schicksal ihm als ethisches Verdienst anzu- rechnen. Es kommt hinzu, daß Rembrandt zeitloser erscheint, daß er weniger historisch gebunden ist als Rubens, ja daß er modern wirkt. (...) Während Rubens eine ganz unkomplizierte Natur ist, scheint Rembrandt rätselhaft, abgründig, problematisch, zum Grübeln reizend. Die Literatur ist be- trächtlich größer, und es hat sich nicht nur die streng fachliche Literatur mit ihm beschäftigt, wir finden ihn auch als programmatischen Titel, wir finden ihn ferner zum Gegenstand philosophischer Spekulationen gemacht. Mit einem Wort: Rembrandt ist interessanter als Rubens, und wir werden versuchen müssen, uns darüber klar zu werden, warum er interessanter ist.“ (Hetzer 1984 [1926], 249)

Theodor Hetzer beschreibt hier ein Phänomen, „Rembrandt ist interessanter als Rubens“, und er stellt sich eine Aufgabe: zu klären, warum dies so ist. Hetzers facettenreiche Phänomenbe- schreibung enthält bereits zahlreiche Hinweise für eine mögliche Lösung. Der zukünftige Or- dinarius des Leipziger Instituts spricht darin wesentliche Aspekte an, die das Rembrandtbild der deutschen Kunstgeschichte und auch der breiteren deutschen Öffentlichkeit in den vor- ausgegangenen 40 Jahre prägten und dies auch - zumindest bis in die 40er Jahre des 20. Jahr- hunderts - weiter tun sollten: Rembrandts antipodische Position zu Rubens, die ‘Tiefe‘ seiner Kunst, das ‘Germanische‘ seines Wesens, das ‘Rätselhafte‘ seiner Natur, sein Schicksal als ‘verkannter Künstler‘. Diese und andere Topoi kommen schließlich zusammen in der Fest- stellung von Rembrandts ‘Modernität‘, die ihn als besonders interessant erscheinen ließe. 3

Die vorliegende Untersuchung zur Rembrandtrezeption in den Jahrzehnten um 1900 versucht in gewissem Sinne, die vor 75 Jahren von Theodor Hetzer gestellte Frage zu beantworten, warum sich das Interesse in jener Zeit in so besonderem Maße auf Rembrandt richtete. Denn dieser grundlegenden Beobachtung ist zunächst einmal zuzustimmen.1 Es sind etwa hundert Jahre, von der Mitte des 19. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, in denen Rembrandt stärker als zu früheren oder späteren Zeiten im Zentrum der Fragen zu Kunst und Künstlertum steht. Dies gilt zunächst in Frankreich und in den Niederlanden, dann - mit leichter Verspätung, dafür aber besonders intensiv - auch in Deutschland. So wie das steigende Interesse an Rem- brandt mitunter keine nationalen Grenzen beachtete, übertrat es auch die Grenzen eines ge- schlossenen Kunstdiskurses. Fragen nach dem Wesen des Künstlertums, nach dem Charakter des künstlerischen Werks oder auch des künstlerischen Schaffensprozesses waren Gegenstand einer grundlegenden Verständigung über die Konzeption des Subjekts in der modernen bür- gerlichen Gesellschaft. Und im Zuge dieser Verständigungsprozesse spielte Rembrandt die Rolle einer Leitfigur. Er spielte diese Rolle auch außerhalb der Ateliers von Künstlern, die seine gestalterischen Lösungen aufnahmen, und außerhalb der Studierzimmer von Kunstge- lehrten, die die Modernität seines Künstlertums in Worte zu fassen suchten.

Eine Prämisse meiner Überlegungen mag sich in dem bisher Gesagten bereits angedeutet ha- ben: Mein Interesse gilt nicht Rembrandt. Wenn Theodor Hetzer fragt, warum Rembrandt interessanter sei als Rubens, so spricht er von der historischen Person des Künstlers Rem- brandt Harmenszoon van Rhijn und dessen malerischem, radiertem und gezeichnetem Werk. Wenn dagegen in dieser Untersuchung Hetzers Frage zum Teil übernommen wird, so gilt das Forschungsinteresse dem Diskurs - verstanden als die Gesamtheit der publizierten Äußerun- gen - , der sich speziell in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts um diesen Künstler entwickelt und der Rembrandt als einen vielseitigen und offenbar besonders interessanten Anlaß zur Kommunikation über verschiedenste - „nicht nur streng fachliche“ - Inhalte ver- wendet. Theodor Hetzer wurde hier also nicht im engeren Sinne als Vordenker zitiert. Denn obwohl dieser das Phänomen der Interessantheit Rembrandts als ein spezifisch modernes wahrnimmt, über dessen Hintergründe reflektiert und einige seiner Motivationen anspricht, bleibt er selber Teil dieses Phänomens. Letztlich ist für Hetzer nicht die aktuelle Rembrandt- rezeption, sondern die historische Gestalt des Künstlers Gegenstand der Rede; der Verweis

1 Bereits die Autoren des hier untersuchten Zeitraum haben das aktuelle Interesse an Rembrandt beobachtet und die Rede darüber zu einem Topos der Rembrandtliteratur selbst gemacht (z.B. Bode 1891, 1; Lichtwark 1906, 52; Valentiner 1906, 2; Storck 1920, 12). In jüngerer Zeit haben u.a. Wyss (1985) und Boomgaard/Scheller (1991) auf die zentrale Position Rembrandts in der Kunstliteratur um 1900 hingewiesen. Die komplexesten Dar- stellungen bieten Boomgaard (1995) und Stückelberger (1996, 21 - 66). 4 auf Rembrandts aktuelle Wertschätzung dient ihm lediglich als Einstiegsformel. Indem er im weiteren Verlauf seiner Vorlesung Leben und Werk des Künstlers beschreiben und beurteilen wird, tritt Hetzer mit seinen Aussagen in den Horizont seiner Zeit zurück und beteiligt sich, nun nicht mehr als Diskursanalytiker, sondern wieder als ‘klassischer‘ Kunsthistoriker, an der „streng fachliche[n]“ Beantwortung der Frage nach Rembrandts Interessantheit und damit an der Produktion des Phänomens ‘Rembrandt‘. Um dieses Phänomen aber geht es mir. Dem entsprechend liegt meinen Überlegungen die Unterscheidung zugrunde zwischen (a) einer historisch-empirischen Künstlerfigur namens Rembrandt, die im 17. Jahrhundert in Leiden und Amsterdam gelebt hat, und (b) dem, was ich als ‘diskursive Künstlerfigur‘ bezeichnen möchte, einem imaginären ‘Rembrandt‘, einem Kommunikationsgegenstand. Diese Unterscheidung ist nicht gleichbedeutend mit der zwi- schen einem wahren und einem verfälschten Rembrandtbild. Unabhängig von der Faktizität jenes historischen Rembrandt, der einmal gelebt und gemalt hat, sind alle Aussagen, die im Bezug auf diese Person getroffen werden, lediglich Beiträge zu dieser diskursiven Künstlerfi- gur. Das Verhältnis zwischen historischer und diskursiver Figur ist demnach nicht das zwi- schen wahr und falsch, sondern ein anderes: Das Bewußtsein (oder die Vorstellung) von der Existenz der historisch-empirischen Figur fungiert als Legitimation der diskursiven Künstler- figur und aller Aussagen, die über diese vermittelt werden.2 Angesichts dieser Ausrichtung auf die Rembrandtrezeption, die einen anderen Blickwinkel auf die Interessantheit Rembrandts einnimmt als Theodor Hetzer, erscheint es sinnvoll, auch dessen Frage umzuformulieren. Es wird auf den folgenden Seiten weniger darum gehen „uns darüber klar zu werden, warum [Rembrandt] interessanter ist“, als vielmehr darum zu be- schreiben, wie der Rembrandt beschaffen ist, der damals ‘modern‘ wurde. Also: Was für ein Rembrandt war damals ‘interessant‘? Der Unterschied zwischen diesen beiden Fragen besteht darin, daß die erste nach einer histo- risch-empirischen Person des 17. Jahrhunderts fragt, die zweite jedoch nach einer diskursiven Künstlerfigur, nach einem Produkt der Rezeption, letztlich nach dieser Rezeption selber und nicht nach deren vorgeblichem Gegenstand. Ich beantworte die von Theodor Hetzer gestellte Frage zunächst durch eine veränderte Fragestellung. Mit der These, die hinter dieser Ver- schiebung steckt, möchte ich zugleich eine erste Antwort auf das Phänomen der modernen Rembrandtrezeption selbst geben. Sie lautet: Rembrandt ist interessant, wenn es gelingt, am Thema ‘Rembrandt‘ über Interessantes zu reden, also über Aktuelles, für die Gegenwart Re- levantes. Rembrandts Modernität liegt in seiner Eignung als Anlaß zur Kommunikation von

2 Ich knüpfe mit diesen Überlegungen an Michel Foucaults Analyse der „Funktion Autor“ an (Foucault 1993). Im Feld der Kunstwissenschaften geht mir dabei besonders die Niederländerin Mieke Bal voraus, die in einem ihrer Bücher den Namen Rembrandt konsequent in Anführungszeichen setzte, um die Fiktionalität der mit dieser Kennzeichnung verknüpften Figur stets bewußt zu halten (Bal 1991). 5 Inhalten, die für Autoren der Moderne interessant sind, in seiner Eignung als Medium für ak- tuelle Fragen der Ästhetik, Lebenspraxis oder Politik. Wenn diese These stimmt, dann müßte es aber durchaus lohnen, einmal zu untersuchen, wel- che Inhalte in der Epoche ihrer besonderen ‘Interessantheit‘ über diese diskursive Künstlerfi- gur kommuniziert wurden. An diesem Punkt setzt meine Untersuchung an.

2 Erkenntnisinteresse und Forschungsstand

Vor der Beschreibung des ausgewählten Untersuchungsmaterials und dieser Untersuchung selbst ist es notwendig, daß Erkenntnisinteresse der Arbeit genauer zu fassen. Ich möchte dies zunächst im Kontext einer Darstellung des Forschungsstandes tun, indem ich meine Position zu bisher geleisteten Arbeiten ins Verhältnis setze. Innerhalb der kunstwissenschaftlichen Forschung sind dabei zwei Felder relevant: die Geschichte der Rembrandtrezeption und die Frage nach Gestalt und Funktion des ‘modernen Künstlers‘.

2.1 Zum Problem der Rezeptionsgeschichte

Wenn im kunstgeschichtlichen Fachdiskurs das Stichwort ‘Rezeptionsgeschichte‘ fällt, so ist damit in der Regel die Problematik der Einflüsse älterer Kunst auf neuere Kunst gemeint. In dieser Hinsicht ist Rembrandts ‘Modernität‘ bereits ausführlich untersucht worden. Petra ten Doesschate Chu behandelte 1974 in einer systematischen Studie den Einfluß der holländisch- en Malerei des 17. Jahrhunderts auf die Entwicklung der französischen Malerei zwischen 1830 und 1870. Dabei arbeitete sie überzeugend die Orientierung von Künstlern wie Courbet, Fantin-Latour oder Degas an der niederländischen Malerei im Allgemeinen, besonders jedoch an Ruisdael, Hals und Rembrandt heraus (Chu 1974). Johannes Stückelberger ist Chus Me- thodik weitgehend gefolgt und hat die Vorbildlichkeit Rembrandts für die künstlerischen Lö- sungen einiger zentraler Künstler der deutschen Moderne (Liebermann, Corinth, Slevogt und Nolde) nachgewiesen (Stückelberger 1996). Trotz einzelner Verweise, die über den Bereich ästhetischer Bezüge hinausreichen, bleiben beide AutorInnen insgesamt auf den Bildvergleich ausgerichtet. Während Chu die gesellschaftspolitischen Implikationen dieser ‘Renaissance‘ niederländischer Kunst in der Mitte des 19. Jahrhunderts anspricht, hält sich Stückelberger mit Aussagen über die außerästhetische Aktualität Rembrandts sehr zurück. Ganz in der Tra- dition kunsthistorischer Rembrandt-Hermeneutik seit Carl Neumann sieht er die Kunst Rem- brandts als zukunftsweisend an und spricht von einer impressionistischen Tendenz in der Malerei des Holländers, in welcher die modernen Maler ihre eigenen Zielsetzungen wiederer-

6 kannt hätten.3 Obwohl er das Phänomen der Rembrandtbegeisterung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer vorbildlichen Überblicksdarstellung facettenreich schildert, weist Stückelberger der Frage nach der gesellschaftlichen Funktion einer historischen Künstlerfigur kaum Bedeutung für die Beurteilung der künstlerischen Rezeptionsgeschichte zu. Diese Vor- stellung von einer Abgeschlossenheit des künstlerischen Schaffens, von den rein ästhetischen Interessen der Künstler, zeigt sich besonders dann, wenn Stückelberger die mögliche Beein- flußung der vier analysierten deutschen Maler durch Julius Langbehns kulturpessimistisch- nationalistisches Buch Rembrandt als Erzieher bestreitet (Stückelberger 1996, 53). Stückel- berger sieht seine Aufgabe als Kunsthistoriker offenbar darin, als Anwalt der Künstler die Geschichte der Kunst als eine autonome, von gesamtgesellschaftlichen Wechselwirkungen wenig beeinflußte Entwicklungsgeschichte zu beschreiben. Eine derartige Begrenzung des Blickwinkels im Sinne einer ‘Naturgeschichte der Kunst‘ erscheint mir als unhaltbar.4 Den angesprochenen Arbeiten ist der Nachweis einer Präsenz Rembrandts in den Ateliers moderner Künstler zu verdanken. Rembrandts Modernität wurde darüber hinaus auch als Schlüssel für die Abfassung anderer Rezeptionsgeschichten verwendet.5 Die avancierteste

3 Als problematisch sehe ich den eingeengten Begriff der „Moderne“ bei Stückelberger an, den dieser ebenfalls als rein kunstgeschichtlich-ästhetische Kategorie auffaßt: „Unter ‘Moderne‘ verstehe ich jene künstlerischen Bewegungen, die sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Akademie- und Salonbetrieb distanziert haben.“ (1996, 9). Und in einer Fußnote führt er aus: „Ich verwende den Begriff der Moderne nicht als Epochenbegriff. Er ist für mich vielmehr Ausdruck einer bestimmte Haltung gegenüber Geschichte und Gegenwart. Die Moderne betrachte ich nicht als Bewegung, die den Historismus abgelöst hat. Vielmehr sind für mich Historismus und Moderne zwei Haltungen, die im 19. und 20. Jahrhundert nebeneinander bestehen und ihr Recht auf die richtige Deutung der Wirklichkeit geltend machen“ (ebd., 9 f.). Mit dieser Eingrenzung nivelliert Stückelberger die histo- rische Komplexität der Moderne als Epoche auf eine Dichotomie zwischen Modernen (Secessionistische Ma- lerei) und Historisten (Akademische Malerei). Dieses Schema einer binären Codierung, das ich als eine typisch moderne Strategie zur Reduktion der Komplexität von Wirklichkeit beschreiben würde, wird zudem durch eine eindeutige Wertung ergänzt, die in ‘den Historisten‘ einen regressiven (konservativen, entwicklungshemmenden, negativen) und in ‘den Modernen‘ einen progressiven (zukunftsweisenden, positiven) gesellschaftlichen Faktor ausmacht. Die affirmative Verwendung des Entwicklungsparadigmas, das aus geschichtstheoretischer Perspek- tive in der Regel als Charakteristikum der Weltbilder in der Epoche der Moderne dargestellt wird, weist Stückel- bergers Theorieposition hier wiederum als genuin ‘modern‘ aus. Seine wertende Polarisierung zwischen konser- vativen und progressiven Künstlern macht es auch verständlich, daß er den Einfluß des kulturpessimistischen und wertkonservativen Autors Julius Langbehn auf ‘moderne‘ Künstler abweisen muß: Mit der Vorstellung von einer grundsätzlichen ‘Progressivität‘ der ‘Modernen' ist die kritische Haltung Langbehns zur kulturellen und politischen Entwicklung der Gegenwart prinzipiell unvereinbar. Im Gegensatz zu Stückelberger halte ich es für unumgänglich, von der Moderne als Epoche zu reden. Entsprechend sind Phänomene wie die ‘moderne Kunst‘ secessionistisch orientierter Künstler in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. In gleicher Weise sind jedoch auch die von Stückelberger als anti-modern ausgegrenzten His toris men allein als Phänomene moderner Gesellschaften angemessen zu verstehen. Die von Stückelberger kritisch angeführte Uneinigkeit über die präzise chronologische Eingrenzung dieser Epoche kann hier kein gültiges Ge genargument sein (Stückelberger 1996, 10). 4 Mehr Offenheit für die gesellschaftliche Position der Kunstentwicklung zeigt Angelika Wesenberg, obwohl auch ihr Blickwinkel stark auf die kunstgeschichtliche und künstlerische Rezeption ausgerichtet ist: „Mehr als andere große Künstler der Vergangenheit ist Rembrandt im 19. Jahrhundert in engem Bezug zur zeitgenössi- schen Kunst entdeckt und rezipiert worden. Rembrandt war niemals ein nur kunsthistorisches Thema.“ (Wesen- berg, 1995a, 51). 5 Susanne Heiland und Heinz Lüdecke haben bereits 1960 mit Rembrandt und die Nachwelt eine kommentierte Materialsammlung wichtiger Beispiele der im weitesten Sinne literarischen Rezeption des Künstlers publiziert und damit eine Teilübersicht des diskursiven Feldes zur Verfügung gestellt. Von einer repräsentativen Auswahl 7 darunter hat Jeroen Boomgaard 1995 vorgelegt. In seiner Studie De verloren zoon (Der verlo- rene Sohn) liefert er eine umfassende Darstellung der Entwicklung der niederländischen Kunstgeschichtsschreibung und stellt dabei den Wandel eines ihrer zentralen Inhalte, des Rembrandtbildes, in den Mittelpunkt. Diese bemerkenswerte Arbeit berücksichtigt auch Fra- gen der Popularität des Künstlers und bezieht die Problematik internationaler Wechselwir- kungen, speziell der zwischen niederländischer und deutscher Kunstgeschichtsschreibung und Museumspraxis, in ihre Perspektive mit ein. Dabei offenbart sich jedoch zugleich ein metho- disches Problem. Bei dem Versuch, eine chronologische Darstellung der Entwicklung des Denkens über Rembrandt zu liefern, die sich auf die im kunstgeschichtlichen Fachdiskurs zirkulierenden Lehrmeinungen konzentriert, ist der Autor immer wieder zu Rückgriffen und Zeitsprüngen gezwungen, die es eher problematisch erscheinen lassen, hier letztlich eine li- neare Entwicklung konstatieren zu wollen. So leidet Boomgaards Untersuchung insgesamt, trotz einer Fülle spannender Einzelbeobachtungen und überzeugender Kontextualisierungen, unter der erkennbaren Absicht, eine Geschichte der niederländischen Kunstgeschichte in drei Phasen erzählen zu wollen. Es stellt sich die Frage, ob sich das empirische Material nicht in ähnlich schlüssiger Weise auch in andere narrative Muster fügen würde, als in die von Boom- gaard ausgemachte Erzählung von hoffnungsvollem Beginn, bedrohlicher Mitte und gutem Ende, letzteres metaphorisch veranschaulicht in Rembrandts Rückkehr des verlorenen Sohnes. Auch wenn uns die Posthistoire-Debatte darüber belehrt haben sollte, daß keine Geschichts- wissenschaft ohne Erzählungen möglich ist, bewerte ich eine derart vorsätzliche Narrativie- rung doch eher skeptisch. In zwei Punkten unterscheidet sich meine Arbeit deshalb methodisch von der Boomgaards. Obwohl mir ebenfalls die Texte einer als Fachdiskurs bestimmbaren Kunstgeschichtsschrei- bung als zentrales Untersuchungsmaterial dienen, ziele ich nicht darauf, eine Disziplinge- schichte zu schreiben. Soweit sich mein Ansatz mit einer derart geschlossenen Fragestellung identifizieren läßt, gilt er einer Beschreibung des ‘Rembrandtdiskurses‘, oder anders formu- liert: einer Beschreibung der Vorstellungen von Rembrandt und der sie bestimmenden Prä- missen, wie sie sich mit Blick auf Textquellen aus einer bestimmten Zeit darstellen. Der zweite Unterschied zu Boomgaards Methodik liegt in dem weitgehenden Verzicht auf eine lineare Narration. Wie sehr die Vorstellung von ‘Entwicklungen‘ vom Betrachterstandpunkt abhängt, läßt sich in der noch immer dominanten Erzählung von der Entwicklung der moder- nen Kunst als einer Erfolgs- und Befreiungsgeschichte exemplarisch beobachten. Ich möchte

kann hier allerdings nicht die Rede sein. Die Zusammenstellung der Texte und ihre Bewertung ist vielmehr selbst an der Idee einer Darstellung Rembrandts und seiner führenden Interpreten als Vorkämpfer einer Ent- wicklungsgeschichte orientiert, die deutlich vom politisch-historischen Umfeld ihrer Erstpublikation (Leipzig 1960) geprägt ist. So werden die französischen Autoren der Zeit um 1850 hervorgehoben und in aktuell sozia- listischer Perspektive interpretiert. Dagegen fehlt ein Hinweis auf das breite Segment der chauvinistischen deut- schen Rembrandtbegeisterung mit ihrer zentralen Figur Julius Langbehn völlig. 8 hier differenzieren. Dabei soll keinesfalls der Möglichkeit von Veränderungen widersprochen werden, die sich aus der linearen Abfolge historischer Zeit ergeben. Andererseits folgt aus dieser existentiellen Grundbedingung der ‘Chronologie des Seins‘ noch lange keine Notwen- digkeit von ‘Entwicklung‘, sei es als Fortschritt oder als Verfall. Ich möchte auf diese Pro- blematiken reagieren, indem ich meiner Arbeit kein eindeutiges Modell geschichtlicher Zeiten zugrunde lege. In den drei Abschnitten meiner Arbeit werden statt dessen drei unterschiedli- che Beobachtungsverfahren, drei unterschiedliche Modi der Darstellung des historischen Phä- nomens der Rembrandtrezeption zur Anwendung kommen. Im Zentrum dieser poly-perspek- tivischen Methodik steht im zweiten Teil der Versuch, die deutsche Rembrandtrezeption zwi- schen 1883 und 1948 als ein synchrones Feld zu beschreiben, in dem es zwar zu partiellen Verschiebungen von Schwerpunkten, Erklärungsmodellen und inhaltlichen Anknüpfungen kommen mag, das aber in seinem wesentlichen Aspekt, der Vorstellung vom Künstler als au- tonomes Subjekt, durch Kontinuität gekennzeichnet ist. Es sei hier nochmals ausdrücklich formuliert, daß ich in der vorliegenden Untersuchung den Begriff der Rezeptionsgeschichte weder auf die Frage nach künstlerischen Adaptionen, noch auf die Entwicklungsgeschichte der kunstgeschichtlichen Disziplin zuspitze. Mein Interesse gilt der publik gewordenen Kommunikation über Rembrandt in ihrer Gesamtheit, soweit sie in Textquellen zur Verfügung steht. Eingrenzungen dieses Feldes ergeben sich lediglich aus pragmatischen Gründen - es kann natürlich keine ‘vollständige‘ Repräsentation des diskursi- ven Feldes der Rembrandtrezeption geleistet werden - und durch die Fragestellung der Arbeit. Diese gilt eben nicht der Bedeutung Rembrandts als einer Inspirationsquelle moderner Kunst oder als eines zentralen Gegenstands der Selbstvergewisserung niederländischer Kunstge- schichtsschreibung. Sie gilt der Bedeutung Rembrandts als einer diskursiven Figur der Ver- ständigung über modernes Künstlertum sowie darüber hinaus über die Vorstellungen von mo- derner Subjektivität insgesamt. Damit kommen wir zu einem weiteren Gegenstand, der hinter der Thematik dieser Untersu- chung der Rembrandtrezeption steckt und mein Interesse daran letztlich geleitet hat. Dieser Gegenstand sei hier als These formuliert: In der modernen bürgerlichen Gesellschaft dient der Diskurs über den Künstler, über seine Persönlichkeit, sein Verhalten und sein Werk der Ver- ständigung über die Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Individuums als eines zu- gleich singulären und sozialen Wesens; der moderne Künstler, ob er nun als diskursive Figur oder verkörpert in einer empirischen Person in Erscheinung tritt, erfüllt in der gesellschaftli- chen Kommunikation die Aufgabe einer Symbolfigur, in der die Einzigartigkeit, Intensität und Unabhängigkeit menschlicher Subjektivität demonstriert wird. Die modernen Konzeptionen von Subjektivität kommen im Künstler zur Anschauung.

9 Die Auseinandersetzung mit dieser These bildet jedoch lediglich eine zweite abstraktere Auf- gabenebene der Arbeit. Auf sie wird besonders zum Ende des zweiten Teils zurückzukommen sein, wenn im Anschluß an die Beschreibung Rembrandts als eines ‘Prototyps modernen Künstlertums‘ verschiedene Modelle zur Funktion dieser diskursiven Künstlerfigur zu disku- tieren sind. Auch diesen thematischen Rahmen möchte ich hier zunächst durch eine kurze Darstellung vorhandener Forschungsperspektiven umreißen.

2.2 Zur Figur des ‘modernen Künstlers‘

Ansätze zu einer Beschreibung der Figur des modernen Künstlers liegen aus unterschiedli- chen theoretisch-methodischen Perspektiven vor. Wenn man bedenkt, welche zentrale Posi- tion die Vorstellung vom Künstlertum in der Kunstgeschichtsschreibung einnimmt, ist die geringe Zahl der Studien allerdings überraschend. Die früheste Darstellung, die es unter- nimmt, Künstlerviten als literarische Konstruktionen zu analysieren und sie, anders als ihre Vorgänger und Zeitgenossen, nicht als weitgehend objektive und neutrale Schilderungen einer historischen Wahrheit zu verstehen,6 stammt von Ernst Kris und Otto Kurz. In ihrer Legende vom Künstler (zuerst 1934) weisen die beiden Wiener Kunsthistoriker die engen Verwandt- schaften zwischen antiken und renaissancistisch-neuzeitlichen Künstlerviten nach und können dadurch die Regelhaftigkeit der Vitenschreibung ins Blickfeld bringen. Im Künstlerbild des „Griechentum[s]“7 sehen Kris und Kurz die „Wurzel“ für „gewisse Grundvorstel- lungen vom bildenden Künstler“,8 die seither in aller Biographik vom Künstler vorlägen.9 Das Interesse der beiden Autoren liegt jedoch nicht in einer allgemeinen Dekonstruktion der Künstlerliteratur.10 Kris und Kurz schließen sich vielmehr dem italienischen Kulturphiloso- phen Benedetto Croce an und verlangen mit diesem eine Unterscheidung zwischen dem Künstler als Alltagsmensch und dem Künstler als Schöpfer des Werks. Somit verbleiben sie in einem hermeneutischen Horizont, der im Werk die entscheidende Quelle zum Verständnis des Künstlers sieht. Wie bereits am Beispiel Theodor Hetzer dargelegt, ist auch das Verständ-

6 Ausgenommen sind hier die kritischen Revisionen klassizistischer Künstleranekdotik, wie sie auch bei zahlrei- chen Autoren der Rembrandtliteratur seit Mitte des 19. Jahrhunderts zu finden sind. Diese zielen, mit Ausnahme der von Eduard Kolloff, primär darauf, die Objektivität der eigenen Darstellungen durch Benennung eines Ne- gativpols hervorzuheben. Mehr zu dieser Literatur im ersten Teil dieser Arbeit. 7 Kris/Kurz 1934, 14. 8 Ebd., 12. 9 Vergleichbar mit anthropologischen Konzepten ihres Vorbilds Aby Warburg wird auch diese von Kris und Kurz konstatierte Kontinuität der Künstlerkonzepte durch ein essentialistisches Modell erklärt, das den zugleich geäußerten Ansprüchen nach einer historischen Kontextualisierung der Phänomene widerspricht (vgl. Warburgs Vorstellung von den sogenannten „Pathosformeln“ als „Urworte der Gebärdensprache“, in: Warburg 1906. Auch Warburgs Projekt eines Mnemosyneatlas ist letztlich auf die Entzifferung einer Essenz menschlicher Bild- sprachlichkeit ausgerichtet und will damit, in diesem Punkt sowohl lebensphilosophis chen als auch völkischen Konzepten verwandt, statische Elemente menschlichen ‘Wesens‘ aus dem geschichtlichen Wandel herausfiltern). 10 Die philosophischen Grundlagen für eine derart radikale Perspektive sind erst 30 Jahre später vorhanden. 10 nisinteresse von Kris und Kurz weiterhin auf die historische Person des Künstlers als des Urhebers künstlerischer Werke gerichtet und nicht auf die Rolle der Künstlerfigur in der gesellschaftlichen Kommunikation.11 Aus anderer Perspektive nähert sich 50 Jahre später Eckhardt Neumann dem Phänomen der Künstlermythen (Neumann 1986). Seine psycho-historische Studie über Kreativität setzt je- doch ebenfalls mit einer Genealogie der Vorstellungen vom Künstler als kreativem Indivi- duum an. Neumanns Absicht ist es, neben den Kontinuitäten auch die Veränderungen darzu- legen, die sich zwischen antiken Künstlermythologien und jenen neuzeitlichen „Künstlermy- then“ feststellen lassen, die er bis hin zu Künstlerfiguren der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun- derts beobachtet. Neben der interessanten Ausweitung des von Kris und Kurz gesetzten histo- rischen Material- und Geltungsrahmens, neben dem Nachweis der Tradierung von Motiven antiker Hagiographie und neben anregenden Überlegungen zur gesellschaftlichen Rolle des marginalisierten Künstlers bringt Neumanns Studie jedoch auch eine einseitige Konzentration auf die Problematik einer pathologischen Befragung des Künstlertums. Ein Schwerpunkt sei- ner Arbeit liegt in der Darstellung der unterschiedlichen Konzepte von Genie und Wahnsinn, die in der psychologischen Literatur seit dem späten 19. Jahrhundert entworfen wurden. Kreativität erscheint dabei auch in Neumanns eigener Perspektive wiederum als Essenz, deren Besitz die Person des Künstlers in ein bedrohliches Verhältnis zur Gesellschaft bringt. Neu- mann interessiert dabei die Ausgrenzung der künstlerischen Begabung als ‘pathologisch‘. Seine subjektzentrierte Perspektive mag vor einem psychologischen Theoriehintergrund über- zeugen, sie blendet dabei jedoch solche Positionen aus, die die modernen Konzeptionen des Wahnsinn innerhalb eines komplexeren gesellschaftlichen Ensembles analysieren (vgl. be- sonders Foucault 1973) und sie nicht allein als Strategien der Repression von Individuen, sondern gerade als Mittel zur Entwicklung der diskursiven Vorstellungen von Subjektivität untersuchen. Die Mängel des Analyserasters Neumanns zeigen sich deutlich in seinem Ver- such, die „Künstlerrolle von Joseph Beuys“ darzustellen. Hier treffen zwei widersprüchliche Prämissen aufeinander: Einerseits sieht Neumann die diskursiven Prozesse, die zum Phäno- men des Künstlers führen, andererseits besteht er auf dem essentiellen Kern der Kreativität ursprünglichen Künstlertums. Die Folge ist, daß Neumann nicht umhin kommt, die mitunter kultische Verehrung und Inszenierung des „Schamanen“ Beuys als Scharlatanerie zu analysie- ren und damit von reflektierter Position aus den banalsten der Vorwürfe gegen diesen Künst- ler zu wiederholen (Neumann 1986, 100 ff.). Den jüngsten und zugleich umfangreichsten Versuch einer kunstwissenschaftlichen Ausein- andersetzung mit der Figur des modernen Künstlers hat der Kulturwissenschaftler Wolfgang

11 Es ist allerdings weniger die Person des Künstlers als sein Werk und dessen historische Stellung, welche Kris und Kurz mit Bezug auf Croce als Zentrum kunstgeschichtlicher Untersuchungen verstanden wissen wollen. Der Figur des Künstler als Autor des Werkes kommt demnach nur ein sekundäres Interesse zu (Kris/Kurz 1934, 17). 11 Ruppert unternommen. Seine Studie fokussiert ausdrücklich die Thematik „der kreativen In- dividualität in der kulturellen Moderne im 19. und frühen 20. Jahrhundert“, und zwar aus so- zialgeschichtlicher und kulturgeschichtlicher Sicht. Der Komplexität des damit angesprochenen Feldes wird Ruppert allerdings trotz des quanti- tativen Volumens nicht gerecht. Um den regional und historisch ausgreifenden Mantel von Titel und Untertitel entkleidet, handelt es sich um eine Studie der sozialen Situation von Künstlern im München des wilhelminischen Kaiserreiches, wobei die Personen Franz Len- bachs und Wassily Kandinsky als Repräsentanten zweier Generationen mit unterschiedlichen künstlerischen Idealen und sich verschiebenden Existenzbedingungen fallstudienartig fokus- siert werden. Die Einführungen zum institutionellen Umfeld und zur Rolle des Künstlers in der bürgerlichen Gesellschaft stellen durchaus zutreffende Phänomenbeschreibungen dar, sie können aber besonders aufgrund ihrer lokalen Reduktion keinen Anspruch auf Geltung für die „kulturelle[n] Moderne“ erheben. So werden etwa die internationale Wechselwirkung, die Vorbildlichkeit der Kunstmetropole Paris und die Pluralität der sozialen Kontexte, in denen künstlerische Praxis ausführbar und durch die relevanten gesellschaftlichen Instanzen auch wahrnehmbar war, ausgeblendet. Zudem erweist sich die Verknüpfung der zwei methodi- schen Perspektiven Sozialgeschichte und Kulturgeschichte als problematisch. Einerseits liefert Ruppert statistisches Material zu empirischen Personen und interessiert sich dabei be- sonders für das reale soziale Leid eines ökonomisch marginalisierten Berufszweiges, anderer- seits beschreibt er den ‘kulturellen Habitus‘ von Künstlern, also deren Fremd- und Selbststili- sierung zu Figuren mit einem bestimmten, durch die Rahmenbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft determinierten Verhaltens-, Vorstellungs- und Erscheinungskodex. Diese span- nungsvolle Doppelmethodik führt bereits im Bereich grundlegender Definitionen zu Konflik- ten. So versucht Ruppert einerseits, den modernen Künstler als ein Professionalisierungs- schema innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen:

„Die Tätigkeit des modernen Künstlers ist als ein Beruf anzusehen, der in der kulturellen Moderne mit dem Aufstieg des Bürgers und der Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft umgeformt wurde. Der moderne Künstler arbeitete für deren symbolischen Bedarf in einem spezifischen sozialen Raum; ihm wurde als Akteur eine kulturelle Stellvertreterschaft für ‘den Bürger‘ übertragen. Man erhob ihn ferner zum Repräsentanten der kreativen Individualität. Es wurde ihm zugewiesen, unge- bunden von den normativen Standards der Bürgerlichkeit, die symbolische Repräsentation, das ‘geistige‘ und ästhetische Leben, in origineller Weise zu entfalten.“ (Ruppert 1998, 38)

Bereits in sich erscheint mir diese Definition als paradox, da sie ein Berufsbild innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft beschreibt, zu dessen Charakteristiken eine Distanzierung von den „normativen Standards der Bürgerlichkeit“ zählen soll. Hat man die Vorstellung von diesen normativen Standards nicht zu eng gefaßt, wenn sich der „Beruf“ des Künstlers nicht mehr 12 positiv mit ihnen erfassen läßt? Ruppert erweitert die immanente Spannung dieser Definition noch, indem er eine zweite nachfolgen läßt:

„[Wir definieren] den modernen Künstler als ein Individuum, das seine gesteigerte subjektive Emp- findung sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit in einer individualisierten und authentisch-originellen ästhetischen Sprachlichkeit auszudrücken versteht. Der moderne Künstler gewinnt seine Arbeitsfä- higkeit zur Herstellung von Artefakten sowohl aus einer intuitiven Phantasieproduktion als auch aus der distanznehmenden Abgrenzung zu der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion des Le- bens und den rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Ruppert 1998, 232 f.)

In dieser zweiten Definition wird der Künstler nicht mehr als Beruf, sondern als eine Wesen- heit aufgefaßt, die sich bestimmter Vermögen erfreut. Mit seinen ‘Fähigkeit‘ zum Ausdruck „subjektive[r] Empfindung“ mittels einer „authentisch-originellen ästhetischen Sprachlich- keit“ und zur „intuitiven Phantasieproduktion“ erfüllt der hier beschriebene Typ Mensch of- fenbar die Voraussetzungen, die einer Ergreifung des „Berufs“ ‘moderner Künstler‘ voraus- zugehen haben. Ich sehe in diesen beiden Definitionen einen unauflösbaren Konflikt der von Ruppert kombinierten methodischen Perspektiven. Für meine Arbeit ziehe ich daraus die Konsequenz der Absage an ein essentialistisch-hermeneutisches Modell, das im Handeln der Künstler die Spuren für eine wesenhafte Veranlagung von Subjekten zu erkennen versucht. Indem ich die historischen Dokumente meiner Untersuchung weniger nach einer tiefen Be- deutungsschicht befrage, sondern als reine Oberfläche zu analysieren suche,12 will ich dem Dilemma der zweiten Definition Rupperts entgehen. Dieses besteht meines Ermessens darin, daß es eine Beschreibung des Phänomens ‘moderner Künstler‘ auf Basis derselben Codes versucht, die als diskursive Voraussetzungen eben jenes Phänomens anzusehen sind: die Un- terscheidung zwischen „rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft“ und „intui- tive[r] Phantasieproduktion“, zwischen „originelle[r] ästhetische[r] Sprachlichkeit“ und „Re- produktion“.13 Wenn diese Codes aber den diskursiven Rahmen der Sinngebungs- und Positionierungsprozesse einer modernen bürgerlichen Gesellschaft ausmachen, kann man sie nicht als analytisches Werkzeug zum Verständnis dieser selben Gesellschaft erheben. In dieser Hinsicht verbleibt Rupperts Definition demnach im Rahmen dessen, was sie zu analysieren vorgibt. Meine grundsätzlichste Kritik an Rupperts Perspektive betrifft die Dominanz der sozialge- schichtlichen Methodik in seinem Ansatz. Seine Phänomenbeschreibungen erwecken, scharf formuliert, den Eindruck, bei der Figur des modernen Künstlers handle es sich um ein Wesen aus der Tierwelt, das sich in einer vom bürgerlichen Liberalismus und Industriekapitalismus

12 Damit schließe ich mich an die geschichtstheoretischen Überlegungen Hans Ulrich Gumbrechts an (Gum- brecht 1997, 411 ff.). 13 Vgl. zu diesem Problem die Darstellungen Gerhard Plumpes, Plumpe 1990, 15-30. 13 bestimmten Umgebung durch eine entsprechende Verhaltensstrategie eine Überlebensnische suchen müsse. Ich wende mich mit dieser überspitzten Metaphorik gegen eine Perspektive, die im sozialen Umfeld primär eine repressive Macht sieht, welche formgebend auf das ‘na- türliche Wesen Mensch‘ einwirkt. Dagegen setze ich die Beobachtung der aktiven Anteil- nahme des Menschen an den ihm nur vorgeblich äußerlichen Formungsprozessen; dagegen frage ich vor allem nach der Tragbarkeit einer Unterscheidung zwischen Natur und Kultur des Menschen und verweise auf die These, daß in dieser Unterscheidung lediglich eines der Deu- tungskonzepte erblickt werden kann, das innerhalb eines derartigen binären Unterscheidungs- rasters wiederum zum Teil der Kultur gezählt werden müßte. An Rupperts sozialgeschichtli- cher Methodik kritisiere ich außerdem seine positivistische Verwendung von Statistiken und seine Lektüren historischer Fotografien und anderer Abbildungen, die er häufig ohne Refle- xion ihrer medialen Spezifik, insbesondere der ikonographisch-motivischen Bildtraditionen, als Dokumente verwendet. Dagegen sehe ich in seiner Phänomenbeschreibung eines ‘Künst- lerhabitus‘ durchaus einen produktiven Ansatz, der die soziologische Perspektive Pierre Bour- dieus für die kunstgeschichtliche Problematik nutzbar macht und dessen fruchtbare Fortfüh- rung wünschenswert ist. Ich werde dennoch nicht an diesem Punkt anschließen. Die ambivalente Bewertung der Studie Rupperts hat zur Folge, daß ich im Verlauf des Textes wiederholt auf diesen Autor zurückkommen werde. Meinen diskursanalytischen Ansatz ver- stehe ich teilweise als Ergänzung, teilweise auch als dezidierte Gegenposition zu Rupperts Arbeit. Die Wahl meines Untersuchungsgegenstands kann in diesem Zusammenhang als pro- grammatisch verstanden werden. Mit der Rembrandtrezeption entscheide ich mich für eine Thematik, in der die Frage nach dem Agieren historisch-empirischer Künstlerfiguren der Mo- derne keine Rolle spielt. Damit grenze ich das methodisch äußerst problematische Feld der Einflüsse von literarischen Diskursen auf individuelle Denk- und Verhaltensweisen bewußt aus der Reichweite meiner Überlegungen aus. Durch diese Entscheidung soll die Aufmerk- samkeit zunächst auf den imaginären Charakter von Subjektentwürfen gelenkt werden.14

2.3 Subjektivitätskonzepte als Problem moderner Kunstgeschichtsschreibung

Texte aus dem Feld einer biographischen Kunstgeschichtsschreibung sind nicht zuletzt Versu- che über Subjektivität. Mehr oder weniger explizit demonstrieren sie Subjektkonzepte, ent- werfen und proklamieren Idealbilder erfüllter Subjektivität, geben Empfehlungen für oder ge- gen bestimmte Verhaltensweisen des Einzelnen gegenüber seiner Umwelt und fungieren so-

14 In einem weiteren Schritt, den diese Arbeit jedoch nicht vollzieht, müßte die Frage nach den Prozessen der individuellen Aneignung von und der Identifikation mit derartigen Subjektivitätsmustern thematisiert werden, also das Phänomen der Personifikation dieser Muster, die dann als Befund empirischer Sozialforschung greifbar werden. 14 mit als Orientierungsangebote für die Selbstverortung des Lesers. Wesentlich ist dabei das Insistieren auf der Faktizität des Individuums und seiner Potentiale zur Ausprägung einer ‘ei- genartigen‘ Subjektivität. Diese Vorstellungen kulminieren im Begriff der Autonomie. Indem dieser Begriff in der Kunstgeschichte sowohl auf das künstlerisch tätige Subjekt als auch auf sein Produkt, das Werk, angewandt wird, artikuliert sich die enge Verbindung dieser beiden Elemente; vor diesem Hintergrund möchte ich die Hypothese aufstellen, daß wir es bei der Vorstellung von der Autonomie des Kunstwerks im wesentlichen mit einem Konzept zur Ver- anschaulichung jener anderen Autonomie, der des (künstlerischen) Subjekts, zu tun haben. Subjektivität, das ist in den vorangegangenen Zeilen bereits implizit ausgedrückt, wird in der folgenden Untersuchung „nicht als ursprüngliche, ewig gleiche Verfassung des Menschen verstanden, sondern als Produkt, als Ergebnis bestimmter Praktiken, durch die er sich selbst zum Subjekt macht“ (Knobeloch 1996, 10). Subjektivitätkonzepte sind dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen, und auch innerhalb dieser historischen Variabilität sind sie den Indivi- duen nicht ‘auferlegt‘. Vielmehr muß die Erwerbung von Subjektivität als ein performativer Akt angesehen werden, als ein Prozeß der Selbstverortung: „Das Individuum handelt nicht nur, sondern es orientiert sich dabei zugleich in einem Feld von Unterscheidungen; es schreibt sich in eine Matrix von Handlungsmöglichkeiten ein, wobei es das Bestehende entweder be- stätigt, verwirft oder modifiziert“ (ebd.). Heinz Knobeloch hat kunstgeschichtliche Texte einer Gruppe möglicher Quellen zur Ausein- andersetzung mit den Subjektkonzepten einer Epoche zugezählt:

„Äußerungen, die sich auf historische Ereignisse, auf wissenschaftliche oder künstlerische Leistun- gen beziehen, haben es nämlich an sich, daß sie dabei auch die Subjektfunktion des Menschen be- rühren und so ein bestimmtes Bild seiner Möglichkeiten und Grenzen entstehen lassen. Meistens geschieht diese Subjektivierung eher beiläufig und unbewußt, manchmal sagt ein Autor seinem Le- ser aber auch ganz explizit, von welchen Bedingungen sein Denken und Handeln abhängig ist (...).“ (Knobeloch 1996, 11)

Den ersten dieser beide Modi, also ein ‘eher unbewußtes‘ Subjektivierungsangebot, ordnet Knobeloch primär wissenschaftlichen und historischen Texten zu, während letzterer eher in philosophischen und theologischen Texten aufzufinden sei, welche „ein normatives Interesse mit ihrer Analyse“ verbänden. Es handle sich jedoch in beiden Fällen der Subjektivierung um „Formen der Verwesentlichung, um Grenzziehungen (...), mit denen das Kontingente und Phänomenale am Menschen vom Konstitutiven und Dauerhaften unterschieden“ würde (ebd.):

„In dieser Hinsicht hat die Subjektivierung Ähnlichkeit mit einem Richterspruch, der verkündet, was der Fall ist oder was zu geschehen hat. Und, was dabei manchmal interessanter ist als der In- halt eines solchen Urteils: In der Regel läßt sie auch erkennen, in welchem Sinne der Urteilende

15 sich selbst als Subjekt versteht, welchen Werten und Zielsetzungen er sich verpflichtet fühlt.“ (Knobeloch 1996, 11)

Die Perspektive, die ich auf die Rembrandtrezeption um 1900 richte, schließt an diese Über- legungen an. Nicht das Individuum des Niederländers aus dem 17. Jahrhundert und seine Subjektvorstellungen interessieren hier, sondern die Subjektivitätskonzepte der zitierten Auto- ren selbst, die aus ihren Entwürfen ‘Rembrandts‘ sprechen. Diese Zielsetzung sollte allerdings nicht ihrerseits als hermeneutische Rekonstruktion des Innenlebens individuell unterschiede- ner Kunsthistoriker mißverstanden werden. Meine Beschreibung ist nicht auf die (bewußten oder unbewußten) Selbstentwürfe der ‘einzelnen‘ Autoren, etwa Wilhelm Bodes, Carl Neu- manns oder Theodor Hetzers ausgerichtet; vielmehr ist es die Auffächerung des Denk- und Sagbaren, die Skizzierung des allgemeinen Rahmens und der Binnenstrukturen des Feldes künstlerischer Subjektkonzeption, der mein Interesse gilt. Kunstgeschichtsschreibung, die sich der Figur des künstlerischen Subjekts widmet, hat Teil an den Prozessen der Formulierung aktueller Modelle von Subjektivität; die Beschreibung des Künstlers in der kunstgeschichtlichen Literatur erfüllt eine Funktion prototypischer Demon- stration von Subjektivität in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Ein Ziel meiner Unter- suchung ist es, die Gültigkeit dieses Satz zu veranschaulichen. Dabei richte ich den Blick nicht auf jene Kunstwissenschaft, die sich der aktuellen künstlerischen Praxis zuwendet, son- dern ausdrücklich auf Kunstgeschichtsschreibung. Aktuelle Subjektkonzepte kommen nicht allein in der Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Künstlern zum Ausdruck. Wie Kno- beloch angesprochen hat, finden sie nicht weniger Niederschlag in den Entwürfen histori- schen Künstlertums, mitunter mag ihre Gestalt gerade in diesen Entwürfen besonders deutlich auszumachen sein. Mit der Figur Rembrandts wird hier die Rezeption eines Künstlers fokus- siert, welcher der überwiegenden Mehrheit der Autoren, die sich zwischen ca. 1850 und 1950 mit ihm auseinandersetzten, als Vorläufer eines ‘modernen Künstlertums‘ erschien. Die Prä- senz dieser Vorstellung vom ‘modernen Rembrandt‘ läßt den Diskurs um diese historische Künstlerfigur für eine Untersuchung der Topik moderner Subjektivität im Bild des Künstlers als besonders geeignet erscheinen.

2.4 Michel Foucaults Beschreibung der „Funktion Autor“

Einen wesentlichen theoretischen Ausgangspunkt der Perspektive meiner Arbeit bilden die Überlegungen zur „Funktion Autor“, die Michel Foucault in seinen Vorträgen Was ist ein Autor?15 und Die Ordnung des Diskurses16 entwickelt hat und die in der Literaturwissenschaft

15 Qu’est-ce qu’un auteur?, zuerst 1969. 16 L’ordre du discours, zuerst 1972. 16 eine grundlegende Revision der Vorstellungen von Autorschaft und „Werkherrschaft“ bewirkt haben.17 Da die folgende Analyse entscheidend auf der Übertragung dieser „Funktion Autor“ auf den Begriff des ‘Künstlers‘ basiert, ist es notwendig, diesen theoretischen Rahmen zu um- reißen.

Ausgangspunkt der Überlegungen Foucaults ist die Feststellung der konstitutiven Bedeutung des Begriffs ‘Autor‘ für die modernen Geisteswissenschaften:

„Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Lite- raturgeschichte, auch in der Philosophie - und Wissenschaftsgeschichte. Selbst wenn man heute die Geschichte eines Begriffs, einer literarischen Gattung oder eines bestimmten Philosophietyps nach- zeichnet, glaube ich, betrachtet man diese Einheiten wohl als relativ schwache, zweitrangige und überlagerte Ordnungsprinzipien verglichen mit der ersten, soliden und grundlegenden Einheit: Autor und Werk.“ (Foucault 1993, 10)

Foucault interessiert sich für die Beschreibung dieses Bezugs Autor-Werk, für die Art, in der das Werk „auf jene Figur verweist, die ihm, wenigstens dem Anschein nach, äußerlich ist und vorausgeht“ (ebd.). Er stellt deshalb die Frage:

„Was ist ein Autorname? Wie funktioniert er?“ (Foucault 1993, 15)

Zunächst stellt Foucault fest, daß der Autorname ein Eigenname sei und die gleichen Pro- bleme stelle wie dieser. Beide hätten einerseits hinweisende Funktion, fungierten also als Ge- ste, als Fingerzeig, zugleich dienten sie jedoch als „Äquivalent für eine Beschreibung“. So würde etwa mit dem Wort „Aristoteles“ ein Äquivalent für Beschreibungen wie „Der Autor der Analytischen Schriften“ eingesetzt (bezogen auf unser Thema: mit dem Wort ‘Rembrandt‘ ein Äquivalent für ‘Der Maler der Nachtwache‘). Autorname und Eigenname liegen also glei- chermaßen „zwischen den beiden Polen der Beschreibung und der Bezeichnung“ (ebd., 15), und doch ist zwischen beiden eine wichtige Unterscheidung zu treffen, denn „die Verbindung des Eigennamens mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autornamens mit dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren nicht in gleicher Weise“ (ebd., 16). Am Beispiel eines beliebig gewählten Eigennamens („Pierre Dupont“) und eines Autor- namens („Shakespeare“) illustriert Foucault die Problematik dieser Unterscheidung:

„Wenn ich zum Beispiel bemerke, daß Pierre Dupont keine blauen Augen hat oder nicht in Paris geboren ist oder nicht Arzt ist, usw., so bleibt es doch dabei, daß dieser Name, Pierre Dupont, sich

17 Foucaults Texte nehmen ihrerseits bezug auf Roland Barthes These vom „Tod des Autors“, die als weiterer Impulsgeber für die fragliche Debatte angesehen werden kann. Für eine ausführliche Diskussion des Zusammen- hangs vgl. Bürger 1998. Zum Begriff der „Werkherrschaft“ siehe Bosse 1981. Für grundlegende Literatur zum Thema vgl. Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 2000. 17 immer noch auf die gleiche Person bezieht (...). (...) aber wenn man bewiese, daß Shakespeare nicht die Sonette geschrieben hat, die man für die seinen hält, so wäre das eine Veränderung anderer Art: sie zieht das Funktionieren des Autornamens in Mitleidenschaft.“ (Foucault 1993, 15)

Infolge dieser Beobachtung eines Unterschieds von Autorname vom Eigenname schlägt Foucault vor:

„(...) ein Autorname ist nicht einfach ein Element in einem Diskurs (...); er hat bezogen auf den Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie ande- ren gegenüberstellen. Außerdem bewirkt er eine Inbezugsetzung der Texte zueinander.“ (Foucault 1993, 17)

Unabhängig davon, ob ein auf bestimmte Werke bezogener Autorname zugleich als Eigen- name auf ein historisch-empirisches Individuum verweist oder nicht, stiftet dieser dennoch einen Zusammenhang zwischen den Texten (bzw. den Werken), er weist darauf hin, daß man zwischen diesen Werken „ein Homogenitäts- oder Filiations- oder ein Beglaubigungsverhält- nis der einen durch die anderen herstellte oder auch ein Verhältnis gegenseitiger Erklärung und gleichzeitiger Verwendung“ (ebd.). Dieser das Werk gleichsam rahmende, einfassende Charakter unterscheidet den Autornamen vom Eigennamen. Der Autorname verweist nicht primär auf ein „reales, äußeres Individuum“, sondern er macht eine Gruppe von Werken als „Ereignis“ sichtbar und erschließt dieser zugleich eine Position, die mit besonderen Formen der Wahrnehmung und Behandlung verbunden ist. Denn die „Funktion Autor“, so Foucault, ist in einer Kultur wie der unseren in einer „bestimmten An- zahl von Diskursen“ präsent, während andere sie nicht haben:

„Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird ei- nen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.“ (Foucault 1993, 18)

Nachdem Foucault auf diese Weise vom Begriff Autor zur „Funktion Autor“ gelangt ist, for- muliert er vier verschiedene Merkmale, durch die sich in unserer Kultur ein Diskurs,18 der Träger dieser Funktion ist, von anderen Diskursen unterscheidet.

18 Foucault verwendet den Begriff ‘Diskurs‘ hier in einem vergleichsweise engen Sinne. Er bezeichnet damit einen Text oder eine Gruppe von Texten, wie sie etwa einem Autor zugeschrieben wird. In anderen Passagen seines Textes (wie auch in anderen Texten) versteht Foucault unter den unterschiedlichen ‘Diskursen‘ innerhalb einer Gesellschaft die Zirkulation von Texten, Aussagen und Praktiken, die sich je nach ihrem gesellschaftlichen Ort voneinander unterscheiden lassen (etwa der Kunstdiskurs, der juristische Diskurs, der politische Diskurs etc.), oder er umfaßt mit dem Begriff ‘Diskurs‘ die Gesamtheit kommunikativer Prozesse. Zum Verständnis der von Foucault vorgestellten Probleme ist eine Reflexion über seine jeweilige Verwendung dieses Begriffes ent- 18 (1) Zunächst wird über die Autorfunktion das Eigentumsverhältnis eines Textes bestimmt. Hier betont Foucault die historischen Unterschiede und die Entwicklung eines Eigentums- rechts für geistige Güter seit dem 18. Jahrhundert.19 (2) Der Wandel der Autorfunktion wird dann im zweiten Merkmal in den Vordergrund ge- rückt. So habe etwa im Mittelalter der Autorname die Autorität eines Textes gewährleistet, „‘Hyppokrates sagte‘, und ‚Plinius erzählt‘ waren nicht nur Formen eines Autoritätsverwei- ses, sondern Indizien für Diskurse, die als bewiesen angenommen werden sollten“ (ebd., 19). Heute entfalte die Autorfunktion dagegen gerade im literarischen Feld ihren vollen Spielraum, in dem sie in früheren Zeiten ohne Bedeutung gewesen sei.20 (3) Relevant für den Zusammenhang unserer Untersuchung erscheint besonders das dritte Merkmal, in dem Foucault den Autor als Konstruktion beschreibt:

„[Die Funktion Autor] bildet sich nicht so spontan, wie man einen Diskurs einem Autor zuschreibt. Sie ist das Ergebnis einer komplizierten Operation, die ein gewisses Vernunftwesen konstruiert, das man Autor nennt.“ (Foucault 1993, 20)

Als Versuche, „diesem Vernunftwesen einen realistischen Status zu geben“, deutet Foucault einige der Strategien, denen wir in der Rembrandtrezeption um 1900 massiv begegnen wer- den: „(...) im Individuum soll es einen ‘tiefen‘ Drang geben, schöpferische Kraft, einen ‘Ent- wurf‘“ (ebd.). Den Legitimitätsanspruch dieser hermeneutischen Bestrebungen, aus dem Werk heraus eine Vorstellung von dessen Schöpfer (Urheber, Künstler, Autor) zu entwickeln, weist Foucault prinzipiell zurück. Statt dessen betont er den konstruktivistischen Charakter derartiger Autor-Entwürfe sowie den Anteil, der dem jeweiligen Exegeten am so entstehenden Autorbild zukommt:

„(...) tatsächlich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt, der Annäherungen, die man vornimmt, der Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüsse, die man macht.“ (Foucault 1993, 20)

Diesseits aller historischen Varianten („man konstruiert einen ‘philosophischen Autor‘ nicht wie einen ‘Dichter‘“, ebd.) beschreibt Foucault dann vier Kriterien der Autor-Konstruktion. Er leitet diese Kriterien aus den Regeln ab, die der Kirchenvater Hieronymus zur Bestimmung der Echtheit kanonischer Texte formuliert hatte. Demnach wird der Autor zugleich als ein- scheidend (vgl. Frank 1988). 19 Vgl. dazu den Exkurs zur juristischen Konzeption des Eigentums in dieser Arbeit, Zweiter Teil, Kap. 2.3.2. 20 Streng genommen bestimmt Foucault in diesem Punkt kein besonderes ‘Merkmal‘, sondern verweist eher allgemein auf die Spannweite der Autorfunktion, was er sowohl durch Beispiele für den historischen Wandel als auch für verschiedenste Qualifikationsbereiche der modernen Gesellschaft belegt. 19 heitliches Wertniveau, als begriffliche und theoretische sowie als stilistische Einheit und schließlich als historischer Zeitpunkt definiert. Diese Authentizitätskriterien werden uns wei- ter unten ausführlich beschäftigen, wenn es um die Originalitätsfrage im Rembrandtdiskurs geht. (4) Als letztes der vier Merkmale der „Funktion Autor“ verweist Foucault auf die „Ego-Plu- ralität“ der Diskurse, die über diese Funktion verfügen. So spräche etwa im Vorwort einer wissenschaftlichen Publikation ein anderes Ego, als jenes, das in den anschließenden Beweis- führungen sage „Ich schließe daraus“ (ebd., 22). Auch im Roman sei es falsch, „wolle man den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher suchen“. Kon- stitutiv sei vielmehr gerade diese „Zersplitterung“ simultaner Egos:

„Die Funktion Autor vollzieht sich gerade in diesem Bruch - in dieser Trennung und dieser Distanz.“ (Foucault 1993, 22)

Durch die Betonung der „Zersplitterung“ in diesem vierten Merkmal tritt Foucault nochmals grundsätzlich den hermeneutischen Tendenzen entgegen, die eine harmonische Schließung der Autorfigur und ihre Identifikation mit einem historisch-empirischen Individuum anstre- ben. An dieser Stelle faßt Foucault die vier „charakteristischen Züge der Funktion Autor“ noch einmal wie folgt zusammen:

„Die Funktion Autor ist an das Rechts- und Staatssystem gebunden, das die Gesamtheit der Dis- kurse einschließt, determiniert, ausdrückt; sie wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Dis- kurse zu allen Zeiten und in allen Kulturformen; sie läßt sich nicht dadurch definieren, daß man spontan einen Diskurs einem Produzenten zuschreibt, sondern dazu sind eine Reihe spezifischer und komplizierter Operationen nötig; sie verweist nicht einfach auf ein reales Individuum, sie kann gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Subjekt-Stellungen Raum geben, die von verschiedenen Gruppen von Individuen besetzt werden können.“ (Foucault 1993, 23)

Die Beobachtung Foucaults, wonach der Begriff Autor der Angelpunkt „für die Individuali- sierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte“ ist, läßt sich mittels einer geringen Modulation auch auf die Kunstgeschichte übertragen. Was in den textorientierten literarischen Diskursen und wissenschaftlichen Disziplinen, die Foucault als Beispiele anführt, unter dem Begriff des Autors gefaßt wird, tritt in kunstgeschichtlicher Literatur unter der Bezeichnung ‘Künstler‘ auf.21

21 In der hermeneutischen Praxis einer Evokation des künstlerischen Subjekts aus dessen Werken lassen sich kaum Unterschiede ausmachen, die aus der divergierenden Werkform des (literarische) Textes oder des Bildes resultieren. Die schriftgebundene Deutung vertextlicht beide Arten von Artefakten. Daß sich Bilder in wider- 20 Innerhalb der von Foucault vorgeschlagenen „Topologie der Diskurse“22 ist die Kunstge- schichtsschreibung - unabhängig davon, ob sie sich wissenschaftlich legitimiert oder nicht - jenen Diskursen zuzuordnen, in denen die „Funktion Autor“ in Gestalt des ‘Künstlers‘ ein konstitutives Element bildet. Das läßt sich allein daran erkennen, daß bis heute der Name des Künstlers unter den ersten Informationen geführt wird, die einem Objekt assistieren müssen, damit es als Kunstwerk wahrgenommen, diskutiert und (auch im ökonomischen Sinne) be- wertet werden kann. Diese Notwendigkeit gilt auf den verschiedenen Ebenen des Kunstdis- kurses in vergleichbarer Weise, sei es nun in der wissenschaftlichen Forschung, in der muse- alen Präsentation, in der populären Kunstpublizistik oder auf dem Kunstmarkt. Dabei muß der jeweilige Autorname keineswegs mit dem Eigennamen eines empirisch nach- gewiesenen historischen Individuums übereinstimmen. Aber ein Name ist notwendig. So be- dient sich etwa kunsthistorische Forschung gezielt fiktiver Namen, um unbezeichnete Werke, deren Produzenten sich aus keinen Quellen personifizieren lassen, dennoch einem Individuum zuzuschreiben, etwa dem ‘Meister von Flémalle‘, oder dem ‘Schüler Nr. 2‘ in Giottos Arena- kapelle. Die Zuschreibung von Werken an ihre Autoren ist, um 1900 wie heute, eines der we- sentlichen Programme der kunstgeschichtlichen Disziplin. Kann ein Werk lediglich einer ‘Schule‘ oder dem ‘Umfeld‘ eines Meisters zugeschrieben werden, so gilt dies als ein unbe- friedigender Zustand, dessen Korrektur angestrebt wird. Versuche, diesen Zustand durch neue Hypothesen zu beenden, bedürfen keiner weiteren Legitimierung, sie erfreuen sich vielmehr der Übereinstimmung mit einer der grundsätzlichen Zielsetzungen des Faches.23 Wie der Begriff ‘Künstlername‘ bereits signalisiert, verfügt gerade der Bereich der Kunst über einen engen Bezug zu fiktionalen Entwürfen von Autorsubjekten. Dieser Begriff bezeichnet sprüchlichere Deutungen einbinden ließen, da ihre Übertragung in die Textform gänzlich dem jeweiligen Inter- preten überlassen bleibe, ist einen unbestätigte Behauptung. Gleiches gilt für die Beobachtung, Werke der bil- denden Kunst würden nachdrücklicher in den Status absoluter Kunstwerke erhoben, da ihre ästhetische Gestalt nicht ohne wesentliche Verluste in Text übersetzt werden könne. 22 Foucault 1993, 29. Hier wird der Diskursbegriff in einem weiteren Sinne verwendet. Er bezeichnet nicht nur einzelne Texte oder Äußerungen eines Autors, sondern ein breites Feld von Kommunikationen, welches sich durch inhaltliche oder formale Merkmale von anderen Feldern unterscheidet. Dabei kommt es jedoch nicht zu einer hermetischen Schließung einzelner Diskurse; vielmehr läßt sich gesellschaftliche Kommunikationen mit diesem einfachen, flexiblen Modell als Schichtung verschiedener, mehr oder weniger durchlässiger Diskurs- ebenen beschreiben. Als ‘Diskurse‘ wären so zum Beispiel die innerdisziplinären Kommunikationen einer wis - senschaftlichen Disziplin zu bezeichnen, während der ‘Rembrandtdiskurs’ nicht durch disziplinäre Grenzen, sondern durch die inhaltliche Ausrichtung auf den Gegenstand ‘Rembrandt‘ einzugrenzen wäre. Sofern es nicht anders gekennzeichnet ist, verwende ich den Begriff ausschließlich in diesem Sinne. Da mein Untersuchungs- material auf Schriftquellen beschränkt ist, kann meine Verwendung des Diskursbegriffs zudem speziell auf Textkommunikation eingegrenzt werden. Mit dieser pragmatischen Entscheidung soll jedoch nicht prinzipiell Foucaults späterem, umfassendem Verständnis des gesellschaftlichen ‘Diskurses‘ als Gesamtheit kommunikati- ver Praktiken widersprochen werden, das allgemein auf die Mechanismen der gesellschaftlichen Ordnung und der Machtverteilung ausgerichtet ist und dabei, über fixiertes Schrifttum hinausgreifend, neben den imaginären Leitbildern oder „Doxa“ (Bourdieu) einer Gesellschaft auch deren Institutionen und ritualisierte Praktiken um- faßt. 23 Im Bezug auf ihre Ordnungsfunktion sind auch die überindividuellen Kategorien der Künstlergruppen und der Stilbezeichnungen eng mit der Funktion Autor verwandt, ein Phänomen, das einer näheren Untersuchung Wert wäre. 21 den Typus des bewußt eingesetzten fiktiven Namens, der als Maskierung, als demonstrative Kennzeichnung (etwa als ‘telling name‘), beziehungsweise als Markenkennzeichnung eines Künstlers in der Öffentlichkeit entworfen wird. Er verweist somit auf die prinzipielle Diffe- renz zwischen dem historisch-empirischen Subjekt und dem Subjekt der Diskurse. Die Un- terscheidung zwischen Künstlernamen und Eigennamen veranschaulicht, daß wir es hier mit zwei von einander unabhängigen Qualitäten von Namen zu tun haben. In dieser Weise sei auch die Bezeichnung ‘Rembrandt‘ im folgenden als ein Künstlername verstanden und gänz- lich von Fragen nach einem historisch-empirischen Individuum dieses Namens abstrahiert. Tatsächlich ist für meine Untersuchung nicht relevant, in welcher Weise die Fragen nach der einstmaligen Existenz eines solchen Individuums namens Rembrandt zu beantworten sein mögen. Allein auf dessen fiktionales Nachleben, also auf den diskursiven Gegenstand ‘Rem- brandt‘ ist hier das Interesse gerichtet.

Die niederländische Literaturwissenschaftlerin Mieke Bal hat, mit Bezug auf Foucault, in ih- rem Buch Lezen in „Rembrandt“ („Rembrandt“ lesen) den Künstlernamen konsequent in An- führungszeichen gesetzt, um die Tatsache der Fiktionalität einer so bezeichneten Figur be- wußt zu halten. „Rembrandt“, so argumentiert Bal, sei weniger eine historische Realität als ein „kultureller Text“ (Bal 1991, 8). Damit liefert sie zugleich eine Charakterisierung dessen, was ich als ‘diskursives Feld der Rembrandtrezeption‘ zum Untersuchungsgegenstand ma- chen möchte:

„‘Rembrandt‘ ist das Bild von Rembrandt, das in unserer Kultur lebt und das besteht aus allen Werken, den Erzählungen darüber, den Bildbänden, die in den Läden und Bibliotheken liegen, Aspekten wie dem charakteristischen Lichteffekt und dem groben Pinselstrich der späten Werke. (...) Es ist ein Bild, mit welchem die Mitglieder einer Kultur leben und das stets aufs Neue fortge- schrieben wird durch die Begegnung von Personen mit Dokumenten (...).“ (Bal, zit. nach Bruin 1995, 22)24

3 Die drei Teile und ihre methodischen Unterschiede

Die Arbeit ist in drei Teile untergliedert, die sich zum Teil in der historischen und topographi- schen Eingrenzung ihres Untersuchungsmaterials, zum Teil in dem methodischen Zugriff auf

24 „‘Rembrandt’ is het beeld van Rembrandt dat in onze cultuur leeft, en dat bestaat uit alle werken, de verhalen erover, de platenboeken die in de winkels en bibliotheken liggen, aspecten als het karakteristieke lichteffect en de grove penseelstreek van de latere werken. (...) Het is een beeld waarmee de leden van een cultuur leven, en dat steeds opnieuw wordt voortgebracht door de ontmoeting van personen met documenten (...).“ (Bal, zit. nach Bruin 1995, 22).

22 dieses unterscheiden. Diese methodische Differenzierung soll eine poly-perspektivische Sicht auf den Untersuchungsgegenstand ermöglichen und damit die Frage nach der angemessenen Methodik weniger dogmatisch beantworten als aktiv problematisieren.

Der erste Teil dient einer Einführung in das Problemfeld der modernen Rembrandtrezeption. Dabei sollen sowohl die im wesentlichen klassizistisch bestimmte Vorgeschichte der moder- nen Positionen als auch die zentralen inhaltlichen Fragen, die gesellschafts- und kulturpoliti- schen Kontexte und nicht zuletzt der internationale Charakter der neuen Perspektive auf Rembrandt und die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts erkennbar werden. Dies soll mittels einer Darstellung von vier Texten aus den 50er Jahren des 19. Jahrhunderts geleistet werden, einer Phase, die ich als die ‘erste Phase der modernen Rembrandtrezeption‘ be- zeichne, da sich in ihr ein verändertes Bild dieses Künstlers, vielleicht darüber hinaus ein ver- ändertes Bild vom Künstler überhaupt, abzeichnet. Neben zwei französischen Autoren kom- men ein niederländischer und ein deutscher Autor zur Sprache, deren Texte jedoch in Paris geschrieben oder dort publiziert wurden. In der Analyse werden zentrale Topoi der Rem- brandtliteratur vorgestellt, darüber hinaus wird die Präsenz der aktuellen Probleme der Kunst- debatten und Rembrandts Positionierung in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen beschrieben. Mit diesem ersten Teil, der auf einzelne Autoren und ihre Texte ausgerichtet ist, soll eine Grundlage für die zentrale Untersuchung geschaffen und zugleich auch deren Pro- blematik angedeutet werden.

Diese Untersuchung wird dann im zweiten Teil durchgeführt, der das Kernstück der Arbeit bildet. In synchroner Perspektive wird hier eine systematische Beschreibung des Rembrandt- bildes der deutschen Rezeption in den Jahrzehnten um 1900 (ca. 1880 - 1950) unternommen. In diesem Zeitraum, den ich als ‘zweite Phase‘ der modernen Rembrandtrezeption bezeichne, steht die Topik des autonomen Künstlersubjekts im Mittelpunkt. Es geht mir darum, die Be- standteile der damit verbundenen Konzeption Rembrandts als eines ‘Prototyps‘ des modernen Künstlers detailliert nachzuzeichnen. Anschließend wird nach theoretischen Modellen für die Funktion dieser diskursiven Erscheinung gefragt. Da sich der zweite Teil methodisch in wichtigen Punkten vom ersten Teil unterscheidet, werde ich ihm einige theoretische Überlegungen voranstellen. So wird die bereits angespro- chene Phaseneinteilung und ihre genauere chronologische Eingrenzung zu klären sein. Au- ßerdem ist die Vorstellung von der Literatur der zweiten Phase als ‘diskursives Feld‘ zu er- läutern, die dem zweiten Teil der Untersuchung zugrunde liegt. Eine kurze Chronologie und ein Vergleich der zwei voneinander unterschiedenen Phasen werden diesen einleitenden Ab- schnitt ergänzen.

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Der dritte und letzte Teil bietet zugleich die Anwendung der Beobachtungen der zentralen Untersuchung sowie deren Rückbindung an den ersten Teil der Arbeit. In zwei rezeptionsge- schichtlichen Fallstudien soll das diskursive Feld der modernen Rembrandtrezeption am Fa- den einzelner Topoi chronologisch durchschritten werden. Aus der größeren Zahl geeigneter Themen habe ich mich für die Ablehnung der Nachtwache als Ursprungsmythos der künstle- rischen Autonomie sowie für die Stilisierung der Selbstbildnisse Rembrandts zur ‘Autobio- graphie‘ entschieden.

Ich komme also nun zunächst auf einige Textbeispiele aus dem Zeitraum zu sprechen, in wel- chem sich jene Veränderung des Rembrandtbildes vollzieht, die als Voraussetzung für die Bedeutung und die diskursive Gestalt dieses Künstlers in der deutschen Kunstliteratur um 1900 angesehen werden kann: auf die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts.

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Erster Teil

Rembrandts Anwälte. Die Verteidigungsrede als Modus der Neubewertung um 1850

25 26

1839 lobte die Holländische Gesellschaft der freien Künste und Wissenschaften (Hollandsche Maatschappij van Fraaije Kunsten en Wetenschappen) einen Preis für eine Lobrede auf Rem- brandt aus. Als Sieger ging der Gelehrte Johannes Immerzeel jr. aus diesem Wettbewerb her- vor.1 In seinem Vortrag stellte der Träger der Ehrenmedaille fest, daß seine Lobrede im we- sentlichen den Charakter einer Verteidigungsrede habe, da die vorherrschenden Meinungen weder der Kunst noch der Person Rembrandts die gebührende Ehre erweisen würden. Obwohl Immerzeels Darstellungen selbst weitgehend im Rahmen des klassizistisch-tradierten Rem- brandtbildes verblieben,2 bestimmte er mit dieser Aussage zutreffend die Position, von der aus die Neubewertung des holländischen Künstlers in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte. Fürsprache für Rembrandt, wie für die niederländische Kunst des 17. Jahrhunderts insgesamt, erfolgte um 1850 im Modus der Gegenrede. In einer Haltung, wie sie in Immerzeels Äuße- rung exemplarisch vorgeführt ist, werden zunächst einmal die eigenen Aussagen legitimiert: Sie gelten als angemessene Wiedergutmachungen für erlittenes Unrecht. Diese Legitimation vollzieht sich in einem Schritt der Abgrenzung gegen ältere Aussagen, denen dabei eine ne- gativ bewertete Position zugewiesen wird. Mit dem Beginn der Lobreden auf Rembrandt wurde somit zugleich die Vorstellung in Kraft gesetzt, die klassizistische Kunstliteratur habe diesen Meister verkannt und ihm bewußt jene Stellung in der Kunstgeschichte vorenthalten, die ihm gebühre.

Ausgehend von dieser Beobachtung wird nun versucht, die erste Phase der modernen Rem- brandtrezeption durch die Vorstellung typischer Beispiele derartiger ‘Verteidigungsreden‘ zu veranschaulichen. Es ist dabei keine erschöpfende Beschreibung intendiert, da der Schwer- punkt der gesamten Arbeit auf der deutschen Literatur um 1900 liegt. Das in diesem ersten Teil zu erschließende Material bildet jedoch in mehrfacher Hinsicht den historischen Hori- zont, vor dem sich die zentralen Fragen der Untersuchung erst erhellen lassen. Zunächst wird deshalb die Aufgabe darin bestehen, das Feld zu skizzieren, das mit der neuen Sicht auf den niederländischen Künstler in der Mitte des 19. Jahrhunderts bestimmt wurde. Neben den be- schriebenen Konsequenzen der Selbstpositionierung der ‘Anwälte Rembrandts‘ auf die Ein- schätzung früherer Rezeptionsphasen werden dabei besonders die gesellschaftspolitischen

1 Vgl. Scheltema (1866, 8) und Immerzeel (1843, 12). 2 Immerzeel würdigt Rembrandt im Rahmen der traditionellen Unterscheidung zwischen ‘natürlichem Genie‘ und ‘gelehrtem Genie‘: „Geene letterkundige opvoeding had hem den toegang tot den tempel der wetenschappen geopend; geene opleiding van uitmuntende meesters was hem in de kunst ten deel gevallen; voor hem had nooit Italië hare tresoren (...) geopend; schier alle beschreven wetten in het gebied van het schoone waren hem een verzegeld boek gebleven; doch van jongsop had hij oog en geest gewend te lezen in het boek der natuur, dat altijd geopend ligt voor de scherpzinnigen, aan wie het uit kracht eener hoogere roeping vergund is haar schrift te leeren verstaan en tot den diepsten zin harer orakelen door te dringen.“ (Immerzeel 1843, 10). Zur Geschichte dieser Unterscheidung vgl. Emmens 1968. 27 Implikationen der jeweiligen Vorstellungen von Kunst und Künstlertum Beachtung finden. Denn die Umgestaltung des Rembrandtbildes und die Umwertung seiner Bedeutung geschah nicht ausschließlich um des Niederländers Willen. Sie diente darüber hinaus der Plausibilisie- rung aktueller kultur- und gesellschaftspolitischer Konzepte, die in Opposition zu etablierten Vorstellungen standen. Als Kommunikationsgegenstand für solche Inhalte bot sich Rem- brandt aufgrund der Position an, die ihm aus der Rückschau innerhalb des traditionellen Wertesystems akademischer Kunst zugeschrieben werden konnte.

Als Beispiele der ‘Verteidigungsschriften‘ möchte ich vier Texte aus jener Phase der Rezepti- onsgeschichte vorstellen, in der es an verschiedenen Orten und aus verschiedenen Gründen zu einer wirksamen Revision der Bewertung Rembrandts kam: (1) Aus Anlaß der Errichtung des Rembrandt-Denkmals in Amsterdam hielt der Archivar der Provinz Nord-Holland, Paul Scheltema, im Mai 1852 eine Rede über Leben und Verdienste des Künstlers; (2) in der fran- zösischen Zeitschrift Revue des Deux Mondes beschäftigte sich der Literatur- und Kunstkriti- ker Gustave Planche im Juli 1853 ausführlich mit der selben Thematik; und ein gleiches tat (3) 1854 der in Paris lebende deutsche Kunstgelehrte Eduard Kolloff in Raumers Histori- schem Taschenbuch. Diese drei Texte, ursprünglich im Zeitraum von drei Jahren erschienen und in drei verschiedenen Sprachen verfaßt, künden von einer bemerkenswerten Gleichzeitig- keit, und doch unterscheiden sie sich in markanter Weise. Indem ihre jeweiligen Positionen herausgearbeiten werden, läßt sich das Problemfeld der Neubewertung Rembrandts skizzie- ren, wie es sich um die Jahrhundertmitte darstellte. (4) Ein Blick auf die 1858 und 1860 pu- blizierten Bände der Musées de la Hollande von Théophile Thoré (alias William Bürger) wird diese Darstellung ergänzen.

1 Paul Scheltema (1852) und der bürgerliche Nationalstolz

Das Jahr 1852 könnte mit guten Gründen als der Zeitpunkt bestimmt werden, an dem eine Wende des Rembrandtbildes erkennbar wird. Einer dieser Gründe ist die Enthüllung des Rembrandt-Denkmals in Amsterdam, die ein sichtbares Zeichen für die Sonderstellung setzte, die Rembrandt unter den niederländischen Künstlern des 17. Jahrhunderts nunmehr zugewie- sen wurde. Der zweite und in der Folgezeit sicherlich bedeutsamere Grund liegt in den Ergeb- nissen der Quellenforschungen, die der Archivar Paul Scheltema in einer Festrede am Vor- abend der Denkmalsenthüllung erstmals der Öffentlichkeit vortrug. Scheltema stellte sein Tun in den Kontext des bevorstehenden Ereignisses und begründete es damit, daß zum respekt- vollen Umgang mit dem Erbe des Künstlers neben der Ehrung seiner künstlerischen Leistun- gen auch die Erforschung und angemessene Darstellung seiner Lebensumstände zähle:

28 „Man hätte einigen Grund, unsere Nation der Gefühllosigkeit zu bezichtigen, zumindest könnte man an der Wärme unseres nationalen Empfindens zweifeln, würden wir uns angesichts der Wür- digung von Rembrands Talent nicht im geringsten um die Person desjenigen bekümmern, der seine schönen Werke in unserem Heimatland ausführte und ebendort seine letzte Ruhestätte fand.“ (Scheltema 1866, 1 f.)3

Schon damals war es kein Geheimnis, daß Rembrandts bronzenes Abbild auf dem Boterplein eine Antwort auf die Enthüllung des Rubens-Standbildes in Antwerpen von 1840 darstellte. Als fernes Echo mag auch die gleichzeitige Errichtung des Nürnberger Dürer-Denkmals nachgewirkt haben (Boomgaard 1995, 19). Das Bekenntnis zu den patriotischen Intentionen dieser Denkmalsstiftungen war ebenso öffentlich, wie die Denkmale selbst. Die gefeierten Künstler waren Ausdruck des Nationalstolzes und wurden zu Personifikationen nationaler Identität erhoben:

„Ja, Rembrand war ein Holländer im wahrsten Sinne des Wortes, und wenn Belgien sich seines Rubens rühmen kann, Italien seines Titian und seines Michelangelo, wir anderen Holländer, wir sind stolz darauf Rembrand unseren Landsmann zu nennen.“ (Scheltema 1866, 2)4

Dieses Interesse vertrug sich nicht mit dem zwiespältigen Bild der Person Rembrandts, wie es sich, trotz verschiedener Korrekturansätze in der ersten Jahrhunderthälfte,5 in den vorhande- nen biographischen Darstellungen zeigte. Einerseits wurde dort die künstlerische Potenz des Holländers uneingeschränkt als beispiellos gefeiert, und er stand unangefochten als ‘Haupt‘ der niederländischen Schule fest.6 Andererseits war der kunsthistorische Stellenwert der Ma- lerei des 17. Jahrhundert umstritten, und das wirkte sich auch auf die Würdigung Rembrandts aus. Die geläufigen Schilderungen von Rembrandts Charakter standen in der Tradition klas- sizistischer Vitenschreibung. Ihre Darstellungen von Leben und Wesensart Rembrandts be- dienten sich der Variation von Aussagen, die letztlich auf klassizistische Autoren zurückge- hen, als deren Vertreter zum Beispiel Baldinucci, Sandrart und Houbraken zu nennen sind.7 Die Werke dieser Autoren und der daraus entstandenen Tradition bezeugen eine Vorstellung

3 „On aurait quelque motif d’accuser de froideur notre nation, en tout cas on pourrait douter de la chaleur de notre sentiment national, si, à l’occasion de l’hommage rendu au talent de Rembrand, nous ne nous occupions aucunement de la personne même (...) qui a éxécuté ses belles œuvres dans notre patrie, et qui y a trouvé sa der- nière demeure.“ (Scheltema 1866, 1 f.). Mit einem unpräzisen Hinweis auf ältere Autoren begründet Scheltema die ungewöhnliche Schreibweise des Künstlernamens (ebd., 1866, 4), die keine Nachfolger fand. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß ich hier, wie auch bei allen folgenden Zitaten, auf jede Form aktualisierender Angleichungen, Korrekturen oder Hinweise auf irritierende Rechtschreibung verzichte. 4 „Oui, Rembrand était un Hollandais dans tous le sens du mot, et, si la Belgique peut se vanter de son Rubens, l’Italie de son Titien et de son Michel-Ange, nous autres Hollandais, nous sommes fiers de nommer Rembrand notre compatriote.“ (Scheltema 1866, 2). 5 Ein Teil der Scheltema-Quellen war bereits verschiedentlich publiziert worden (vgl. Thoré 1866). 6 Vgl. zum Beispiel Wilson (1836, 23), Kugler (1837, 176) und Immerzeel (1843, 9). 7 Zur ausführlichen Darstellung vgl. Slive 1953, Emmens 1968 und Grijzenhout/van Veen 1992. 29 von biographischer Literatur, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts auf zunehmendes Unver- ständnis stieß. Mündliche oder schriftliche Überlieferungen zur Person des Künstlers bilden durchaus eine ihrer Quellen. Formgebend wirkt jedoch ein Verständnis des Künstlertums, das durch ein Studium antiker und renaissancistischer Vorbilder der Vitenschreibung geprägt ist.8 Die Darstellung des Charakters eines Künstlers ist dabei primär als eine belehrende Erzählung zu verstehen, deren Inhalte wesentlich von der Beurteilung des Stellenwerts der jeweiligen künstlerischen Leistung nach dem Maßstab des klassizistischen Regelsystems abgeleitet wer- den. Die Holländer sind hier aufgrund ihrer bevorzugten Bildmotive als Stilleben-, Land- schafts-, oder Genremaler eingestuft. Dieser Zuweisung ihrer Kunstproduktion zu - im klassi- zistischen Verständnis - niederen Gattungen folgte eine entsprechende Charakterschilderung. Neben der Gattungsfrage war noch ein zweites Kriterium wirksam. Die klassizistischen Kunstregeln, die an den Akademien vor allem im 18. Jahrhundert tonangebend waren, erho- ben die Ästhetik der Renaissance und der darüber mitrezipierten Antike zum Ideal und deren Befolgung zum Beleg eines gelehrten Künstlertums. Aus dieser Perspektive mußte die ‘nie- derländische Schule‘ des 17. Jahrhunderts, die diesem Schönheitskanon nicht entsprach, als ungebildet gelten. Dieser Einstufung folgte etwa die Charakterisierung Rembrandts als eines skurrilen Sonderlings, der sich gerne mit den niederen Schichten der Gesellschaft umgab, die Ausbildung seiner Schüler mit gänzlich unakademischen Methoden betrieb, das Studium der Natur über jede künstlerische Tradition stellte und zu dessen herausragenden Wesenszügen der Geiz zählte.9 Zur Erklärung der, aus klassizistischer Sicht, irregulären Bildgestaltung so- wie zur Veranschaulichung von typischen Merkmalen des unzureichend gebildeten ‘natürli- chen Genies‘ diente eine Anzahl pointierter Anekdoten, die Muster aus knapp 2000 Jahren Vitentradition variierten. Zur Typik des Künstlers zählte dabei unter anderem der Ideenreich- tum, der sich auch in verbaler Schlagfertigkeit ausdrückt, die technische Brillanz, aus der die Fähigkeit zum Augentrug erwächst und - in Verbindung damit - eine besondere Lust an der Täuschung, eine Begabung zur List sowie das Vergnügen an ihrem Gelingen, das sich in ei- nem spezifischen Humor äußert. Daneben stehen allerdings Eigenschaften wie Talent und Fleiß, die auch dem bürgerlichen Tugendkanon des 19. Jahrhunderts entsprachen.10 Die niedrige Einstufung der Niederländer in der Werteskala der klassizistischen Kunstkritik diente den anti-akademisch orientierten Autoren der Jahrhundertmitte als Moment der Ab- grenzung. Das ältere Urteil wurde dabei in verabsolutierender Weise als ‘Verkennung‘ oder

8 Kris/Kurz 1934; konkret zu Rembrandt: Emmens 1968. 9 Wie bereits angedeutet, wäre es unsachgemäß, diese klassizistische Konzeption als eine ausschließlich negative Bewertung zu verstehen. Die Unterscheidung zwischen gelehrtem und natürlichem Genie beinhaltet zwar eine Rangordnung zuungunsten des letzteren, würdigt aber dennoch bis zu einem gewissen Grade dessen Leistungen. 10 Diese Ambivalenz führte zu dem Phänomen, daß ein klassizistischer Autor, etwa Houbraken, in Texten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts innerhalb eines Satzes als Quelle verworfen und zum Zeugen erhoben werden konnte (vgl. auch den folgenden Abschnitt). 30 ‘üble Nachrede‘ dargestellt, was die Notwendigkeit einer Rehabilitierung des derart behan- delten Künstlers zusätzlich plausibel erscheinen ließ.11 Die Verwendung von Anekdoten gilt den Kritikern der traditionellen, klassizistisch geprägten Künstlerbiographik als Beleg für eine unangemessene dichterische Darstellung der histori- schen Verhältnisse. Anstelle der literarischen Überlieferung dient ihnen das Konzept einer historischen ‘Wahrheit‘ als Legitimation ihrer Aussagen.12 Dieser Widerspruch gegen die Traditionen kann mit dem Konflikt zwischen idealistischen und realistischen Konzepten, ei- nem akuten Thema im Streit der künstlerischen Stile dieser Zeit, in Verbindung gebracht wer- den. Die Komplexität dieser geistesgeschichtlichen Kontexte muß berücksichtigt werden, um die Reichweite der Aussagen Paul Scheltemas zu ermessen, wenn dieser beispielsweise nicht bloß die Lebensdaten, sondern auch die Wesenszüge seines gelobten Landsmannes ‘bereinigen‘ will:

„Ich habe nicht nur vom Leben Rembrands gesprochen, sondern auch von seinem Charakter, und ich habe mich bemüht, ihn von dem Tadel zu befreien, der zu Unrecht auf ihm lastet.“ (Scheltema 1866, 2)13

Der Konflikt zwischen der schmuckreich erzählenden Literaturform der biographischen Tra- dition und den neu definierten Ansprüchen an eine Fundierung der Darstellungen auf ‘objek- tiven‘ historischen Tatsachen war elementar. Die teilweise vehementen Angriffe auf die älte- ren Autoren, die sich besonders auf die Praxis der Anekdotik konzentrieren, legen davon

11 Bereits Emmens hat auf die Unzulässigkeit dieser vereinfachenden Negativdarstellung des Klassizismus hin- gewiesen und dabei besonders vor dessen Gleichsetzung mit dem Akademismus gewarnt: „One cannot apply the terms of the 19th-century dichotomy between academic rules and romantic freedom from rules to the 17th-cen- tury conflict between ‘the infallible rules of art’ of the classicists and the freedom enjoyed by the Unlearned Painters. For one thing, 19th-century academicism is reactionary, while 17th-century classicism is progressive.“ (Emmens 1968, 193). An dieser Stelle sei auch angedeutet, daß diese beiden unterschiedlichen Kunstkonzepte des akademischen Traditionalismus und des modernen Progressivismus mit entsprechenden politischen Kon- zepten verknüpft werden können (womit jedoch nicht die Polarität ‘konservativ vs. progressiv‘ in der bürgerli- chen Gesellschaft gemeint ist). Akademische Kunstregeln lassen sich vielmehr als Bestätigungsform der hierar- chischen Ordnung des ihnen zeitgenössischen stratifikatorischen Gesellschaftssystems verstehen, während der mo derne Anspruch auf ‘Freiheit der Künste‘ Entsprechungen zur funktionalen Differenzierung der modernen Ge sellschaft aufweist (vgl. Luhmann 1995, Kapitel 4, besonders die Abschnitte I und VI). 12 Der niedrigen Einstufung der Niederländer lag ein normatives Urteil zugrunde. Deshalb war es unwesentlich, daß der ‘Regelverstoß‘ Rembrandts bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert, also ‘avant la lettre‘, vor der Formulierung der klassizistischen Regeln, erfolgt war. Die Kritiker dieser Regelkunst, hier in Gestalt der ‘An- wälte Rembrandts‘, verfahren mit ihren Vorgängern in gleicher Weise: Sie fragen nicht nach den Motivationen der älteren Autoren, sondern bezichtigen diese auf Basis der aktuellen Urteilskriterien ihrerseits des Regelversto- ßes. Ihnen gilt die betont literarische Form der Vitenschreibung als unangemessen, als gezielte Verfälschung von Tatsachen. Symptomatisch belegt durch den erzählerischen Charakter der Anekdote, sehen sie dichterische Stra- tegien am Werk, wo ihrer Meinung zufolge nach Wahrheit zu suchen sei. 13 „J‘ai parlé non-seulement de la vie de Rembrand, mais aussi de son caractère, et j’ai tâché de le disculper du blâme qui pèse à tort sur lui.“ (Scheltema 1866, 2). 31 Zeugnis ab. Der neue Anspruch klingt an in Théophile Thorés Würdigung der Schrift Schel- temas anläßlich ihrer Neuauflage von 1866:

„Alles, was man heute über Rembrandt weiß , ist dargestellt, freilich in kurzer Form, und, wenn man so sagen darf, dokumentarisch.“ (Thoré 1866, X)14

In dieser Äußerung wird einerseits dezent der Wunsch nach einer ausführlicheren Darstellung des vorhandenen Wissens deutlich,15 zugleich steht aber fest, daß ein solches Projekt eine ‘dokumentarische‘ Basis besitzen sollte. Dieser Anforderung entspricht Scheltemas Buch schon allein quantitativ in überzeugender Weise, da weit mehr als die Hälfte seines Umfanges dem Abdruck historischer Dokumente gewidmet ist. Die Bereitstellung der Quellen, Grund- lage für eine Neubewertung Rembrandts in den folgenden Jahrzehnten, begleitet der holländi- sche Archivar durch eine Charakterskizze des Künstlers, die als Widerlegung der geläufigen Darstellungen angelegt ist. Die Motivation, die dieser ‘Verteidigung Rembrandts‘ zugrunde liegt, werde ich nun an zwei Beispielen veranschaulichen: an der Diskussion von Rembrandts privatem Umfeld und an der Auseinandersetzung mit einer beliebten Anekdote, der Heureux voyage de Rembrandt.

1.1 Rembrandts privates Umfeld

Als Beispiel für die Einschätzung der privaten Verhältnisse Rembrandts gemäß der Vitentra- dition sei die Kurzfassung zitiert, in der sich Georg Kaspar Nagler (1843) zur Ehegattin des Künstlers äußert:

„Die Wohnung des Meisters teilte jetzt eine speculative Hausfrau, eine artige wohlbeleibte Bäuerin seiner Gegend.“ (Nagler 1843, 4)

Mit dem Adjektiv ‘speculativ‘ kennzeichnet Nagler bereits selber das Fehlen genauerer In- formationen über die fragliche „Bäuerin“. Die Fortsetzung des Zitates macht deutlich, in wel- chen Erzählzusammenhang diese Aussage gestellt wird:

„Um vornehme Gesellschaft hatte er sich nie bekümmert und vergebens bemühte sich der Bürger- meister Six, den Künstler aus seiner gemeinen Umgebung zu ziehen. Er ging nur mit dem Pöbel um, und entschuldigte diess damit, dass er sagte, er suche in seinen Mussestunden nicht Zwang bei den Grossen, sondern Freiheit, wo er sie finde.“ (Nagler 1843, 4)

14 „Tout ce qu’on sait aujourd’hui sur Rembrandt est là, dans une forme succincte, à la vérité, et, si l’on peut ainsi dire, documentale.“ (Thoré 1866, X). 15 Thoré plante selbst eine Rembrandt-Monographie, zu der es jedoch nicht kam. 32 Von der bäuerlichen Herkunft und Erscheinung der „Hausfrau“ leitet Nagler also zu der ge- wöhnlichen Gesellschaft über, deren Umgang Rembrandt gepflegt habe. Diese Aussage zählt, mitsamt der als Zitat ausgewiesenen Begründung des Künstlers, zum topischen Bestand älte- rer Biographien. Sie läßt sich bis zu dem 1699 in Paris publizierten Abregé de la Vie des Peintres von Roger de Piles zurückverfolgen, wo es nach kurzem Verweis auf Rembrandts Heirat heißt:

„Obwohl er über gute Fähigkeiten verfügte und sich ein großes Vermögen erworben hatte, verlei- tete ihn seine Neigung zum Umgang mit Leuten von niederer Herkunft. Einige Personen, die sich um seinen Ruf sorgten, wollten mit ihm darüber sprechen; wenn ich meinen Geist entspannen will, sagte er ihnen, ist es nicht die Ehre, sondern die Freiheit, die ich suche.“ (Roger de Piles 1699, zit. nach Emmens 1969, 80) 16

In einer typischen Topos-Variation treten bei Nagler die ‘besorgten Personen‘ unter dem Na- men des Jan Six auf, des (späteren) Bürgermeisters von Amsterdam, der von Rembrandt mehrfach porträtiert worden war. Die Erläuterung des Künstlers zu seinem Desinteresse an gehobener Gesellschaft wird, ebenfalls leicht variiert, aus der älteren Literatur übernommen. Dieser vermeintlich originären Äußerung Rembrandts wurde, im Gegensatz zu anderen anek- dotisch überlieferten ‘Zitaten‘, noch in der modernen Rezeption eine gewisse Achtung entge- gengebracht. So verwendet sie zum Beispiel Wilhelm Bode zur Charakterisierung Rem- brandts (Bode 1905, 16).17 Jan Emmens beklagt 1969, der Ausspruch werde „noch in der heutigen Rembrandtliteratur als ein authentischer (...) zitiert“18 und verbannt ihn zugleich ins Reich der Legenden. Eine reizvolle Schlußfolgerung zog Wilhelm Lübke, der 1877 ebenfalls noch von der Authentizität des Zitates ausging:

„Vielleicht hat er [Rembrandt, M.H.] Gratians Regeln der Lebenskunst gekannt, denn der sagt ir- gendwo: Es ist gut mit hervorragenden Personen zu verkehren, um so wie sie zu werden; aber wenn man das geworden ist, muß man sich zum Mittelmäßigen halten. Und er gab als Grund an: Wenn ich meinen Geist ausspannen will, dann suche ich nicht Ehre, sondern Freiheit.“ (Lübke 1877, 218)

Dank dieses Hinweises dürfen wir vermuten, daß hier tatsächlich jemand Gratians Regeln der Lebenskunst kannte, sei es Rembrandt, sei es Roger de Piles.19

16 „Quoy qu’il eut un bon Esprit et qu’il eût gagné beaucoup de bien, son penchant le portoit à converser avec des gens de basse naissance. Quelques personnes qui s’intéressoient à sa réputation luy en voulurent parler, quand je veux d’élasser mon Esprit, leur dit-il, ce n’est pas l’honneur que je cherche c’est la liberté.“ (Roger de Piles 1699, zit. nach Emmens 1969, 80; vgl. auch Slive 1953, 217). Emmens stellt diesen Ausspruch in den Kontext des Libertinismus des 17. Jahrhunderts (1969, 80). Das Zitat findet sich u.a. bei Wilson (1836, 8). 17 Weiteres Beispiel ist Coquerel 1869, 109. 18 „nog in de huidige rembrandtliteratur als een authentieke (...) geciteerd“ (Emmens 1969, 80). 19 Nach Lübke gibt auch Gratian als Quelle des Zitates an (1906, 138). Vor ihm tut dies bereits Houbraken (1718). Tatsächlich ist Lübkes Formulierung eine wörtliche Übertragung aus Houbrakens Groote Schouburgh: „Misschien dat hy de wellevens wetten, door Gratiaan beschreven, gekent heeft, want die 33 Paul Scheltema tritt der literarisch überlieferten Abneigung des Künstlers gegenüber gehobe- nen Gesellschaftskreisen entschieden entgegen. Dazu verweist er auf das Lobgedicht „unseres herausragenden Poeten Jeremias de Decker“ (Scheltema 1866, 22),20 sowie auf die Freund- schaft Rembrandts mit dem Chirurgen Professor Nikolaas Tulp und mit dessen Schwieger- sohn Jan Six. Daß eine Freundschaft zu dem bekannten Anatomen bestanden habe, bemüht sich Scheltema nicht zu belegen. Offenbar schließt er aus der Tatsache des in Auftrag gege- benen Gruppenporträts auf eine solche Beziehung. Im Falle des Jan Six weist er auf dessen privates Album hin, das zwei Skizzen Rembrandts enthält, und schließt:

„Wenn Jan Six, der die Kunst liebte, kein Förderer oder Mäzen Rembrandts gewesen wäre, hätte er ihm sicher keinen Platz in seinem Album gewährt. Und von einem Mann wie Rembrandt, der sich rühmen durfte, die Hochachtung und die Freundschaft eines Decker, eines Tulp, eines Six zu besit- zen, hat man zu sagen gewagt, er suche sein Vergnügen im Umgang mit gewöhnlichen Leuten und hielte sich dies zugute. Dieser Vorwurf bedarf in der Tat keiner weiteren Wiederlegung.“ (Schel- tema 1866, 22 f.)21

Weder das Urteil der Klassizisten über Rembrandts ‘gewöhnlichen‘ Umgang noch das ‘Ge- gengutachten‘ Scheltemas sind hier im Hinblick auf eine historische ‘Wahrheit‘ von Interesse; sie sollen vielmehr als Beispiele für die Zeitgebundenheit des Rembrandtbildes betrachtet werden. Wir begegnen dabei dem Phänomen der Verknüpfung von Kunsturteil und Lebensbe- schreibung, das im folgenden viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen wird. In beiden Fällen wird die Einstufung des Stellenwertes der Kunst Rembrandts durch dessen private Lebensfüh- rung plausibilisiert.22 Wie de Piles und andere die niedrige Klassifikation von Rembrandts Werken - nicht seines Talentes! - mit dessen vulgärem Umfeld in Verbindung bringen, so findet Scheltemas Hochachtung vor Rembrandts Kunst in einer Aufwertung der Privatperson ihre Entsprechung.23 Seine Exegese der Quellenfunde ermöglicht es ihm, dem Standbild des Künstlers eine Biographie zur Seite zu stellen, die einer Symbolfigur bürgerlichen National-

zeit elders: Het is goet met uitstekende Persoonen te verkeeren, om zoodanig te worden, maar wanneer men dat is, moet men zich by middelmatige voegen. (...) Als ik myn geest uitspanninge will geven, dan is het niet eer die ik zoek, maar vryheit.“ (Houbraken 1718, zit. nach Slive 1953, 194). 20 „Notre excellent poëte Jeremias de Decker“ (Scheltema 1866, 22). Gemeint ist der Dank-Bewys, zuerst publi- ziert 1667 (Slive 1953, 295 f.). Scheltema zitiert Auszüge in seinem Dokumenten (Scheltema 1866, 119 f.). 21 „Si Jan Six, qui aimait les arts, n’avait été pour Rembrandt qu’un protecteur ou un Mécène, il ne lui eût certes pas accordé une place dans son album. Et c’est d’un homme tel que Rembrandt, qui pouvait se vanter de pos- séder l’estime et l’amitié d’un Decker, d’un Tulp, d’un Six, qu’on a osé dire qu’il cherchait son bonheur dans la fréquentation des gens vulgaires et s’en faisait honneur! Ce reproche, en vérité, n’a pas besoin d’une plus ample réfutation.“ (Scheltema 1866, 22 f.). 22 Michel Foucault hat darauf hingewiesen, daß dieses Verfahren der Beglaubigung der Autorität eines Werkes durch die Heiligkeit der Lebensführung seines Autors auf die Tradition christlicher Exegese zurückgeführt wer- den kann (Foucault 1993, 20). 23 Die weitere Rezeption zeigt dann zumeist das gegenläufige Phänomen: die (kultische und wirtschaftliche) Aufwertung eines einzelnen Kunstwerks durch dessen Zuschreibung zu Rembrandt. 34 stolzes angemessen ist. Nicht nur der Freundeskreis Rembrandts wird dabei neu bestimmt, dank der Quellenlage erhält auch die Person seiner Ehegattin ihren Namen und ihre bürgerli- chen Ehrenrechte zurück:

„Zu Unrecht haben Rembrandts Biographen diese Frau als eine kleine Bäuerin aus Ransdorp in Waterland betrachtet. Weit davon entfernt, einem bäuerlichen Geschlecht zu entstammen, ist sie, im Gegenteil, aus einer sehr vornehmen und geachteten friesischen Familie hervorgegangen. Saskia war die Tochter von Rombertus Uilenburg, der (...) Bürgermeister der Stadt Leeuwarden war und danach mit Auszeichnung mehrere Jahre lang das Ehrenamt eines Beraters am Friesischen Hofe bekleidete.“ (Scheltema 1866, 14)24

1.2 Heureux voyage de Rembrandt25

Auch das zweite Beispiel für die Verteidigung Rembrandts durch Paul Scheltema offenbart eine deutliche Tendenz, den Künstler nach Maßstäben zeitgenössischer bürgerlicher Normen und Tugenden akzeptabel zu machen. Ein Großteil der Anekdoten, die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in den Rembrandt-Biographien ansammelten,26 illustrieren eine seiner vermeintlich grundlegenden Charaktereigenschaften: den Geiz. So wird etwa in der Erzählung von ‘Rembrandts glücklicher Heimreise‘ das weltliche ‘début‘ des jungen Künst- lers ausgeschmückt und dabei zugleich seine Liebe zum Geld veranschaulicht. Ich zitiere diese Anekdote aus einer englischen Quelle, C. J. Nieuwenhuis‘ 1834 erschienenem review of the lives and works of some of the most eminent painters:

„Sein bemerkenswerter Fortschritt zog jedenfalls die Aufmerksamkeit vieler Kunstliebhaber auf sich; denn Houbraken versichert uns, daß er zu jener Zeit eines seiner Bilder an einen Herrn in Den Haag für 100 Gulden verkaufte, was damals ein recht hoher Preis war. Er war mit der Bezahlung so

24 „A tort, les biographes de Rembrand ont considéré cette femme comme une petite paysanne de Ransdorp en Waterland. Bien loin qu’elle descendît d’une race de paysans, elle était, au contraire, issue d’une famille très- distinguée et très-respectable de la Frise. Saskia était fille de Rombertus Uilenburg, qui fut (...) bourgmestre de la ville de Leeuwarden, et qui occupa ensuite avec distinction, pendant plusieurs années, la dignité de conseiller à la Cour de Frise.“ (Scheltema 1866, 14). In einer Fußnote im dokumentarischen Teil kritisiert der Herausgeber Théophile Thoré die Entstellungen, die Houbraken Saskia zufügte: „C‘est à Houbraken qu’on doit l’invention de cette paysanne de Ransdorp, qui existe depuis un siècle et demi comme compagne de Rembrandt. Ce qu’il y a de singulier dans ce conte, et dans tous les autres, bien plus mauvais, que Houbraken a écrits sur Rembrandt, c’est que Houbraken était élève de Samuel van Hoogstraten, élève lui-même de Rembrandt. Samuel van Hoogstraten (...) entra tout jeune, ‘après la mort de son père Dirk en 1640‘, dans l’atelier de Rembrandt. (...) Van Hoogstraten avait donc peut-être connu Saskia, morte en 1642 (...). Saskia ne devait pas être assez oubliée pour que les élèves en parlassent comme d’une paysanne du Waterland.“ (Thoré in Scheltema 1866, 60 f.). Erst als die Archive Hin- weise auf die späte Lebensgefährtin Rembrandts, Hendrickje Stoffels, preisgeben, gewinnt Houbrakens Darstel- lung für die Biographen wieder an Authentizitätswert: daß nicht Saskia, sondern Hendrickje das historische Vor- bild der Darstellungen Houbrakens bildete, vermuten zuerst de Roever (1883 in Oud Holland) und Bode (1883, 548). 25 Diesen Titel wählt Scheltema zur Bezeichnung der Anekdote. Dabei bezieht er sich auf ein Gedicht Immer- zeels (Scheltema 1866, 50). 26 Vgl. Slive 1953, 159 ff.; Emmens 1968, 63 - 95. 35 zufrieden, daß er den Entschluß faßte nicht zu Fuß nach Hause zurückzukehren - die Art des Rei- sens auf welche er Den Haag erreicht hatte (...). Da er fürchtete, sein Geld zu verlieren, stieg er nicht aus dem Gefährt, als die Passagiere eine Rast einlegten, um sich zu erfrischen. Vielmehr blieb er allein in der Kutsche, als die Pferde - losgelassen - erschraken und nach Leiden liefen; und als er an dem Gasthaus ausstieg, vor welchem die Tiere täglich zu halten gewohnt waren, war jedermann erstaunt, daß der junge Rembrandt, ohne Kutscher reisend, sicher angekommen war. (...) Dies war das début dieses außerordentlichen Mannes, der nun begann, den Wert seiner Arbeit zu schätzen.“ (Nieuwenhuis 1834, 5 f.)27

Aufgrund der Erkenntnis des „Wert[es] seiner Arbeit“, der Rembrandt dazu veranlaßt hatte, in der Kutsche zu bleiben, ließ sich diese Anekdote als Ursprungslegende seines Geizes verwen- den.28 In dieser Weise tritt sie noch bei Gustave Planche (1853) in Erscheinung:

„Den Aussagen seiner Zeitgenossen zufolge, erweckte seine erste Reise nach Den Haag eine neue Leidenschaft in ihm (...): sobald er hundert Gulden gezählt hatte, wurde er geizig.“ (Planche 1853, 248)29

Paul Scheltema widmet der Anekdote eines der kurzen Kapitel seiner Urkundensammlung. Er bemerkt dazu:

27 „His remarkable progress, however, attracted the attention of many amateurs; for we are assured by Houbra- ken that, about that period, he sold one of his pictures to a gentlemen at the Hague for 100 guldens, which was a tolerably large price at that time. He was so satisfied with the remuneration, that he resolved not to return home on foot - the mode of travelling by which he had reached the Hague (...). Fearing to lose his money, he would not descend from the vehicle when the passengers stopped on the road to take refreshment, but remained alone in the coach, when the horses, being left free, took fright and ran away to Leiden; and on his alighting at the inn where the animals were accustomed to stop daily, every one was astonished that the young Rembrandt, travalling with- out a coachman, had arrived in safety. (...) This was the début of this extraordinary man, who now began to know his own worth.“ (Nieuwenhuis 1834, 5f.). 28 Derartige Anekdoten treten nicht immer in Verbindung mit einer Charakterdeutung auf. Wie ihre Details va- riieren, so fallen auch die möglichen Anschlüsse unterschiedlich aus. Immerzeel, der zu Anfang dieses Ab- schnitts angesprochene ‘Lobredner‘ Rembrandts, verwendet die Anekdote in seiner 1843 publizierten lexikali- schen Vitensammlung holländischer und flämischer kunstschilders, beeldhouwers, graveurs en bouwmeesters ohne Verweis auf den Geiz des Künstlers. Als Beispiel für die Variation der Anekdoten sei er hier zitiert: „Je- mand, der ihn [im Leidener Atelier, M.H.] besuchen kam, gab ihm den Namen und die Adresse eines Kunst- freundes zu s’Gravenhage und riet ihm, diesem sein bis dahin einziges Kunstwerk zu zeigen. Rembrandt unter- nahm die Reise, mit einem Gemälde unter dem Arm, und hatte das unerwartete Glück, hundert Gulden dafür zu erhalten. War er zu Fuß zu der Residenz gezogen, so kehrte er nun in der Postkutsche zurück und kam schneller als gewünscht in Leiden an, da die Pferde auf halber Strecke durchgegangen waren. Glücklicherweise blieben dieselben vor dem Posthaus stehen, und Rembrandt war mit dem Schrecken davongekommen.“ („Iemand, die hem kwam bezoeken, gaf hem den naam en het adres op van eenen kunstliefhebber te s’Gravenhage, hem ra- dende aan dien heer eens eenig kunstwerk te laten zien. Rembrandt ondernam de reis, met eene schilderij onder den arm, en hat het onverwacht geluk, hondert guldens voor dezelve te ontvangen. Was hij te voet naar de resi- dentie getrokken, hij keerde nu met den postwagen huiswaarts, en kwam te Leiden spoediger aan dan hij ge- wenscht had, dewijl de paarden van halverweg af aan op hol gegaan waren. Bij alle geluk bleven dezelve voor het posthuis stil staan, en Rembrandt was met den schrik vrij gekomen.“ Immerzeel 1843, 11). 29 „D’après le témoingnage de ses contemporains, son premier voyage à La Haye éveilla en lui une passion nou- velle (...): dès qu’il eut compté cent florins, il devint avare.“ (Planche 1853, 248). 36 „Dieses Märchen ist so bekannt, daß ich nicht glaubte, es durch Schweigen übergehen zu können; dennoch habe ich in meiner Rede nicht davon gesprochen, da es keinerlei authentischen Charakter besitzt. Houbraken, der es als Erster erwähnt hat, verdient nicht das geringste Vertrauen bezüglich seiner Behauptungen über Rembrandt. Es handelt sich dabei um eine Andeutung, die indirekt zei- gen soll, wie sich die Neigung zum Geiz, dessen er den erwachsenen Mann etwas später beschul- digt, bereits beim jungen Mann bemerkbar macht.“ (Scheltema 1866, 50 f.)30

Auch in diesem Punkt bemüht sich Scheltema, einem anekdotisch überlieferten ‘Charakter- zug‘ Rembrandts, der sich mit bürgerlichen Idealen nicht verträgt, die Glaubwürdigkeit zu nehmen. Er tut dies zunächst, indem er Mißtrauen gegen dem Urheber der Erzählung schürt. Zusätzlich versucht er, aus dem vorhandenen Quellenmaterial eine Gegenargumentation auf- zubauen, die Rembrandts Bescheidenheit belegt. So tritt er den zahlreichen Geiz-Anekdoten durch Verweis auf die Briefe von Constantin Huygens entgegen,31 die er als Belege für Rem- brandts zurückhaltende finanzielle Forderungen deutet.32 Dann leitet er zur Tugend des Flei- ßes über, dokumentiert in der Vielzahl der Werke, und spielt diese gegen das Laster des an- geblichen Geizes aus (Scheltema 1866, 23 ff.). Die Bescheidenheit wird zudem mit dem Hin- weis belegt, Rembrandt habe einfache Lebensumstände bevorzugt und sich häufig nur von etwas Brot und Käse oder einem Salzhering ernährt. An dieser Stelle verzichtet Scheltema allerdings auf einen Quellenverweis, denn ein solcher würde zu jenem Arnold Houbraken führen, dem er in der oben zitierten Passage jegliches „Vertrauen bezüglich seiner Behaup- tungen über Rembrandt“ entzogen hatte.33 Dieses Beispiel zeigt, daß die Quellen hier nicht von selbst sprechen, sondern daß es die Deutungstendenz des Autors ist, die sie zum Sprechen bringt. Scheltema beendet seine Argumentation durch die Benennung weiterer Schuldiger, denen die Verbreitung der falschen Nachrichten über Rembrandt zur Last zu legen sei: Die neidischen Kollegen hätten den Künstler in Verruf gebracht. Und so wechselt schließlich die

30 „Ce conte est si connu, que je n’ai pas cru pouvoir le passer sous silence; je n’en ai pourtant pas parlé dans le discours, parce qu’il n’a pas le moindre caractère d’authenticité. Houbraken, qui en a fait mention le premier, ne mérite pas la moindre confiance dans ses allégations concernant Rembrandt. C’est une insinuation pour démon- trer indirectement combien la tendance à l’avarice, dont plus loin il accuse ouvertement l’homme fait, se remar- quait déjà dans le jeune homme.“ (Scheltema 1866, 50 f.). 31 Diese Briefe zählen zu den frühesten der publizierten Dokumente. Nach Guhl (1856, 225) wurden sie erstmals 1835, bzw. 1843 als Facsimiles nachgedruckt. Neben Scheltema hat auch Kolloff (1854) diese Quellentexte zugänglich gemacht. 32 Die fraglichen Briefe Rembrandts an Huygens werden später in der Regel als Mahnungen gedeutet, in denen Rembrandt also, aufgrund eigener finanzieller Bedrängnis - ganz im Gegenteil zum Verständnis Scheltemas - auf die Bezahlung gelieferter Bilder drängt (vgl. Tümpel 1977, 65 f.; ebd. der Hinweis auf die hohen Honorare, die Rembrandt pro Bild vorschlägt). Während Scheltema die Schenkung eines Bildes an Huygens als selbstlose Großzügigkeit des Künstlers auslegt, wird dies später als Dank für dessen Vermittlungstätigkeit zum Auftragge- ber, Prinz Frederik Hendrick, gedeutet (Hamann 1969 [1948], 450), also vom ökonomischen Standpunkt als ‘Kundenpflege‘ angesehen (vgl. Tümpel 1977, 59 f.). 33 Vgl. das betreffende Zitat Houbrakens bei Slive (1953, 193). 37 detaillierte Verteidigung in ein Lob Rembrandts über, wie es einem Ehrenbürger seiner Stadt gebührt:

„Wenn die Tugend die schönste Krone wahrer Verdienste ist, gibt es keinen rechtmäßigen Grund, Rembrandt diese hohe Auszeichnung streitig zu machen. (...) wir erteilen ihm seine Ehrenrechte zurück, welche ihm der Neid und die Eifersucht frech entrissen, und wir zögern nicht, der Bewun- derung seines Talents die Anerkennung und Hochachtung seiner Person hinzuzufügen.“ (Scheltema 1866, 28)34

Der Verteidiger stärkt die Ehre seines Mandanten, indem er diesen der Verfolgung durch un- ehrenhafte Zeitgenossen aussetzt. Es ist nicht eigentlich dem klassizistischen Urteil über Rembrandt, sondern dieser Schärfe seiner Widerlegung zuzuschreiben, daß Rembrandt bis ins 20. Jahrhundert hinein als ein einstmals vergessener und verkannter Künstler galt. Erst die selbsternannten ‘Wiederentdecker‘ haben die klare, an Regeln ausgerichtete und - diesen Re- geln entsprechend - teilweise negative Bewertung des Niederländers zu dessen bösartiger Ver- stoßung und Verkennung erklärt. Erst im Willen zu seiner Erhöhung hat die Erniedrigung Rembrandts ihren tiefsten Punkt erreicht.

Neben diesen Bemühungen Scheltemas, die Biographie und den Charakter des anekdotisch kostümierten ‘Sonderlings‘ salonfähig zu machen, sollte seine archivarische Arbeit nicht ver- gessen werden. Aus Sicht des heutigen Quellenstandes zu Rembrandts Leben ließe sich das mit Scheltemas Veröffentlichung von 1852 bereitgestellte Material als ‘Skelett‘ unserer In- formationen über den historischen Rembrandt bezeichnen: Zumindest zur Jugend Rembrandts sowie zur Amsterdamer Zeit bis zum Konkurs im Jahre 1656 lagen damit wesentliche Quellen vor. Über das letzte Jahrzehnt des Künstlerlebens war dagegen noch kaum etwas von dem bekannt, was heute die Grundlage der Rekonstruktionen bildet. Die folgenden Vergleiche mit Gustave Planche und Eduard Kolloff werden zeigen, wie grundlegend sich eine quellengestützte Darstellung der Vita von den überlieferten Schilde- rungen unterscheidet. Die Bedeutung des von Scheltema bereitgestellten Quellenmaterials für diese Entwicklung ist kaum zu überschätzen. Allerdings wird es nicht mit sofortiger Wirkung zur neuen Grundlage der Rembrandtrezeption, so daß sich Théophile Thoré noch 1866 über die mangelnde Bezugnahme auf die Broschüre Scheltemas beklagt:

34 „Si la vertu est la plus belle couronne du vrai mérite, il n’y a point de juste motif pour disputer à Rembrand cette haute distinction. (...) nous le remettrons en possession de son honneur, que lui ont enlevé audacieusement l’envie et la jalousie, et nous n’hésiterons pas à ajouter à l’admiration pour son talent l’estime et le respect pour sa personne.“ (Scheltema 1866, 28). 38 „(...) die neuen Tatsachen, die sie enthüllt, werden scheinbar weiterhin von der Mehrzahl der Kriti- ker und der Künstler Europas ignoriert.“ (Thoré 1866, IX)35

Doch dieser Zustand sollte sich in den folgenden Jahren ändern. Unbearbeitete Wiederaufla- gen älterer Texte und einzelne Fälle der Fortschreibung literarischer Traditionen (z.B. Viardot 1868; 31877) verlieren an Einfluß. Mit der Monographie Vosmaers (1868; 21877), spätestens mit Michels grundlegendem Rembrandtbuch (1893), sind die Wege zurück in diese Tradition verschüttet. Dies gilt hier zunächst für die französischen Texte, und es gilt mit der Einschrän- kung, daß, wie wir später sehen werden, sich schon bei Michel neue Formen ‘literarischer Tradierung‘ abzeichnen (vgl. Tümpel 1971, 14).

2 Gustave Planche und die Auseinandersetzung mit der Akademie (1853)

Paul Scheltema übernimmt die Verteidigung Rembrandts in der Absicht, dem nationalen Projekt des ehernen Denkmals durch eine angemessene Biographie des Künstlers den Rücken zu stärken (Boomgaard 1995, 23). Beides, die Geste der Denkmalsstiftung und die Rede Scheltemas, leitet der Nationalstolz und die Idee, Rembrandt zu einem Fluchtpunkt niederlän- discher Identität zu erheben. Ein aufschlußreiches Kontrastbeispiel dazu bietet der Aufsatz des französischen Literatur- und Kunstkritikers Gustave Planche, der im Juli 1853 in der Revue des Deux Mondes er- schien. Der Kontrast zu Scheltema liegt dabei nicht in der rehablitierenden Absicht, sondern in deren Methoden und spezifischen Zielen. Planche besaß offenbar noch keine Kenntnis der Archivfunde, die Scheltema - in bisher ungekanntem Umfang und mit bisher nicht gezogenen Schlußfolgerungen - zunächst nur in niederländischer Sprache publiziert hatte.36 Hinsichtlich biographischer Fragen steht Planche noch fest in der Überlieferung, und auch für seine Be- handlung ästhetischer Fragen wählt er die traditionelle Position der akademischen Kunstauf- fassung als Horizont seiner Reflexionen. Er behält diese etablierten Kategorien im Auge,

35 „(...) les nouveaux faits qu’elle révèle semblent toujours ignorés de la généralité des critiques et des artistes de l‘Europe.“ (Thoré 1866, IX). 36 Vgl. das Vorwort von Thoré in Scheltema 1866. Scheltemas Rede von 1852 wurde wenigstens zwei Mal in französischer Sprache rezensiert. Im Mai 1853 erschien eine Zusammenfassung im Brüsseler Bulletin de l’Academie Royale (M. Alvin 1853). In der Revue des Deux Mondes hatte Gérard de Nerval bereits im Juni 1852 in einem Reisebericht über Les fêtes de mai en Hollande die Einweihung des Rembrandt-Denkmals geschildert. Sein kurzer Abschnitt über die Rede Scheltemas fiel dabei jedoch kritisch aus: „M. Scheltema a peut-être un peu trop vengé Rembrandt du raproche d’avoir fréquenté le bas peuple. Nous possédons à la Bibliothèque nationale une collection de gravures qu’il eût été difficile à l’artiste de réaliser sans se mêler un peu à la basse société. (...) Ne cherchons pas à faire des poètes et des artistes des gentlemen accomplis et méticuleux.“ (de Nerval 1852, 1202 f.). 39 sucht nicht die offene Konfrontation, sondern scheint mehr darauf bedacht zu sein, mit seiner Argumentation auch den konservativen Leser zu erreichen, holt er diesen doch am gewohnten Ort ab, um ihn von dort aus zu neuen Urteilen zu geleiten. Neben der literarischen Qualität des Textes liegt sein Wert für unseren Zusammenhang in eben jener Anknüpfung, die uns mit der Topik der klassizistisch geprägten Einstufung Rembrandts weiter bekannt machen kann. Diese kombiniert in der Regel ein kritisches, jedoch nicht vollständig ablehnendes Kunsturteil mit einer Anzahl von Anekdoten, die als Illustrationen des Künstlercharakters fungieren, der wiederum als Erklärung für die geschilderten ästhetischen Phänomene dienen kann. Auch in dieser literarischen Tradition werden also Leben und Werk des Künstlers verknüpft, aller- dings unter anderen Prämissen als das in der späteren Künstlerbiographik der Fall sein sollte.

2.1 Das Naturstudium und die klassizistischen Kunstregeln

Ohne zunächst über die Herkunft seiner Aussagen zu reflektieren, beginnt Planche seinen Text Rembrandt. Sa vie et ses œuvres mit einer chronologischen Skizze der Biographie, wie sie sich ihm darstellt. Geboren ist der Künstler demnach in „Leyerdorp“.37 Er sei von seinen Eltern zu einem gelehrten Studium bestimmt worden und habe deshalb die Lateinschule in Leiden besucht.38 Planche stellt Rembrandts Haltung zu dieser Lebensplanung als ablehnend dar und greift dabei, im vierten Satz seines Textes, erstmals zu anekdotischen Ausschmüc- kungen. So habe Rembrandt nachsitzen müssen, da er, statt dem Unterricht zu folgen, lieber gezeichnet hätte. Schon bald habe der Vater ein Einsehen gehabt und dem Jungen gestattet, die Gelehrtenlaufbahn gegen das Malerhandwerk einzutauschen. Bei seinen Lehrern, so fährt Planche fort, habe der überaus begabte Knabe nur technische Kenntnisse hinzugewinnen kön- nen, sowohl Swanenburgh als auch Lastman39 habe er schnell überflügelt:

„Als er ihr Atelier verließ, konnte Rembrandt keinen anderen Lehrmeister mehr haben als die Na- tur. Er begriff dies und kehrte zur Mühle seines Vaters zurück. (...) Für ihn waren alle Ansichten der Wirklichkeit gut, weil sie ihm alle etwas zu lehren hatten.“ (Planche 1853, 245)40

37 Damit variiert Planche die Überlieferung, derzufolge Rembrandt in einer Mühle zwischen den Dörfern „Ley- dendorp“ und „Koukerk“ zur Welt gekommen sei (so z.B. Nieuwenhuys 1834 oder Nagler 1843). In Folge der Publikationen Scheltemas wird sich Leiden als Geburtsort etablieren. 38 In diesem Punkt stimmt Planche mit den bis heute geläufigen Darstellungen überein. Vor ihm hatte unter an- derem bereits Immerzeel (1843) diesen Werdegang Rembrandts angegeben. Als Quelle dient die Beschreibung der Stadt Leiden durch deren Bürgermeister Orlers (1641) (vgl. Slive 1953). 39 Als dritter Lehrer wird zu dieser Zeit noch Jacob Pinas angeführt. 40 „En sortant de leur atelier, Rembrandt ne devait plus avoir d’autre maître que la nature. Il le comprit et revint au moulin de son père.(...) Toutes les faces de la réalité lui étaient bonnes, parces qu’elles avaient toutes quelque chose à lui apprendre.“ (Planche 1853, 245). 40 Was er zu lernen habe, konnte ihm also kein Meister beibringen, die Natur allein habe seine Lehrmeisterin sein können. Diesem Studium habe sich Rembrandt ohne Vorurteile hinsicht- lich der Bildwürdigkeit der Dinge gewidmet, alle Ansichten der Wirklichkeit seien ihm als gleichermaßen lehrreich erschienen. Aus akademischer Perspektive gesehen läßt Rembrandt mit dieser Mißachtung der ‘noblesse‘ eine wichtige Regel außer acht. Planche schließt sich mit dieser Darstellung an eine geläufige Position an, die in Rembrandt den Vertreter eines Realismus ohne Maß für die Bildwürdigkeit eines Gegenstandes und für dessen angemessene Art der Darstellung sieht (vgl. Emmens 1969, 105ff.). In der Tradition klassizistischer Bewertung würde der Autor damit bereits auf einen wesentlichen Kritikpunkt zusteuern. Die Nachahmung der Natur kann in jener Sichtweise nur als Teilschritt zur künstlerischen Meisterschaft gelten, sie muß durch das intensive Studium der Antiken sowie der Renaissancekunst, der Vorbilder idealer Kunstschönheit, veredelt werden. Dieser Vorstellung liegt das Schema von ‘natura‘, ‘ars‘ und ‘exercitatio‘ als den drei Quellen der vollendeten künstlerischen Praxis zugrunde.41 Nach Maß der klassizistischen Kritik, wie sie etwa Joachim von Sandrart (1675) auf Rembrandt anwendet, werden zwei dieser Kriterien durch den ‘ungebildeten Maler‘ (‘pictor vulgaris‘) durchaus erfüllt. Sowohl „angeborne Inclination und Neigung“ (‘natura‘ oder ‘ingenium‘) als auch „ungesparten Fleisz und allstätige Übung“ (‘exercitatio‘ oder ‘usus‘) könne man bei Rembrandt demnach vorfinden.42 Zur Vollendung der Kunstfertigkeit fehle ihm jedoch die ‘ars‘, die allein durch das Studium der Alten und die Nachahmung von deren Auffassung, vorzugsweise im Zuge einer Italienreise, zu erreichen sei. Die klassizistische Kritik an Rembrandt richtet sich also nicht grundsätzlich gegen dessen Talent oder den Eifer seiner Tätigkeit. Es ist vielmehr dieser dritte Punkt, in dem er ihre Bildungskriterien nicht erfüllt. Die wesentlichen ästhetischen Mängel, die daraus resultieren, sind Fehler in der Zeichnung, die Unvollkommenheit der plastischen Erfassung des menschlichen Körpers, perspektivische Verzerrungen und der Verstoß gegen die Regeln des ‘dekorum‘, der sittlich angemessenen (und ikonographisch korrekten) Darstellung eines Themas. Zur Illustration dieser Mängel werden bei Sandrart, Arnold Houbraken (1718) und ihren Nachfolgern verschiedene Anekdoten gebräuchlich, die Rembrandts geringe Bildung, seine Bevorzugung der Natur als Lehrmeisterin und die damit verbundene Verachtung der Antike zum Ausdruck bringen. Auf diese Polarisierung von Naturnachahmung und klassischer Bildung greift Gustave Planche zurück und bringt sie mit der Anekdote vom Abbruch der Gelehrtenlaufbahn in Verbindung. Wie wir sehen werden, setzt Planche diesen

41 Vgl. Emmens 1969, 66 ff. 42 Sandrart zit. nach Emmens, 1969, 66 ff. Unter dem Einfluß romantischer Subjektkonzepte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird diese Polarisierung zwischen ‘pictor doctus‘ und ‘pictor vulgaris‘ unter Einschränkung ihrer immanenten Bewertungen in der Unterscheidung zwischen ‘natürlichem‘ und ‘gelehrtem‘ Genie variiert. Boomgaard (1995, 20) führt die Lobrede Immerzeels (1839) als Beispiel an. 41 Rückgriff rhetorisch gezielt ein, nicht nur um die Vorstellung von Rembrandt als ‘pictor vulgaris‘ aufzuheben, sondern um den Stellenwert des Naturstudiums überhaupt zu revidieren:

„Dennoch würde man sich täuschen, würde man Rembrandt unter die naiven Nachahmer der Natur einstufen. Dieser Müllerssohn, der nichts von lateinischer Grammatik hören wollte, der in der Mühle seines Vaters glücklich war und seine Tage vollständig der Übung widmete, war nichts we- niger als naiv.“ (Planche 1853, 246)43

Im Desinteresse an der „lateinische[n] Grammatik“ klingt bereits die Mißachtung des Anti- kenstudiums an. Die Bedeutung des Fleißes wird dagegen, und insgesamt wird die Naivität der künstlerischen Neigung zur Natur bestritten. Planche schickt sich an, Rembrandts Position zu revidieren. Der ‘ungelehrte Maler‘ erhält dabei ein Wissen zugesprochen, für das es in tra- ditionell akademischer Perspektive keine Entsprechung gibt. Rembrandts Interesse gälte den Phänomenen des Lichtes, und hier sei er alles andere als ein naiver Nachahmer:

„(...) er wußte sehr wohl, daß es ihm nicht gegeben war, sich mit der Natur zu messen. Wenn auch die Linie und die Form sich übertragen lassen, so trotzt doch das Licht der Nachahmung. (...) Ohne Hoffnung darauf, auf der Leinwand wiedergeben zu können, was seine Augen wahrgenommen hat- ten, entschied er sich dazu, nicht mehr zu sehen, nicht mehr zu betrachten, als ihm zu zeigen gege- ben sei. Mit mathematischer Präzision maß er die Quantität des Lichtes, welche er seiner Fähigkeit zu unterwerfen vermochte, und niemals überschritt er die Grenzen dieser Festlegung.“ (Planche 1853, 246)44

Ohne der traditionellen Annäherung Rembrandts an die Naturbetrachtung völlig zu wider- sprechen, gelingt es Planche hier, die Abwertung des Naturstudiums als einer ungebildeten, dem Künstler nicht würdigen Praxis aufzufangen und an ihre Stelle einen intellektuellen An- spruch zu setzen. Durch den Gebrauch naturwissenschaftlicher Begrifflichkeit wird Rem- brandts ‘Naturalismus‘ - in akademischer Perspektive als Geschmacksverstoß zu verurteilen, als Profanisierung der Kunst zu beklagen und dem Idealismus des Kunstschönen entgegenzu- stellen - nicht länger auf geistlose Nachahmung, sondern auf bewußte Geistestätigkeit, ja so- gar auf kritische Reflexion der Möglichkeiten der künstlerischen Medien zurückgeführt. Planche tritt den akademischen Positionen nicht durch bloßen Widerspruch entgegen, er greift

43 „On se tromperait pourtant si l’on rangeait Rembrandt parmi les imitateurs naïfs de la nature. Ce fils de meu- nier qui ne voulait pas entendre parler de la grammaire latine, qui se trouvait heureux dans le moulin de son père et passait des journées entières à étudier (...) n’était rien moins que naïf.“ (Planche 1853, 246). 44 „(...) il savait bien qu’il ne lui était pas donné de lutter avec la nature. Si la ligne et la forme se laissent abor- der, la lumière défie l’imitation. (...) Désespérant de reproduire sur la toile ce que ses yeux avaient aperçu, il s’est décidé à ne plus voir, à ne plus regarder que ce qu’il pouvait montrer. Il a mesuré avec une précision mathéma- tique la quantité de lumière qu’il pouvait soumettre à sa puissance, et n’a jamais franchi la limite qu’il avait marquée.“ (Planche 1853, 246). 42 sie zunächst scheinbar affirmativ auf, um sie dann zu differenzieren und umzuwerten. Der wichtigste Aspekt dieser Umwertung ist wohl darin zu sehen, daß Planche im Naturstudium keine Überheblichkeit des Künstlers, keine Respektlosigkeit gegenüber der göttlichen Schöp- fung ausmacht. Die Natur sei als Lehrmeisterin geeignet, sofern der Künstler in der Lage sei, die Grenzen der Möglichkeiten der Kunst zu akzeptieren:

„Seine Meister hatten ihm alles beigebracht, das zu Lehren sie im Stande waren: die Anordnung der Farben, den Gebrauch des Pinsels. Allein die Natur konnte ihn unterrichten, wo das Reich der Kunst beginnt und wo es endet.“ (Planche 1853, 247)45

Planche schmückt seinen Bericht über diese Studien in einer Weise aus, die vermuten läßt, daß er hier indirekt als Fürsprecher der ‘Schule von Barbizon‘ auftritt, der zeitgenössischen Variante des Naturalismus:

„Im Durchwandern des Landes, in der abwechselnden Beobachtung des Schattens eines Filzhutes auf der Stirn eines Bauern oder des gebrochenen Spiegelbildes einer Eiche auf dem dahinströmen- den Wasser, ist er sich der Sterilität bloßer Nachahmung bewußt geworden, der wörtlichen Nach- ahmung, und zugleich der ganzen Kraft, der ganzen Fruchtbarkeit einer deutenden Darstellung, die sich auf solide Studien stützt.“ (Planche 1853, 247)46

Diese differenzierte Beschreibung einer nicht bloß naiven Naturbetrachtung entspricht dem Studium der Natur ‘en plein air‘, wie es zur gleichen Zeit in der Freiluftmalerei bei Theodore Rousseau, Camille Corot, Jean-François Millet, Gustave Courbet und anderen einen neuen Stellenwert erhielt, wobei diese Maler sich nachweislich am Vorbild der niederländischen Landschaftsmalerei orientierten (Chu 1974). In seiner Umwertung der Beurteilung Rem- brandts zielt Planche primär auf die Relativierung der akademischen Positionen zur Naturbe- trachtung. Diese These wird durch die Beobachtung bestätigt, daß der Autor sich hinsichtlich der Person und des Charakters des Niederländers kaum um eine Revision vorhandener Urteile bemüht, sondern das seit 150 Jahren gebräuchliche anekdotische Verfahren reproduziert. Nur in Ansätzen ist hier die rhetorische Strategie zu verfolgen, die sich hinsichtlich des Naturstu- diums beobachten ließ, nämlich die vorgebliche Annahme der gegnerischen Position zum Zwecke der Subversion.

45 „Ses maîtres lui avaient appris tout ce qu’ils pouvaient lui apprendre, la composition des couleurs et le ma- niement du pinceau; la nature seule devait lui enseigner où commence, où finit le domaine de l’art.“ (Planche 1853, 247). 46 „C‘est en parcourant la campagne, c’est en observant tour à tour l’ombre du feutre sur le front d’un paysan ou l’image brisée d’un chêne dans l’eau courante, qu’il a conçu nettement toute la stérilité de l’imitation pure, de l’imitation littérale, toute la puissance, toute la fécondité de l’interprétation appuyée sur de solides études.“ (Planche 1853, 247). 43 Als Beispiel solcher biographischer Schilderungen bietet sich der Topos vom ‘geizigen Rem- brandt‘ an. Seine Entstehung ist in der älteren Literatur recht präzise zu verorten, nämlich in Arnold Houbrakens Groote Schouburgh, die zuerst zwischen 1718 und 1721 erschien. Hou- braken verknüpfte Überlieferungen Sandrarts zu Rembrandts beachtlichen Einnahmen mit Beobachtungen über dessen Radierungspraxis und schloß daraus auf einen geizigen Charak- ter, den er anschaulich in unterhaltsamen Anekdoten darzustellen vermochte (Slive 1953, 190 f.). Ein Beispiel: Der Geiz des Künstlers sei, so Houbraken, dessen Schülern aufgefallen, weshalb diese einige Münzen auf den Fußboden malten, um sich darüber zu amüsieren, wie er vergeblich die Hand danach ausstreckte. Die Verwandtschaft mit antiken trompe l‘œil-Anek- doten, etwa dem Wettstreit zwischen Parrhasios und Zeuxis,47 verdeutlicht, daß sich Houbra- ken hier selbst als kunstvoller Nachahmer der Antiken betätigte. Bis zu den an Archivquellen orientierten Verteidigungsschriften in der Mitte des 19. Jahrhunderts zählte diese kleine Er- zählung zum Kanon der Rembrandtliteratur. Auch Gustave Planche kommt im Verlauf seines Textes mehrfach auf Rembrandts Geiz zu sprechen und gibt dabei diese und andere Anekdo- ten wieder. Dennoch tritt er zugleich als Verteidiger des Künstlers auf, wenn auch zaghafter als im oben genannten Beispiel der Naturnachahmung. Den Geiz nimmt Planche als Faktum, doch sei dies Rembrandt nicht als Laster anzuhängen. Sein künstlerischer Sinn für die Schön- heit sei nicht vom Geiz zerfressen worden; auch die Heirat mit - nach damaliger Quellenlage - einer armen Bäuerin aus Ransdorp in Waterland, „ein Mädchen das keine anderen Vorzüge besaß als ihre Jugend und ihre Schönheit“,48 belege, daß ihn nicht allein die Geldgier trieb, hätte er doch als erfolgreicher Bildnismaler eine bessere Partie machen können. Außerdem sei seine einfache Lebensweise überliefert. So kommt Planche auch hier schließlich zu einem vorsichtigen Plädoyer zugunsten des Künstlers:

„(...) ich bin indessen weit davon entfernt, den Zorn der Biographen zu teilen, die Rembrandt be- schuldigen, seine Kunst durch seine schändliche Leidenschaft für das Gold entehrt zu haben.“ (Planche 1853, 250)49

47 Ein Wettstreit um die Fähigkeit zur malerischen Nachahmung der Natur: Zeuxis malt Trauben und muß die Vögel verscheuchen, die diese anpicken wollen. Neugierig, das Bild seines Konkurrenten zu sehen, will er dann den Vorhang von dessen Bild ziehen und muß erkennen, daß dieser Vorhang nur gemalt ist. Zeuxis gesteht seine Niederlage ein, „weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen können“ (Überlie- fert durch Plinius d. Ä., Naturalis Historia, § 65/66; zit. nach der deutschen Übersetzung von Roderich König und Gerhard Winkler, 1997, 59). 48 „une fille qui n’avait d’autre fortune que sa jeunesse et sa beauté“ (Planche 1853, 249). 49 „Je suis loin cependant de partager la colère des biographes qui accusent Rembrandt d’avoir déshonoré son art par son ignoble passion pour l’or.“ (Planche 1853, 250). 44 2.2 Rembrandts Erhebung unter die größten Meister der Malerei

Als letztes Beispiel für Planches Verteidigung Rembrandts soll noch einmal der Vorwurf der akademischen Autoritäten aufgegriffen werden, in Rembrandts Hang zum Realismus zeige sich ein Mangel an ‘noblesse‘, also an Einsicht in die Bildwürdigkeit des Gegenstandes bezie- hungsweise in die würdigen Formen seiner Darstellung. Diesen Vorwurf, der bereits im Kon- text der ‘ungebildeten, bloßen Naturnachahmung‘ bedeutsam war, greift der Autor noch ein- mal dezidiert auf, wobei er zunächst wiederum Verständnis für die traditionelle Position sug- geriert:

„Ich weiß sehr wohl, daß man den Werken Rembrandts einen Vorwurf anderer Art machen kann, und dieser Vorwurf wiegt so schwer, daß er unmöglich verschwiegen werden darf: (...) die Würde [noblesse, M.H.] im gehobensten Sinne des Wortes ist nahezu immer abwesend.“ (Planche 1853, 251 f.)50

Trotz dieses Fehlers sei der Niederländer jedoch mit den größten Meistern gleichzusetzen, denn auf dem Gebiet, das er sich ausgesucht habe, sei der Bildwürdigkeit der Form, der Idee der ‘noblesse‘, nur eine eingeschränkte Bedeutung zuzusprechen. An dieser Stelle vollzieht Planche einen Tausch, der uns in der Folgezeit vermehrt begegnet: Er stellt der akademischen Idee von Schönheit als höheres Ziel die Idee der Wahrheit entgegen. Dabei sei für Rembrandt der Mensch das Maß der Dinge:

„(...) Rembrandt hat ein Mittel gefunden, um auf ewig wahr zu sein. Es ist der Mensch, den er be- fragt, der Mensch, den er zum Ausdruck bringen will, (...) den er in mächtigem Flug in die höheren Regionen der Phantasie überführt oder den er mit bedrückendem Schmerz überwältigt. Welchem schöneren, welchem glorreicheren Triumph kann sich die Kunst widmen? Und wievie le dürfen sich rühmen, dieses erreicht zu haben, selbst unter den Meistern, die einer vollkommenen Kenntnis der Zeit und des Ortes noch die sichere Würde in der Wahl der Formen beigefügt haben? Wenn er auch nicht alle Bereiche der Kunst besitzt, was ich nicht zu bestreiten gedenke, so besitzt er doch wenig- stens den wertvollsten Bereich, den vertraulichsten, der an keiner Schule gelehrt wird, den allein das Genie zu erahnen vermag und durch den seinen Werken ewige Geltung gewiß ist.“ (Planche 1853, 252)51

50 „Je sais très bien qu’on peut faire aux œuvres de Rembrandt une objection d’une autre nature, et cette ob- jection est tellement grave, qu’il est impossible de la passer sous silence: (...) la noblesse prise dans le sens le plus élevé du mot est presque toujours absente.“ (Planche 1853, 251 f.). 51 „Rembrandt a trouvé moyen d’être éternellement vrai. C’est l’homme qu’il interroge, c’est l’homme qu’il veut exprimer, c’est l’homme qu’il émeut et qu’il attendrit, qu’il exalte ou qu’il plonge dans la rêverie, qu’il emporte d’un vol puissant dans les régions les plus hautes de la fantaisie, ou qu’il étreint d’une douleur poignante. Quel plus beau, quel plus glorieux triomphe l’art peut-il se proposer? et combien peuvent se vanter de l’avoir obtenu parmi les maîtres mêmes qui ont ajouté à la connaissance parfaite des temps et des lieu une noblesse constante dans le choix de la forme? S’il ne possède pas toutes les parties de son art, ce que je ne songe pas à nier, il en possède du moins la partie la plus précieuse, la plus intime, celle qui ne s’enseigne dans aucune école, que le 45 Die rhetorischen Fragen und die Eingeständnisse von Fehlern Rembrandts („was ich nicht zu bestreiten gedenke“) lassen Planches Rehabilitierungsversuch als Verteidigungsrede erkenn- bar werden, die allerdings spätestens an dieser Stelle in eine Lobrede umschlägt. Ausgangs- punkt des Lobes bleibt die Forderung nach einer „gerechten“ Bewertung des Niederländers. Und so stellt Planche kurz darauf fest, Voraussetzung für Gerechtigkeit („justice“) sei die Bereitschaft, Rembrandt nach seinem eigenen Blickwinkel zu beurteilen und nicht nach den Vorbildern griechischer oder italienischer Kunst:

„Die griechische Kunst und die italienische Kunst zum Ausgangspunkt zu nehmen und zu versu- chen, Rembrandt nach den Vorbildern zu beurteilen, die Athen und Rom unserer Bewunderung hinterlassen haben, ist ganz einfach der irrsinnigste aller Gedanken. In dieser Weise verfahrend, er- reichen wir nicht die Gerechtigkeit, sondern die völlige Negation. (...) Außer der Schönheit, wie sie Griechenland und Italien verstanden haben, gibt es viele andere Arten, die menschlichen Empfin- dungen durch den Ausdruck zu bezaubern und zu ergreifen: Die Art, die Rembrandt wählte, ohne Eleganz und Würde der Formen, gleicht durch ihre Kraft die Fehler aus, auf die ich hingewiesen habe.“ (Planche 1853, 253)52

Geschützt durch seine zustimmenden Rückgriffe auf die akademische Kritik, formuliert Plan- che einen elementaren Widerspruch zu deren Position: Er stellt die klassische Schönheit nur als ein Konzept unter anderen dar, mittels dessen die Kunst ihr höchstes Ziel erreichen könne, das darin bestehe, das menschliche Empfinden zu rühren und zu ergreifen. Seine Strategie der Fürsprache für den Realismus besteht nicht im Umstürzen der alten Götterbilder, sondern in der Aufhebung ihres Absolutheitsanspruchs. Folgt man seiner Rhetorik, so impliziert eine Hochachtung für Rembrandt keineswegs eine Verachtung der klassischen Idealgestalten:

„Niemand schätzt und bewundert mehr als ich die Harmonie der Linien, die durch so viele Mei- sterwerke Griechenlands und Italiens geweiht wurde; aber in Gegenwart der Werke Rembrandts vergesse ich ohne Bedenken für einige Augenblicke die Vorlieben, die ich aus meinen Studien ge- schöpft habe. (...) Mögen die Verfechter des Stils sich nach Belieben entrüsten und mich einen Gottlosen und einen Blasphemiker nennen, ich halte mich nicht für einen Ketzer, da ich zur glei- chen Zeit die Fresken des Vatikans und die Leinwände des Rembrandts anbete. Ohne irgend einen Vergleich aufstellen zu wollen, ohne das Haupt der römischen Schule und den Müllerssohn aus Leyerdorp auf die gleiche Linie setzen zu wollen, was eine Torheit wäre, hält mich meine Begeiste-

génie peut seul deviner et qui assure à ses œuvres une éternelle durée.“ (Planche 1853, 252). 52 „Prendre l’art grec et l’art italien comme point de départ et tenter d’estimer Rembrandt d’après les modèles qu’Athènes et Rome ont légués à notre admiration est tout bonnement la plus folle de toutes les pensées. En procédant ainsi, nous n’arriverions pas à la justice, mais à la négation absolue. (...) En dehors de la beauté telle que la Grèce et l’Italie l’ont comprise, il y a bien des manières d’émouvoir et de charmer par l’expression des sentiments humains: la manière choisie par Rembrandt, dépourvue d’élégance et de noblesse, rachète par l’énerie les défauts que je viens de signaler.“ (Planche 1853, 253). 46 rung für die Schule von Athen doch nicht davon ab, aufrichtig die Erweckung des Lazarus und die Anatomiestunde zu bewundern.“ (Planche 1853, 267)53

Mit dem heroischen Gestus eines Gläubigen, der für seine Überzeugungen bereitwillig die Mißachtung durch seine Umwelt auf sich nimmt, bereitet Gustave Planche hier sein ‘Schluß- plädoyer‘ vor, in dem er für Rembrandt im Olymp der Malerei den siebten (und letzten) Platz neben Leonardo, Michelangelo, Raffael, Tizian, Corregio und Rubens einfordern wird. Wie wir gesehen haben, unternimmt der Autor diesen Versuch nur auf Basis einer ausführlichen, mit rhetorischen Finessen hergeleiteten Begründung, nur mit der Absicherung durch wieder- holte affirmative Verweise auf das akademische Urteil. Dies kann als Hinweis darauf gelessen werden, daß Planche durchaus Widerspruch auf seine Aussagen erwartete und daß es der Wirkung seiner Streitschrift nützen könnte, der Akademie nicht nur kämpferische Parolen, sondern auch diplomatische Argumentationen entgegenzustellen. In seinem Kokettieren mit der drohenden Verstoßung durch „die Verfechter des Stils“ stand Planche freilich nicht allein. Eine ähnliche Formulierung verwendet Eugène Delacroix in seiner häufig zitierten Tage- buchnotiz vom 6. Juni 1851:

„Vielleicht wird man entdecken, daß Rembrandt der viel größere Maler als Raffael ist. Ich schreibe diese Blasphemie, die dazu geeignet ist, allen Herren an der Schule die Haare zu Berge stehen zu lassen, ohne offen Partei zu ergreifen.“ (Delacroix 1893, 65)54

Auch Delacroix tritt für eine Duldung beider Möglichkeiten ein, der idealistischen Erhöhung des Gegenstandes bei Raffael wie der tiefgründigen Ursprünglichkeit des Ausdrucks bei Rembrandt. Gerade diese Polarisierung zeigt jedoch, daß Delacroix, anders als Planche, von einer romantischen Konzeption des Genies ausgeht und den Holländer als ‘natürliches Genie‘ gegen das ‘gebildete Genie‘ Raffaels stellt. Dies bestätigt noch einmal sein abschließendes Urteil, in dem sich angeborene und erlernte Fähigkeiten gegenüberstehen:

„Selbst wenn man die majestätische Emphase Raffaels bevorzugen mag, die vielleicht der Bedeu- tung bestimmter Gegenstände entspricht, könnte man behaupten (...), daß der große Holländer auf viel natürlichere Weise Maler war als der fleißige Schüler Peruginos.“ (Delacroix 1893, 65)55

53 „Personne plus que moi n’admire et ne chérit l’harmonie des lignes, que la Grèce et l’Italie ont consacrée par tant de chefs-d’œuvre; mais en présence des œuvres de Rembrandt, j’oublie sans peine pour quelques instans les affections que j’ai puisées dans mes études. (...) Que les apôtres du style s’indignent tout à leur aise et me traitent d’impie et de blasphémateur, je ne me crois pas hérétique pour adorer en même temps les fresques du Vatican et les toiles de Rembrandt. Sans vouloir établir aucune comparaison, sons vouloir mettre sur la même ligne le chef de l’école romaine et le fils du meunier de Leyerdorp, ce qui serait une folie, mon enthousiasme pour l’École d’Athènes ne m’empêche pas d’admirer sincèrement la Résurrection de Lazare et la Leçon d’anatomie.“ (Planche 1853, 267). 54 Vgl. das vollständige Originalzitat in der folgenden Anmerkung. 55 „Peut-être découvrira-t-on que Rembrandt est un beaucoup plus grand peintre que Raphaël. J’écris ce blas- 47 Trotz dieses Unterschiedes treffen sich Delacroix und Planche hier in einigen Punkten - der Genievergleich, die antizipierte Reaktion der akademischen Kunstrichter, die religiöse Be- grifflichkeit der „Blasphemie“ -, so daß es nahe liegt, in der Anrufung Rembrandts einen To- pos der anti-akademisch gestimmten Zeitgenossen auszumachen. Beiden Autoren ist nicht nur das Lob Rembrandts gemeinsam, sondern auch die Reflexion des oppositionellen Charakters ihrer eigenen Haltung. Darin läßt sich auch ein (in gewissem Sinne ‘romantischer‘) Genuß an der Selbstausgrenzung erkennen. Der heroisch eingefärbte Widerspruch gegen ‘geltendes Recht‘ ist in dieser Phase der modernen Rezeption impliziter Bestandteil der Rembrandtver- ehrung.

Angesichts der diplomatischen Geschmeidigkeit der Argumentationen Gustave Planches und der romantischen Implikationen der Position Delacroix‘ mag der nun folgende Versuch der Rehabilitation Rembrandts um so radikaler erscheinen, tritt er doch nicht allein der klassizisti- schen Kritik, sondern mit gleicher Schärfe einer romantischen Stilisierung des Holländers ent- gegen. Eduard Kolloff, von dem nun die Rede sein soll, stehen im Gegensatz zu Planche die neuen „Actenstücke“ aus den niederländischen Archivrecherchen zur Verfügung. Sie bilden die Basis seines Angriffs auf die anekdotische Tradition, während Planche sich den kunsttheo- retischen Prämissen der Akademie entgegenstellte, ohne die literarische Form der Künstler- anekdote prinzipiell zu attackieren. Mit Kolloff werden wir uns, nach einer niederländischen und einer französischen Stimme zur Verteidigung Rembrandts, nun also dem deutschen Sprachraum zuwenden. Doch auch in diesem Fall ist der Ort des Geschehens Paris.

3 Eduard Kolloff und der ‘moralische Prozeß‘ gegen Rembrandt (1854)

Über die französische Metropole und ‘Hauptstadt der Moderne‘ führen die wesentlichen Ver- änderungen in der Rembrandtliteratur zur Mitte des 19. Jahrhunderts. Beispiele dafür liefern nicht nur Gustave Planche, französischer Literatur- und Kunstkritiker, und Paul Scheltema, phème propre à faire dresser les cheveux de tous les hommes d’école, sans prendre décidement parti; seulement je trouve en moi, à mesure que j’avance dans la vie, que la verité est ce qu’il y a de plus beau et de plus rare... Rembrandt n’a pas, si vous voulez, absolument l’élévation de Raphaël... Peut-être cette élévation que Raphaël a dans les lignes, dans le majesté de chacune de ses figures, Rembrandt l’a-t-il dans la mystérieuse conception du sujet, dans la profonde naïveté des expressions et des gestes. Bien qu’on puisse préférer cette emphase maje- stueuse de Raphaël, qui répond peut-être à la grandeur de certains sujets, on pourrait affirmer, sans se faire lapi- der par les homme de goût, mais j’entends d’un goût véritable er sincère, que le grand Hollandais était plus nati- vement peintre que le studieux élève du Pérugin.“ Journal de Eugène Delacroix, Tome Deuxième, 1850 - 1854, Paris: Librairie Plon 1893, 65 f. (Eintrag vom 6. Juni 1851). Wyss bezeichnet diese Aussage als „Prophetie“ (Wyss 1985, IX), Stückelberger stellt sie, mit Verweis auf Gantner, an den Anfang der Rembrandtverehrung (Stückelberger 1996, 22). Mit Bezugnahme auf die große Zahl gleichzeitiger verwandter Aussagen, sowie auf den breiten facettenreichen Rembrandtdiskurs, der ihnen vorausgeht, möchte ich einer solchen Stilisierung des Delacroix-Zitats zum ‘Ursprungsmythos‘ entgegentreten. 48 dessen Publikation ihre Wirksamkeit nicht unwesentlich der Unterstützung und französischen Übersetzung durch den Publizisten Théophile Thoré verdankt. Auch der erste deutschspra- chige ‘Reformator‘ des Rembrandtbildes ist an Paris gebunden. Eduard Kolloff, dessen Vita noch heute ähnlich im Dunkeln liegt wie diejenige Rembrandts um 1850, hat Paris spätestens seit 1834 zur dauerhaften Wahlheimat erkoren.56 Die Bedeutung von Kolloffs Rembrandt-Aufsatz (1854) als Prototyp einer wissenschaftlichen Darstellung von Leben und Werk eines Künstlers ist seit längerem bekannt und auch in letzter Zeit mehrfach herausgestellt worden. Allerdings begann die Wirkungsgeschichte dieses Tex- tes recht schleppend. Die erste ernsthafte Anerkennung spricht Wilhelm Bode 1870 aus. Wie ernst es ihm damit ist, zeigt sich zwei Jahre später, als er Kolloff den Direktorenposten am Berliner Kupferstichkabinett anbietet, den der Gefragte jedoch aus Altersgründen ablehnt.57 Spätestens seit Emile Michels Rembrandtmonographie (1893) gehört der Verweis auf die Lei- stung Kolloffs zum Standardrepertoire wissenschaftlicher Autoren. Die Einstufung Michels stellt den Aufsatz von 1854 auch über spätere, teils weit umfangreichere Arbeiten wie die von Vosmaer oder Thoré. Kolloff gebühre das Verdienst, „zu den Gepflogenheiten einer weniger sorglosen und besser informierten Kritik zurückgekehrt zu sein“.58 Nicht ohne patriotischen Stolz weist auch Carl Neumann, Autor der ersten umfassenden Rembrandt-Monographie in deutscher Sprache, darauf hin, daß ein Deutscher zuerst „in Leben und Kunst des Meisters zahlreiche Punkte richtiggestellt und gewürdigt“ habe (Neumann 1902, 5). Aus Sicht einer Entwicklungsgeschichte der wissenschaftlichen Disziplin Kunstgeschichte kann Kolloff frag- los dafür gewürdigt werden, im Hinblick auf die Überprüfbarkeit seiner Aussagen und die Sachlichkeit ihrer Darstellung bereits Mitte des 19. Jahrhunderts Regeln befolgt zu haben, die zahlreiche Autoren der Nachfolgegenerationen wieder nicht (oder noch nicht) einhielten und die erst im Verlauf des 20. Jahrhunderts zum unangefochtenen Standard der Kunstgeschichte wurden.59 Eine derartige Bewertung begründet sich vor allem auf Kolloffs entschlossener Ab- kehr von jeder Form „literarischer Tradition“ (Tümpel), auf sein Bemühen um ein „histori- sches Rembrandtbild“: „Sein Blick war sachlich und nüchtern“ (Stückelberger 1996, 31). In-

56 Den wenigen Daten, die Wilhelm von Bode (Zeitschrift für bildende Kunst 1922/23, 740-741) und Wilhelm Waetzoldt (Zeitschrift für bildende Kunst 1923, 647-654) zu Kolloffs Person geliefert haben, fügten spätere AutorInnen vor allem Spekulatives hinzu. Heiland/Lüdecke (1960, 111) verbreiteten die Ansicht, Kolloff habe „dem Jungen Deutschland nahe gestanden“, welche sowohl Tümpel (1971, 1) als auch Stückelberger (1996, 30) ohne Quellenhinweis oder sonstige Belege wörtlich übernehmen. Ich sehe in dieser Vermutung eine Projektion , deren Ursprung bei den politischen Überzeugungen der AutorInnen Heiland und Lüdecke selbst zu vermuten ist. Ihr Buch Rembrandt und die Nachwelt erschien zuerst 1960 in Leipzig und läßt auch durch seine einseitige Text - auswahl einen vergleichbaren Schluß zu. 57 Vgl. Tümpel 1971, 3 f.; weitere Literatur ebd. In der neueren rezeptionsgeschichtlichen Forschung herrscht Konsens über Kolloffs Bedeutung (Boomgaard 1995, 27 ff.; Stückelberger 1996, 30 f.). 58 „Il appartenait à un érudit, aujourd’hui un peu ignoré, M. Ed. Kolloff, de revenir aux procédés d’une critique plus scrupuleuse et mieux informée.“ (Michel 1893, VII). 59 Mit diese Einschätzung schließe ich mich an Christian Tümpel (1971, 14) und Jeroen Boomgaard (1995, 27 ff.) an. 49 nerhalb der Rembrandtliteratur ist Kolloff der erste Autor, der einen strengen wissenschaftli- che Apparat ausbildet. Dazu gehört, daß er in einer Einleitung Rechenschaft über sein Vorge- hen ablegt:

„Ich habe schlechterdings nur meinen Augen getraut oder wenigstens die fremde Autorität immer angeführt, wenn auf sie hin etwas erzählt ist.“ (Kolloff 1854, 406)

Neben diesem Bekenntnis zum Literaturverweis gibt Kolloff auch Regeln für seinen Entwurf einer Biographie an:

„Wir schöpfen unsere Angaben und Ansichten aus den Actenstücken, die bisher aus den holländi- schen Archiven bekannt geworden, oder auch ganz einfach aus dem Inhalt und Datum Rem- brandt’scher Bilder und Radierungen (...).“ (ebd., 426)

Im Kontext meiner Untersuchung soll diese formale Seite der Arbeit Kolloffs nicht ein weite- res Mal herausgearbeitet werden. Ohne seine Stellung in einer ‘Ahnengalerie‘ seriöser, fach- diskursiv definierter Kunstwissenschaft zu bestreiten, will ich daneben eine Betrachtungs- weise Kolloffs als ‘Anwalt Rembrandts‘ anbieten, die allerdings ebenfalls keinen Anspruch auf Originalität erhebt, urteilte doch bereits Carl Neumann über Kolloffs Artikel:

„(...) der Gesamtkarakter auch dieser Schrift war der einer Verteidigung und Rettung.“ (Neumann 1902, 5)

In ähnlicher Weise verwendet auch Kolloff selbst juristisches Vokabular, wenn er die bishe- rige biographische Literatur zu Rembrandt als weit verbreitetes, „fratzenhafte[s] Zerrbild[es]“ kritisiert:

„Mehr oder weniger ausgeführte Nachrisse davon befinden sich in allen kunsthistorischen Hand- und Wörterbüchern (...), sodaß sich zuletzt unvertilgbare Volksmärchen daraus gebildet haben. Rembrandt befindet sich dadurch in einen moralischen Prozeß verstrickt, der seit länger als hundert Jahren anhängig gemacht und vor alle Instanzen der öffentlichen Meinung gebracht, in Abwesen- heit des Verklagten geführt worden, und wobei der streitende Theil that, als wisse er allerlei ge- heime Weisheit und dürfe in eigner Person Kläger, Zeuge, Richter und Scharfrichter, selbst Alles in Allem sein.“ (Kolloff 1854, 418)

In Kolloffs Beschreibung des „moralischen Prozess[es]“ gegen Rembrandt deutet sich bereits an, daß der Autor selbst gedenkt, dem Angeklagten in diesem „in Rede stehenden Rechtshan- del“ (ebd.) als Anwalt zur Seite zu treten. Zwei Beipiele sollen die Verteidigungsposition seines Textes veranschaulichen und damit zur weiteren Erschließung des Problemfeldes der Rembrandtrezeption in der Mitte des 19. Jahr- hunderts beitragen. Zunächst bietet es sich an, die quellengestützte Widerlegung traditioneller

50 Darstellungen durch Kolloff am Thema der ‘Kunstsammlung Rembrandts‘ zu zeigen. Dieses Thema besitzt in der Vitentradition eine reiche Vorgeschichte. Kolloffs Erschließung einer seit längerem bekannten Quelle, dem Inventar von Rembrandts Haushalt aus dem Jahre 1656, stellt zudem einen wichtigen Baustein für die nachfolgende Literatur dar.

3.1 Kolloffs Umwertung der ‘Sammlung Rembrandts‘

Bereits in den Abschnitten über Scheltema und Planche war von der klassizistischen Kritik die Rede, derzufolge Rembrandt unter anderem in Proportionen, Zeichnung und Perspektive die Regeln des Kunstschönen mißachtete, die von den Schülern der Kunstakademien durch Kopie und Nachahmung der Vorbilder aus Antike und Renaissance erlernt wurden. Als Grund für den Mangel an regelgerechter Schönheit in Rembrandts Werken wird die Geringschätzung dieser Vorbilder durch den Künstler genannt, für die wiederum zwei Ursachen verantwortlich gemacht werden: (1) Seine unzureichende Bildung, speziell seine Unkenntnis von Antike und Renaissance, und (2) sein Desinteresse an edlen Formen, welches auch in einer ‘gewöhnli- chen‘ Lebensführung und in der Verbundenheit mit dem niederen Stand seine Entsprechung finde. In einer Anekdote, die sich zuerst bei Roger de Piles (1699) nachweisen läßt, wird die erste dieser Ursachen veranschaulicht. Ich zitiere die Variation dieser Anekdote aus dem bio- graphischen Abschnitt des Catalogue raisonné von Gersaint (1751), der Sammlern und son- stigen Interessierten lange Zeit als Orientierung über das Werk Rembrandts diente:

„Was für ein Maler wäre Rembrandt gewesen, wenn, richtiger in seiner Zeichnung, er sich darum bemüht hätte, die schöne Natur wiederzugeben, wie sie sich in den Antiken und in den Werken der großen italienischen Meister zeigt! (...) wenn seine Freunde ihm vorwarfen, die Nachahmung der schönen Antiken zu vernachlässigen, zeigte er ihnen seine Sammlung und sagte ihnen, dies seien seine Antiken.“ (Gersaint 1751, XXIV f.)60

Gersaints Einführung in die Anekdote mittels einer Klage über die mögliche Vollkommenheit Rembrandts zeigt zunächst noch einmal, daß die Vorläufer der modernen Rezipienten dem Holländer keinesfalls so grundsätzlich ablehnend gegenüber standen wie es später häufig dar- gestellt wurde. Sein Talent sowie die Wirkung seiner Werke sind Gegenstand höchster Be- wunderung, beklagt wird die verpaßte Gelegenheit der Verfeinerung dieser Anlagen durch Schulung am klassischen Ideal. Zur Veranschaulichung dieses Mangels dient dann der Hin- weis auf die „Sammlung“, unter der man seit de Piles die unsystematische Anhäufung „alter

60 „(...) quel Peintre eût été Rembrandt, si plus correct dans son dessein, il se fût appliqué à rendre la belle nature, telle qu’elle se voit dans les Antiques, & dans les Ouvrages [XXV] des grands Maîtres Italiens! (...) lorsque ses amis lui reprochoient de négliger l’imitation des belles Antiques, il leurs montroit ces assemblage, en leur disant que c’étoit-là ses Antiques.“ (Gersaint 1751, XXIV f.). 51 Waffen, alter Gerätschaften, alten Kopfschmucks und großer Mengen alter, reich verzierter Stoffe“61 verstand. In der Vitentradition vermag diese Anekdote gleich für zwei Phänomene der Kunst Rembrandts als potentielle Erklärung zu fungieren. Neben der angesprochenen Mißachtung der klassischen Schönheitsregeln, die der anekdotische Rembrandt in dem ironi- schen Verweis auf „seine Antiken“ offen eingesteht, liefert das skurrile Sammelsurium zu- gleich einen anschaulichen Grund für die ‘orientalische Phantastik‘, die Rembrandt besonders in seinen Historiendarstellungen pflegte und die speziell in dieser Gattung dem klassizisti- schen Tadel der ‘Unangemessenheit‘ ausgesetzt war. Eduard Kolloff beschäftigt sich wiederholt mit dieser Darstellung Rembrandts als „Trödel- freund“ (Kolloff 1854, 473). Dank des notariell erfaßten Inventars von 1656 sieht er hier eine exemplarische Möglichkeit, den Überlieferungen und den daraus abgeleiteten Verurteilungen zu widersprechen. Dieses Inventar erfaßt die zur Pfändung vorgesehenen Besitztümer im Haus des Künstlers Raum für Raum. Neben Waffen, Kleidung und Gerätschaften aus aller Welt werden dabei eine Anzahl antiker Skulpturen, Gemälde niederländischer und italieni- scher Meister sowie mehrere Bände mit Stichen nach solchen Werken verzeichnet. Kolloff publiziert es in einer acht Seiten umfassenden Anlage.62 Er beläßt es jedoch nicht bei der Be- reitstellung dieses Materials, sondern unternimmt erste wesentliche Schritte, um es als Be- weismittel gegen die postulierte ‘Antikenfeindlichkeit‘ Rembrandts und gegen dessen gesell- schaftliche Positionierung einzusetzen. Im Aufsatztext nimmt er wiederholt darauf Bezug, zuerst in seiner Darstellung von Rembrandts Leben. Hier zählt Kolloff anläßlich des Konkur- ses eine Auswahl aus jenem „merkwürdigen Stückverzeichnis“ (ebd., 458) auf und stellt dann fest:

„Hiernach kann man sich einen ungefähren Begriff machen von den Kunstschätzen und Kostbar- keiten, die sich in Rembrandt’s Wohnung vereinigt fanden und nicht etwa, wie bisher gewöhnlich angenommen wurde, einen alten Trödelkram, sondern ein reichhaltiges Kunstcabinett bildeten, dessen sich heutzutage kein Fürst zu schämen brauchte.“ (Kolloff 1854, 459)

An diese Aufwertung der Sammlung, die bis dahin als „die verrosteten Panzerstücke und das seltsame Geräth, welches sein Atelier füllte“ (Kugler 1847, 423) oder als „Trödlerwaren“ (Nagler 1843, 6) gehandelt worden war, schließt Kolloff sogleich eine Formel des Bedauerns an, des Mitgefühls über den Verlust dieser Werte durch den wirtschaftlichen Niedergang:

61 „(...) il avoit de vieilles armures, de vieux instrumens, de vieux ajustemens de tête, et quantité de vieilles étoffes ouvragées, et il disoit que c’étoit-là ses Antiques“ (Roger de Piles 1699, zit. nach Slive 1953, 216). 62 In diesem Umfang war die Quelle in deutscher Übersetzung noch nicht veröffentlicht worden. Auszüge finden sich bei Nagler (1843), der jedoch keine Konsequenzen für seine biographischen und kunsthistorischen Schilde- rungen daraus zieht. Internationale Publikationen bei Iosi, Nieuwenhuys, Smith u.a. (vgl. Thoré 1866,VII). 52 „Die Übersicht dieses Inventars kann nicht anders als einen traurigen Eindruck zurücklassen, wenn man bedenkt, daß dieser Erwerb des tätigen Lebens eines großen Künstlers, seine Liebhabereien und seine eigenen, ihm unersetzlichen und unentbehrlichen Studien so schonungslos von ihm geris- sen wurden.“ (Kolloff 1854, 459 f.)

Beide Elemente, die Einstufung der Sammlung Rembrandts als bedeutendes „Kunstcabinett“ sowie die Klage über deren insolvenzbedingte Versteigerung, entwickeln sich in den kom- menden Jahrzehnten zum topischen Inventar des Diskurses. Der Nachweis einer Sammlungs- tätigkeit, die nicht dem Spektakel, sondern dem Vorbild fürstlicher Kunstcabinette folgt, er- möglicht eine Nobilitierung Rembrandts. Der gesteigerte Stellenwert der Kunstsammlung drückt sich zudem in der Bedeutung für den Konkurs aus, die Kolloff, wie schon Scheltema, der „übertriebenen Kunstliebhaberei“ Rembrandts zuspricht.63 Dieser Faktor wird auch in der späteren Literatur, neben der schlechten wirtschaftlichen Gesamtentwicklung und der unge- schickten Haushaltsführung des Künstlers, als Ursache der Insolvenz angeführt werden. Indem er die Kunstsammlung Rembrandts aufwertet, bemüht sich Kolloff, jenen beiden Ar- gumentationsketten zu widersprechen, die den Künstler im Urteil der Klassizisten besonders herabwürdigten. Diese betrafen einerseits seine mangelnde Bildung und andererseits seine Vorliebe für „Leute von unfeinem Schlage“ (ebd., 473). Wie bereits Scheltema zählt auch Kolloff die Kontakte „mit berühmten Personen von den höheren Ständen“ auf, derer sich Rembrandt rühmen konnte (ebd.), wobei das Vorhandensein von Porträts dieser Personen als Beleg gewertet wird. Im Gegensatz zu Scheltema versetzt Kolloff Rembrandt dabei nicht grundsätzlich in das Umfeld gehobenen Bürgertums; es sei „immerhin anzunehmen, daß er sich viel mit dem gemeinen Volke beschäftigt habe“ (ebd., 474), eine Neigung, die mit huma- nistischen Argumenten verteidigt wird:

„Wenn er dabei an sogenanntem gutem Geschmack verlor, so gewann er dafür hundertfältig an Le- ben, Wärme, Schärfe, und was liegt daran, ob der Mensch garstig, linkisch oder plebejisch aussieht, wenn er nur eine Seele hat und diese sichtbar hervortritt?“ (Kolloff 1854, 474)

Hier klingt durch, daß Kolloff dem klassizistischen wie akademischen Ideal der ‘Schönheit‘ wenigstens gleichberechtigt, wenn nicht bevorzugt, eine Vorstellung von ‘Wahrheit‘ entge- genstellt. Auch dieses Konzept kann als wegbereitend für die nachfolgende Rezeptionsge- schichte gelten, und auch in ihm spiegelt sich ein Problem der zeitgenössischen Kunstpraxis, nämlich die Polarisierung von klassischer Kunstschönheit und naturalistisch orientierter ‘Wahrheit‘, die sich in den dichotomisch aufgefaßten Begriffen des ‘Idealismus‘ und des

63 Vgl. Scheltema 1866, 26. 53 ‘Realismus‘ ausdrückt. Kolloff illustriert diesen Konflikt am historischen Beispiel einer Ge- genüberstellung der „italienische[n] Meister“ mit Rembrandt:

„Wenn die Bilder italienischer Meister dadurch, daß sie alle negativen Tugenden, die man an einem Kunstwerke rühmt: Schönheit, strenge Regelmäßigkeit, feine Auswahl, Glätte, Eleganz, selbst Ho- heit, Beredtheit und Glanz vereinigen, in hohem Grade anziehen, so verlieren darum Rembrandt’s Gemälde nicht ihren Reiz, weil sie Gefühl, Wahrheit, Tiefe, Individualität, Naivetät, Natur, kurz alle positiven Vorzüge haben, die freilich von orthodoxen Kritikern minder beachtet oder gar als Mangel an Geschmack und Schicklichkeit gerügt werden.“ (Kolloff 1854, 520)

Die gesellschaftspolitischen Implikationen dieses auf den ersten Blick rein ästhetischen Streits offenbaren sich, wenn Kolloff gleich darauf hinsichtlich der verbreiteten Urteile über Rem- brandts darstellerische Mittel hinzufügt:

„(...) es gilt fast unbestritten, daß seine Auffassung grotesk, grobsinnlich und geschmacklos, nur in Darstellung von Szenen aus dem Volksleben zu dulden und in historischen Sujets nicht auszuste- hen sei (...).“ (Kolloff 1854, 520)

Die Verknüpfung von Rembrandts Bildgestaltung mit dem ‘Trödel‘ seiner Sammlung zeigt hier ihre Analogie zur Bindung der Person des Künstlers an den ‘Pöbel‘. Kolloff hat diese in den klassizistischen Texten praktizierte Kopplung erkannt und bemüht sich darum, sie von beiden Seiten her aufzulösen. Rembrandts Umgang mit niederen Volksschichten begründet Kolloff im wesentlichen aus einem künstlerischen Interesse an „Gefühl, Wahrheit, Tiefe“ etc., also nicht länger aus einer Ablehnung verfeinerter gesellschaftlicher Kreise und Umgangs- formen durch den Menschen Rembrandt, wie sie etwa in dem bereits diskutierten Gratian- Zitat zum Ausdruck kam. Und die klassischen Bestandteile seiner Sammlung bezeugen nach Kolloff die Unrichtigkeit der Behauptung, daß „Rembrandt gegen die Schönheit der Antike und der Renaissance ganz unempfindlich gewesen sei“ (ebd., 531). In seiner Verteidigung Rembrandts gegen die klassizistische Kritik widersetzt sich Kolloff also immanent der Kopp- lung der elitären Konzepte gesellschaftlicher und ästhetischer High-Low-Klassifizierungen. Wie vor ihm bereits Gustave Planche, strebt auch dieser Autor dabei jedoch keine Verabsolu- tierung realistischer Kunstprinzipien an, sondern begnügt sich mit der Relativierung bisheri- ger Urteile. Statt zu polarisieren demonstriert Kolloff, daß eine gleichzeitige Bewunderung von ‘italienischer Formenschönheit‘ und holländischem Realismus möglich sei:

„Anstatt von seinen Umgebungen und seinen eigenen Ansichten und Anlagen zu abstrahieren, wie er beim Befolgen allgemeiner Schulregeln und Schönheitsprinzipien hätte thun müssen, studierte er die Menschen, unter welchen er lebte, und stellte sie dar, wie er sie sah. Seine Köpfe haben stets Charakter und Ausdruck. (...) wie tief und rührend sind bei ihm die allergewöhnlichsten und aller-

54 geringsten Menschengestalten beseelt! Seine Figuren im Allgemeinen haben keine Grazie und den Charakteren seiner heiligen Personen fehlt es an Hoheit und Adel, doch sind sie aller Ehren werth. (...) Es kömmt vor, daß sie abstoßen; aber eben wo das sträubende Zartgefühl sich unwillig weg- wenden will, wird man wie von einem Zauber zu den ordinairen Gestalten hingezogen und kann sich daran nicht satt sehen, so unverwüstlich wahr und unendlich interessant sind diese merkwürdi- gen Figuren, die ich nicht gerade für musterhaft ausgeben will.“ (Kolloff 1854, 532 f.)

Die Relativierung des Urteils über Rembrandt bedeutet bei Kolloff also nicht zugleich eine radikale Ablehnung der akademischen Schönheitsideale. Dem zweiten Beispiel für die Verteidigung Rembrandts durch Eduard Kolloff kann dagegen kein Mangel an Radikalität nachgesagt werden. Es handelt sich dabei um die polemische Ab- wehr der anekdotischen Biographietradition.64

3.2 Kolloffs Abwehr der anekdotischen Biographik

Den Kern von Kolloffs Aufsatz bildet die quellenkritisch konzipierte Biographie, die sich an „Actenstücken“ sowie an einer chronologischen Folge für authentisch befundener Werke ori- entiert. Bevor er zu dieser Darstellung kommt, bereitet der Autor ihr auf spektakuläre Weise das terrain. Nach einer kurzen methodischen Einleitung und einer Ankündigung seines weite- ren Vorgehens eröffnet er seinen Text mit einer ausführlichen Wiedergabe des „fratzenhaften Zerrbildes“, „welches ältere und neuere Biographen von Rembrandt’s Leben und Charakter entworfen haben“ (Kolloff 1854, 418). In dieser elf Seiten umfassenden Nacherzählung folgt er zunächst unkommentiert der geläufigen Vita. Dabei beschränkt er sich nicht auf pauschale oder beispielhafte Verweise, sondern führt detailiert die einzelnen Elemente ungesicherter Aussagen zur Biographie des Künstlers auf. Um seine Distanz zu diesen Aussagen zu ver- deutlichen, setzt er diese gesamte Passage in Anführungszeichen, verwendet jedoch nicht den Konjunktiv. Als Beispiel zititere ich Kolloffs Variante der Voyage heureux:

„Er wollte nun nicht wieder heimkehren, wie er hingekommen war, nämlich zu Fuß, sondern reiste mit der Post, ganz seelenvergnügt bei dem Gedanken an die gute Nachricht, die er seinen Eltern zu bringen hatte. Bange, seinen Schatz zu verlieren, wollte er um keinen Preis mit den andern Passa- gieren absteigen, wo unterwegs Mittag gemacht wurde; er blieb allein, wie eine alte Glucke bei ih- ren Eiern, in der Postkutsche sitzen, als plötzlich die nicht abgeschirrten Pferde Reißaus nahmen und in einem Zuge bis nach Leyden liefen (...).“ (Kolloff 1854, 410)

64 Streng genommen hätte dieser Punkt zuerst diskutiert werden müssen, denn in seiner Stellung im Text geht er der Auseinandersetzung mit dem Inventar von 1656 voraus und bestimmt zudem durch seine exponierte Position in der Gliederung wie durch seine stilistischen Eigenheiten die Wirkung des Textes in entscheidender Weise. 55 Kolloffs Version der anekdotischen Viten verdichtet die bekannten Elemente zu einer grotes- ken Ansammlung, wie sie so bei keinem der Vitenschreiber zu finden ist. Er schmückt die Einzelteile mit Adjektiven und Metaphern zusätzlich aus, so das ihr phantastischer Charakter noch stärker hervortritt. Durch diese Überzeichnung verschärft Kolloff die Lächerlichkeit dieser Erzählungen sowie ihre Absurdität angesichts der Forderung historischer Objektivität, die er selbst an eine Künstlerbiographie stellt. Daß er dies bewußt tut und auch eine „in Bausch und Bogen gehaltene Copie“ der geläufigen „Anecdoten und Atelierschnurren“ an- kündigt (ebd., 407 f.), ändert nichts daran, daß er diese ‘entstellenden Darstellungen‘ seiner- seits entstellt. Indem er die geläufige Form der Viten nachahmt und sie dabei unmißverständ- lich karikaturistisch überzeichnet, wendet Kolloff ein scharfes rhetorisches Mittel an, das Di- stanz zu dem markierten Gegenpol herstellt und diesen geradezu ‘anprangert‘. Seine Kritik schont dabei weder die Textgattung der bisherige Biographik noch deren Urheber:

„Die Sucht, Anekdoten und Atelierschnurren zu erzählen und dem gebildeten großen Lesepubli- kum pikante Sachen aufzutischen, ist bei älteren und neuern Künstlerbiographen eine leidige Krankheit, die in ihren Köpfen eine solche Verwirrung und Zerrüttung anrichtet, daß sie allen mo- ralischen Sinn darüber einbüßen. (...) sie sind gewissermaßen die Lästerchronikenschreiber der Kunstgeschichte, indem sie alles Arge und Ehrenrührige, was sie auf irgend eine Weise von dem Leben der Künstler ausfindig machen können, in einer behaglichen Breite und Gedankenlosigkeit erzählen. Rembrandt ist bei dieser anekdotenkrämerischen Art, das Leben berühmter Männer zu schreiben, am allerschlimmsten weggekommen. Unsre reiche deutsche Muttersprache ist zu dürftig und arm, um mit Worten genügend zu bezeichnen, was die Biographen Übles auf ihn und Schimpfliches auf sich gehäuft haben. (...) Ihr Sündenregister ist länger, als Don Juan’s Maitres- senliste, und ihr Gemälde von Rembrandt’s Leben viel verschrobener, ärgerlicher, gehässiger und geistloser, als ein Hoffmann’sches Phantasiegemälde in Callot’s Manier.“ (Kolloff 1854, 406 f.)

Formulieren wir es scharf: Wenn Kolloff die Thesen in seinem Rembrandt-Aufsatz auch wis- senschaftlich begründen mag, so entfaltet er seine Wirkung jedoch durch Mittel, denen sich ein „sachlich und nüchtern“ arbeitender Historiker entsagen müßte und die ebensowenig als Abwendung von „literarische[n] Tradition[en]“ gelten können, nämlich durch rhetorische Mittel. Kolloff fordert Gerechtigkeit für Rembrandt. Darunter versteht er eine quellenkritische Dar- stellung von Leben und Werk des Künstlers. Die Legitimität und die Bedeutung seines eige- nen Aufsatzes erhöht er dabei jedoch über eine strenge Distanzierung von der bisherigen Bio- graphik, mit der er in einer ganz und gar nicht ‘nüchternen‘ Weise verfährt. Stärker als Scheltema oder Planche lädt Kolloff die Position dieser zu überwindenden Erzähltraditionen negativ auf und steigert damit indirekt die Plausibilität der durch ihn vertretenen Gegenposi- tion. Um Rembrandt zu seinem historischen Recht zu verhelfen, versagt er dessen frühen Bio- 56 graphen einen Anspruch auf ‘sachliche‘ Behandlung. Er unternimmt keine Versuche zu einem historischen Verständnis dieser Literatur, er benutzt sie lediglich als dunklen Hintergrund, vor dem sich im hellen Licht nicht nur die korrigierte Gestalt Rembrandts, sondern auch eine nach neuen wissenschaftlichen Regeln legitimierte, archivarisch gestütze Biographik um so leuch- tender abzuzeichnen vermag. Kolloffs Verteidigungsschrift erschafft ihren neuen Rembrandt um den Preis einer umfassenden Anprangerung der älteren Vitentradition. Damit ist er nicht nur ein Ahne wissenschaflicher Kunstgeschichte, sondern hat auch wesentlichen Anteil an der Verkennungslegende, die das Rembrandtbild um 1900 prägen wird.

3.3 Autor und Werk bei Kolloff

Sicherlich ist Kolloff zugute zu halten, daß seine anschließende historisch-kritische Lebens- schilderung die Rembrandt-Biographik auf längere Sicht revolutioniert hat und daß eine der- artige Erneuerung einer strengen Abgrenzung gegenüber jenem bedarf, das es überwinden will. So war es für Kolloff wohl notwendig, der vorhandenen literarischen Tradition verständ- nislos entgegenzutreten, um seinem eigenen Ideal, das in einer ‘gerechten‘ Rekonstruktion des Künstlerlebens bestand, den Weg zu ebnen. Um zu einer differenzierteren Bewertung des Verhältnisses zwischen Kolloffs Ansatz und der Tradition zu kommen sollte jedoch eine Zweiteilung beachtet werden, die Kolloffs Umset- zung einer ‘biographischen Methode‘ kennzeichnet. Sie wird in der Gliederung des Textes an- schaulich. Nachdem Kolloff, im Anschluß an das erwähnte ‘Zerrbild‘ der bisherigen Biogra- phik, im zweiten Kapitel „Rembrandt’s Leben“ entlang der Quellen und Werke geschildert hat, hier nur noch in einzelnen Fällen auf die falsche Überlieferung hinweisend, widmet er das dritte Kapitel „Rembrandt’s Person und Privatcharakter“. Und während sich jene quellenge- stützten Aussagen zu Geburt, Ausbildung, Ehe oder Tod jeweils nur wenig erzählerisch deu- tend vom Archivdokument entfernen, worin fraglos ein elementarer Unterschied zur Tradition gesehen werden muß, fußt dieser dritte Teil wesentlich stärker auf der Interpretation. Dabei kommt es auch erneut zu einer abgrenzenden Auseinandersetzung mit der anekdotischen Rembrandtfigur. Aus seinem Bekenntnis zum Faktischen zieht Kolloff nicht die Konsequenz, auf eine Reanimation des „Privatcharakters“ der historischen Gestalt zu verzichten. Ganz selbstverständlich steuert seine Biographie vielmehr auf die Frage zu, was für ein Mensch hinter den Werken stehen mag. Schon seine Kritik an der bekannten Künstlervita entzündet sich ja weniger an unzutreffenden Lebensdaten als an der anekdotischen Ausschmückung, die aus Rembrandt lediglich die historische Aktualisierung literarischer Figuren macht, „einen

57 Gauner, einen Wucherer, einen Pöbelfreund, einen Religionsspötter, einen Schwarzkünstler“ (Kolloff 1853, 426). Es ist das ‘Zerrbild‘ „von Rembrandt’s Leben und Charakter“, daß Kolloffs Zorn auf sich zieht. Und in dieser Hinsicht kann sein Artikel als Prototyp der herme- neutischen Biographik gelten, die in der akademischen Kunstgeschichte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Position einnahm und deren Einflüsse weit ins 20. Jahrhun- dert reichen. Das künstlerische Werk und das Wesen des Künstlers werden darin als zwei Säulen des gleichen Bauwerks vorgestellt, die sich in ihrer Größe entsprechen, sich gegensei- tig stützen, sich ineinander spiegeln, also wechselseitig jeweils Ausdruck des anderen sind. Der Charakter des Künstlers und sein Werk existieren als ‘Einheit in der Zweiheit‘, sie er- scheinen nur äußerlich als unterteilt, ihrem Wesen nach werden sie als Eins verstanden. Zen- tral steht dabei die Strategie der Autorkonstruktion, die eine Anzahl künstlerischer Arbeiten unter dem Begriff des ‘Gesamtwerks‘ (oder des ‘Werks‘)65 als einen nicht bloß zufälligen, sondern nahezu organischen Korpus wahrnimmt und daraus die nicht weniger geschlossene Gestalt eines schöpferischen Subjekts ableitet. Das dokumentarisch nachweisbare Leben der historischen Figur des Künstlers spielt dabei lediglich eine assistierende Rolle. Es dient zunächst einmal dazu, die Fiktionalität der diskur- siven Figur des Künstler-Autors zu kaschieren und ihre Autorität zu legitimieren. Dabei kommt es jedoch, wie wir noch ausführlich sehen werden, zu einer neuen Form der Anekdo- tik, in welcher ein Teil der Lebensdaten zur Konstruktion einer Vita verwendet wird, die das Konzept des Künstlercharakters veranschaulicht und unterstützt. Es ist die weitgehende Ent- haltsamkeit in diesem Punkt, in der Kolloff zurecht das Lob jüngerer Rezensenten erntet (Tümpel 1971, 14). Dennoch ist die Grundlage einer derartigen ‘reanimierenden Biographik‘ gerade bei Kolloff nachweisbar. Sie besteht in der Vorstellung von einer ‘charakterlichen Entsprechung‘ von Autor und Werk. Dieser Punkt ist in der Argumentation vorgezeichnet, mit welcher Kolloff den Anekdoten entgegentritt:

„ (...) wenn aber in den Lebensbeschreibungen der Maler, die mit mehr als poetischer Licenz abge- faßt sind, ein gewisser Rembrandt vorkommt, der ein schlechter Hausvater, ein gemeiner Gauner, ein filziger Knicker und bei diesen schönen Eigenschaften ein genialer Künstler gewesen sein soll, so habe ich leider zu viel Erfahrung und Menschenkenntniß, um an die ses Gespenst oder Jungfern- kind (ens rationis) zu glauben. Wenn in einem Menschenherzen solche Schlechtigkeiten hausen, so ist die Schöpferkraft in der naiven Art, wie sie sich in Rembrandt’s Werken darstellt, eine absolute Unmöglichkeit.“ (Kolloff 1853, 477 f.)

65 Schon der Kollektivsingular ‘das Werk‘ (gleichermaßen als Entsprechung für das ‘Gesamtwerk‘ wie als Be- zeichnung für einzelne Werke verwendet) ist Ausdruck für die körperhafte Auffassung, für die formale Ge - schlossenheit, die diesem Konzept zugrunde liegt. 58 Die Kongruenz von ‘Gehalt‘ des Werkes und ‘Wesen‘ des Künstlers ist ein Grundpostulat der Konzeption des Künstlertums, die uns durch die folgenden Beispiele der Rembrandtrezeption des gesamten Untersuchungszeitraums begleiten wird. Kolloff formuliert deutlich das gleich- sam ‘physiognomische‘ Werkverständnis dieses Prinzips:

„Auch der Schlechteste und Verdorbenste kann mit Hülfe von angeborenen und ausgebildeten An- lagen noch Kunstwerke hervorbringen; aber diese Kunstwerke nehmen mehr oder weniger einen Charakter an, der mit der gesammten Zerrüttung und Verderbnis seines Geistes in Übereinstim- mung ist.“ (Kolloff 1853, 478)

Kolloff konstatiert nicht nur die psychologische Geschlossenheit des Künstlers an sich, son- dern auch die Einheit von Künstler und Werk. Der künstlerisch arbeitende Mensch formt sein Werk nicht nur durch eine angeborene Fertigkeit, die er zur Technik kultiviert hat, sondern mit seinem ganzen Wesen. Entsprechend bildet er sich im Werk immer selber ab. Die Kunst ist nichts Außenstehendes, was als handwerkliches Produkt von der menschlichen Eigenart seines Produzenten zu trennen wäre und durch die bloße Einhaltung äußerlicher Normen ent- stehen könnte. Kunst macht man nicht nur mit dem Verstand und mit den Händen, ihre we- sentliche Gestalt erhält sie durch die lebendige Charakteristik des Künstlers; seine charakteri- stische Individualität verleiht dem Werk seine Einzigartigkeit. Im Umkehrschluß steht uns im Kunstwerk damit zugleich eine besondere Quelle zur Verfügung:

„Was bedeutet diese oder jene Anekdote, die man immer aus dem Leben Rembrandt’s anführt? Alles ist verdächtig, alles streitig, was man bisher von seinen Lebensumständen gefaselt und gefa- belt hat. Wirklich, zuverlässig, gewiß, wahr sind seine Werke; das ist noch von ihm übrig, und da ist noch seine Seele. Alles, was dagegen streitet, darf man geradezu ableugnen, wenn man die aus seinen Werken gewonnene moralische Gewißheit für sich hat.“ (Kolloff 1853, 479)

Diese Vorstellung, auf der Suche nach dem Künstler und seiner Seele vor allem aus den Wer- ken zu schöpfen, die allein als „wirklich, zuverlässig, gewiß, wahr“ gelten, wird die biogra- phische Kunstgeschichtsschreibung der kommenden hundert Jahre dominieren. So geht Kolloff nicht nur durch seinen wissenschaftlichen Apparat und seine Verwerfung der Viten- tradition, sondern auch hinsichtlich der hermeneutischen Prämissen seiner Methodik der aka- demischen Kunstgeschichte voraus.

3.4 Ein Beispiel der Verkennungstopik nach Kolloffs Vorbild: Anton Springer

Das einprägsamste Merkmal von Eduard Kolloffs Aufsatz ist die demonstrative Polemik, mit der er seiner systematischen Darstellung des in „Actenstücken“ nachweisbaren Rembrandt eine „Copie“ der „bei älteren und neueren Künstlerbiographen“ geläufigen Charakterisierung

59 des Holländers durch „Anekdoten und Atelierschnurren“ vorausschickt. Die Abgrenzung von der Vitentradition und deren Einstufung als ‘Verkennung Rembrandts‘ wurde um 1900 zum Topos der Rembrandtliteratur. Kolloffs Strategie eines polemisch vorangestellten „Zerrbil- des“, das dem Plädoyer zur Rehabilitation Rembrandts besonderen Nachdruck verleiht, ist in der Folgezeit jedoch nur einmal in vergleichbarer Art und Weise ausgeführt worden.66 Die Rede ist von dem Text Rembrandt und seine Genossen, den Anton Springer zuerst 1886 in der ergänzten Neuauflage seiner Aufsatzsammlung Bilder aus der neueren Kunstgeschichte abdruckte. Hier von einer offiziellen Kolloff-Adaption zu sprechen verbietet sich allerdings, da der Autor, als erster ordentlicher Professor für neuere und mittlere Kunstgeschichte (in Bonn ab 1860)67 von historischer Bedeutung in der Geschichte der Disziplin, zwar Scheltema, Vosmaer, Thoré und Bode, nicht jedoch Kolloff als Bezugsquelle seines Textes angibt. Springers Ansatz ist vom historistischen Prinzip der unparteiischen Würdigung jeder Zeit nach den Maßgaben ihrer geschichtlichen Bedingungen geleitet.68 Obwohl ihm also nicht an einer Überhöhung der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts gelegen ist, und im Jahre 1886 sicher nicht mehr - wie noch zu Kolloffs Zeiten - von einer partiellen Geringschätzung Rembrandts die Rede sein konnte, geht Springer in der Umsetzung sogar noch über Kolloffs Polemik hinaus. Denn während dieser seine „Copie“ sorgsam ankündigte, läßt Springer den Leser ins offene Messer laufen. Seine Paraphrasen über realismuskritische Positionen eröff- nen den Text ohne Vorwarnung. Sie münden in den Vorwurf ein, der niederländischen Kunst fehle es an jener Monumentalität, die der Stellenwert der niederländischen Republik in der Geschichte erwarten lassen müßte:

„Besenstiele und Kupferkessel, Atlaskleider und Tuchwämmser, zechende Bauern und markt- schreierische Zahnbrecher, Gemüsehändlerinnen und Spitzenklöpplerinnen bilden das Ideal hollän- discher Maler; friedfertige Bürgerschützen, runzelige Frauen, langweilige Schreibmeister, Zunftvorsteher und andere Kirchturmgrößen fesseln ihr Interesse. Höchstens die Vorliebe für die Marinemalerei könnte man auf einen nationalen Zug zurückführen.“ (Springer 1886, 172)

66 In geringerem Umfang greift Alfred Lichtwark für seinen Vortrag Rembrandt und die holländische Kunst auf die Eröffnungsstrategie Kolloffs zurück, wobei er neben diesem auch Springer als Vorbild nennt (Lichtwark 1917 [1886], 261 f.). 67 Vgl. Betthausen u.a. 1998, 391; Dilly 1979, 238 ff.. 68 Mit dem Begriff „Historismus“ sind unterschiedliche Bedeutungspotentiale verknüpft (vgl. Rüsen 1993, 17 ff.). Meine Beurteilung Springers folgt der Defninition von Historismus als „(...) ein[em] Verständnis von Ge - schichtswissenschaft, in dem es entweder um die Ermittlung wertfreien Tatsachenwissens und um eine möglichst neutrale Stellung der historischen Erkenntnis im politischen Meinungskampf ihrer Gegenwart geht, oder aber um eine Betrachtung der Vergangenheit, die sich darum bemüht, diese mit ihren eigenen Wertmaßstäben zu mes- sen.“ (ebd., 18). 60 Außer in den seltenen Marinestücken fehle gänzlich die Repräsentation der kriegerischen Macht und politischen Größe, stattdessen bilde der enge Kreis des privaten Daseins die pro- fane Wahrnehmungsgrenze dieser Kunst:

„Als ob das kleine selbstsüchtige Ich mit seinen groben Genüssen und materiellen Freuden den Mittelpunkt der Welt bildete, so geben sich die holländischen Maler in ihren Werken.“ (Springer 1886, 172 f.)

Erst nach einigen Seiten in diesem angriffslustigen Tonfall deckt Springer die Vorwürfe als Rhetorik auf. Er habe nur in ironischer Absicht der „französische[n] Sitte“ das Wort erteilt, die zum Ende des 17. Jahrhundert wieder in die Niederlande eingedrungen sei und gegen die „ungeschminkte, ehrliche Natur“ der dortigen Kunst polemisiert hätte. Diese trüge die Ver- antwortung für die einstmals verbreitete „Meinung von dem geringen Werthe der holländi- schen Malerei“; ihre Aussagen seien nicht als „lautere Quellen“ zu behandeln (ebd., 174):

„Mit einer Leidenschaftlichkeit, aus welcher die offenbare Tendenz spricht, verdrehten die Kunst- schriftsteller des achtzehnten Jahrhunderts, heimische und fremde, die wenigen erhaltenen sicheren Züge zu einem häßlichen Zerrbilde, mit der Leichtfertigkeit, welche im Geiste der Zeit lag, zeich- neten sie statt Porträten förmliche Carikaturen.“ (Springer 1886, 174)

Springer beläßt es nicht bei solchen Feststellungen, sondern ruft diese ‘Zerrbilder‘ ausführlich ins Gedächtnis, wobei er den ironischen Ton nun gegen die besagten „Kunstschriftsteller“ wendet:

„Der arme Jan Steen z.B., der in seinen Bildern so herzlich lacht, die Schwächen der Zeitgenossen mit dem prächtigsten Humor verspottet, hat natürlich seine Heiterkeit nur in der Trinkstube gewon- nen. Die Maler, welche das tolle Treiben lustiger Zechbrüder so lebendig schildern, sind selbst die ärgsten Zecher gewesen. Wie hätten sie sonst den richtigen Ton der Schilderung treffen können? Diese Annahme, daß nur an sich selbst Erlebtes darstellbar sei, widerspricht in grober Weise den Bedingungen des künstlerischen Schaffens. Rubens ist ja auch nicht zur Hölle herabgestiegen, ehe er sein jüngstes Gericht malte und Raffael hat sich nicht erst vom Himmel sein Madonnenideal ge- holt.“ (Springer 1886, 174 f.)

Wo es doch vorkäme, so Springer in einer historistisch relativierenden Formel, könne man nicht den Malern zur Last legen, woran ein ganzes Zeitalter leide. „Verläumdet und vergiftet“ (ebd., 176) wurden nicht nur die Wirtshausmaler:

„Am schlimmsten erging es dem größten holländischen Meister: Rembrandt. (...) Ohne Übertrei- bung darf man behaupten, daß von der Geburt Rembrandts in der Windmühle angefangen Alles, was von seinem Leben erzählt wird - mit Ausnahme seiner späteren Verarmung, die aber auf seinen

61 sittlichen Charakter keinen Makel wirft, nur seinen Kunstenthusiasmus und seinen geringen prakti- schen Sinn beweist, erfunden und erdichtet ist. Die falschen Grundlagen unseres historischen Urtheiles sind durch die neuere heimische Forschung endlich beseitigt worden, unsere ästhetischen Anschauungen erscheinen aber noch immer nicht frei von Trübungen.“ (Springer 1886, 176)

In der fortdauernden Trübung „ästhetische[r] Anschauungen“ liefert Spinger selbst eine Legi- timierung für seine kämpferische Vorgehensweise. Eine zweite läßt sich aus dem Interesse des Autors an der Kategorie des ‘Nationalcharakters‘ ableiten. Denn Springer betont neben den historischen auch nationale Unterscheidungen zwischen der niederländischen Kunst und ihren späteren „halb französirte, halb italienisirte“ Kritikern (ebd., 174). Und wie er jede Epo- che mit ihren eigenen Maßstäben bewertet wissen will, sieht er auch die einzelne Nation als jeweils unterschiedliche Umgebung an, innerhalb derer ein eigenes Kunstmaß zu gelten habe:

„Ein thatkräftiges Volk tritt uns entgegen, derb und unumwunden in seinen Äußerungen, zuweilen nüchtern im Denken aber niemals schwächlich im Wollen, zum Einsatze der vollen Kraft bereit, gleichviel ob es galt, des Lebens Freuden zu genießen oder das Vaterland zu retten, die religiöse Ueberzeugung zu wahren. Wie hätten die Künstler, dem selbstbewußten Bürgerstande entsprossen, mit den Trägern des öffentlichen Geistes in mannigfacher persönlicher Berührung, sich dem Ein- fluß des Nationalcharakters entziehen, wie es anstellen sollen, denselben nicht auch in ihren Wer- ken zu offenbaren?“ (Springer 1886, 180)

Trotz der Betonung des „Nationalcharakters“ ist Springers Ansatz nicht im engeren Sinne als nationalistisch (d.i. chauvinistisch) einzustufen, da er, wie das Zitat auch zeigt, nicht von einer wesenhaft gegebenen Charakteristik ausgeht, sondern den Einfluß sozialer Faktoren berück- sichtigt (“dem selbstbewußten Bürgerstande entsprossen“).69 Das ändert jedoch nichts an dem patriotischen Zug seiner Abgrenzungen gegen Italien und Frankreich, der uns bei keinem der bisher behandelten Autoren in dieser Weise begegnete. In dem thematischen Bereich der Re- habilitation der Ästhetik holländischer Malerei des 17. Jahrhunderts, an den Scheltema die Stärkung des niederländischen Bürgerstolzes, Planche die Verteidigung realistischer Gegen- wartskunst und Kolloff die Verbannung anekdotischer Biographik anschloß, spielte die Unter- scheidung zwischen Holland und Italien stets eine assistierende Rolle. Bei Springer tritt diese Frage mit einem nationalpolitischen Impetus aus dem Hintergrund hervor. Ich nehme diese inhaltliche Verschiebung zum Anlaß einer Diskursstrukturierung. Mit dem Sprung von Kolloff zu Springer haben wir die diskursive Grenzlinie überschritten, mittels derer ich das engere Feld der deutschen Rembrandtrezeption um 1900 von seiner Vorgeschichte unter-

69 Dies impliziert eine Veränderbarkeit des „Nationalcharakters“, wie sie etwa bei Julius Langbehn als undenk- bar erscheinen müßte. 62 scheide. Bevor wir zum Kernzeitraum der Untersuchung überleiten, sollen die möglichen po- litischen Implikationen der Rembrandtrezeption der Jahrhundertmitte an ihrem vermutlich markantesten Beispiel demonstriert werden: der ‘Verteidigung Rembrandts‘ durch Théophile Thoré.

4 Im Zeichen des ‘homme libre‘: Rembrandt und die Holländer bei Théophile Thoré (1858)

Der Reiz der Texte Théophile Thorés liegt nicht allein in seiner Bedeutung als Kunstkritiker des seconde empire. Vielmehr begegnen wir in Thoré einer facettenreichen Autorfigur, die eine besondere Interessantheit aufzubieten hat, da die biographischen Informationen, die über sie kursieren, eine prägnante Ergänzung ihrer publizistischen Tätigkeit darstellen. Théophile Thoré tritt zuerst 1833 in Paris als Journalist und Kunstkritiker in Erscheinung. Wie Frances Suzman Jowell nachweist, ist er dabei stark vom Gedankengut des Saint-Simo- nismus beeinflußt.70 Die Argumentationweise seiner frühen Schriften basiert auf der Ge- schichtskonzeption dieses Kreises, die eine soziale Evolution der Gesellschaft und des Men- schen postuliert. Ungleich weniger komplex und systematisch als später bei Marx, wird hier ein Gleichheitskonzept mit Mustern religiöser Heilserwartung kombiniert. Die Analyse der gegenwärtigen Gesellschaft, wie sie Thoré z.B. in seinem Artikel L’art social et progressif (1834) entwickelt, weist dabei wesentliche Elemente moderner kulturkritischer Programmatik auf, die uns im weiteren immer wieder beschäftigen werden. Dazu zählt die Vorstellung, in einer Übergangszeit zu leben, die als gespalten empfunden wird und aus der sich, mit Hilfe einer zeitgemäßen, zukunftsweisenden Kunst, eine neue Ära gesellschaftlicher Einheit und „Synthese“ entwickeln wird. Während die Zeit von Christus bis Luther bei Saint-Simon als „la synthèse chrétienne“ (die christliche Synthese) dargestellt wird, sei mit Luther eine Über- gangszeit angebrochen, die „protestation“, die bis in die Gegenwart reiche (Jowell 1977, 16). Auf Basis dieser Epocheneinteilung attackiert der junge Thoré die Kunst der letzten 300 Jahre einschließlich der seiner Zeitgenossen, da sie sich nicht der heiligen Aufgabe stelle, den Men- schen auf seinem Weg zur zukünftigen Vervollkommnung zu geleiten, sondern sich durch die Nachahmung von Antike und Renaissance nach rückwärts orientiere:

70 Thorés persönliche Mitgliedschaft in der „Sekte“ Saint-Simons ist unwahrscheinlich (vgl. Jowell 1977, 2). Für die folgenden Darstellungen greife ich primär auf diesen Text zurück, dessen Darstellungen Unterstützung fin- den bei Herding 21984, 111 ff.; Boomgaard 1995, 46 ff. und Chu 1974,14. 63 „Inmitten dieser ständigen Anarchie erschien allein die Kunst als stillstehend; sie allein hatte sich lange Zeit dem unvermeidlichen Gesetz der fortschreitenden Veränderung entzogen: im Innersten dieser Gesellschaft, die sich verändert hatte, spiegelte sie noch immer regungslos die alten Formen wieder, während alles um sie herum neu war (...). Es muß gesagt werden, daß also keine Kunst mehr vorhanden war.“ (Thoré 1834, zit. nach Jowell, 17)71

Die Kunst soll Anteil nehmen an den gesetzmäßigen Entwicklungsprozessen der Gesellschaft, so wie es Thoré selber tat, als die Revolution von 1848 die Gelegenheit zur aktiven Gestal- tung von Geschichte bot. Seine Besprechung des Salons jenes Jahres beendete er mit den Worten:

„Wir halten unsere Leser nicht lange mit dem Salon von 1848 auf. Die Politik hält für uns wesent- lich interessantere Ereignisse bereit. Wir machen heute besseres als Kunst und Poesie: wir machen lebendige Geschichte." (Thoré, Salon de 1848, 565, zit. n. Jowell 1977, 173)72

Diese Chance währte nicht lange. Im kurzen Frühling der Februarrevolution war Thoré an der Veröffentlichung republikanischer Zeitschriften beteiligt und kanditierte auf einer soziali- stisch orientierten Liste erfolglos für die Nationalversammlung. Nach dem gescheiterten Ar- beiteraufstand vom 15. Mai ging er vorübergehend ins Exil, das für ihn, nach der Teilnahme an einem weiteren bewaffneten Aufstand gegen die Regierung Louis Napoleons im Juni 1849, zu einem Dauerzustand wurde. Im November 1849 wurde dem „Citoyen Thoré“ offiziell der Bann ausgesprochen (Jowell 1977, 175 f.). Erst die Generalamnestie von 1859 sollte seine Rückkehr nach Frankreich ermöglichen. In der Zwischenzeit hatte sich Thoré intensiv der Kunst der Vergangenheit zugewandt und speziell in der holländischen Malerei das Objekt gefunden, in dem seine von der realen Ent- wicklung gedämpften politischen Ideale ihre kunsthistorische Ausformung finden konnten. Seit 1855 publizierte er unter dem programmatischen Pseudonym „William Bürger“. In dieser Kombination des englischen Vornamens mit dem deutschen Wort für „Citoyen“ trifft sich der internationale Anspruch von Thorés politischen Idealen mit seiner erklärten Verehrung Wil- liam Shakespeares (Jowell 1977, 180 u. 365). Nach mehreren Artikeln und Veröffentlichungen erschienen 1858 und 1860 die beiden ein- flußreichen Bände über die Kunstschätze Hollands, Musées de la Hollande. Im Stile eines kommentierenden Kataloges bespricht Thoré darin Hauptwerke der niederländischen Kunst,

71 „Au milieu de cette anarchie incessante, l’art seule semblait stationnaire; seul, il s’était soustrait longtemps à la loi inevitable de transformation progressive: au sein de cette société qui était changée, lui, immobile, reflétait encore les anciennes formes, quand autour de lui tout était nouveau (...) Il faut le dire, il n’y eut plus d’art alors.“ (Thoré 1834, zit. nach Jowell 1977, 17). 72 „Nous n’arrêtons pas longtemps nos lecteurs sur le Salon de 1848. La politique nous réserve des spectacles plus intéressants. Nous faisons aujourd’hui mieux que de l’art et de la poésie: nous faisons de l’histoire vivante.“ (Thoré, Salon de 1848, 565, zit. nach Jowell 1977, 173). 64 wobei er jeweils die Werke eines Künstlers zusammenfaßt, die an einem bestimmten Aufbe- wahrungsort zu finden sind. Durch diese Gliederung gibt das Buch seine Ausrichtung auf das Genre der Reiseliteratur zu erkennen. Seine Publikation ist demnach sowohl an dem Bedürf- nis nach einer aktuellen Darstellung zur niederländischen Kunst als auch an der zeitgenössi- sche Mode der Hollandreisen orientiert.73 Dem entspricht eine sachlich-deskriptive Sprache. Euphorischer wird der Stil Thorés jedoch, wenn er in der Einleitung und im Schlußkapitel auf seine Faszination für holländische Kunst zu sprechen kommt. In diesen Passagen bestätigt sich auch die Kontinuität seines politischen Interesses. Denn mit der Kunst der Niederlande des 17. Jahrhunderts erklärt er implizit auch die ihr zugrunde liegende Gesellschaftsform für zeitgemäß und vorbildlich, da in ihr die Ideale des selbstbestimmten Bürgers und der durch diesen Bürger regierten Nation zum Ausdruck kämen. Die historischen Niederlande fungieren als Projektionsfläche für programmatische politische Aussagen. Thorés Geschichtsbild des 17. Jahrhunderts trägt die utopischen Züge des Wunschbildes für eine eigene republikanische Zukunft. Das Ideal einer Kunst, die sich „der wahren Repräsentation unserer Epoche“74 verschreibt, wie es schon in L’art social et progressif heißt, findet auch nach den Jahren politischer Fru- stration und kunstwissenschaftlicher Spezialisierung noch einen deutlichen Niederschlag. Tatsächlich nimmt Thoré Grundzüge seines früheren Geschichtsbildes und vor allem die Kri- tik an der Kunst der vergangenen Jahrhunderte wieder auf, wenn er in der Einleitung der Musées de la Hollande das klassizistisch geprägte Kunstideal beklagt. In allen Teilen Euro- pas, so Thoré, sei die Geschichte der italienischen Kunst besser bekannt als die der jeweils ‘eigenen‘. Zwar bemühten sich die Gelehrten der jüngeren Generationen darum, diese Wis- senslücken zu füllen, jedoch auch sie könnten für bestimmte Phasen der Kunstgeschichte kein eigenständiges Kunstschaffen hervorzaubern, da sich die Künstler früherer Zeiten, namentlich seit dem 16. Jahrhundert, zu sehr vom italienischen Vorbild beeinflußen ließen:

„Als diese Emigrationsbewegung [die Italienreisen der Künstler, M.H.] zur Norm wurde, ver- schwanden die niederländische Kunst, die flämische Kunst, die deutsche Kunst alle gemeinsam in einer banalen Nachahmung der Italiener. Zwar gab es ohne Zweifel noch gewandte Künstler, die jedes dieser Völker ihren Raffael oder ihren Michelangelo nannte, aber diese haben keinen Anteil mehr an der Geschichte ihrer eigenständigen Kunst. Die Eigenart des Menschen ist es, zu erfinden, er selbst zu sein und nicht ein anderer.“ (Thoré 1858,VIII f.)75

73 Vgl. Chu 1987 und van der Tuin 1935/1936. 74 “elle sent à peine la vie nouvelle, qui l’appelle à la représentation vraie de nôtre époque“ (Thoré 1834, zit. nach Jowell 1977, 18 f.). 75 „Lorsque l’emigration se fut généralisée, l’art hollandais, l’art flamand, l’art allemand, disparaissent tous en- semble dans un pastiche banal des Italiens. Il y eut encore, sans doute, des maîtres habiles, que chacun de ces 65 Die Verknüpfung der Individualität des Künstlers mit der nationalen Eigenart seiner Herkunft ist ein weiteres Charakteristikum moderner Programmschriften, das uns später wiederbegeg- nen wird. Hier soll zunächst betont werden, wie gewandt der Autor den politischen Gehalt der Anlehnung holländischer, flämischer und deutscher Künstler (die französischen spart er hier aus) an die Regeln des Renaissance- und Antikenideals herausstellt und von der eigenständi- gen Kunst der Nationen auf eine allgemeine Aussage über das Wesen des Menschen kommt: Er selbst zu sein, und nicht ein anderer.76 Thorés Schlüsselbegriffe in diesen programmatischen Passagen sind „homme“, „vie“, „peu- ple“, „pays“ und „humanité“. Der Hoffnung auf eine Kunst, in der die Menschen und die Na- tionen ihre Eigentümlichkeit entfalten, stellt der Autor die niederländische Kunst als Leitbild voran. In einer häufig zitierten Passage greift er dabei auf ein wesentliches Stilmittel der klas- sizistisch-literarischen Künstlerbiografik zurück, auf die Anekdote, um sein Konzept einer Polarisierung von feudalistischen und republikanischen Kunstprinzipien zu veranschaulichen. Aufgrund ihrer rezeptionsgeschichtlichen Bedeutung, ihrer Aussagekraft über den literari- schen Stil Thorés und ihrer topischen Potentiale erscheint mir ein längeres Zitat dieser Pas- sage als angemessen:

„Über Jahre hinweg haben wir nun fast ohne Unterlaß zur einen Hälfte mit den Italienern und Raf- fael und zur anderen Hälfte mit unseren Holländern und Rembrandt gelebt, der uns niemals verläßt. Diese erlesenen Toten, unsere einzige Begleitung in der Einsamkeit, haben uns gequält, Tag und Nacht, indem sie uns ständig ihre so gegensätzlichen Rätsel stellten. Eines Morgens, als wir in einem illustrierten Magazin die Porträts von Raffael und Rembrandt fan- den, machten wir uns automatisch daran, sie auszuschneiden, um sie mit einer Nadel an der Wand anzubringen, wie es die Plebejer, die Kinder und die Künstler tun. Raffael ist nach links gewendet, Rembrandt nach rechts. Unmöglich sie von Angesicht zu Angesicht zu befestigen: das trüge den Zug einer doppelten Ironie. Ganz unbefangen setzten wir sie Rücken an Rücken und, oberhalb der beiden Köpfe (...) schrieben wir ‘JANUS‘, begleitet durch die mystische Bezeichnung mit dem Monogramm der beiden Meister, wie folgt angeordnet:?R Das war das instinktive Ergebnis unserer ganzen [élubrations] über diese beiden großen Genies. Und sind diese beiden nicht in der Tat der Janus der Kunst? Raffael schaut zurück; Rembrandt schaut nach vorn. Der eine hat die Menschheit abstrakt gesehen, unter den Symbolen der Venus und der Jungfrau, Appolls und Christi; der andere hat unmittelbar und mit seinen eigenen Augen

peuples appela ses Raphaël ou ses Michel-Ange, mais qui ne comptent plus dans l’histoire de son art autochtone. Le propre de l’homme est d’inventer, d’être soi et non pas un autre.“ (Thoré 1858, VIII f.). 76 Das Verständnis von Individualität als Abgrenzung des Einzelnen durch eine Hervorhebung der Subjektivität, der einzigartigen Eigenartigkeit, weist hier als Muster über den anthropologischen Bereich hinaus. Es erscheint interessant, diese moderne Konzeption vom abgeschlossenen singularen Individuum als Parallelphänomen der Bildung der Nationalstaaten zu betrachtet. 66 eine wirkliche und lebendige Menschheit gesehen. Der eine ist die Vergangenheit, der andere die Zukunft.“ (Thoré 1860, X)77

Die Orientierung nach rückwärts, die er schon 1834 der zeitgenössischen Kunst zum Vorwurf machte, findet in dieser Anekdote nicht nur eine symbolische Form, es ist ihr inzwischen auch ein greifbares Gegenbild erwachsen. Was Thoré in der Kunst seiner eigenen Zeit nicht fand, hat er in einer historischen Epoche ausgemacht. In der rhetorischen Gegenüberstellung von Raffael und Rembrandt formuliert er ein Bild für den Paradigmenwechsel in der Kunst und der Kunstgeschichte seiner eigenen Zeit, der parallel verläuft mit gesellschaftlichen Umbrü- chen und hegemonialen Kämpfen. Dabei verwirft er nicht länger die ganze Kunstgeschichte der letzten dreihundert Jahre, sondern wiegt zwei Epochen gegeneinander ab, wobei er die eine der Vergangenheit zuschlägt, während er die andere als zukunftsweisend deklariert. Gleichzeitig stehen die beiden Künstler-Stellvertreter jedoch nicht nur für ihre Epochen. Sie repräsentieren jeweils ein Kunst- und ein Gesellschaftsideal der Gegenwart, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts miteinander im Streit liegen. Raffael, der Idealkünstler der Klassizisten, steht für eine Welt der festgelegten Schönheitsregeln und der symbolischen Ordnungen, in der auch die Herrschaft nach traditionellem Muster unveränderlich verteilt ist. Dagegen wird Rembrandt gesetzt. Er repräsentiert die Republik der Niederlande. In seiner Kunst sind nicht länger die abstrakten Menschen mythischer Erzählungen die Helden, sondern die wirkliche und lebendige Menschheit, wie er sie mit seinen eigenen Augen gesehen hat. Thoré entwirft sein Bild der Kunst Hollands als ein Idealbild seiner Kunst für die Gegenwart und damit als Gegenbild jener klassizistischen Kunstregeln, die an den Akademien weiterhin bestimmend waren. Wie die akademische Kunstpraxis sich an der Aufgabe einer Repräsenta- tion der Welt orientiert, ihrer systematisch verstehbaren Erscheinungen, ihrer auch politisch relevanten Ordnung, so verlangt Thoré nach einer gegensätzlichen Kunst für einen republika- nischen Staat. In der Kunst Hollands sieht er vor allem ihr Interesse am zeitgenössischen bür- gerlichen Alltagsleben, ihre stilistische Freiheit von Einflüssen und Rückgriffen auf Antike und Renaissance und ihre wirtschaftliche Fundierung auf einem breiten, dynamischen Markt,

77 „Durant des années, nous avons donc vécu presque sans cesse, moitié avec les Italiens et Raphael, moitié avec nos Hollandais et Rembrandt qui jamais ne nous quitte. Ces morts illustres, notre seule compagnie dans la soli- tude, nous ont tourmenté, le jour et la nuit, en nous proposant sans cesse leurs énigmes si divergentes. Un matin, trouvant dans un magazine à images les portraits de Raphaël et de Rembrandt, nous nous mîmes à les découper machinalement pour les accrocher avec une épingle à la muraille, comme font les plébéiens, les enfants et les artistes. Raphaël est tourné à gauche, Rembrandt à droite. Impossible de les attacher face à face: ça aurait l’air d’une double ironie. Naïvement, nous les accolâmes dos à dos, et, au-dessus des deux têtes (...) nous écri- vîmes: JANUS, accompagnant le nom mystique du monogramme des deux maîtres ainsi disposé: ?R. Tel fut le résumé instinctif de toutes nos élubrations sur ces deux grands génies. A eux deux, en effet, ne sont-ils pas le Janus de l’art? Raphaël regarde en arrière; Rembrandt regarde en avant. L’un a vu l’humanité abstraite, sous les symboles de Vénus et de Vierge, d’Apollon et de Christ; l’autre a vu directement et de ses propres yeux, une humanité réelle et vivante. L’un est le passé, l’autre l’avenir.“ (Thoré 1860, X). 67 die sie vom Diktat einzelner Auftraggeber unabhängig macht.78 Thoré versteht diese Kunst als den Ausdruck einer Zeit, in der die Holländer als demokratische Protestanten, „frei im Den- ken und im Handeln“,79 sich gegen die katholischen Monarchien behaupteten und dabei jene charateristischen Züge zum Ausdruck bringen konnten, die er als ihre nationale Charakteristik ansieht:

„Das ist der Charakter der holländischen Schule in ihrer Gesamtheit. Das Leben, das lebendige Le- ben, der Mensch, seine Gebräuche, seine Beschäftigungen, seine Freuden, seine Launen. Die einen zeigen den Bürger in Aktion für die öffentliche Sache, wie er sich der Waffenübung widmet oder der Abwicklung von Geschäften; die anderen zeigen die Familien in häuslicher Umgebung oder während ihrer Entspannung im Freien, diese die gebildeten Klassen, jene die arbeitenden Klassen oder die Randgruppen. (...) Überall ist Bewegung, das aktuelle Leben, das zugleich das ewige Le- ben ist, - die Geschichte des Volkes und des Landes.“ (Thoré 1858, 322 f.)80

Mit diesen Worten können besonders zwei Bilder Rembrandts verbunden werden: die Nacht- wache (der „Bürger [...] wie er sich der Waffenübung widmet“) und die Staalmeesters („oder der Abwicklung von Geschäften“).81 Alle weiteren Beschreibungen ließen sich besser mit Brouwer, ter Borch, van Ostade oder Steen illustrieren. Entscheidend ist jedoch der ‘Realis- mus‘, den Thoré einklagt. Der Kanon des im klassizistischen Sinne Bildwürdigen soll durch den Einzug des Alltagslebens in die Kunst gebrochen werden. Und mit dieser Macht über die Ordnung der Bilder wird implizit auch dem politischen Herrschaftsanspruch der Päpste und der Könige, der Götter und der Helden widersprochen:

„Ah! das ist nicht länger eine mystische Kunst, die den alten Aberglauben umfaßt, eine mythologi- sche Kunst, die alte Symbole wiedererrichtet, eine fürstliche, aristokratische Kunst, die deshalb außergewöhnlich wäre und ausschließlich zur Glorifizierung jener dient, die über die Menschheit herrschen. Es ist nicht länger die Kunst der Päpste und der Könige, der Götter und der Helden. Raf- fael hatte für Julius II gearbeitet und für Leo X; Tizian für Karl V und Franz I; Rubens arbeitete noch für den Erzbischof Albert und die Könige von Spanien, für die Medici von Frankreich und für

78 Dieses ‘Autonomiepostulat‘ wird uns im zweiten Teil der Untersuchung noch eingehender beschäftigen. 79 „libre de pensée et d’action“ (Thoré 1858, X). 80 „Tel est le caractère de l’école hollandaise dans son ensemble. La vie, la vie vivante, l’homme, ses moeurs, ses occupations, ses joies, ses caprices. Les uns ont pris le citoyen en action pour la chose publique, qu’il se livre à l’exercice des armes ou à la délibération des affaires; les autres ont pris les familles chez elles, ou dans leurs distractions extérieures; ceux-ci les classes distinguées, ceux-là les classes laborieuses, ou les classes excentri- ques. (...) Partout l’animation, la vie présent, qui est aussi la vie éternelle, - l’histoire du peuple et du pays.“ (Thoré 1858, 322 f.). 81 Man beachte, daß Thoré, der ehemals aktive Revolutionär, hier Kampfübungen und Geschäftstätigkeit als repräsentative Beschäftigungen freier Bürger gleichwertig nebeneinander stellt. 68 Charles I von England. Aber Rembrandt und die Holländer haben für niemanden gearbeitet als für Holland und die Menschheit.“ (Thoré 1858, 323)82

In seiner Aufzählung leitet Thoré fließend von Raffael zu Rubens über und platziert damit einen weiteren Künstler, der häufig als Antipode Rembrandts Verwendung fand.83 Zudem kann diese Passage verdeutlichen, in welchem Maße Thoré die Politisierung des Kunstdiskurs reflektierte und den Künstler zum Stellvertreter des Menschen an sich erhob. In der Kunst sind demnach nicht länger jene Erzählungen tonangebend, die allein der Glorifikation der Beherrscher der Menschheit geweiht sind. Und der Künstler ist nicht länger abhängig vom Wohl der kirchlichen und weltlichen Fürsten, sondern er ist frei. Was er erarbeitet kommt nicht mehr konkreten Personen, den Repräsentanten der Herrschaft zu Gute, sondern es wirkt mit am Wachstum abstrakter Herrschaftsstrukturen, an denen der einzelne Bürger selbst parti- zipiert, dem Staat und der Menschheit. Thorés sieht den Künstler im Feudalismus als ein Werkzeug, das dem Willen des Herrschers untergeordnet ist. Dieser entscheidet über das ‘Wie’ der künstlerischen Ausführung, über das ‘Was’ des Bildmotivs und über das ‘Wofür’ der gesellschaftlichen Funktion. Die Kunst dient demnach nur als Hülle eines Aberglaubens, der zur Erhaltung wie zur Glorifizierung der fürstlichen Herrschaft diente. Wirtschaftliche Abhängigkeit, so Thoré, machte den Künstler zum Handlanger der Macht und die Kunst zum Vehikel der Machtausübung. In der holländi- schen Republik werde dagegen anstelle einzelner Adliger oder der Kirche die ganze bürgerli- che Gesellschaft zum Auftraggeber. An die Stelle eines hierarchischen Machtgefüges tritt die Eigenständigkeit der Nation freier, für sich selbst wie für ihre Nation verantwortlicher Bürger. Diese Elemente lassen sich im modernen Künstlerdiskurs wiederfinden: Die Freiheit des Ein- zelnen in der künstlerischen Autonomie, die Eigenständigkeit der Nation in einer charakte- ristischen nationalen Kunst und die Verantwortlichkeit des Bürgers in der Seriösität und ‘Tiefgründigkeit‘ eines an ewigen Werten und Wahrheiten orientierten künstlerischen Schaf- fens. Auch darauf wird zurückzukommen sein.

Théophile Thorés Argumentation kann allein aufgrund ihrer deutlichen Abgrenzung von ei- nem Gegenbild bereits als ‘revolutionär‘ gelten. Daß sich sein Kunstideal aber nicht nur ge-

82 „Ah! ce n’est plus l’art mystique, envelloppant de vieilles superstitions, l’art mythologique, ressuscitant de vieux symbole, l’art princier, aristocratique, exceptionnel par conséquent, et consacré uniquement à la glorifica- tion des dominateur de l’espèce humaine. Ce n’est plus l’art des papes et des rois, des dieux et des héros. Ra- phael avait travaillé pour Jules II et Léon X; Tiziano, pour Charles-Quint et FranVois Ier; Rubens encore travail- lait pour l’archiduc Albert et les rois d’Espagne, pour les Médicis de France et Charles Ier d’Angleterre. Mais Rembrandt et les Hollandais n’ont travaillé que pour la Hollande et l’humanité.“ (Thoré 1858, 323). 83 Es wäre überaus lohnend, den Vergleich von Rubens und Rembrandt als Variante des Dioskuren-Topos durch die Rezeptionsgeschichte zu verfolgen (vgl. z.B. Kugler 1837, 177; Fromentin 1876, passim; Lübke 1877, 227; Escherich 1909, 262; Hetzer 1984 [1926], 249 ff.; Schmidt-Degener 1928, 35). 69 gen etwas richtet, sondern vor allem für etwas kämpfen will, bringt er in den Schlußworten zum ersten Band der Musees nochmals auf den Punkt:

„Die holländische Kunst, mit ihrem Naturalismus, wie man es gerne nennt, ist also einzigartig im modernen Europa. Es ist das Merkmal einer Kunst, die auf ganz andere Weise inspiriert ist, als die mystische Kunst des Mittelalters oder die allegorische und aristokratische Kunst der Renaissance, die in der zeitgenössischen Kunst noch immer ihre Fortsetzung findet. Die Kunst Rembrandts und der Holländer, das ist ganz einfach DIE KUNST FÜR DEN MENSCHEN.“ (Thoré 1858, Bd. 1, 326)84

In Thorés Bild der niederländischen Kunst steht der Mensch zentral. Seine zeitgenössische Entsprechung ist der homme libre der bürgerlichen Revolution. Wenn sich auch in der kunst- literarischen Produktion Thorés eine quantitative Verschiebung zugunsten einer entpolitisiert erscheinenden Beschreibung der sichtbaren Fakten eingestellt hat, so bleibt seine qualitative Orientierung eindeutig politisch. Kunst ist für ihn ein Redeanlaß, um politisch Position zu beziehen. Im Gegensatz zu vielen seiner kunstwissenschaftlichen Nachfolger war er sich der Unmöglichkeit bewußt, öffentlich eine unpolitische Aussage zu treffen. Im Dezember 1864 schrieb er an einen Freund:

„Früher sprach ich in den Clubs über Kunst, wenn die politische Leidenschaft uns erfaßte und auch die Zuhörer mitriß. Heute hätte ich Angst davor. (...)Wie sie wissen muß man, um die Geschichte auszulegen, sie von drei Blickpunkten aus betrachten: von Angesicht zu Angesicht, das ist die Ge- genwart; von hinten und von vorne - die Zukunft. Es scheint mir aber unmöglich, z.B. über Rem- brandt zu sprechen, ohne die Heuchelei und den Despotismus anzuprangern, ohne das Licht zu preisen, das die Freiheit ist, und all die menschlichen Qualitäten, die die Politik, die Revolution, den Fortschritt und die Zivilisation berühren.“85

Der bewußte Umgang Thorés mit den politischen Implikationen kunsthistorischer Rede bildet in der französischen Rembrandtrezeption seiner Zeit keine Ausnahme. Im Geiste des Saint-Si- monismus hatte bereits 1848 Arsène Houssaye, Herausgeber der Zeitschrift L’Artiste, Rem- brandt als bekennenden Lutheraner und damit als einen frühen Aufklärer geschildert. Rem-

84 „L’art hollandais, avec son naturalisme comme on se plaît à dire, est donc unique dans l’Europe moderne. C’est l’indication d’un art inspiré tout autrement que l’art mystique du Moyen-âge, que l’art allegorique et ari- stocratique de la Renaissance, toujours continuée par l’art contemporain. L’art de Rembrandt et des Hollandais, c’est tout simplement, L’ART POUR L’HOMME.“ (Thoré 1858, Bd. 1, 326). 85 „Vous savez bien que, pour interpréter l’histoire, il faut la voir de trois points de vue: en face, c’est le présent; en arrière, et en avant - l’avenier. Il me semble impossible de parler de Rembrandt, par exemple, sans abîmer l’hypocrisie et le despotisme, sans glorifier la lumière, qui est la liberté, et toutes les qualités humaines qui tou- chent à la politique et à la Révolution, au progrès et à la civilisation.“ (Thoré, zit. nach Jowell 1977, 259, über- setzt und ergänzt unter Verwendung von Herding 1978, 111 f. Ebd. ist als Quelle verzeichnet: Paul Cottin (Hg.) Thoré peint par lui-même, Paris 1900, 222. Nach Herding ist der Brief an M. Delhasse gerichtet, nach Jowell schrieb ihn Thoré dagegen an E. Leclerq). 70 brandt habe in Luther jenen Reformator erkannt, „der ihnen [den Holländern, M.H.] den Geist der Revolte eingeflößt habe, der aus seinen Brüdern freie und starke Menschen gemacht habe“ (Houssaye 1848, zit. nach Carasso 1992, 191). Auch Alfred Dumesnil, Autor des 1850 anonym publizierten Buches La foi nouvelle cherchée dans l’art de Rembrandt à Beethoven, läßt in den maskierten Angaben zu seiner eigenen Person die aktive Verstrickung in die 1848er Revolution erkennen86. Politische Impulse verbinden sich in dieser Schrift mit christli- chen Idealen zur Utopie von einer menschlicheren Gesellschaft, als deren prophetische Visio- nen unter anderem die Bilder Rembrandts interpretiert werden. Wenn der Autor seine Inten- tion beschreibt, ist neben einer Tendenz zur Harmonisierung gesellschaftlicher Konflikte die Aufforderung zu einem ‘Rückzug ins Private‘ unverkennbar:

„Ich möchte mit Hilfe Rembrandts den heimischen Herd beschreiben, seine Wärme und seinen Schein; die christliche Legende zeigen, die in den Kellern der Industrie demokratisch geworden ist; jedes Haus, jede gesegnete Hütte des heiligen Gastes würdig, besonders die ärmste. Das Ideal, welches ich in Rembrandt finde, ist das Heilen, das Lindern. Er versteht Christus als den großen Heilkundigen.“ (Dumesnil 1850, 1)87

Diese vereinzelten Beispiele können die Spannweite kunstpolitischer Reflexionen aus der Zeit Thorés nur andeuten. Speziell für das Frankreich des 19. Jahrhunderts hat die kunsthistorische Forschung in den vergangenen Jahrzehnten die Eingebundenheit der Kunstentwicklung, so- wohl der Künstler als ihrer Interpreten, in die gesellschaftspolitischen Prozesse nachgewie- sen.88 Wie der engagierte Realismus Courbets in besonderem Maße zeigt, spielt das Vorbild der niederländischen Kunst und ihr Verständnis als ein einzigartiges Beispiel für eine republi- kanische Kunstproduktion dabei ein wichtige Rolle, sowohl im Hinblick auf die Motivwahl als auch bezüglich der gestalterischen Umsetzung.89

In diesem ersten Teil meiner Arbeit habe ich versucht, durch die stichprobenartige Darlegung der Positionen einzelner Autoren das Problemfeld zu skizzieren, in dem sich die Neubewer- tung Rembrandts in der Mitte des 19. Jahrhunderts vollzieht. Dabei sollte die Auseinanderset- zung mit literarischen und kunsttheoretischen Traditionen ebenso angedeutet werden wie die

86 „Des événement publics et privés survinrent, ils le [den Autor, M.H.] jetèrent bien loin de ces pensées. Après dix-huit mois d’agitation diverses, retrouvant un peu de loisir à la campagne (...).“ (Dumesnil 1850, IV f.). 87 „Je veux caractériser, par Rembrandt, le foyer, sa chaleur er ses lueurs; montrer la légende chrétienne devenue démocratique dans la cave industrielle; toute maison, toute cabane bénie, digne de l’hôte divin, surtout la plus pauvre.L’idéal que je trouve dans Rembrandt, c’est guérir, soulager. Il comprit le Christ comme le grand gué- risseur.“ (Dumesnil 1850, 1). 88 Als Beispiele sei verwiesen auf Hofmann 21974, Herding 1978, Clark 1999. 89 Zum politischen Engagement Courbets vgl. Herding 1978, besonders den Aufsatz von Linda Nochlin. Die unterschiedlichen Positionen realistischer und impressionistischer Kunst in den gesellschaftlichen Konflikten hat Albert Boime (1995) herausgearbeitet. Zum Einfluß Rembrandts und der Niederländer auf Courbet vgl. Chu 1974; Hoffmann 21974, 14. 71 Problematik einer veränderten Bildästhetik und die politischen Implikationen dieser Prozesse. Einige der hier ausgelegten Fäden werden wieder aufzunehmen sein. Da sich die nun folgende Analyse der deutschen Rembrandtrezeption in den Jahrzehnten um 1900 von der bisher ge- wählten Konzentration auf Autoren und ihre Texte löst, ist jedoch zunächst der Einschub ei- niger Reflektionen über meine Konzeption des ‘diskursiven Feldes‘ und die Methodik seiner Untersuchung notwendig.

72

Zweiter Teil

Der autonomisierte Künstler. Rembrandtrezeption um 1900

73 74 1 Einführung: Rembrandtrezeption als ‘diskursives Feld‘

Der zweite Teil meiner Arbeit kann als Versuch einer ‘topologischen Darstellung‘ der diskur- siven Künstlerfigur ‘Rembrandt‘ um 1900 bezeichnet werden. Neben der Benennung der do- minanten Topoi, ihrer Variationen und ihrer wechselseitigen Bezüge ist dabei auch zu demon- strieren, in welcher Weise ein Grundbestand historischen Materials durch Verfahren der Se- lektion und der Ausschließung, durch Überbrückung von Lücken, durch Glättung von Brü- chen und Widersprüchen, durch dramaturgische Gestaltung, durch psychologistische Projek- tion und andere reanimierende Maßnahmen zur Vorstellung von einem homogenen, sinn- und tugendhaften imaginären Individuum ausgestaltet wird. Das Ziel der folgenden Analyse ist es also, die Ordnungen des Rembrandtbildes in der deut- schen Literatur der Jahrzehnte um 1900 zu beschreiben. Im Anschluß daran wird nach Mo- dellen zur Erklärung der Funktion zu fragen sein, welche dieser diskursiven Künstlerfigur in der gesellschaftlichen Kommunikation jener Zeit zukommt.

Vorab ist es jedoch notwendig genauer zu charakterisieren, was unter dem diskursiven Feld der Rembrandtrezeption verstanden werden soll. Den Ausgangspunkt der Analyse bildet die Entscheidung für die Thematik: Die Arbeitshypothese lautet, daß die Rembrandtliteratur zwi- schen ca. 1880 und 1950 für eine Beschreibung der Topik des autonomen Künstlersubjekts einen geeigneten Gegenstand darstellt. Die Topographie des damit angedeuteten Feldes gilt es nun in dreierlei Hinsicht zu konkreti- sieren. Um den ausgewählten Rahmen der Untersuchung zu rechtfertigen, müssen, neben der Frage nach der geopolitischen Herkunft der zu untersuchenden Texte, die Zeitspanne ihrer Entstehung sowie die Differenzierbarkeit ihrer literarischen Typik umschrieben werden.

1.1 Zur raum-zeitlichen Eingrenzung der Untersuchung

Die ersten beiden Fragen - nach dem geopolitischen Raum und nach der Zeitspanne des Mate- rials - sind nur im Zusammenhang zu klären. Die deutschsprachige Rembrandtliteratur steht im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Wechselwirkungen mit französischer und nie- derländischer Literatur. Die Gewichtung dieser internationalen Verbindungen verändert sich jedoch: Zwischen 1850 und 1910 geht die Bezugnahme deutscher Autoren auf ihre französi- schen Kollegen zurück, während die Anzahl der Verweise auf Niederländer konstant bleibt. Autoren anderer Nationalitäten spielen praktisch keine Rolle. Diese Aussagen sind zu differenzieren: Autoren der 70er und 80er Jahre, etwa Lübke (1877), Bode (1883) und Springer (1886), legitimieren ihre Aussagen zu Rembrandt noch regelmäßig

75 durch Verweise auf jene französischen und niederländischen Werke, die einige Jahrzehnte lang in diesem Bereich als Standardwerke gelten konnten. Hier sind besonders die Musées de la hollande von Theophile Thoré (1858 und 1860)1 und Carel Vosmaers Monographie Rem- brandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses œuvres (1868)2 zu nennen. In den 90er Jahren hat sich die Situation bereits etwas geändert. Durch das nun auch in Deutschland wachsende Interesse an der Kunst und der Person Rembrandts kommt es zu einer Erhöhung des Publikationsauf- kommens. Zugleich verbreitert sich der Diskurs. Es etablieren sich Autoritäten wie Wilhelm Bode und Carl Neumann, die für die deutschsprachigen Texte als wesentliche Bezugspunkte fungieren.3 Als Folge dessen erhält die umfangreiche Rembrandt-Monographie des französi- schen Autors Emile Michel (1893)4 in Deutschland nicht mehr die Bedeutung, die noch Vos- maers Buch einnahm, das ja ebenfalls in französischer Sprache erschienen war. Eine Parallele zu diesen Verflechtungen findet sich auf der Ebene des internationalen Kunst- marktes. Da mit seiner Popularität auch die Nachfrage nach Originalen Rembrandts wächst, machen Kunsthändler zum Ende des 19. Jahrhunderts mit diesem Namen gute, häufig grenz- überschreitende Geschäfte. Nicht nur in den Niederlanden, sondern auch in Deutschland wird der öffentliche Besitz an Werken Rembrandts dabei zu einer Angelegenheit von nationalem Interesse, speziell mit Blick auf die zahlreichen Verkäufe europäischer Kunstwerke in die wirtschaftlich prosperierenden USA.5 In seiner Funktion als Berliner Museumsdirektor hat Wilhelm Bode es verstanden, die Konkurrenz zwischen privaten und öffentlichen Sammlun- gen in eine Kooperation umzuwandeln und dabei seine internationalen Kontakte zu nutzen und zu pflegen.6 Sein ambitioniertes Projekt eines achtbändigen Werkkatalogs, das zwischen 1897 und 1905 durch die erstmalige Reproduktion aller verzeichneten Gemälde neue Maß- stäbe setzte, erschien unter der Mitarbeit des niederländischen Kunsthistorikers Cornelis Hof- stede de Groot im Verlag des Pariser Kunsthändlers Charles Sedelmeyer, einer ersten Adresse des Rembrandthandels. Gedruckt wurde sowohl eine deutschsprachige als auch eine französi- sche Ausgabe.7 Wenn Bode hier seine Kompetenz auch auf den französischen Sprachraum ausweitet, so sind zugleich in der deutschen Literatur nach 1900 immer weniger Verweise auf Texte aus Frank- reich zu finden. Selbst bei Rückblicken auf die Literatur der Jahrhundertmitte steht nun nicht

1 Théophile Thoré (alias William Bürger, bzw. Burger): Musées de la Hollande. 2 Bände. Band 1: Amsterdam et La Haye. Études sur l’école hollandaise, Paris 1858: Renouard . Band 2: Musée van der Hoop à Amsterdam et Musée de Rotterdam, Paris 1860: Renouard. 2 Carel Vosmaer: Rembrandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses œuvres, Den Haag und Paris 1868 (21877). 3 Zu Bodes Stellung in der Rembrandtforschung vgl. Stückelberger 1996, 40 ff. 4 Émile Michel: Rembrandt. Sa vie, son oeuvre et son temps, 2 Bände, Paris 1893. 5 Vgl. Bruin 1995, 48 ff. und Stückelberger 1996, 56 ff. 6 Zu Bodes Geschick im Umgang mit Privatsammlern vgl. Otto 1995, 30 ff. 7 Wilhelm Bode: Rembrandt. Beschreibendes Verzeichnis seiner Gemälde. Mit den heliographischen Nachbil- dungen, 8 Bände, Paris 1897 - 1905: Sedelmayer. 76 mehr Thoré, sondern Kolloff im Mittelpunkt.8 Niederländische Texte werden weiterhin rezi- piert. Allerdings handelt es sich dabei vor allem um die Veröffentlichungen von Archivfun- den. Gerade in kleineren, populärer orientierten Texten verlaufen diese Verweise meist indi- rekt über die Werke deutscher Kunsthistoriker. Wenn die Präsenz niederländischer Autoren dennoch bis in die 20er Jahre zu beobachten ist, so ist das entweder aus der elementaren Be- deutung ihrer Arbeit zu erklären (neben den Quellenpublikationen ist hier besonders an das Werkverzeichnis von Hofstede de Groot zu denken)9 oder aus der Tatsache, daß sie selbst Texte in deutschsprachigen Übersetzungen publizierten. Gelegentlich werden Zitate nieder- ländischer Kunstgelehrter in Texten deutscher Autoren auch als eine Art ‘Zeugen‘ mit einem Gestus der Authentizität vorgeführt, als hätten diese als ‘Landsleute‘ Rembrandts ein beson- deres Organ für das Verständnis des Künstlers. In meiner Untersuchung werden deshalb auch einige Beispiel von niederländischen Autoren eingebunden.10 Ich werde die Struktur und Entwicklung der deutschen Rembrandtliteratur des Untersu- chungszeitraums in der anschließenden chronologischen Skizze noch etwas ausführlicher be- schreiben. Vorerst sei festgehalten, daß sich die geopolitische Begrenzung des diskursiven Feldes nur als ein Bereich von Überlagerungen und Übergängen darstellen läßt. Ähnlich ver- hält es sich mit der zeitlichen Eingrenzung. Einzelne Topoi der Rembrandtliteratur bleiben während des gesamten 19. Jahrhunderts aktuell, zum Teil auch darüber hinaus. Sie würden demnach eine zeitliche Eingrenzung kaum rechtfertigen. Und doch läßt sich ein Einschnitt ausmachen, der eine relativ scharfe Begrenzung ermöglicht: die Veröffentlichungen der neuen Archivfunde zu Leben und Werk des Künstlers, die in den ersten Jahrgängen der 1883 ge- gründeten Zeitschrift Oud Holland erschienen sind. Sie veränderten den Standard der Lebens- schilderungen und beeinflußten dabei auch die Deutung des Werks. Wenn sich Wilhelm Bode ebenfalls 1883 mit seiner ersten umfangreichen Publikation als deutsche Rembrandt-Autorität empfahl, läßt sich mit Recht von einer bedeutenden Veränderung der Struktur und der Inhalte des Rembrandtdiskurses in dieser Zeit reden.11 Wesentlich schwieriger ist allerdings die

8 Eine Ausnahmeposition nimmt hier das Buch Les maîtres d’autrefois von Eugène Fromentin ein. Hinweise auf diesen bereits 1876 in Paris erschienenen Text, der verkürzt als subjektiv-belletristischer Reisebericht durch niederländische Museen beschrieben werden kann, sind in Deutschland nach 1900 häufig zu finden, besonders nach dem Erscheinen der ersten Übersetzung (1903). Die Autorität Fromentins gründet sich auf die Qualität seiner Bildbeschreibungen sowie auf seine anerkannte Position als orientalistischer Maler (vgl. Thomp - son/Wright 1987). 9 Zum Werk Rembrandts ist hier relevant: Cornelis Hofstede de Groot: Beschreibendes und kritisches Verzeich- nis der Werke der hervorragendsten holländischen Meister des XVII. Jahrhunderts, nach dem Muster von John Smith’s catalogue raisonné zusammengestellt von Dr. C. Hofstede de Groot, Band 6, Esslingen/Paris/London 1915. 10 Weitaus häufiger verweise ich jedoch auf die vorhandene Sekundärliteratur, besonders auf die herausragende Darstellung der Geschichte der niederländischen Kunstgeschichtsschreibung, die Jeroen Boomgaard am Beispiel der Rembrandtrezeption entwickelt hat (Boomgaard 1995). 11 Auch Boomgaard und Scheller sprechen von einer Veränderung des Rembrandtbildes im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, wenn auch aus anderen Gründen (Boomgaard/Scheller 1991, 117). 77 zweite chronologische Begrenzung des Untersuchungsmaterials. Einiges spräche für das Jahr 1926, in dem zwei voluminöse monographische Werke zu dem Künstler publiziert wurden (Weisbach und Hausenstein). Ab diesem Zeitpunkt kann zudem ein Rückgang des fachüber- greifenden Interesses an Rembrandt verzeichnet werden, dessen Tragfähigkeit als Symbolfi- gur über den engeren Bereich der Kunstliteratur hinaus offenbar verbraucht war. Doch die zentralen Topoi der Rembrandtfigur änderten sich nicht, und wenn in den Kriegs- und Nach- kriegsjahren wieder einige neue Publikationen mit breiterer Orientierung zu verzeichnen sind (Pinder 1942, Hanfstaengl 1947, Kaschnitz 1948, Hamann 1948), so merkt man diesen auf inhaltlicher Ebene die 40 Jahre kaum an, die seit dem ‘Rembrandtjahr‘ 1906 vergangen sind. Ich werde deshalb immer wieder Beispiele aus dieser jüngeren Literatur zitieren, um die Kontinuitäten des Künstlerbildes anzuzeigen und damit die Rechtmäßigkeit einer entspre- chenden Ausweitung des Feldes der Untersuchung zu belegen. Wenn man um 1945 von einer kleinen Renaissance Rembrandts als Symbolfigur der tragisch-heroischen Individualität in der deutschen Öffentlichkeit sprechen könnte, so ist diese in den 50er Jahren deutlich rückläufig. Längst hat die Moderne ihre eigenen Künstlerfiguren in Stellung gebracht, allen voran Vin- cent van Gogh. Rembrandt tritt zwar bis heute als einer der ranghöchsten Künstler auf, und es hat ihn, wie Tümpel und andere richtig festgestellt haben, auch weiterhin jede Generation mit anderen Augen betrachtet (Tümpel 1977, 131), aber seine frühere Hauptrolle als Symbolfigur für Modernität, für zeitgemäßes Künstlertum und vorbildliche Subjektivität hat er an andere abgetreten.12 Diese Überlegungen zur Topographie des diskursiven Feldes der Untersuchung werde ich nun in zwei Schritten ergänzen. Um die Orientierung im Material zu erleichtern und die Proble- matik der zeitlichen Aufeinanderfolge einzelner Publikationen nicht zu vernachlässigen, werde ich ein kurzes chronologisches Profil der deutschen Rembrandtrezeption anschließen. Zunächst soll jedoch nach den Möglichkeiten einer typologischen Differenzierung gefragt werden, also nach der Bedeutung von Gattungsunterschieden zwischen den untersuchten Texten.

1.2 Zur typologischen Differenzierung des Untersuchungsmaterials

Eine konventionelle Perspektive würde die Texte in denen Rembrandt im Untersuchungszeit- raum in Erscheinung tritt nach bestimmten Kriterien unterscheiden und sie dann verschiede-

12 Den Rückgang der Bedeutung Rembrandts als Kollektivsymbol datiere ich in die Mitte der 50er Jahre. Eine Revision des um 1900 etablierten Rembrandtbildes ist jedoch nochmals zehn Jahre später anzusetzen. Jeroen Boomgaard und Robert W. Scheller haben die Ansicht geäußert, die Rembrandtforschung sei bis 1969 ohne neue Impulse geblieben (Boomgaard/Scheller 1991, 120). An diese Aussage sei die Hypothese angeschlossen, daß hier wiederum ein veränderter Zuschnitt des Werkes (in diesem Fall durch die Aktivitäten des Rembrandt Re- search Projects) den Anlaß zu einer neuen Vorstellung vom Künstler gab. 78 nen Diskursen zuordnen. Denkbar wäre hier die Differenzierung zwischen Texten mit wissen- schaftlichem, populär-unterhaltendem, volkserzieherisch-politischem oder ästhetisch-literari- schem Anspruch. Ich möchte diese Einstufungen nicht übersehen, werde daraus jedoch keine methodische Eingrenzung ableiten. Statt mittels dieses Rasters vier unterschiedliche Diskurse zu begründen, sehe ich darin lediglich vier gesellschaftliche Kontexte, in welche jeder ein- zelne Text in je spezifischer Weise eingebunden ist: Wissenschaft, Wirtschaft, Politik/Moral und Kunst/Ästhetik. Im weiteren werde ich von diesen Bereichen als Diskursebenen sprechen und sie als Faktoren einer Binnenstrukturierung des Feldes der Rembrandtrezeption behan- deln.13 Die zu Rembrandt publizierten Texte werden im Untersuchungszeitraum von Fragen nach der Autorschaft und dem Künstlersubjekt dominiert. Es ist dieses weitgehend übereinstimmende Interesse, das mir eine synchrone Sicht auf die Texte verschiedener Jahrzehnte und eine nur geringe Differenzierung zwischen Texten mit wissenschaftlichem, populär-unterhaltendem, volkserzieherisch-politischem oder ästhetisch-literarischem Anspruch als gerechtfertigt er- scheinen läßt. Eine strenge Abgrenzung dieser vier Diskursebenen und ein dementsprechender Versuch ihrer separaten Beschreibung erscheint mir als ebenso falsch, wie eine ausschließlich chronologische Schilderung der Rezeptionsgeschichte. Diese beiden Vorgehensweisen wür- den zwei wichtige Aspekte der Struktur des diskursiven Feldes in unangemessener Weise nivellieren: (1) die Offenheit zwischen den Diskursebenen, die durch ständige Fluktuations- bewegungen, Neuregulierung hinsichtlich der Gültigkeit von Aussagen und Abgrenzungsbe- mühungen gekennzeichnet sind, sowie (2) die vielzitierte ‘Gleichzeitigkeit des Ungleichzeiti- gen‘, angesichts derer eine einseitig entwicklungs- oder gar fortschrittsgeschichtliche Per- spektive ihre Neutralität preisgibt, wodurch aus einer synchronen Vielfalt der Phänomene, Motive und Positionen eine wertende Ordnung von überkommenden, aktuellen und zu- kunftsweisenden Elementen würde.14

13 Meine Betrachtung der Texte verzichtet also nicht gänzlich auf deren Kategorisierung vor dem Hintergrund eines Strukturmodells des diskursiven Feldes. Allerdings ziehe ich keine undurchlässige Trennlinie, die der Ver- gleichbarkeit von Texten entgegenstehen würde, sobald diese unterschiedlichen Diskursbereichen zugeordnet wären. Mit diesem Prinzip einer offenen Kategorienbildung folge ich meinen Beobachtungen hinsichtlich der Dynamik des Feldes. Würde man eine strenge Unterscheidung anstreben, etwa mit Hilfe der vier genannten Diskursebenen, so ließe sich die überwiegende Mehrzahl der Texte nur als Mischformen einstufen. Zwar schrei- ben sich zahlreiche Texte selbst dezidiert einer (oder mehrerer) dieser Ebenen zu, doch hält diese Selbstadressie- rung einer kritischen Überprüfung nicht immer stand. Um die Problematik der Standorte bewußt zu halten, die sich Autoren innerhalb des Diskurses selbst zuweisen oder die ihnen auf Basis eines normativen Modells zuge- wiesen würde, werde ich immer wieder auf solche Diskursposition hinweisen. Damit möchte ich keine Wertun- gen aussprechen, sondern die Rechtmäßigkeit hierarchischer Abstufungen in Frage stellen, die durch die An- wendung geläufiger Ordnungsraster in dieses diskursive Feld eingeschrieben würden. 14 Aus dieser Perspektive bliebe unberücksichtigt, daß sich Fortschrittskonzepte auf eine entsprechende Ge - schichtsphilosophie stützen. Eine ironisch wertende Sicht auf die Geschichte gefällt sich zudem in einem Gestus der Überlegenheit, der dem Analytiker/der Analytikerin nur scheinbar durch die Schärfe seines/ihres Werkzeugs, tatsächlich jedoch durch den kontingenten und in keiner Weise als intellektuelles Verdienst einzuklagenden Umstand der historischen Rückschau zufällt. Ich bewerte die Vorstellung, historische Rückschau ermögliche eine Übersicht über die Ereignisse der Vergangenheit, gleichsam wie von einem erhöhten Betrachterstandpunkt 79 Als theoretisches Paradigma, das diese hinsichtlich ihrer Adressatenkreise und der von ihnen jeweils fortgeschriebenen Diskurssegmente unterscheidbaren Texte miteinander verbindet, mache ich die Hermeneutik aus. Ihr wesentliches Charakteristikum sehe ich in der deutenden Erschließung künstlerischer Werke im Hinblick auf deren schöpferischen Urheber.15 Was die auf anderer Ebene unterscheidbaren Texte eint, ließe sich auch als eine ‘biographische Per- spektive‘ bezeichnen. Eine methodische Gemeinsamkeit zwischen den Texten verschiedener Diskursebenen findet sich dabei in der Bevorzugung der bildnerischen Werke als Quellen zum Verständnis des Künstlers. Diese werden in der Regel höher eingeschätzt als die histori- schen Schriftquellen aus dem Archiv. In zweierlei Hinsicht treffe ich dennoch Unterscheidungen hinsichtlich der Binnenstruktur des Feldes: (1) Den einzelnen Aussagen, aus denen sich ein Text zusammensetzt, läßt sich auf Basis des breit angelegten Materialvergleichs eine zentrale oder eine periphere Stellung innerhalb des diskursiven Feldes zuweisen. Diese Einstufung erfolgt abhängig von der Quantität des Auf- tretens des fraglichen Motives sowie von seiner Anschlußfähigkeit oder Schlüsselstellung im Bezug auf andere Aussagen. Zentrale Motive, die als etablierte Elemente im Feld auftreten und entsprechende Bedeutung entfalten, nenne ich Topoi. (2) Im Hinblick auf einzelne Texte läßt sich darüber hinaus angeben, ob diesen innerhalb des diskursiven Feldes eine zentrale oder eine periphere Stellung zukommt. Von Zentralität läßt sich sprechen, wenn auf einen Text häufig direkt Bezug genommen wird, sein Autor als ‘Au- torität‘ angeführt wird oder sich indirekte Übernahmen in Form von Begriffen, Bewertungen und Ordnungsmustern erkennen lassen. Im Rahmen dieses zweiten Unterscheidungsprinzips kann einer kunsthistorischen Fachlitera- tur, die sich auf eine hermeneutische Methodik stützt und ihren Aussagebereich nicht auf technische, ästhetische oder motivische Detailanalysen eingrenzt, eine zentrale Stellung im gesamten diskursiven Feld zugesprochen werden. Diese Behauptung wird - neben der Viel- zahl der Verweise auf bestimmte Autoren - vor allem durch die Prozesse der Stabilisierung und der Ausweitung einzelner Topoi belegt, die ihren Ausgangspunkt häufig in der Formulie- rung von Forschungsthesen nehmen und dann bis in die Peripheriebereiche des Diskurses fortgetragen werden.16 Diesen zentralen Texten gilt mein besonderes Untersuchungsinteresse.

aus, als Selbsttäuschung. Durch den scheinbaren ‘Vorsprung‘ des Wissens über nachfolgende Zeitläufte erweist sich die Rückschau vielmehr als eine gehemmte Perspektive, der ein selektives Wahrnehmungsraster die Inter- pretation der Vergangenheit unmerklich vorstrukturiert, so daß ein begrenztes und durch unreflektierte Ein- schreibungs- und Ordnungsprozesse vorstrukturiertes Bild entsteht. Meinem Verständnis nach versucht histori- sche Diskursanalyse, diese Effekte soweit wie möglich zu nivellieren. 15 Vgl. den Exkurs zur Hermeneutik in diesem Teil, Abschnitt 2.14. 16 Dieser Prozeß wird in den Fallstudien zur Nachtwache und zu den Selbstbildnissen beispielhaft beschrieben (Dritter Teil). 80 Im Anschluß an sie werde ich versuchen, die Präsenz der jeweils angesprochenen Topik in den verschiedenen Ebenen des diskursiven Feldes nachzuweisen.17 Unter den Autoren, deren Aussagen die Topik nachfolgender Texte entscheidend mitbestimmt haben, können besonders Wilhelm Bode und Carl Neumann hervorgehoben werden. In ihren Publikationen (Bode 1883, 1897-1905, 1906; Neumann 1902)18 werden die Gedanken frühe- rer und zeitgleicher Sekundärtexte internationaler Provinienz zusammengebracht und dem deutschsprachigen RezipientInnenkreis vermittelt. Eine ähnliche Stellung ist auch Julius Langbehn zuzusprechen, der die nationalistische Tendenz eines weiten Teils der Rem- brandtliteratur entscheidend geprägt hat.19 Im Anschluß an diese Autoren (beziehungsweise ‘Autoritäten‘) gibt es eine Vielzahl von Texten, die als diskursreproduktiv bezeichnet werden können. Sie bewegen sich hinsichtlich ihrer Topik im Rahmen der zentralen Setzungen, brin- gen die Bedeutungspotentiale dieser Topik mehr oder weniger markant zum Ausdruck und tragen damit nicht unwesentlich zu deren Verbreitung bei (Rosenberg 1904, Valentiner 1906). Einige Texte bemühen sich ausdrücklich um eine Veränderung oder Verfeinerung der Topik. Hierzu können die umfangreichen Darstellungen aus der Feder verschiedener Kunsthistoriker gezählt werden (Hetzer 1926, Weisbach 1926, Pinder 1943, Hanfstaengl 1947, Hamann 1948), aber auch Georg Simmels lebensphilosophischer „Versuch“ über Rembrandt (Simmel 1916), die literarischen Ansätze einer prosaischen Fortschreibung der geläufigen Erzählungen (Eulenberg 1917, Ludwig 1923) und nicht weniger die mitunter dezidiert anti-wissenschaftli- chen Buchprojekte von Lautner (1891 und 1910), Verhaeren (1912) oder Hausenstein (1926). Andere Texte setzen dagegen auf eine Reproduktion des Bekannten und versuchen sich pri- mär in dessen stilistischer Reformulierung, so etwa die typischen Bildbände (Hamann 1906, Hanfstaengl 1939, Graul 1941, Stange 1954), die zahlreichen Artikel, die aus Anlaß des Jubi- läumsjahres 1906 erschienen (Avenarius, Grimm, Heyck, Muther) oder die biographischen Romane (van Loon 1933, Tornius 1934). Als ein weiterer Typus können die Versuche einer offensiv aktualisierenden Sichtweise be- trachtet werden, die, ausgehend von dem Topos ‘Rembrandt und wir‘ (oder ‘Rembrandt und

17 In den Zeitraum der Untersuchung fällt eine zentrale Phase des Prozesses der Ausdifferenzierung eines kunst- geschichtlichen Fachdiskurses. Die verschiedenen Institutionen - vom Institut für Kunstgeschichte über die Mu- seen bis hin zu Kunstliteratur, Kunstkritik und Kunstmarkt - entwickeln Komplexität und Eigenständigkeit und grenzen ihre Kompetenzen untereinander in einer Weise ab, die sich bis heute in Grundzügen erhalten hat. Diese Ausdifferenzierung hat in der Rembrandtliteratur ihre Spuren hinterlassen und wird im folgenden ebenfalls zu beachten sein. 18 Alle Literaturverweise in diesem Abschnitt sind als Beispiele aus einer größeren Auswahl zu verstehen. 19 Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1890) begründet einen neuen Zweig nationalistischer Topik in der Rembrandtrezeption, der in Ansätzen in der Nord/Süd-Polarisierung vorgebildet war und der von nun an bis zum Ende der nationalsozialistischen Herrschaft eine durchgängige, wenn auch stark schwankende Präsenz aufweist. Es kann dabei unterschieden werden zwischen Texten, die diese nationalistischen Tendenz in den Mittelpunkt stellen und Texten von literarischer, pädagogischer oder wissenschaftlicher Ausrichtung, in deren Darstellungen eine nationalistische Argumentation eingebunden ist. Diese Problematik steht nicht im Zentrum meiner Untersu- chung; sie wird jedoch in den Analysen des zweiten Teils gelegentlich zur Sprache kommen. 81 unsere Zeit‘), über die Relevanz des Künstlers für eine bestimmte gesellschaftliche Gruppe oder für virulente Fragestellungen nachdenken (Goldbeck 1906, Pfister 1906, Israels 1910, Grunewald 1929, Kaschnitz 1948). Auch sie bleiben allerdings in der Regel im Bereich der zentralen Topik oder beziehen von dort doch zumindest die Legitimität für ihre Argumenta- tionen.

Um die Orientierung im diskursiven Feld der Untersuchung zu verbessern und damit die Vor- aussetzungen für die Nachvollziehbarkeit der Analyse zu schaffen, sind diese Andeutungen zur typologischen Struktur der deutschen Rembrandtrezeption um 1900 nun durch eine chro- nologische Skizze zu ergänzen. Damit soll zudem gewährleistet werden, daß angesichts der synchronen Perspektive der nachfolgenden Analyse die Aufmerksamkeit für chronologische und diskursive Abstufungen nicht verloren geht.20

1.3 Chronologische Skizze der Rembrandtrezeption in Deutschland, 1880 - 1950

In der Öffentlichkeit des 1871 gegründeten Deutschen Reichs kann ein stetiges Wachstum der Kommunikation über Rembrandt beobachtet werden. Dieses Phänomen steht im Zusammen- hang mit dem allgemein anwachsenden Interesse für Kunst und mit der zentralen Stellung von Geschichte. Als Ursache dafür läßt sich eine identitätspolitische Erklärung anführen. Dem- nach wäre in der Errichtung und Stabilisierung der nationalen Identität des neuen Staatsgebil- des die Strategie einer historischen Selbstversicherung zu sehen, einer Definition des Aktuel- len über die Umdeutung des Vergangenen. Als Zweig der Geschichtswissenschaft wird die akademische Disziplin der Kunstgeschichte in dieser Phase entwickelt, wobei sie ihre Legiti- mität nicht zuletzt aus ihrer identitätsstiftenden Leistung für den neuen Staat bezieht.21 Das Museum entfaltet zur gleichen Zeit seine volle Bedeutung als Institution der bürgerlichen Ge-

20 Der folgende Abschnitt dient der Vorbereitung. Dementsprechend ist dieser Überblick über die Situation der Rembrandtrezeption in Deutschland vom letzten Viertel des 19. bis ins zweite Viertel des 20. Jahrhunderts weder innovativ noch auf Vollständigkeit und Detailreichtum ausgerichtet. In diesen Aspekten greifen die bereits vor- liegenden Arbeiten weiter aus (Stückelberger 1996, 29 ff.; Wyss 1985, IX ff.; Boomgaard 1995). 21 Auf die patriotische Ausrichtung der Geschichtswissenschaft hat Dietrich Schäfer bereits 1884, anläßlich seiner Antrittsvorlesung in Jena, in affirmativer Absicht hingewiesen: „Sie [Die Geschichtswissenschaft, M.H.], hält es, und mit Recht, für eine ihrer wichtigsten, vielfach in einseitiger Übertreibung, für ihre einzige Aufgabe, nationalen Sinn zu pflegen und zu beleben. Und sie hat, das ist nicht zu leugnen, überwiegend in diesem natio- nalen Fahrwasser erst schwimmen gelernt.“ (Dietrich Schäfer, Deutsches Nationalbewußtsein im Licht der Ge- schichte, Jena 1884, 30 f., zit. nach Elias 1989, 172). Heinrich Dilly hat den Zusammenhang zwischen der Staatsgründung und dem Aufschwung der akademischen Kunstgeschichte hervorgehoben: „Die Kunsthistoriker jedoch, die um 1870 zu Hochschullehrern berufen wurden, traten aus der Reserve heraus und rechtfertigten mit den Historikern den neuen Staat als ein ‘positives Gut, eine ethische Größe, ohne die Kultur und Sittlichkeit‘ unmöglich verwirklicht werden könnten“ (Dilly 1979, 249). Auch die Bedeutung der kunsthistorischen Biogra- phik für die Stabilisierung des wilhelminischen Herrschaftssystems hat Dilly betont (ebd., 252). Zum Patriotis - mus der akademischen Kunstgeschichte und zur ‘deutschen Kunst‘ als Merkmal nationaler Identität vgl. auch Belting 1992, 11 und 28. 82 sellschaft,22 die Sammlungsschwerpunkte von Kunstmuseen geben Auskunft über den Wunsch nach Partizipation an der Kulturgeschichte des Abendlandes von der Antike bis zur Gegenwart, sowie nach einer ästhetischen Manifestation des Eigenen, des ‘Nationalcharak- ters‘.23 Die schrittweise Einrichtung kunsthistorischer Lehrstühle an den Technischen Hochschulen und Universitäten in Deutschland erfolgte in den Jahrzehnten nach 1870. Die Vertreter dieser Institution zeichneten sich jedoch vorerst durch einen zurückhaltenden Umgang mit der Kunst der Niederlande aus. Artikel wie jene von Wilhelm Lübke (1877) oder Anton Springer (1886) blieben zunächst die Ausnahme. Mit Wilhelm Bodes 1883 erschienenem kommentierten Werkverzeichnis, als 200 Seiten starker Aufsatz in seinen Studien zur Geschichte der hollän- dischen Malerei publiziert, kam eine richtungsweisende Arbeit zu Rembrandt eben nicht von einem Akademiker, sondern von einem Museumsmitarbeiter. Wie an anderer Stelle bereits erwähnt, konkurrierte Bodes Text mit der Monographie Emile Michels (1893) um die Nach- folge von Carel Vosmaers Rembrandt Harmens van Rijn. Sa vie et ses oeuvres (1868) als ‘Standardwerk‘ zu Kunst und Leben Rembrandts. Die Archiv- und Quellenstudien niederlän- discher Forscher, vor allem Nicolaas de Roevers, trugen in den 80er Jahren zu einer Auswei- tung der wissenschaftlich akzeptierten Kenntnisse über Rembrandts persönlichen und künstle- rischen Entwicklungsgang bei und stabilisierten so das neue, noch im Werden begriffene Rembrandtbild. Die erste umfassende Monographie, die aus deutschen Universitätskreisen zu Leben und Werk des Künstlers hervorging, ließ bis 1902 auf sich warten. Ihr Autor war der Heidelberger Kunsthistoriker Carl Neumann.24 Bis zu diesem Zeitpunkt war die italienische Renaissance, ganz in der traditionellen Ordnung der Kunstakademien, unangefochtener Hauptgegenstand der akademischen Kunstgeschichte in Deutschland. Die Anekdote, der zu- folge der Berliner Professor Hermann Grimm von seinem Schüler, dem späteren Hamburger Museumsdirektor Alfred Lichtwark, noch zu Beginn der 1880er Jahre davon überzeugt wer- den mußte, daß man neben den Italienern auch die Niederländer kennen sollte, mag dies illu- strieren.25 An zweiter Stelle stand die deutsche Kunst der Dürerzeit, deren angemessene Dar- stellung als Aufgabe von nationaler Bedeutung angesehen wurde.26

Die Impulse der internationalen Rembrandtrezeption der 1850er Jahre wurden in Deutschland zunächst im musealen Rahmen aufgenommen. Zentrale Bedeutung ist hier der Person Wil-

22 Vgl. Bennett 1995. 23 Vgl. Gaehtgens 1992; Schuster 1995, 6 ff. Zum Begriff des Nationalcharakters vgl. Larsson 1985. 24 Zum Zeitpunkt der Publikation seines Rembrandt war Neumann Privatdozent und Extraordinarius am Heidel- berger Institut für Kunstgeschichte, dem er von 1911 bis 1929 vorstehen sollte. Andrea Fink-Madera hat die zentrale Bedeutung des „Rembrandt-Erlebnisses“ für die wissenschaftliche Entwicklung Neumanns herausge- stellt (Fink-Madera 1993, 79 ff.). 25 Vgl. Stückelberger 1996, 47; Kultermann 1966, 227. 26 Vgl. Belting 1992. 83 helm Bodes zuzumessen. In konstruktiv-konkurrierendem Austausch mit den niederländi- schen Kollegen aus Amsterdam (Cornelius Hofstede de Groot, Jan Veth) und Den Haag (Abraham Bredius) war Bode nicht nur entscheidend an der Reformulierung des Werkkorpus durch eine Vielzahl von Zuschreibungen beteiligt. Mit seinen Ankäufen für die Berliner Gale- rie, deren spektakulärer Präsentation als Meisterwerke der Kunstgeschichte sowie den zahlrei- chen Publikationen zu Rembrandt und seinen niederländischen Künstlerkollegen war Bode vom Beginn der 1880er bis in die 1920er Jahre ‘die‘ deutsche Autorität in Sachen Rem- brandt.27 Während sich akademische Kunsthistoriker langsam von der Bevorzugung italienischer Re- naissancekunst lösten und die museale Kunstpraxis, mit Hauptsitz in , einer kultischen Verehrung Rembrandts zuarbeitete, trug Julius Langbehn mit seinem Buch Rembrandt als Erzieher entscheidend dazu bei, den Namen des Künstlers auch außerhalb der Fachdiskurse zu einem Schlagwort, einem Modebegriff interdiskursiver Kommunikation zu erheben. Wie in der Forschung hinreichend dargelegt wurde, hält sich dieses Buch, das 1890 zunächst ano- nym erschien und bis in die 1940er Jahre über 40 Auflagen erlebte,28 von jeder Art biographi- scher Faktendarstellung, ästhetischer Bildbeschreibung oder stilhistorischer Debatte fern und stellt Rembrandt statt dessen inmitten einer zutiefst nationalchauvinistischen und kulturpes- simistischen Analyse der zeitgenössischen Gesellschaft als heilsames Vorbild für eine kultu- relle und politische Wiedererweckung Deutschlands dar. Für Langbehn verkörperte Rem- brandt den deutschen Nationalcharakter in seiner ur- und eigentümlichsten Weise. Wie Rem- brandt in ‘seinem Helldunkel‘ die widerstrebenden Kräfte von Licht und Schatten zur Syn- these bringe, so müsse in Deutschland die übermäßig vorherrschende Rationalität in Wissen- schaft, Wirtschaft, Bürokratie etc. durch eine Aufwertung ihres ‘dunklen‘ Gegenstücks, der Irrationalität (Religion, Mystik, Volkstum, Kunst etc.), zu einer heilsamen Synthese geführt werden. Es ist der Furore um Langbehns politische Programmschrift zu verdanken, daß Rem- brandt als Kollektivsymbol in die öffentliche Diskussion gelangte.29 Der Erfolg des Buches ist mit den Verkaufszahlen allein nicht hinreichend beschrieben. Welche Aufmerksamkeit es erhielt, ist durch die große Zahl an Rezensionen dokumentiert sowie durch die Vehemenz, mit der die Debatte um seine Thesen geführt wurde.30 Aus heutiger Sicht erscheint es erklärungs- bedürftigt, daß sich die wichtigsten kunsthistorischen Autoren jener Zeit trotz des offensicht- lich gesellschaftspolitischen Gehalts dazu aufgefordert fühlten, die Schrift zu rezensieren.31

27 In den ausführlichen Würdigungen Bodes durch die Berliner Ausstellungen zu seinem 150. Geburtstag wird diese Bedeutung des langjährigen Museumsdirektors für die deutsche Rembrandtrezeption leider nur angedeutet (Wesenberg 1995a). 28 Fritz Stern schätzt die verkaufte Gesamtstückzahl auf 150.000 (Stern 1963, 155). 29 Zum Begriff des Kollektivsymbols vgl. Link 1982. 30 Zur Resonanz auf Langbehns Buch vgl. Behrendt 1984. 31 Der Grund dafür liegt nicht allein in Langbehns Rückgriff auf einen bildenden Künstler. Vielmehr zeigt sich hier das ‘volkserzieherische‘ Selbstverständnis damaliger Kunsthistoriker, das Interesse jener Autoren, Kunst 84 Sowohl Wilhelm Bode als auch Cornelius Gurlitt, Carl Neumann und selbst der niederländi- sche Museumsdirektor Abraham Bredius waren mit dem Buch in wesentlichen Punkten ein- verstanden. Kritik übten sie nahezu ausschließlich an der unangemessenen Reduktion des Künstlers auf eine Symbolfigur.32 Daß Rembrandt als Erzieher über Jahrzehnte hinweg im öffentlichen Bewußtsein präsent blieb, beweisen die zahlreichen Verweise auf dieses Buch, die sich in der Rembrandtliteratur immer wieder finden.33 Der Erfolg des Buches kann sicher auch durch die ‘verkaufsför- dernde‘ Wirkung des Namens ‘Rembrandt‘ erklärt werden, wodurch allerdings nicht die breite Akzeptanz der wertkonservativ-nationalistischen Thesen Langbehns angezweifelt wer- den soll. Der Historiker Fritz Stern hat Langbehns Buch treffend als eine kulturpessimistische Programmschrift charakterisiert. Demnach spiegelt Rembrandt als Erzieher die politische Unzufriedenheit und die Verunsicherung wieder, die in den 90er Jahren herrschten. 20 Jahre nach der Reichsgründung, im Jahr des Rücktritts des Kanzlers und Reichsgründers Bismarck, äußerte sich Langbehn stellvertretend für eine Generation, die bereits im Kaiserreich aufge- wachsen war und in der verfestigten Machtstruktur der nachgründerzeitlichen Gesellschaft keinen politischen Einfluß zu erlangen vermochte (Stern 1963, 190 ff.). In seiner Bindungslosigkeit zu den historistisch orientierten Fachdiskursen akademischer und musealer Kunstgeschichte übertraf Rembrandt als Erzieher die älteren Strategien der Politi- sierung dieses Künstlers, etwa jene von Thoré, Dumesnil oder Coquerel, bei weitem. Einmal als Kollektivsymbol funktionalisiert, blieb Rembrandt in der Folgezeit als interdiskursive Fi- gur präsent und trat dabei auch wiederholt in verschiedenen Gewandungen, primär natürlich in einer nationalistischen, als Vorkämpfer gesellschaftspolitischer Konzepte in Erscheinung.34

und Künstler als Ausgangspunkt zur Teilnahme an der aktuellen politischen Diskussion zu nehmen. Während diese Kunsthistoriker Langbehn regelmäßig vorhielten, daß er Rembrandt lediglich als Redeanlaß benutze und dem Künstler damit nicht gerecht werde, fühlten sie sich selber offenbar durchaus zu Äußerungen legitimiert, die einen engeren Kreis des Kunstdiskurses überschreiten. 32 Vgl. Bode 1890. Neumann diskutiert das Buch im Vorwort zu seiner Rembrandt-Monographie von 1902 zu- nächst kritisch, seine eigenen politischen und nationalistischen Aussagen im direkten Anschluß lassen jedoch den Einfluß Langbehns deutlich erkennen. Zu Gurlitt vgl. Wyss 1985, XI; zu Bredius vgl. Boomgaard 1995, 234. 33 Vgl. Voll 1906, 442; Goldbeck 1906, 1162; Grimm 1906, 220 f. 34 Verhaeren 1912, Eulenberg 1917, Grunewald 1929. In diesem Zusammenhang ist zu diskutieren, inwiefern der Vorwurf aus dem kunsthistorischen Fachdiskurs zu rechtfertigen ist, Langbehn und seine Nachfolger hätten Rembrandt seiner ‘eigentlichen‘ diskursiven Umgebung entrissen, ihn entfremdet und für politische Zwecke ‘mißbraucht‘. Dieser Vorwurf setzt eine ‘normale‘ Diskursposition eines Kommunikationsgegenstandes voraus, von der meiner Ansicht nach nicht die Rede sein kann. Was die Kunstwissenschaft empört, ist der Bruch des Kanons, den Langbehn vollzieht. Während sie ihre Darstellungen zur Kunst in der Regel als unpolitisch zu de- klarieren und mit allerlei Rhetorik eine Grenzlinie zwischen Politik und Kunst zu etablieren versucht, hat Lang- behn diese Ordnung der Diskurse aggressiv mißachtet und das maskierte politische Sprechen der Kunstge- schichtsschreibung in eine offene Politisierung umgewandelt. Bis heute wird er dafür von den Wächtern der Diskursnormen gescholten, was ihnen um so besser gelingt, da sie den Regelbrecher Langbehn in einem Atem- zug mit dem zutiefst politisch unkorrekten Kulturpessimisten, Chauvinisten, Antisemiten und Protofaschisten verdammen können (Jüngstes Beispiel: Gabriele Genge/Angela Stercken: „Vom Wirbel bis zur Zehe nieder- deutsch“. Julius Langbehns „Rembrandt als Erzieher“ und die Rezeption der Genremalerei in der Moderne, in: Kritische Berichte, Jg. 27, 1999, Heft 4, 49 - 63.). 85 Neben Langbehns Publikation trugen zwei weitere Ereignisse in besonderem Maße zur Stei- gerung der öffentlichen Aufmerksamkeit für Rembrandt bei: (1) Die große Werkschau, die 1898 anläßlich der Tronbesteigung Königin Wilhelminas im Amsterdamer Stedelijk Museum gezeigt wurde, lockte zahlreiche Besucher an, darunter viele Künstler und nicht zuletzt Fachleute aus Museum und Universität.35 Daß die internationale Kunsthistorikertagung von 1898 eng mit der Rembrandtausstellung verbunden war, dürfte angesichts der dort versammelten Multiplikatoren nicht ohne Auswirkungen auf die zuneh- mend euphorische Rembrandtrezeption geblieben sein.36 Ausführliche Besprechungen in auf- lagenstarken Wochen- und Monatsschriften wie den Preußischen Jahrbüchern, der Deutschen Rundschau oder Die Nation bezeugen den Stellenwert, der dieser Ausstellung zugesprochen wurde. Rembrandt war mittlerweile zum elementaren Bildungsgut geworden.37 (2) Einen zweiten Höhepunkt erlebte die Rembrandtbegeisterung im ‘Jubiläumsjahr‘ 1906. Anläßlich seines 300sten Geburtstages wurde der Künstler in Festveranstaltungen und klei- neren Ausstellungen gewürdigt. Die zentralen Feiern fanden in Amsterdam statt. Feierstun- den, Kranzniederlegung und Bankette wurden von einem mehrtägigen Volksfest flankiert, das als frühes Beispiel für die breite Kommerzialisierung des Künstlergedenkens dienen kann.38 Eine offizielle Nobilitierung des aktuellen Standes der Rembrandtforschung ist in der Ver- leihung der Ehrendoktorwürde der Universität Amsterdam an Wilhelm Bode, Abraham Bre- dius, Cornelis Hofstede de Groot, Emile Michel und Jan Veth zu sehen, die internationalen Autoritäten auf diesem Felde. Doch es sind weniger diese ephemeren Rituale als die bleiben- den Produkte des Verlagswesens, die den Charakter der damaligen Rembrandtverehrung be- zeugen. In diesem Sektor wurde das Jubiläum zum Anlaß genommen, um die bereits vorhan- denen wissenschaftlichen Kataloge und ihre ‘Volksausgaben‘39 durch eine Vielzahl von Bild- bänden aller Arten und Preisklassen zu ergänzen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt muß neben den kunsthistorischen und kulturpolitischen Motivationen auch der kommerzielle Aspekt der Rembrandtbegeisterung berücksichtigt werden. Die Publikationsschwemme erklärt sich je- doch nicht allein aus der Popularität Rembrandts und den deshalb erwarteten Verkaufserfol-

35 Stückelberger führt Belege für folgende Besucher an: Wilhelm Leibl, Hans Thoma, Max Liebermann, Max Slevogt, die Mitglieder der Worpsweder Künstlerkolonie (Clara Westhoff, Otto Modersohn, Fritz Overbeck, Fritz Mackensen), Alfred Lichtwark, Carl Neumann und Emile Verhaeren (Stückelberger 1996, 38 und 52). Auch Karl Voll ist als Besucher nachgewiesen (Stückelberger 1996, 111). 36 Vgl. den Artikel in: Kunstchronik. Wochenschrift für Kunst und Kunstgewerbe, Neue Folge, 10. Jg., Nr. 1 (13. Oktober), Sp. 1-6. 37 Auch die Londoner Ausstellung von 1899, die 102 Gemälde, 106 Skizzen, Zeichnungen und Entwürfe zeigte und weitgehend aus englischem Privatbesitz bestückt wurde, fand ein großes Besucherinteresse und Presseecho (vgl. von Schleinitz 1899). 38 Vgl. Bruin 1995, 25 - 44. 39 Hiermit beziehe ich mich besonders auf den achtbändigen Werkkatalog von Wilhelm Bode (1897-1905) und den daran orientierten Band Rembrandt. Des Meisters Gemälde in 643 Abbildungen, der 1904 in der Reihe Klas- siker der Kunst erschienen war. An der Herausgabe war Bodes Mitarbeiter W.R. Valentiner beteiligt, die Einlei- tung stammte von dem Kunstschriftsteller Adolf Rosenberg. 86 gen. Bei der Beurteilung dieses Phänomens sind darüber hinaus die geradezu revolutionären Fortschritte zu berücksichtigen, die im vorangegangenen Jahrzehnt im Bereich der Repro- duktionstechnik gelungen waren und die den kommentierten Bildband als attraktive Variante kunsthistorisch orientierter Literatur erst möglich machten. So warten 1906 selbst einige der preisgünstigsten Publikationen bereits mit der einen oder anderen Farbabbildung auf.40 Wenn vom wachsenden Stellenwert der Kunst in der zweiten Hälfte des wilhelminischen Kaiserrei- ches die Rede ist, sollte die Bedeutung dieses medienhistorischen Aspekts nicht unterschätzt werden. Glaubt man den bibliographischen Verzeichnissen von Zeitschriftenartikeln, so war Rem- brandt im Jubliäumsjahr 1906 tatsächlich in aller Munde.41 Von der Fachzeitschrift über das populäre Familienblatt bis hin zu spezialisierten Magazinen - ein Artikel zu Rembrandt durfte nicht fehlen. Von den Burschenschaftlichen Blättern und dem katholischen Hochland reicht die Spanne über Der Deutsche, Die Hilfe, Daheim und Gartenlaube bis hin zu Die neue Ge- sellschaft oder Der alte Glaube.42 Bereits die Titel solcher Veröffentlichungen geben dabei Auskunft über deren weitgehend diskursreproduktiven Charakter, lesen sie sich doch wie eine Auflistung der wichtigsten Topoi, die den durchschnittlichen Text zu Rembrandt in jener Zeit dominierten. Sie heißen Rembrandt und die Phantasie, Das Menschliche in Rembrandt’s Kunst, Rembrandt als Maler des Seelischen, Rembrandts Leben in seinen Selbstbildnissen, Rembrandt’s Leben eine Tragödie, Rembrandt und die moderne Kunst oder Rembrandt und wir.43 Viele der Autoren sind bekannte Kunsthistoriker oder Kunstliteraten, die bereits durch Texte zu Rembrandt hervorgetreten sind. Nicht geringer ist jedoch die Zahl jener Autorenna- men, die uns hier im Zusammenhang mit Rembrandt zum ersten und letzten Mal begegnen.

40 Z.B. der Rembrandt-Almanach 1906 1907. Eine Erinnerungsgabe zu des Meisters dreihundertstem Geburts- tage, Stuttgart/Leipzig: DVA. Die im selben Verlag erschienenen Klassiker der Kunst waren zur gleichen Zeit noch ganz in Schwarzweiß gehalten. 41 Bis zum Beginn des 20. Jahrhundert sind in der IBZ (Bibliographie der Deutschen Zeitschriftenliteratur) jähr- lich kaum eine Handvoll Einträge zu Rembrandt verzeichnet. Verglichen mit den Artikeln die zu Rubens ange- führt werden, herrscht in der Regel Gleichstand. Erst 1905 steigt die Zahl der Publikationen an, für 1906 sind 77 Einträge verzeichnet. In den folgenden Jahren bleibt Rembrandt bei einer durchschnittlichen Zahl von 12 Arti- keln, während sich zu Rubens im gleichen Zeitraum nicht mehr als 4 Einträge finden. Zur Bewertung dieser Zahlen ist zu bedenken, daß diese Bibliographie eine ständig anwachsende Zahl von Publikationen erfaßte, aber zu keiner Zeit den gesamten Zeitschriftenmarkt abdeckte. 42 H. Grimm (1906) Rembrandt, in: Burschenschaftliche Blätter, 215-221; H. Knackfuß (1906) Rembrandt, in: Daheim (Leipzig), Nr. 41; L. Brehm (1906) Rembrandt, in: Der Deutsche (Berlin) IV, Nr. 14; C. Voll (1906) Rembrandt, in: Gartenlaube, Nr. 28; E. Schur (1906) Rembrandt, in: Die neue Gesellschaft, Berlin, Nr. 28; W. Lang (1906) Rembrandt, in: Der alte Glaube, Leipzig, Nr. 41; Paul Schubring (1906) Rembrandt, in: Die Hilfe (Berlin), Nr. 28; C. Voll (1906) Rembrandt, in: Hochland (Kempten), Juli, 442-449. 43 E. Kalkschmidt, Rembrandt und die Phantasie, Deutsche Zeitung, Beiblatt: Deutsche Welt, Berlin, Nr. 42; K. Weymann, Das Menschliche in Rembrandt’s Kunst, Deutschland, Monatsschrift, Berlin, Sept. 670-675; K. Storck, Rembrandt als Maler des Seelischen, Der Türmer, Stuttgart, Juli 520-524; W. Pastor, Rembrandts Leben in seinen Selbstbildnissen, Tägliche Rundschau, Leizig, Beilage, Nr. 162; E. Witte, Rembrandt’s Leben eine Tragödie, Hamburger Nachrichten, Beilage, Nr. 28; W. R. Valentiner, Rembrandt und die moderne Kunst, Ju- gend, München, Nr. 42; E. Heyck, Rembrandt und wir, Deutsche Tageszeitung, Berlin, Beilage, Nr. 29 (jeweils 1906). 87 Neben diesen Beispielen für die Rezeption des holländischen Meisters in den unterschiedli- chen Bereichen der Publizistik sei auch auf die künstlerische Auseinandersetzung mit Rem- brandt und seinen zeitgenössischen Kollegen hingewiesen, die auf ihre Weise zur öffentlichen Präsenz der niederländischen Kunst beitrug. Wie bereits zur Jahrhundertmitte in Frankreich, hatte auch in deutschen Künstlerkreisen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine wach- sende Beschäftigung mit den Niederländern des 17. Jahrhunderts eingesetzt (Chu 1974, Stückelberger 1996). Der Impuls ging dabei jedoch von französischen Künstlern wie Courbet, Rousseau oder Daubigny aus, die zudem mit ihrem forcierten Realismus das markantere anti- akademische Konzept verfolgten. Es spricht für diese Einschätzung, daß etwa Wilhelm Leibl, eine Hauptfigur der Münchener Hollandrezeption, Künstler wie Hals oder Rembrandt zu- nächst indirekt über seine Kontakte nach Paris, speziell zu Courbet, kennenlernte. Leibl, Trübner und andere übernahmen Anregungen aus der niederländischen Porträtkunst, während Carl Schuch sich durch Landschaften und Stilleben inspirieren lies und dabei seinerseits den Anschluß an französische Kollegen wie Manet und Fantin-Latour suchte (Stückelberger 1996, 36 ff.). Deutlicher noch treten die ästhetischen Parallelen bei den deutschen Impressionisten hervor. Neben Liebermanns Reisen in die Niederlande ist hier besonders auf die Adaption der Selbstbildnisse Rembrandts durch Lovis Corinth hinzuweisen, die Stückelberger überzeugend herausgearbeitet hat.44

Auch über die politischen Veränderungen der Kriegs- und Nachkriegszeit hinweg blieb Rem- brandt eine zentrale Figur kunsthistorischer und kunstliterarischer Publikationen. Mitten im Ersten Weltkrieg erschien Georg Simmels lebensphilosophischer Essay (1916), der seinen zentralen Anknüpfungspunkt in den Selbstbildnissen fand.45 Aus Reihen der akademischen Kunstgeschichte, die inzwischen als etablierte Disziplin gelten konnte, ist vor allem Werner Weisbachs Monographie von 1926 hervorzuheben, die sich in vielen Punkten dezidiert gegen die verbreiteten Heroisierungen des Künstlers wendet. Ihr anti-wissenschaftlich ausgerichtetes Gegenstück bildet Wilhelm Hausensteins Rembrandtbuch aus dem gleichen Jahr.

44 Widersprechen möchte ich jedoch Stückelbergers These, die Lektüre von Langbehns Rembrandt als Erzieher sei in diesem Zusammenhang ohne jede Bedeutung gewesen. Gemäß seiner vereinfachenden Unterscheidung zwischen einem negativ bewerteten ‘Historismus‘ und den ‘fortschrittlichen Modernen‘ will Stückelberger eine konservative Rembrandtrezeption bei den Worpsweder KünstlerInnen von einer progressiven bei Liebermann, Corinth, Slevogt und Nolde unterscheiden, wobei er Langbehn nur einen Einfluß auf erstere zuspricht, während letztere „in einen wirklichen Dialog mit Rembrandt“ eingetreten seien (Stückelberger 1996, 53). Mangels Bele- gen erscheint mir eine derartige polarisierende Unterscheidung als rhetorischer Nobilitierungsversuch. Trotz der stilistischen und damit auch ideologischen Differenzen zwischen den verschiedenen Künstlerkreisen halte ich es für unangebracht, Liebermann und seine impressionistischen Kollegen geradezu aus ihrer Zeit herauszuheben, um sie so von den ‘schädlichen Einflüssen‘ ihrer Zeitgenossenschaft mit Langbehn zu befreien. 45 Simmels Sonderstellung in der Rembrandtliteratur und die kulturphilosophische Position seines Essays sind in letzter Zeit mehrfach untersucht worden. Zuerst hat Beat Wyss mit seiner Einleitung der Neuauflage von Sim- mels Rembrandt diesem Desiderat abgeholfen (Wyss 1985). Zum Gegenstand monographischer Forschungsar- beiten wurde Simmels Rembrandt dann bei Alois Kölbl (1998) und bei Anette Wauschkuhn-Nagel (1998). 88 Im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme erhielten die heroischen und nationa- listischen Konzepte innerhalb der Kunstgeschichte erneut Aufwind (Dilly 1988, Larsson 1985). Trotz der erfolgreichen Wiederauflagen des Langbehnschen Buches, trotz des Genie- filmes Rembrandt von 1942 und trotz der pathetischen Erschließung der Selbstbildnisse durch Wilhelm Pinder (1943), dem Vorzeige-Kunstwissenschaftler des nationalsozialistischen Deutschlands, kann jedoch von keiner neuen Blüte des Rembrandtkultes gesprochen wer- den.46 Um erneut zum Ideal für die deutsche Kunst der Gegenwart zu werden, war die natio- nalistische Vorgeschichte der Rezeption Rembrandts zu stark an jene völkischen Konzepte gebunden, die im Kampf um die Kunst der Gegenwart ebenso unterlagen, wie dies der pro- gressiven Moderne widerfuhr.47 Mit dem auf höchster Ebene favorisierten neoklassizistischen Kunstideal war ein Rembrandtkult nicht zu vereinbaren.48 Er rangierte als einer der höchsten Meister ‘germanischer Kunst‘, ohne jedoch, wie einstmals bei Langbehn, erneut eine beson- dere Mission für die Gegenwart zugesprochen zu bekommen.49 Als politischer Vermittler wurde Rembrandt von der deutschen Propaganda in den besetzten Niederlanden eingesetzt. Mittels eines regelmäßigen Rembrandttages wollte man dort den ‘germanischen Maler‘ zur deutsch-niederländischen Integrationsfigur erheben, doch blieb diesem Konzept, einer indi- rekten Wiederanwendung Langbehnschen Gedankenguts, der Erfolg versagt.50

Die Präsenz Rembrandts in der Kunstliteratur der direkten Nachkriegsjahre hatte ich bereits im Kontext der historischen Eingrenzung des Untersuchungsmaterials angesprochen.51 Des- halb soll der Überblick über die Binnenstruktur des diskursiven Feldes an dieser Stelle ge- schlossen und aus der distanzierten Sicht in die Nahsicht gewechselt werden. Zunächst the- matisiere ich dabei jenen inhaltlichen Aspekt des Künstlerbildes, der mir als wesentliches Charakteristikum des Übergangs zwischen erster und zweiter Phase der Rembrandtrezeption erscheint: den Wechsel vom Integrations- zum Marginalisierungsmodell.

1.4 Passage: Vom integrierten zum marginalisierten Individuum

Die Rede vom Künstler wird seit dem Aufkommen romantischer Positionen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße durch die Problematisierung von Subjektivitätskon-

46 Es ist darauf hinzuweisen, daß die Heterogenität der nationalsozialistischen Kulturpolitik eine Verallgemeine- rung dieser Aussagen kaum als sinnvoll erscheinen läßt. 47 Vgl. Brenner 1963; Backes 1988. 48 Vgl. Wyss 1985, XXVI f. 49 Entsprechend wird Rembrandt in kunstgeschichtlichen Überblicksdarstellungen und in kleineren Monogra- phien eingestuft, die während der nationalsozialistischer Herrschaft erschienen (Waldmann 1933, 49; Werner 1934, 87; Müseler 1938, 19; Pinder 1944, 84 f.). 50 Vgl. Bruin 1995, 65 ff. 51 Vgl. den Abschnitt 1.2 in diesem Teil. 89 zepten dominiert. Der Erfolg der diskursiven Künstlerfigur Rembrandt in der Moderne ist entscheidend mit ihrer Leistungsfähigkeit in diesem thematischen Kontext verbunden. Rem- brandtliteratur ist spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im wesentlichen Literatur über moderne Individualität. Nicht in dieser Thematik, durchaus jedoch in den jeweiligen Vorstel- lungen von der Singularität und Subjektivität des Individuums und von seinem Verhältnis zur Gesellschaft lassen sich dabei Unterschiede aufzeigen, deren Reichweite über die feinen Dif- ferenzierungen zwischen einzelnen Autoren hinausgeht. Ich sehe hierin die Möglichkeit, ein wichtiges inhaltliches Kriterium für die Unterscheidung zweier Phasen der modernen Rem- brandtrezeption zu benennen: In den französischen Texten der Jahrhundertmitte erscheint der Künstler als integraler Bestandteil der Gesellschaft seiner Zeit und seine Kunst entsprechend als Ausdruck dieser Gesellschaft, während er in den deutschen Beispielen des Zeitraums von 1880 bis 1950 als ‘Außenseiter der Gesellschaft‘ auftritt.52 Diese historische Differenzierung der These von der Zentralität der Subjektivitätsthematik im modernen Künstlerdiskurs soll im folgenden Abschnitt belegt werden. Neben seiner Funktion der Begründung meiner Unterscheidung ‘zweier Phasen moderner Rembrandtrezeption‘ kommt dem Abschnitt innerhalb der Arbeit die Aufgabe einer ‘Passage‘ zu, einer inhaltlichen Überleitung vom Material der Jahrhundertmitte zum mittlerweile strukturell skizzierten dis- kursiven Feld der Rembrandtliteratur der Jahrhundertwende.

Die romantische Opposition zum klassizistischen Künstlerbild bedeutet den Einstieg in jene affirmative Konzeption von Subjektivität als Charakteristikum des Künstlertums, die das 19. und 20. Jahrhundert dominieren wird.53 Parallel zur Spaltung künstlerischer Praxis zwischen akademischen und secessionistischen Positionen bleiben jedoch auch im 19. Jahrhundert wi- dersprüchliche Subjektentwürfe virulent. Als bedeutende Stimme der akademischen Tradition im letzten Drittel des Jahrhunderts kann der Baseler Kunstgelehrte Jacob Burckhardt ange- führt werden. Zum Abschluß seines Rembrandtvortrags von 1877 fällte er folgendes kritische Urteil über den markanten Subjektivismus, der dieser Figur ja bereits in der klassizistischen Vorstellung vom phantastischen und regelwidrig agierenden Künstler anhaftete:

52 Es ist wohl selbstverständlich, daß ich darin keine ‘nationale‘ Differenz sehe. Die Fallstudie zur Nachtwache wird zeigen, daß in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auch in Frankreich das Marginalitätskonzept bevorzugt wird. Zur Erklärung dieses Phänomens verweise ich vorerst nur auf die gesellschaftliche Entwicklung, die in beiden Ländern eine Stabilisierung der bürgerlichen Strukturen mit sich bringt. Die Bedeutung des Sub- jekts als zentrale Bezugsgröße dieser Gesellschaftsform erscheint mir als der Schlüssel zum Verständnis des Künstlerbildes. In der Bezeichnung ‘der moderne Künstler‘ wird diese Bedingtheit der künstleris chen Subjekt- vorstellungen, ihre sekundäre Position als eine Funktion der Gesellschaft, nicht hinreichend reflektiert. Beson- ders mit Blick auf die Darstellungen Wolfgang Rupperts plädiere ich dafür, weniger vom ‘modernen‘ als vom ‘bürgerlichen‘ Künstler zu reden. Wenn diese Bezeichnung auf Widerspruch stößt, da sie die emphatischen Kon- zepte vom Künstler als einem subversiven, provokativen oder radikal-autonomistischen Rebellen wider das Bür- gertum als illusorisch denunziert, so ist das in meinem Sinne (vgl. den Abschnitt 3.2 im Zweiten Teil dieser Arbeit). 53 Zum Künstlerbild der Romantik vgl. Hofmann 1982; Busch 1982; Bätschmann 1997, 64 ff. 90 „Übrigens ist eine so aparte Persönlichkeit, wie Rembrandt gewesen, ein gefährlicher Lehrer. Es ist nicht wahr, daß Licht, Luft, Harmonie, Haltung eines Bildes mit genauer Ausführung unvereinbar seien. (...) Es ist nicht wahr, daß Lichtmalerei von der Schönheit und Wahrheit des menschlichen Leibes dispensiere, und der alternde Meister hat es durch Ausbleiben des frühern Beifalls und Ab- fall der Schüler empfinden müssen, daß er seine Zeit entzürnt hatte. Es ist nicht wahr, daß die Ge- genstände der Malerei ein bloßer Vorwand sein dürfen, damit eine einzige Eigenschaft, welche noch nicht zu den höchsten gehört, ein souveränes Gaukelspiel daran aufführe. Und wenn dem Meister selbst, als einem Unikum, alles nachgesehen werden soll, so dürfen doch auf sein Tun keine Theorien gebaut werden. Die Praktiker aber, welche ihn zum Leitstern wählen, kann man getrost dem unausbleiblichen Schicksal überlassen: ihn nie zu erreichen und wesentlich sekundäre Leute zu bleiben.“ (Burckhardt 1919 [1877], 37)

Bei Burckhardt erscheint Rembrandt als Ausnahme, die die Regel bestätigt, an deren Richtig- keit und Gültigkeit der Autor ebenso festhält, wie an der Vorbildlichkeit der italienischen Re- naissancekunst. Entgegen der aufkommenden Tendenz nutzt Burckhardt den Holländer nicht als „Leitstern“ für zukünftiges Kunstschaffen, sondern zur Bestärkung des akademischen Ide- als mit Hilfe der Demonstration der Mängel Rembrandtscher Bilder. Wenn er am Schluß sei- nes Vortrags, der über weite Passagen den Charakter einer Anklageschrift trägt, zur Bestär- kung seiner Position eine Anapher - den dreifach wiederholten Satzanfang „Es ist nicht wahr“ - zur Hilfe nimmt, so ist das Beschwörende, das in dieser Rhetorik liegt, nicht zu überhören. Gerade der Punkt, durch den Burckhardt den niederländischen Maler hier entscheidend zu schwächen versucht, war schon einige Jahre zuvor zur Keimzelle der neuartigen Würdigun- gen Rembrandts geworden. Während Burckhardt aus dem „Unikum“ Rembrandt, aus der „aparte[n] Persönlichkeit“ dieser „unvergleichliche[n] Originalgestalt“ (Burckhardt 1919 [1877], 6) die Unmöglichkeit herleitet, auf diesem eine stilistische Schule zu bilden und damit die Unfruchtbarkeit seiner Kunst im Sinne eines ästhetischen Ideals behauptet, liegt etwa für Athanase Coquerel (1869) gerade in seiner künstlerischen Individualität das Kennzeichen der zeitgemäßen Vorbildlichkeit Rembrandts:

„Ich bin, für meinen Teil, davon überzeugt, daß in der religiösen Kunst wie überall sonst die einzig tatsächlich fruchtbare und seriöse Methode der Individualismus ist, die Spontaneität. Daß jeder für sich selbst denke und empfinde, und dann die freien Kreationen seines Genius auf die Leinwand werfe oder aus dem gehorsamen Marmor hervorhole. Daß der Mensch im Künstler lebe. Daß die Kunst der Konventionen, die offizielle Bilderwelt, Abglanz des Befehls, patentiert vom Staat oder von der Kirche, in den Verruf gerate, der ihr gebührt.“ (Coquerel 1869, X f.)54

54 „Je suis persuadé, pour ma part, que dans l’art religieux comme partout, la seule méthode véritable féconde et sérieuse c’est l’individualisme, la spontanéité. Que chacun pense et sente par lui-même et jette ensuite sur la toile 91 Der kämpferische Lutheraner Coquerel will im Künstler den Menschen wirksam sehen, und dieser erscheint ihm zuerst als freies Individuum. Coquerels Text Rembrandt et l’individualisme dans l’art (Rembrandt und der Individualismus in der Kunst), dem dieses Zitat entnommen ist, stellt weniger eine kunstgeschichtliche Forschungsarbeit als ein religi- onspolitisches Traktat dar. Der individualistische Rembrandt fungiert darin als Gegenbild einer staatlichen und kirchlichen Steuerung des bürgerlichen Handlungsspielraums. In dieser Kritik des Eingriffs der Obrigkeit auf das künstlerischen Schaffen findet der Autor ein geeig- netes Demonstrationsobjekt, um seine Vorstellung von Freiheit in der protestantischen Glau- benspraxis von seinem klar benannten Feindbild, der katholischen Kirche, zu unterscheiden. Der Symbolcharakter Rembrandts wird dabei besonders deutlich, wenn Coquerel bekannte Motive aus der Rembrandtbiographik einsetzt, um den niederländischen Maler mit Christus zu vergleichen. Ein Beispiel: Houbraken (1718) hatte zur Erläuterung der ungewöhnlichen Lehrmethoden Rembrandts erzählt, der Meister habe die Arbeitsbereiche seiner Schüler durch Papierbahnen oder Segeltuch voneinander separiert, um diesen zu ermöglichen, „nach dem Leben malen zu können, ohne einander zu stören“.55 Während die klassizistische Literatur diese Anekdote zur Illustration der Skurrilität Rembrandts aufgriff, stellt Coquerel sie als Be- leg für das Interesse des Meisters an einer unabhängigen Entfaltung seiner Schüler dar und erklärt:

„Es ist uns unmöglich, nicht auf eine tatsächliche Analogie dieser Verfahrensweise mit den erhabe- nen Lehrmethoden Christi hinzuweisen, die Menschen zum Nachdenken zu zwingen, die Samen- körner der Wahrheit in die Geister zu säen.“ (Coquerel 1869, 110)56

Sieht Jacob Burckhardt im Ausbleiben einer ‘Rembrandt-Schule‘ den Beleg für die Unfrucht- barkeit von dessen Bildästhetik, so findet Coquerel in derselben Beobachtung die Bestätigung für den Erfolg der Lehrmethode des Holländers. Seine Schule sei als solche kaum auszuma- chen, sie sei so vielgestaltig wie keine andere (Coquerel 1869, 110).57 Ihre Vertreter folgten der Richtung des Meisters, aber jeder auf seine ganz persönliche Weise:

ou fasse sortir du marbre obéissant, les libres créations de son génie. Que l’homme vive dans l’artiste. Que l’art de convention, l’imagerie officielle, le pastiche de commande, breveté par l’État ou par l’Église, tombe dans le discrédit qu’il mérite (...).“ (Coquerel 1869, X f.). 55 „zonder elkander te storen naar’t leven te konnen schilderen“ (Houbraken 1718, zit. nach Veth 1906, 67). 56 „Il nous est impossible de ne pas signaler une analogie réelle entre cette manière de procéder et la sublime méthode d’enseignement du Christ, forçant les hommes à penser, semant dans les esprit des germes de vérité (...).“ (Coquerel 1869, 110). 57 Diese Interpretation Coquerels wird wiederum selbst zum Topos, z.B. bei Knackfuß: „Es wird erzählt, er habe seine Schüler in gesonderten Zellen arbeiten lassen, zu dem Zwecke, daß das Individuelle ihrer Begabung besser gewahrt bleibe und ihre Kunst vor schulmäßiger Gleichförmigkeit behütet werde.“ (Knackfuß 1921 [1897], 10). 92 „Sie marschieren, ein jeder für sich, in seine eigene Richtung, einen Ruhm vorweisend, der gänz- lich ihm allein zukommt. Und das ist es, was Rembrandt vor allem wollte.“ (Coquerel 1869, 113)58

Coquerels protestantische Deutung des künstlerischen Individualismus‘ schließt an die Beob- achtungen zur gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung mit Rembrandt und den Nieder- ländern an, die wir bereits an den Beispielen Théophile Thorés und Alfred Dumesnils machen konnten. Die eindringlichste Formel für die Forderung nach Eigenständigkeit des Subjekts hat dabei wohl Thoré geprägt, als er die Idealvorstellung vom ‘individualisme‘ im Stile einer Menschenrechtserklärung vorbrachte:

„Die Eigentümlichkeit des Menschen ist es, zu erfinden, er selbst zu sein und nicht ein anderer.“ (Thoré 1858, IX )59

Wie oben bereits gezeigt wurde, läßt sich die Betonung des Individuellen als eines positiven Wertes in Gestalt des Motivs der künstlerischen Autonomie in der Rembrandtliteratur zuerst in Frankreich nachweisen. In den revolutionär gestimmten Texten der Jahrhundertmitte wer- den die Abhängigkeit des Künstlers im Feudalregime und die bürgerliche Freiheit des Künst- lers in der Republik einander gegenübergestellt. Die Erlangung der künstlerischen Unabhän- gigkeit wird bei Thoré in einer Weise mit der republikanischen Gesellschaftsstruktur ver- knüpft, die sie als Metapher für die bürgerliche Freiheit an sich erkennbar werden läßt. Der im romantischen Künstlerbild vorbereitete Topos von der Autonomie des Künstlers, der zu den Grundelementen der weiteren modernen Kunstgeschichtsschreibung zählt, wird hier in einer politischen Perspektive aktualisiert und ausgearbeitet.

Folgen wir der französischen Rembrandtrezeption noch einen Schritt weiter und fragen nach dem Zuschnitt, den Eugène Fromentin in seiner einflußreichen Schrift Les Maîtres d’autrefois (1876) dem Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft verleiht. Der damals 54jährige Fro- mentin, als Maler und Schriftsteller ein erfolgreicher Vertreter des Orientalismus, hatte die holländischen und belgischen Museen im Juli des Jahres 1875 besucht.60 Er trat die Reise mit dem Vorsatz an, „Rubens und Rembrandt bei ihnen selbst aufzusuchen“61 und die Erlebnisse dieser Begegnung in einem ausführlichen Reisebericht zu veröffentlichen. Dies geschah ab Januar 1876 in sechs Lieferungen der traditionsreichen Zeitschrift Revue des Deux Mondes

58 „Ils marchent, chacun de son côté, dans une direction à lui, présentant un mérite qui lui est parfaitement per- sonnel. Et c’est que Rembrandt voulait avant tout.“ (Coquerel 1869,113). 59 „Le propre de l’homme est d’inventer, d’être soi et non pas un autre.“ (Thoré 1858, IX ). 60 Vgl. Moissy 1972, LV. 61 „Je viens voir Rubens et Rembrandt chez eux (...).“ (Fromentin 1972 [1876], 3). 93 sowie wenig später in monographischer Form. Rezensionen und lobende Verweise in späteren Publikationen bezeugen die breite Rezeption dieser Veröffentlichung.62 Stärker noch als Thoré konzipiert Fromentin seinen Text entlang des statischen Gerüstes einer Gegenüberstellung von Rubens und Rembrandt, die er als ebenso unangefochtene wie gegen- sätzliche Häupter der „école hollandaise“63 ansieht (Fromentin 1972 [1876], 3.). Politische Kontexte behandelt Fromentin wesentlich zurückhaltender. Eine vehemente Parteinahme für die Republik, wie sie bei Thoré zu finden ist, sucht man hier vergeblich. Fromentin war gewiß kein Revolutionär, er ist dem gemäßigten Bürgertum zuzurechnen.64 Wenn er die niederländi- schen Künstler mit seiner Gegenwart in Verbindung bringt, ist er darum bemüht, dies auf dem Feld rein ästhetischer Erwägungen zu tun und sein Publikum nicht explizit auf die politische Dimension seiner Ausführungen hinzuweisen.65 Entsprechend ausgeglichen ist auch Fromentins Bewertung der beiden „Meister von einst“. Ästhetisch kommt Rubens seinem persönlichen Ideal näher, doch würdigt er Rembrandt als einzigartigen Meister des Helldunkels, eines künstlerischen Mittels, das die Tiefe und Wahr- haftigkeit eines Bildes in besonderem Maße erhöhen könne:

„Alles in allem ist es die Kunst, ein Bild zu vertiefen, die Wahrheit gleichzeitig näher und ferner zu rücken, sie zu verhüllen und doch wieder zur Geltung zu bringen, die Wirklichkeit aufgehen zu las- sen im geistigen Gehalt - und das alles bedeutet Kunst und bedeutet die ‘Kunst des Helldunkels‘.“ (Fromentin 1876, zit. nach der Übersetzung von Bodenhausen 1903, 280)66

Fromentins Konzentration auf Bildgestaltung, Bildwirkung und Aussagegehalt bedeutet je- doch keinen völligen Ausschluß gesellschaftsgeschichtlicher Kontexte. Vielmehr werden auch hier der ‘fürstliche‘ Rubens und der ‘bürgerliche‘ Rembrandt gegenübergestellt. Wie vor ihm bereits Thoré,67 beschreibt Fromentin Rembrandt ausgehend von Rubens, wobei Rubens ein

62 Zur Entstehung, Struktur und Aufnahme des Textes vgl. Ritter 1998. 63 Es deutet bereits die politische Zurückhaltung Fromentins an, daß er die beiden Künstler hier als Vertreter einer gemeinsamen Schule auftreten läßt und damit die gesellschaftliche Differenz zwischen nördlichen und südlichen Niederlanden begrifflich nivelliert. 64 Einige biographische Daten mögen diese Einschätzung illustrieren. Fromentin, geb. 1820 in La Rochelle, stammt aus bürgerlichen Kreisen. Auf väterlichen Wunsch begann er 1839 in Paris ein Jurastudium, von dem ihn sein Vater erst 1847, im Jahr der ersten Salon-Teilnahme Fromentins, entband. Während der 13 Jahre ältere Thoré im Frühjahr 1848 die Kunstkritik gegen den revolutionären Kampf auf den Barrikaden eintauschte (Her- ding 1978, 111), verbrachte Fromentin die Monate Februar bis Mai in Algerien, fern der politischen Unruhen, mit seinen literarischen und künstlerischen Orientstudien (Moissy 1972, LII). 65 Fromentins Position zu den stilistischen und kulturpolitischen Konflikten seiner Zeit wird im Kapitel Nacht- wache eingehender beleuchtet. 66 „En résumé, il y a une manière de creuser la toile, d’éloigner, de rapprocher, de dissimuler, de mettre en évi- dence et de noyer la vérité dans l’imaginaire, qui est l’art, et nominativent l’art du clair-obscur.“ (Fromentin 1972 [1876], 226). Ein Hinweis: Bei Zitaten Fromentins greife ich auf verschiedene Übersetzungen zurück, besonders auf jene von Schellenberg und von Bodenhausen. In einigen Fälle habe ich diese Übersetzungen über- arbeitet, in der Absicht, den Gehalt des Originaltextes deutlicher hervortreten zu lassen. Die Mitbenutzung der älteren Übersetungen habe ich dabei in jedem Fall gekennzeichnet. 67 Thoré 1858, 321 f. 94 althergebrachtes Ideal verkörpert, während wir in Rembrandt eine veränderte, sich vom Ge- wohnten absetzende Künstlerfigur zu sehen haben:68

„Kein Palast mit hochherrschaftlichem Glanze, keine Dienerschaft, keine italienische Bildergalerie. Eine mittelmässige Einrichtung, das schwärzliche Haus eines kleinen Kaufmanns; drinnen das Durcheinander, wie bei einem Sammler, einem Antiquar, einem Liebhaber von Stichen und Selten- heiten. Keine öffentliche Angelegenheit, die ihn an der Politik seiner Zeit mitwirken lässt, keine bedeutenden Gunstbezeugungen, die ihn jemals an irgendeinen Fürsten gebunden hätten.“ (Fro- mentin 1876, zit. nach der Übersetzung von Schellenberg 21919, 321)

Rubens die Öffentlichkeit, Rembrandt die Innerlichkeit, so ließe sich diese Passage Fromen- tins verkürzen. Der Autor ruft zunächst noch einmal den Hausstand des Rubens in Erinne- rung, und zwar durch eine Beschreibung dessen, was man bei Rembrandt nicht antrifft: „Kein Palast mit hochherrschaftlichem Glanze, keine Dienerschaft, keine italienische Bildergalerie“. Wenn er dann auf Rembrandts Lebensumstände eingeht, wählt er sogleich die Interieuran- sicht: „Eine mittelmässige Einrichtung, das schwärzliche Haus eines kleinen Kaufmanns; drinnen das Durcheinander, wie bei einem Sammler, einem Antiquar, einem Liebhaber von Stichen und Seltenheiten.“ Während die ex negativo-Beschreibung von Rubens’ Haus aus würdevoller Distanz erfolgte, werden wir an Rembrandt in der Nahansicht herangeführt. Was sich dort den Blicken darbietet, ist nicht auf den glanzvollen Moment der Gegenwart, sondern auf die Vergangenheit gerichtet. Sammler, Antiquar und Liebhaber stehen für einsame Au- genblicke von Stille und Versunkenheit, und auch für die Speicherung von Erinnerung. Mit dem Haus des Rembrandt liefert Fromentin einen metaphorischen Ausblick auf seine Vision von Rembrandts psychologischer Disposition. Als Vorbedingung für das Reich der Ideen, das zu schaffen Rembrandts Berufung werden sollte (Fromentin 1972 [1876], 262), gilt schließlich auch bei Fromentin der Verzicht auf die Gunst der Fürsten, und, dies im krassen Kontrast zu Thoré und in Vorwegnahme späterer Po- sitionen, der Verzicht auf Teilnahme an der politischen Öffentlichkeit: „Keine öffentliche Angelegenheit, die ihn an der Politik seiner Zeit mitwirken lässt, keine bedeutenden Gunstbe- zeugungen, die ihn jemals an irgendeinen Fürsten gebunden hätten“. Und tatsächlich liegt die entscheidende Differenz zwischen der Darstellung Thorés und jener Fromentins in der Verortung Rembrandts innerhalb der Gesellschaft. Während Thoré den Künstler als Repräsentanten seiner Zeit und dessen Kunst als bewußte politische Positionie- rung eines Bürgers betrachtet hatte, sieht Fromentin den Ort dieses Bürgers im Privaten.

68 Die wechselseitige Konturierung der Künstlerfiguren Rubens und Rembrandt ist ein Topos, der die gesamte Rezeptionsgeschichte durchzieht und eine eigenständige Untersuchung, etwa unter Verweis auf die literarische Tradition des Dioskurenpaars, verdient hätte. Einen interessanten Ansatzpunkt dazu bietet Rolf Parrs Analyse des Bismarckbildes der Jahrhundertwende (Parr 1992, 26). 95 Thoré hatte in Rubens und Rembrandt, so wie in Raffael und Rembrandt, die Gegenüberstel- lung einer künstlerischen Position der Vergangenheit mit einer zukunftsweisenden Ästhetik gesehen, und er hatte die Kunst dabei als Funktion der Gesellschaft dem politischen Feld letztlich untergeordnet. Der Unterschied zu Fromentin ist signifikant: Während Thoré die Kunst der beiden Meister als Ausdruck ihres politischen Bewußtseins deutete und einen ur- sächlichen Zusammenhang zwischen Gesellschaftsform und künstlerischer Praxis hervorhob, bleiben Fromentins Ausführungen im deskriptiv ästhetischen Bereich. Er stellt Übereinstim- mungen zwischen Motivik und Ausführung der Werke einerseits und der gesellschaftlichen Stellung und der Lebensführung der Künstler andererseits fest, sieht darin jedoch nicht die Auswirkungen der Gesellschaft oder die Kennzeichen politischen Engagements seitens der Künstler, sondern lediglich zwei unterschiedliche Ebenen, auf denen sich in analoger Weise die Spuren des jeweiligen Individualcharakters dieser Künstler abzeichnen. Wo sich Thorés Blick letztlich zur Gesellschaft wendet, hat Fromentin das ‘Wesen‘ des Künstlers im Auge. Mit anderen Worten: Thoré situiert das Phänomen ‘Kunst‘ in der Öffentlichkeit, Fromentin im Privaten. Im Wechsel zwischen diesen beiden Autoren verfolgen wir einen Prozeß des Rückzugs eines öffentlich engagierten Individuums in die Innerlichkeit. Diese Einschätzung bestätigt ein Blick auf das unterschiedliche Verständnis der Aufgabe der Kunst, wie sie beide Autoren in den Beispielen der ‘holländischen Schule‘ hervortreten sehen. Wie die folgende, bereits früher zitierte Passage belegt, weist Thorés Interesse auch hier nach außen:

„Das ist der Charakter der holländischen Schule in ihrer Gesamtheit. Das Leben, das lebendige Le- ben, der Mensch, seine Gebräuche, seine Beschäftigungen, seine Freuden, seine Launen. Die einen zeigen den Bürger in Aktion für die öffentliche Sache, wie er sich der Waffenübung widmet oder der Abwicklung von Geschäften; die anderen zeigen die Familien in häuslicher Umgebung oder während ihrer Entspannung im Freien, diese die gebildeten Klassen, jene die arbeitenden Klassen oder die Randgruppen. (...) Überall ist Bewegung, das aktuelle Leben, das zugleich das ewige Le- ben ist, - die Geschichte des Volkes und des Landes.“ (Thoré 1858, 322 f.)69

Fromentin dagegen findet das Wesen der Kunst nicht in der Repräsentation öffentlichen Ge- schehens, sondern darin, verborgene Bilder aus einer inneren Welt hervorzuholen:

69 „Tel est le caractère de l’école hollandaise dans son ensemble. La vie, la vie vivante, l’homme, ses moeurs, ses occupations, ses joies, ses caprices. Les uns ont pris le citoyen en action pour la chose publique, qu’il se livre à l’exercice des armes ou à la délibération des affaires; les autres ont pris les familles chez elles, ou dans leurs distractions extérieures; ceux-ci les classes distinguées, ceux-là les classes laborieuses, ou les classes excen- triques. (...) Partout l’animation, la vie présent, qui est aussi la vie éternelle, - l’histoire du peuple et du pays.“ (Thoré-Bürger 1858, 322 f.) 96 „Die Kunst des Malens ist nichts anderes als die Kunst, das Unsichtbare durch das Sichtbare zum Ausdruck zu bringen (...)“ (Fromentin 1972 [1876], 3.)70

Es kann als symptomatisch gelten, daß Fromentin seine Kritik an Rembrandt gerade an der Nachtwache ausführt, jenem Bild, auf das Thoré mit seinem Verweis auf den „Bürger in Ak- tion für die öffentliche Sache, wie er sich der Waffenübung widmet“ anspielt. Statt im be- waffneten Engagement für die Rechte des Bürgers und das Fortbestehen seiner Gemeinschaft bevorzugt Fromentin dezentere Szenen mit privatem Charakter. Bei der Bewertung der Grup- penbilder Rembrandts ist es zuerst Fromentin, der die Staalmeesters höher einschätzt als die Nachtwache. Zudem stellt dieser Autor besonders die Bedeutung der Einzelporträts heraus. Und gerade in diesem Bereich setzt er die Leistung des Holländers positiv von Rubens‘ Kunst ab. Dabei ist es die Individualisierung der Porträtierten durch Rembrandt, die Fromentins Be- geisterung hervorruft, ihre differenzierte, auf die Unterschiede zwischen den Personen ge- richtete Kennzeichnung. In seiner Rezension der Maîtres d’autrefois für die Kunst-Chronik hat Oskar Berggruen (1877) diese Rubens-Kritik Eugène Fromentins herausgearbeitet:

„Am schärfsten wirft Fromentin den Bildnissen von Rubens vor, daß sie nicht individuell genug sind, sondern sämmtlich eine gewisse Ähnlichkeit besitzen, welche davon herrührt, daß der Meister sie nach einem ziemlich gleichförmigen Typus bildete.“ (Berggruen 1877, 460)

Die Einzigartigkeit der menschlichen Individuen ist also durchaus für beide Autoren, für Thoré wie für Fromentin, ein positiver und zeitgemäßer Wert. Thoré stellt dem Menschen die Aufgabe „er selbst zu sein, und nicht ein anderer“. Fromentin kritisiert an den Bildnissen des Rubens die unzureichende Individualisierung:

„[Rubens’] Männer haben alle denselben chevalesken Zug, seine Frauen alle die nämliche, prinzes- senhafte Schönheit; nirgends findet man eine Eigenthümlichkeit, die auffällt, fesselt und im Ge- dächtnis haftet; nirgends eine ausgesprochene Häßlichkeit der Physiognomie, oder magere, eckige Umrisse, oder gar eine widerwärtige Absonderlichkeit.“ (Fromentin 1876, zit. nach Berggruen 1877, 460)

Trotz dieser Ähnlichkeit liegen die Konzepte der beiden französischen Autoren weit ausein- ander. Bei Thoré steht die Beschäftigung mit Rembrandt im Zeichen einer Abgrenzung von hierarchischen Gesellschaftsstrukturen. Dabei legt er eine polare Gegenüberstellung künstleri- scher Praxis im Feudalismus und in der Republik zugrunde und bezieht klare politische Posi- tion, indem er den Adel zugunsten des Bürgertums abwertet. Dieser Tendenz folgen in Varia- tionen auch Coquerel (1869), Dumesnil (1850), Planche (1853) oder Houssaye (1848), die

70 „L’art de peindre n’est que l’art d’exprimer l’invisible par le visible (...).“ (Fromentin 1972 [1876], 3). 97 sich gegen die Reglementierungen seitens des katholischen Klerus oder des traditionell royali- stischen Instrumentes der Kunstakademien wenden oder allgemeiner für mitunter etwas un- scharfe Konzepte der ‘Gleichheit‘ oder der ‘Menschlichkeit‘ eintreten. Rembrandt dient dem- nach in dieser ersten Phase seiner unter ausschließlich positive Vorzeichen gestellten moder- nen Rezeption als Redeanlaß zur Formulierung der politischen und sozialen Stellung des idealen Individuums einer bürgerlichen Gesellschaft in Abgrenzung zum Feudalismus. Dabei wird die Vergleichbarkeit seines Künstlertums mit aktuellen oder als Aktualität angestrebten bürgerlichen Lebensbedingungen herausgestellt. Bei Fromentin verlieren sich dagegen diese gesellschaftspolitischen Orientierungen des Künstlerdiskurses; an ihre Stelle treten Ästhetisie- rung und Verinnerlichung. Besonders merkwürdig ist nun, daß diese Tendenz zum Rückzug des Künstlers ins Private, die sich bei Fromentin abzeichnet, in der deutschsprachigen Rembrandtliteratur zum Ende des 19. Jahrhunderts auf breitem Feld beobachtet werden kann.71

Auch in der deutschen Literatur finden sich bis in die 80er Jahre Darstellungen, die Rem- brandt als idealtypisches Beispiel des freien Bürgers seiner Zeit und Gesellschaft schildern. So gilt er bereits Franz Kugler als „trotziger Republikaner“ (Kugler 1837, 177), und wenn Eduard Kolloff (1854) diesem Ausdruck entgegentritt, dann keineswegs, um Rembrandt zum gesellschaftlichen Außenseiter zu erklären:

„Rembrandt war allerdings in gewissen Beziehungen das Widerspiel des galanten, mythologischen und katholischen Rubens, dessen Leben sich in einem adligen Schlosse unter allen Elementen des Luxus und der Sommitäten der Zeit bewegte, wogegen Rembrandt in einem bürgerlichen Hause und Kreise lebte. Aber daraus folgt noch nicht, daß Rembrandt ein trotziger Republikaner oder gar ein schnöder Religionsspötter gewesen. Er war, wie alle seine damaligen Landsleute, gut republi- kanisch gesinnt (...). Mit den politischen Gesinnungen eines guten Republikaners verband er gewiß die religiösen Überzeugungen eines guten Protestanten.“ (Kolloff 1854, 486 f.)

Die Ansichten Rembrandts fügen sich nach Kolloff also fest in die bürgerliche Gesellschaft der Niederlande seiner Zeit ein. Diese Perspektive findet sich 1886 auch noch bei Anton Springer. Ein Jahr zuvor hielt Alfred Lichtwark seinen Vortrag über Rembrandt und die holländische Kunst, in dem der Künstler ebenfalls als Prototyp des Bürgers in die Gesellschaft seiner Zeit integriert ist und den Werten dieser Gesellschaft in seiner Kunst Ausdruck ver- leiht. Einer dieser Werte ist der ‘Individualismus der Darstellung’. Im Gegensatz zu späteren Autoren versteht Lichtwark darunter noch nicht die secessionistische Eigentümlichkeit des

71 Aus dieser Perspektive kann auch erklärt werden, warum Fromentins Text in Deutschland erst 20 - 30 Jahre nach seiner Erstpublikation umfassend rezipiert wurde (vgl. Ritter 1998). 98 Künstlers, sondern ein Kennzeichen, mit dem sich der Bürger von den idealisierenden Vor- stellungen religiöser und feudalistischer Kunstpraxis abgrenzt. Wie es bei den französischen Autoren mehrfach zu finden ist, bildet auch für Lichtwark die Unterscheidung der niederlän- dischen Kunst von italienisch bestimmten Traditionen den Einstieg in seinen Text, eine Op- positionsstellung, die er als Folge der eigenständigen gesellschaflichen Entwicklung der Nie- derlande beschreibt. Während die italienische Kunst sich um das religiöse Kultbild entfalte, stehe in den Niederlanden das Porträt, besonders das Gruppenporträt, im Zentrum der Ent- wicklung, und mit diesem die Möglichkeit, ja der Zwang zur Individualisierung. Lichtwark betont den Unterschied zu den „Kultbildern, an denen die italienische Kunst groß geworden ist“ (Lichtwark 1917 [1885], 266):

„An der Stelle der Heiligen mit idealer Existenz und idealer Schönheit stand der schlichte Bürger mit all seinen Unvollkommenheiten, aber auch mit seinem individuellen Leben. Er selbst und seine Genossen saßen über dem Maler zu Gericht und ließen keinerlei Idealisierung durch. Was wußten sie auch in ihrer entlegenen Heimat von idealer Form? Sie wollten auf dem Bilde in ungeschmink- ter Wirklichkeit dastehen, wollten zu erkennen sein. In den meisten Fällen sind uns ihre Namen bis heute aufbewahrt. Was ist gegen diesen streng kontrollierten Realismus das Naturstudium des ita- lienischen Künstlers der Frührenaissance? Mochte er auch einmal seinem Heiligen den charakteri- stischen Kopf eines guten Freundes, einer hervorragenden Persönlichkeit aufsetzen - der Heilige verlangte auf die Dauer gebieterisch eine ideale Verallgemeinerung.“ (Lichtwark 1917 [1885], 266)

Aus dieser Passage spricht eine Polarisierung des Individuellen mit dem Idealen, die zunächst ungewöhnlich erscheint, wird doch in den Texten sonst meist dem Idealen das Reale gegen- über gestellt, auch dieses verknüpft mit ‘dem Italienischen‘ beziehungsweise ‘dem Niederlän- dischen‘. Bei Lichtwark werden die beiden Begriffe jedoch als Entsprechungen auf unter- schiedlichen Ebenen verwendet. Individualisierung des Porträts erscheint als eine Variante des künstlerischen Realismus, sogar eines „streng kontrollierten Realismus“. In der Kontrolle der Ähnlichkeit der Porträts durch das Kollektiv offenbart sich dieser Realismus als Reaktion, indem er sich deutlich gegen etwas wendet: Sie „ließen keinerlei Idealisierung durch“. Idealismus und Realismus stehen einander gegenüber, ein gewohntes Muster, jedoch, vergli- chen mit der akademischen Position eines Jacob Burckhardt, in veränderter Wertigkeit. Dabei sind selbst in Lichtwarks Text noch Spuren einer Realismuskritik Burckhardtscher Prägung zu erkennen. Wenn er als Grund für die anti-idealistische Haltung der porträtierten Bürger fragt: „Was wußten sie auch in ihrer entlegenen Heimat von idealer Form?“, führt er die Nai- vität als Argument zugunsten des Realismus‘ an. In ähnlicher Weise hatten klassizistische Autoren realistische Stilerscheinungen aus der mangelnden Bildung der Maler begründet und eben deshalb kritisiert (Emmens 1968, 30 ff.). Wir sehen hier erneut, daß Lichtwark traditio- nelle Unterscheidungsschemata übernimmt und lediglich deren Bewertung ändert. 99

Diese Beispiele deutschsprachiger Autoren zwischen 1837 und 1886 stimmen mit ihren fran- zösischen Zeitgenossen insofern überein, als sie Rembrandt als integralen Bestandteil der Ge- sellschaft seiner Zeit verstehen. Differenzen finden sich lediglich bei der politischen Bewer- tung dieser republikanischen Position, wobei der aktive Revolutionär Theophile Thoré und der konservative Franz Kugler vermutlich die Extrempositionen unter den hier zitierten Auto- ren markieren. Für alle gilt jedoch, daß der Künstler in das Gefüge eines mehr oder weniger utopischen Gesellschaftsentwurfes integriert wird, daß er als Bürger in die gemeinschaftliche Ordnung eingebunden ist und sowohl sein Handeln als auch die Gesetze, nach denen es sich vollzieht, in Entsprechung zum Handeln der anderen freien Bürger einer selbständigen Nation stehen. Die bürgerliche Gesellschaft und das Feudalsystem stehen sich gegenüber. In den re- publikanisch orientierten Beispielen wird die politische Aktivität des Bürgers dabei zugleich als Recht und Pflicht verstanden; sie stellt ein Gebot der Natur, der Vernunft und des Verant- wortungsbewußtseins dar. Die Einbindung des Einzelnen in das gesellschaftliche Kollektiv wird positiv bewertet, und das Handeln des freien Künstlerindividuums fungiert als Beispiel dafür. Im weiteren Verlauf der Rembrandtrezeption läßt sich eine Verschiebung dieser Position er- kennen. In der deutschen Rembrandtliteratur der Jahrhundertwende, die nun zum Gegenstand einer systematischen Analyse werden soll, ist von einem harmonischen Eingebundensein des Künstlers in eine Gesellschaft freier Bürger kaum noch etwas zu finden. Der Begriff des Indi- vidualismus steht hier nicht länger im Kontext einer Abgrenzung bürgerlicher Vorstellungen nach außen (‘Bürgertum vs. Feudalismus’), er fungiert nun vielmehr als Element einer Diffe- renzierung innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Wie ich am Beispiel Fromentins bereits andeutete, kommt es zu einer Privatisierung des Künstlers, die in der Literatur der Jahrhun- dertmitte noch kein relevantes Thema darstellte. Nun jedoch wird die Kommunikation über die Künstlerfigur Rembrandt nach Maßgabe einer zentralen Codierung innerhalb der bürgerli- chen Gesellschaft gebildet: der Unterscheidung zwischen ‘öffentlich‘ und ‘privat’. Wo das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft beschrieben ist, steht er nicht mehr als Angehöriger des Bürgertums positiv gegen die adlige Feudalherrschaft, sondern als idealer Vertreter des autonomen Individuums gegen eine negativ bewertete ‘Gesellschaft’.72

72 Diese diskursive Positionierung hat in sozialgeschichtlichen Darstellungen immer wieder, zuletzt bei Ruppert (1998), zur Einstufung des Künstlers als eines ‘Außenseiters der bürgerlichen Gesellschaft‘ geführt. Wenn wir den Künstler jedoch nicht primär als ‘soziales Faktum’, sondern als diskursive Figur beschreiben, erkennen wir in seiner scheinbaren ‘Ausgrenzung’ lediglich eine Ableitung der Unterscheidung zwischen ‘öffentlichen‘ und ‘privaten’ Orten, Gütern oder Verhaltensweisen. Der Künstler erscheint somit nicht als vom Bürger abgegrenztes ‘Anderes’, sondern als eine Indentifikationsfigur des Bürgers, die den elementaren Konflikt zwischen öffentli- cher und privater Existenz exemplarisch auslebt. 100 Der erste Schritt meiner Analyse des Feldes der deutschen Rembrandtrezeption um 1900 wird sich auf die Praxis der Unterscheidung der Werke des Künstlers nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘ konzentrieren. Ich vertrete dabei die Ansicht, daß diese Unterscheidung eine Pa- raphrase des gesellschaftskonstitutiven Codes ‘öffentlich vs. privat‘ darstellt.

101 102 2 Analyse

2.1 Kunstschaffen

2.1.1 Die Unterscheidung des Werks nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘

In seiner 40-seitigen Besprechung der großen Amsterdamer Rembrandt-Ausstellung von 1898 für die Deutsche Rundschau trifft der Historiker Otto Seeck innerhalb der Rembrandtschen Bildniskunst eine im kunsthistorischen Sprachgebrauch geläufige Unterscheidung zwischen ‘eigentlichen Bildnissen‘ (Auftragsporträts) und ‘Studienköpfen‘. Zu letzteren zählt er, neben Bildnissen von Familienmitgliedern, auch die Selbstbildnisse Rembrandts. Er unterscheidet diese beiden Bildnistypen zunächst hinsichtlich ihrer Ausführung und Stilistik und dann auch in Bezug auf die Motivation, der ihre Entstehung zu verdanken ist:

„Was diesen [Studienkopf] für uns bezeichnet, ist eben nur, daß er nicht auf Bestellung gemalt ist, sondern als freier Ausfluß künstlerischer Laune. Fand sich ein zahlungsfähiger Mann, dem eines die ser farbenreichen schönen Bilder gefiel, so besann sich Rembrandt gewiß nicht, sein eigenes derbes Gesicht oder auch die weichen Züge seiner Saskia für gutes Geld wegzugeben. Hätten doch die Wände seiner Wohnung gar nicht den Raum geboten, um alle Exemplare dieser beiden Köpfe, die es ihn immer wieder nachzubilden drängte, darauf unterzubringen. Aber was ihn zu dieser Art der Malerei trieb, war nicht das Bedürfnis nach Gelderwerb - dieses ließ sich auf andere Weise viel besser befriedigen - , sondern die nie ermüdende Freude am Gegenstande.“ (Seeck 1898, 41 f.)

Die Studienköpfe entstehen demnach aus „Freude am Gegenstande“ und für den Hausge- brauch. Ihre Produktion ist nicht auf die Nachfrage zugeschnitten; ihr Verkauf ist nicht vorge- sehen, bei entsprechendem Interesse jedoch auch nicht ausgeschlossen. Diese Bildgattung der Studienköpfe formt bei Seeck einen Gegenpol zu der direkt am „Gelderwerb“ orientierten Malerei. Kunstproduktion ist demnach nicht prinzipiell marktabhängig, sie kann dies jedoch sein. Aufgrund dieser Unterscheidung ist Rembrandt nicht als bloßer Handwerker anzusehen, selbst wenn er seine Fähigkeiten auch für den Gelderwerb nutzte. Denn außerhalb des Marktgeschehens „drängte“ es ihn, „trieb“ es ihn mit „nie ermüdende[r] Freude“ zum Malen. Zu diesem inneren Zwang kam der äußere Zwang existentieller Art hinzu:

„Der junge Mann hatte sich schon mit fünfundzwanzig Jahren einen Hausstand gegründet; er sam- melte Kunstwerke, kostbare Kleiderstoffe, blankes Geräth und glänzendes Geschmeide, schon weil er dessen für seinen Beruf bedurfte, und mit dem Gelde haushalten hat er niemals lernen können. So galt es denn verdienen und zwar recht viel, wozu die Bildnismalerei damals wie heute das ge- eignetste Mittel war. Zum Glück war er früh in Mode gekommen; aber wenn er sich die Gunst des Publikums erhalten wollte, mußte er auf dessen Wünsche Rücksicht nehmen.“ (Seeck 1898, 42)

103 Der äußere Zwang besteht zunächst aus der reinen Existenzsicherung, dazu kommt die Sam- mellust Rembrandts, die zum Teil durch einen Teufelskreis begründet wird: Bedarf an glän- zendem Geschmeide zum Malen - Bedarf an Geld zum Erwerb glänzenden Geschmeides - Malen zum Gelderwerb. In diesem Zusammenhang reflektiert Seeck auch die Aktualität der Phänomene „Gunst des Publikums“ und „Mode“, indem er „damals“ und „heute“ vergleicht. Bis zu diesem Punkt hat Seeck jedoch die Unterscheidung des Werkes lediglich neutral be- schrieben, ohne eine Wertung damit zu verbinden. Bevor er dies tut, führt er die Differenz zwischen ökonomisch motivierter Produktion und freiem Arbeiten zunächst weiter aus.

„Der Unterschied dessen, was wir Studienköpfe nennen, und der eigentlichen Bildnisse, besteht also wesentlich darin, daß diese gemalt sind, wie Rembrandt's Kunden es verlangten, jene, wie sein eigenes Herz ihn trieb. Dieser Unterschied aber ist so groß, daß man Bildnisse, die nach ihrer er- haltenen Datierung demselben Jahre angehören, nach ihrem äußeren Eindrucke, je nachdem sie Studien oder wirklich Porträts sind, ganz verschiedenen Stilperioden, ja selbst ganz verschiedenen Meistern zuschreiben möchte; so wenig sehen sie einander ähnlich.“ (Seeck 1898, 42)

Die stilistischen Differenzen zwischen zeitgleich entstandenen Werken, die Rembrandt zuzu- schreibenden sind, lassen sich für Seeck offenbar nicht harmonisch erklären. Er schließt dar- aus vielmehr auf einen Konflikt innerhalb der künstlerischen Praxis Rembrandts, die aufge- spalten wird zwischen einer öffentlichen und einer privaten Orientierung. An diesem Konflikt wird die Identität des Künstler problematisch: Sein Werk sieht sich selbst nicht mehr ähnlich. Mit Blick auf die große Anzahl von Auftragsporträts in der Amsterdamer Ausstellung kommt Seeck nun auch zu einer Bewertung jener beiden als widersprüchlich aufgefaßten Kunst- praxen:

„Niemals wieder wird man solche Gelegenheit haben, gerade diese Seite von Rembrandt's Thätig- keit in so umfassender Weise zu überblicken; und mag sie auch nicht gerade die erfreulichste sein, die am Wenigsten interessante ist sie nicht. Wir sehen hier den Pegasus im Joche, aber es ist be- wundernswerth, mit welchem Anstand er es zu tragen weiß.“ (Seeck 1898, 43)

„Diese Seite von Rembrandt’s Thätigkeit“ ist „nicht gerade die erfreulichste“. Dem Markt ge- nügen zu müssen ist für Rembrandt, im Gegensatz zu den Familienbildnissen, keine „Freude“, sondern ein Zwang, dem er wider Willen unterworfen wird.73 Das Bild vom „Pegasus im Jo- che“ indiziert, wie unpassend Seeck diese von äußeren Zwängen dominierte Praxis für einen Künstler wie Rembrandt erscheint. Die im Auftrag entstandenen Arbeiten werden nicht als

73 Otto Seeck gewinnt aus der Unterscheidung des Werks nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘ das Potential für eine Verhaltensanweisung angesichts ökonomischer Zwänge. Wer das „Joch“ mit Anstand zu tragen weiß, verhält sich „bewundernswert“. Wie so viele der hier behandelten Zitate, läßt sich diese Passage auch als meta- phorische Spiegelung bürgerlicher Alltagsphänomene des ausgehenden 19. Jahrhunderts in der Beschreibung des Künstlerdaseins im 17. Jahrhundert lesen. 104 gleichwertiger Bestandteil des künstlerischen Schaffens angesehen, sondern als ein notwen- diges Übel; es haftet ihnen der Makel des Abhängigkeitsverhältnisses an, in dem der Künstler bei ihrer Produktion stand. Die Unterscheidung zwischen Auftragsarbeit und autonomem Kunstschaffen wird dabei von einer bloßen Benennung der Kontexte einzelner Werkentsteh- ungen zu einem qualitativen Urteilskriterium. In dieser Weise durchzieht sie die Rembrandt- literatur der Jahrhundertwende als ein konstitutives Element.

Carl Neumann, Professor für Kunstgeschichte in Heidelberg, gibt zum Beispiel in seiner Be- wertung der frühen Schaffensphase Rembrandts den Zeichnungen den Vorzug vor den ausge- führten Gemälden:

„In dem Maße, wie die Zeichnungen keine großen Gelegenheiten waren, bei denen der Künstle r sich erhitzte, unöffentlich in der Art von Selbstgesprächen, sind die Zeichnungen der ersten Periode vielen der gleichzeitigen größeren Werke überlegen.“ (Neumann 1918, 15)

In diesen „größeren Werke[n]“ des frühen Rembrandt, gemeint sind vor allem Historienbilder, macht Neumann die „Überreste des Italianismus“ mit ihrem „falschen Pathos“ sowie den „dramatischen Formwillen der Zeit“ aus (Neumann 1918, 14). Von diesen ‘schädlichen Außeneinflüssen‘, von dieser Reibung mit der Gesellschaft die zu einer negativ konnotierten ‘Erhitzung‘ des Künstlers führt, seien die Zeichnungen, „unöffentlich in der Art von Selbstge- sprächen“, frei. Während Neumann die Unterscheidung der Werke Rembrandts nach dem Code ‘öffentlich vs. privat‘ anschaulich an die technische Unterscheidung von Zeichnungen und „größeren Wer- ke[n]“ koppelt, zieht Jan Veth (1906) auch innerhalb einer Technik, innerhalb der Gemälde, eine qualitative Grenze. Die Plausibilität seiner Argumentation verstärkt er dabei ebenfalls entlang des Codes ‘öffentlich vs. privat‘, indem er, ähnlich wie Seeck, Auftragsbildnisse von Porträts aus Rembrandts Familienkreis unterscheidet. Im folgenden Zitat ist von einem Bild- nis die Rede, das Veth zufolge, in Übereinstimmung mit zeitgenössischen Titelzuschreibun- gen, Rembrandts Vater zeigt:

„Ungezweifelt ist sich der Maler in diesem Liebhaberei-Porträt, in dem er sich im Vergleich zu den Auftragsbildnissen freier bewegen konnte, ein ganzes Stück, ja Jahre voraus. In die sem Werk eines gerade Fünfundzwanzigjährigen spürt man die Klaue des Löwen, sieht man den Mann der, obwohl er die Anatomie des Dr. Tulp erst noch vor sich hat, die Nachtwache bereits erahnen läßt.“ (Veth 1906, 32)74

74 „Ongetwijfeld is de schilder zich in dit liefhebberij-portret, waarmee hij zich vrijer bewegen kon, bij zijn be- stelportretten vergeleken, een heel eind, ja jaren vooruit. In dit werk van den nog maar vijf-en-twintig-jarigen bespeurt men de klauw van den leeuw, ziet men den man die, ofschoon hij de Anatomische Les nog voor de 105 Bei Veth wie bei Neumann ist, im internen Wettbewerb des ‘gespaltenen Rembrandt’, der pri- vate Maler dem öffentlichen „überlegen“ bzw. um „Jahre voraus“. Dieser Darstellung zufolge wird dem Maler im Rahmen einer konventionellen, professionellen Berufsausübung eine Ein- schränkung seiner Freiheit auferlegt, die der Qualität abträglich ist. Die ‘reiferen’ Werke ent- stehen aus „Liebhaberei“.75 Einer derartigen Einschätzung liegt unausgesprochen die Vorstel- lung von der Gesellschaft als einer Korsettierung des Individuums zugrunde. Das Verhältnis des Einzelnen zu seiner sozialen Umwelt wird als Konfliktsituation verstanden; nur außerhalb der Öffentlichkeit kann sich das Individuum frei entfalten, das heißt hier: Nur im privaten In- nenraum kann sich die ‘wahre’ Gestalt des Künstlers zeigen.

Ein weiteres Beispiel für diese Zweiteilung des Werks: In der Einleitung zum Werkkatalog der Gemälde Rembrandts, der 1904 in der Reihe Klassiker der Kunst erschien, unterscheidet der Kunstschriftsteller Adolf Rosenberg ebenfalls klar zwischen Auftrag und Autonomie. Demnach verlangt die Auftragsarbeit vom Künstler eine Anpassung an von außen kommende Anforderungen:

„Bisher hatte er nur seine nächsten Verwandten (...) porträtiert, und diese mußten es sich gefallen lassen, daß er mit ihnen nach seiner künstlerischen Laune umsprang und sie als Versuchsobjekte für seine Beleuchtungsstudien benutzte, ohne sich um die gemeine Ähnlichkeit zu kümmern. Jetzt, wo die Aufträge kamen, mußte er sich den Wünschen seiner Besteller anbequemen.“ (Rosenberg 1904, XVII)

Der Autor legt jedoch Wert darauf, daß sich der Künstler für die Auftragsarbeiten nicht ‘ver- stellt’ habe, sondern sie als lehrreiche Aufgabe und finanzielle Notwendigkeit betrachtete und insofern auch ernst nahm. In der direkten Fortsetzung des Zitates kritisiert Rosenberg spöt- tisch die Abwertung der künstlerischen Qualität der Auftragsarbeiten, wie sie in Texten seiner Kollegen vorzufinden ist:

„Gleichwohl ist den zahlreichen Bildnissen, die in der ersten Hälfte der dreißiger Jahre entstanden sind, nicht anzusehen, daß er sie mit Unlust oder gar mit Widerwillen ausgeführt hätte, nur weil er etwa nicht nach seiner eigenen Laune mit den Modellen schalten und walten konnte. Im Gegenteil, fast alle diese Bildnisse zeichnen sich durch eine überaus große Sorgfalt der Ausführung in allen Einzelheiten (...) aus, so (...) daß man noch jetzt mit einer gewissen Mißachtung von dem ‘Mode- maler‘ spricht, der sich mit Verleugnung seines eigentümlichen Naturells um des schnöden Er- werbs willen dem herrschenden Zeitgeschmack anbequemt hätte. Wenn er dann wieder ‘ganz

borst heeft, de Nachtwacht al vóórgevoelt.“ (Veth 1906, 32). 75 Hier sei auf eine weitere begriffliche Paraphrase des Codes ‘öffentlich vs. privat‘ hingewiesen, die Unter- scheidung des zweckgerichteten ‘Professionellen‘ und des lustvollen ‘Amateurs‘. 106 Rembrandt‘ sein wollte, hätte er sich erfrischt, indem er mythologische Bilder in romantisch phan- tastischem Stil (...) malte. Das ist eine durchaus irrige Auffassung. Sein Ehrgeiz trieb ihn vielmehr, unmittelbar mit de Keijser zu wetteifern (...) und ihn dann möglichst nach allen Richtungen hin zu übertreffen.“ (Rosenberg 1904, XVII)

Rembrandt wollte sich also nicht „anbequem[en]“, sondern sich mit den erfolgreichsten Künstlern seiner Zeit messen und diese übertreffen. Rosenberg, der hier seinerseits den Dis- kurs beobachtet und dabei die Unterscheidung zwischen Auftrag und Autonomie bemerkt, richtet seinen Widerspruch nicht prinzipiell gegen diese Einteilung, sondern gegen deren scharf wertende Aufladung. Sein junger Rembrandt vermag es, die eigene „Laune“ angesichts der Porträtaufträge zu unterdrücken, ohne seine Berufung zu verraten; er kann Aufträge mit Gewinn erfüllen, indem er nicht nur davon lebt, sondern auch daraus lernt. Die Polarität zwi- schen Auftrag und autonomem Werk ist dadurch nicht angetastet. Vielmehr deutet sich hier eine Narrativierung des Problems an, das Konzept einer Entwicklung des Künstlers, das uns noch beschäftigen wird. Die grundlegende Spannung zwischen Autonomiestreben und Auf- tragszwängen tritt in Rosenbergs Deutung erst im Laufe der Jahre in Erscheinung:

„(...) nachdem sie [Saskia, M.H.] erst in Rembrandts Haus eingezogen war, um ihm fast ein Jahr- zehnt lang als liebstes Modell zu dienen, schaltete er in souveräner Künstlerlaune mit ihr, wie er es mit seinem eigenen Ich gewohnt war. Schon auf dem Kasseler Bilde hat er sie mit einem phantasti- schen Kostüm nach eigenem Geschmack und eigener Zusammenstellung herausgeputzt, das in sei- ner heiteren Farbenpracht in schroffem Gegensatz zu der steifen, farb- und reizlosen Tracht steht, in der sich die Frauen der reichen Handelsherren malen ließen. Mochten sie es immerhin! Rem- brandt erhielt um diese Zeit 200 bis 300 Gulden für jedes Bildnis, und er brauchte das Geld, da es ihn danach lüstete, seinen jungen Hausstand auf einen großen Fuß zu stellen oder doch wenigstens sein junges Glück in Juwelen zu fassen.“ (Rosenberg 1904, XX f.)

Rembrandt toleriert den Geschmack der Besteller, da er sich dadurch seinen eigenen Ge- schmack leisten kann, dem er dann im Bilde Ausdruck verleiht. Wie wir sehen werden, ist diese Toleranz ein zeitlich begrenztes Phänomen, das mit der Jugend Rembrandts zu erklären ist. Sein Reifen zum vollkommenen Künstler verändert auch seine Ansprüche an die Auf- tragswerke. Und bei der Nachtwache bricht dann, nach Rosenberg, der Graben zwischen Auftrag und Autonomie auf:

„In dem seit jener Zeit [seit der Anatomie des Dr. Tulp, M.H.] verflossenen Jahrzehnt war er aber ein völlig anderer geworden. Wie er sich innerlich zu voller künstlerischer Freiheit hindurchgerun- gen hatte, so glaubte er sich auch äußerlich seinen Auftraggebern gegenüber jede Freiheit erlauben zu dürfen. Die Zeit war vorüber, wo er sich bei den Bildnissen dem Geschmack der Besteller fügen mußte. Jetzt wollte er einmal den Amsterdamern, insbesondere auch seinen Kunstgenossen zeigen,

107 wie man derartige Schützenbilder anfassen mußte, um etwas anderes, Besseres daraus zu machen, als es die Maler bisher vermocht, die sich meist mit der Darstellung von langweiligen Musterungen oder im besten Falle von Schützenmahlzeiten begnügt und ihre Aufgaben auch zu allgemeiner Zu- friedenheit gelöst hatten, wenn nur jeder Teilnehmer dabei recht ähnlich herauskam.“ (Rosenberg 1904, XXVI)

In dieser Passage wird die Polarität mit einer Wertung verbunden. Es geht Rosenberg zwar nach wie vor nicht um eine harte Differenzierung von ‘gut‘ und ‘schlecht’, aber um die von „künstlerischer Freiheit“ und „allgemeiner Zufriedenheit“, wobei das ‘Bessere‘ deutlich be- nannt wird. Die sanfte Unterscheidung des Werks in gute und bessere Kunst dient demnach lediglich zur Vorbereitung auf die eigentliche Abspaltung, die sich im chronologischen Ver- lauf von Rembrandts Leben und Schaffen einstellt: die Abspaltung des autonomen Künstlers von der Gesellschaft. Zur Nachtwache schreibt Rosenberg:

„(...) Rembrandt wollte eben trotz der phantastischen Grundstimmung des Bildes einen Ausschnitt aus dem Leben von unmittelbarer Naturwahrheit geben, und dieser seiner höchsten künstlerischen Absicht opferte er alle Rücksichten auf die persönliche Eitelkeit der Porträtierten. (...) Dieses Ge- mälde, das wir heute als eine der höchsten Offenbarungen des malerischen Genies verehren, ist von den Zeitgenossen seines Schöpfers, insbesondere aber von den Bestellern, bei weitem nicht in glei- chem Maße gewürdigt worden. Es erregte im Gegenteil unter den zunächst Beteiligten eine so all- gemeine Unzufriedenheit, daß Rembrandts ganze Malerei in Mißkredit kam und die Gunst des Am- sterdamer Publikums sich ebenso schnell von ihm abwandte, wie sie ihm zehn Jahre früher zuge- flogen war.“ (Rosenberg 1904, XXVII)

Der Konflikt zwischen der gesellschaftlichen Repräsentationsfunktion des Porträtbildes und der „höchsten“, das heißt der autonom künstlerischen Absicht Rembrandts bricht aus, als der Künstler sich, ausgerechnet bei seinem größten Auftrag, nicht zur Gesellschaft, sondern zur Kunst bekennt. Diese dramaturgische Zuspitzung ist zur Zeit von Rosenbergs Text bereits ein Topos der Rembrandtliteratur. Wo die künstlerische Entwicklung Rembrandts als eine Befrei- ungsgeschichte des Künstlers von den Zwängen der Gesellschaft erzählt wird, kommt der Nachtwache häufig die Rolle einer ‘Unabhängigkeitserklärung’ zu. Sie gilt dann als größtes Wagnis und radikalste künstlerische Äußerung, sie löst dann zugleich den wirtschaftlichen Niedergang Rembrandts und seinen postumen Ruhm aus. Der Entstehung dieses Topos und seinen Variationen ist im dritten Teil der Arbeit eine eigene Fallstudie gewidmet. Vorerst sei an dieser Stelle nochmals die Praxis der Unterscheidung betont, mittels derer das gesamte Werk Rembrandts in ‘abhängige‘ und ‘autonome‘ Arbeiten aufgeteilt wird. Dieser Sicht zufolge gibt es unter den eigenhändigen Werken des Künstlers solche, deren Ge- staltung mit Blick auf das Publikum ausgeführt wurde, und solche, in denen der Künstler al-

108 lein seinen eigenen Maßstäben Rechenschaft schuldig war. Mit dieser Unterscheidung wird auf der Ebene des Werks die Differenzierung zwischen einem äußeren Rembrandt (öffentliche Person, ‘Mensch‘, Auftragsmaler) und einem inneren Rembrandt (Privatperson, autonomer Künstler) wiederholt. Die auftragsbezogenen Arbeiten werden dabei durchaus weiterhin zum ‘Werk‘ des Künstlers gezählt, gelten jedoch nicht als Schlüssel zum Innersten desselben (Cha- rakter, Wesen, Seele), sondern dienen der Veranschaulichung des Konfliktes zwischen dem autonomen Individuum und der Gesellschaft. Im Kontext der Diskussion hermeneutischer Methodik am Ende dieses Abschnittes wird auf diese Thematik zurückzukommen sein. Zu- nächst möchte ich jedoch die Behandlung der beiden Seiten dieser Unterscheidung in der Li- teratur weiter verfolgen. Die Darstellung von Rembrandts Verhältnis zu seinen Auftraggebern soll dabei den Anfang machen.

2.1.2 Rembrandts Verhältnis zur Auftragsarbeit

Stellt man der wertenden Unterscheidung zwischen autonomem Kunstschaffen und Auftrags- arbeit die große Zahl der Rembrandt zugeschriebenen Porträts entgegen, so drängt sich die Frage auf, ob die Erhebung des Holländers zu einer Idealgestalt künstlerischer Autonomie nicht einen allzu offensichtlichen Widerspruch produzieren mußte. In den untersuchten Tex- ten schlägt sich dieses Problem unter anderem in der Schilderung der Spannungen nieder, die der Künstler seinen Auftragsarbeiten und deren Bestellern entgegengebracht habe. Die fol- genden Zitate sollen diese Facette der Arbeit an ‘Rembrandts Autonomie‘ illustrieren. Sie setzen sich primär mit Porträtaufträgen auseinander, denn es war vor allem diese Bildgattung, die während der hier untersuchten Rezeptionsphase als marktorientierte Auftragskunst wahr- genommen wurde.76 Problematisiert werden dabei besonders die Arbeiten der als ökonomisch und gesellschaftlich erfolgreich geltenden Amsterdamer Jahre des Künstlers (ca. 1630-1650). Hinsichtlich der Biographie herrschte hier der Konsens, daß sich Rembrandt zunächst als Por- trätmaler einen Namen gemacht habe, daß er sich aber mehr und mehr vom Porträt abgewandt habe und daß seine bedeutendste Schaffensphase, das Spätwerk, schließlich im wirtschaftli- chen und künstlerischen Konflikt mit seinen Zeitgenossen entstanden sei. Im Hinblick auf das Idealbild vom autonomen Kunstschaffen bereiteten die Auftragsarbeiten dieser frühen Am- sterdamer Jahre vielen Autoren Probleme, da sie Rembrandt hier als glückliches und erfolg- reiches Mitglied der „vornehmen Gesellschaft Amsterdams“ (Neumann 1902) sahen - ein

76 Über ökonomische Hintergründe anderer Bildgattungen, der Historienbilder, der historisierenden oder allegorisierenden Rollenporträts in denen z.B. Saskia als Modell fungiert haben könnte, oder der Selbstbildnisse, werden nur in Einzelfällen Überlegungen angestellt. In der Regel wird es offenbar als selbstverständlich erachtet, daß hier, um einen häufig verwendeten Ausdruck jener Zeit zu benutzen, ‘rein künstlerische‘ Motivationen vorlägen. 109 Umstand, von dem sich die zitierten Kunsthistoriker und Literaten in der Regel mit eigenen Augen ein Urteil gebildet hatten: Die große Zahl der Auftragsporträts in der Amsterdamer Ausstellung von 1898 ließ daran wenig Zweifel.77 Wie am Beispiel Rosenbergs demonstriert, wurde dieser Problematik zum Teil durch die Errichtung einer Narration entgegengewirkt, die Rembrandts frühen Erfolg als ein Durchgangsstadium beschreibt, als eine Höhe äußerlichen Glanzes, welche durch innerlich reinigende Schicksalsschläge zur seelischen Tiefe des Spät- werks führt. Dieses Erzählmodell, das letztlich auch umfangreicheren Monographien, etwa der Carl Neumanns (1902), zugrunde liegt, stellt die Erfolgsjahre also in den Zusammenhang eines sinnstiftend dramatisierten Lebenslaufes.78 Damit wird der Stellenwert der Auftrags- porträts für die Bewertung der Kunst Rembrandts insgesamt reduziert. Wo dieser ökonomische Entstehungskontext dennoch konstatiert wird, steht neben der Wür- digung der Auftragsbildnisse - vor allem für ihre technische Brillanz - immer wieder der Verweis auf Zukünftiges. Dem Eindruck harmonischer Verhältnisse zwischen Künstler und Gesellschaft wird durch die Andeutung eines elementaren Konfliktes entgegengewirkt. Grundlegend ist dabei die Vorstellung von der Unabhängigkeit Rembrandts in seinen künst- lerischen Entscheidungen. Schon kurz nachdem Rembrandt sich als Porträtmaler in Amsterdam etabliert hat, sieht Wil- helm Bode (1883) in dessen Werken eine Tendenz zur Selbstermächtigung:

„Das eigentliche Porträt sehen wir fast ausschließlich auf den Kreis der Freunde und Verwandten des Meisters beschränkt. Und selbst wenn er ausnahmsweise einen vornehmen Gönner oder einen durchreisenden Fürsten zu malen übernimmt, so kleidet, posiert und malt er ihn fast immer nach seinem künstlerischen Gutdünken (...).“ (Bode 1883, 442)

Bode privatisiert die Rembrandt zugeschriebenen Bildnisse, indem er in den „eigentliche[n] Porträt[s]“ vor allem Freunde und Verwandte erkennen will. Diese Werke fallen damit nicht länger in die Kategorie der Aufträge oder sonstiger an Markt und Geld orientierter Produkte. Das von Fremden bestellte Porträt wird als Ausnahme dargestellt. Zudem nobilitiert der Autor das Feld der potentiellen Kunden und entkleidet den Akt des bezahlten Malens seiner ‘Bana- lität‘ und seines Handwerkscharakters. Bode legt Wert auf die Feststellung, daß die Auftrag- geber dem Künstler nichts diktiert hätten, daß dieser vielmehr „nach seinem künstlerischen Gutdünken“ habe schalten können. Zudem verschärft sich, nach Bode, im Lauf der Zeit die Widerspenstigkeit Rembrandts im Umgang mit porträtwilliger Kundschaft:

77 Vgl. die Rezension Weizsäckers (1899). Vgl. auch das Zitat von Otto Seeck im vorausgegangenen Abschnitt dieser Arbeit (Seeck 1898, 43). 78 Wie im Abschnitt zum ‘Künstlerleben‘ zu zeigen sein wird, ist aber zugleich eine Tendenz zur Reduktion des Umfanges marktorientierter Bildnisproduktion zu beobachten. 110 „Bildnisse finden wir auch in dieser Epoche des Künstlers zahlreich vertreten; aber wie schon in den ersten Jahren nach seiner Verheiratung, so verschmäht es der Künstler auch jetzt, jedem Frem- den, der ihm gut bezahlte, eine Sitzung zu bewilligen oder sich gar bei der Anordnung oder Aus- führung des Bildes dreinreden zu lassen. Die Bildnisse dieser Zeit, die uns bekannte Persönlich- keiten vorführen - und solche bilden die Mehrzahl -, zeigen den Künstler selbst, seine Gattin, seine Verwandten, Freunde und Gönner. Und auch unter den uns bisher nicht bekannten Personen wer- den wir vielleicht in den meisten Fällen dem Künstler Nahestehende vermuten dürfen (...).“ (Bode 1883, 454)

Wiederum entzieht Bode das Schaffen des Künstlers den öffentlichen Einflußnahmen und verlagert es ins Private.79 Zugleich stellt er das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Künstler als ein grundsätzlich prekäres dar; die Bezahlung der Leistung des Künstlers erscheint wie eine Profanisierung, seine Einwilligung in die Porträtsitzung wie eine Erniedrigung, deren Verschlimmerung sich in der Neigung der Porträtierten zum ‘Dreinreden‘ äußert. Aus einer ähnlichen Situation heraus erklärt Adolf Rosenberg (1904) die Entstehung des Porträts der Elisabeth Bas, dessen naturalistische Bildgestalt ihm nicht in die eher phantastische Stilphase Rembrandts zu passen scheint:

„Hier ist Rembrandt ohne einer phantastischen Laune zu folgen, wieder einmal mit strengster Ob- jektivität der Natur nachgegangen. Die alte Dame war aber auch, wie ihr energischer Zug um die fest geschlossenen, schmalen Lippen erkennen läßt, ganz dazu angetan, dem Maler eine gebundene Marschroute vorzuschreiben: So will ich’s und nicht anders! Wenn es der Fall gewesen, hat dem Künstler in diesem Falle der Zwang nicht geschadet. Mit unvergleichlicher Kunst hat er in dem Antlitz der Greisin widergespiegelt, was ein langes Leben voll Freude und Trübsal in ihr Herz ge- schrieben!“ (Rosenberg 1904, XXX)80

79 Bodes Privatisierungsbestrebungen gingen so weit, daß er aus der begüterten Herkunft Saskias darauf schloß, Rembrandt habe durch seine Heirat vorübergehend eine weitgehende finanzielle Unabhängigkeit erreicht. Saskia brachte 40 000 Gulden in die Ehe mit. Bode folgert: „Dadurch war der Künstler in den Stand gesetzt, auf die zwar einträgliche, aber einförmige und namentlich den Launen der Besteller unterworfene Bildnismalerei zu verzichten (...) und ausschließlich aus dem inneren Bedürfnis heraus zu schaffen.“ (Bode 1883, 416) Obwohl Bode diese Darstellungen mit einiger Vorsicht handhabte, fiel seine These von der heiratsbedingten Unabhängigkeit des Künstlers auf fruchtbaren Boden (Z.B. Seeck 1898, 48). Bei manchen der nachfolgenden Autoren konnte die Abneigung Rembrandts gegen die Auftragsarbeit schon einmal radikaler ausfallen. So schreibt Franz von Reber (Kunsthistoriker an der Alten Pinakotek in München) 1894: „Das Vermögen Saskias hatte überdies den Meister in die Lage gesetzt, die Kunst nicht mehr in erster Linie auf den Erwerb zu treiben. Deshalb werden die Bildnisse jetzt seltener, wenn nicht besondere Verhältnisse ihn zur Porträtarbeit bestimmten (...). Das eigentliche Bildnis als Bestellarbeit hassend, weil es seine Phantasie wie seine künstlerischen Absichten in Fesseln schlug, wendete er sich lieber biblischen und mythologischen Stoffen zu.“ (Reber 1894, 337). 80 Rosenbergs Eindruck, daß dieses Bildnis nicht in die entsprechende stilistische Phase Rembrandts passe, schließt sich die nachfolgende Rezeptionsgeschichte an: 1912 wird das Bild zum Gegenstand eines Experten- streits zwischen Abraham Bredius, der es dem Rembrandt-Schüler Ferdinand Bol zuschreibt, und Cornelis Hof- stede de Groot, der es weiterhin als Werk Rembrandts ansieht. Heute hat sich die Einschätzung Bredius‘ durch- gesetzt (vgl. Boomgaard 1995, 124 f.). 111 Von seiner persönlichen Einschätzung des Charakters der Porträtierten, welchen er aus deren Erscheinung im Porträt ableitet, schließt Rosenberg auf ihr Verhalten als Auftraggeberin. Die Struktur, die Künstler und Auftraggeberin in diesem Fall verbindet, wird dabei deutlich als Machtverhältnis geschildert, in dem die Zahlende dem Beauftragten Kommandos erteilt. Würde man solche Verhältnisse als Regelfall der Kunstpraxis Rembrandts angenehmen, so könnte die Kunst nicht länger als Idealwelt fungieren und der Künstler büßte seine Position als Symbolfigur autonomer Subjektivität ein. Statt dessen würden sich darin gesellschaftliche Ordnungsprinzipien der Gegenwart des wilhelminischen Deutschland spiegeln, wie sie in Wirtschaft, Militär und Regierungsstruktur ihren Ausdruck fanden. Von derartigen Macht- prinzipien wollten die Autoren den Künstler und sein Schaffen jedoch offenbar entbinden. In der Regel wird statt dessen betont, daß sich Rembrandt bei der Ausführung von Aufträgen souverän über die Wünsche der Besteller hinweggesetzt habe. So schreibt Carl Neumann 1902:

„Die Menschen kommen, geben ihm Aufträge, nennen ihm ein wohlumschriebenes Thema: einer- lei, er macht etwas anderes daraus, er verwandelt, er läßt den Strom seiner künstlerischen Leiden- schaft darüber fließen.“ (Neumann 1902, 334)

Selbst bei der Umarbeitung eines radierten Porträts in ein Gemälde konnte man, so Jan Veth (1906a), den mit Rembrandt getroffenen Absprachen nicht vertrauen:

„Aber wenn er einem andern, und noch dazu kontraktlich, zusagte, sein Porträt genau so auszufüh- ren wie jene Platte, so wurde solch frommer Plan niemals verwirklicht. Sich wiederholen war ihm zu allen Zeiten ein Greuel.“ (Veth 1906a, 36)

Daraus resultiert noch bei Eberhardt Hanfstaengl (1939) die Vorstellung von einem Vertrau- ensverlust des Künstlers bei seiner zahlenden Kundschaft:

„Bei aller Hochschätzung für sein Können, man empfindet ihn als eigenwillig und unberechenbar, der ‘Ordnung‘ widerstrebend und immer wieder muß man die Erfahrung machen, daß er in Erledi- gung eines Auftrages oder geldlicher Angelegenheiten enttäuscht.“ (Hanfstaengl 1939, 7 f.)

Kehren wir zum Problem der Bewertung auftragsgebundener Arbeiten Rembrandts durch seine späten Rezensenten, die Autoren der Jahrzehnte um 1900, zurück. Wie vermochten es diese, die Ausführung und Erscheinung der fraglichen Bilder trotz des vermeintlichen Makels der wirtschaftlichen Zusammenhänge ihrer Entstehung nicht zu verwerfen? Wesentliche Strategie war es hier, die Bedeutung des Auftragsverhältnisses für Fragen der konkreten Bild- gestaltung zu minimieren. Cornelius Gurlitt findet in seinem Handbuch zur Geschichte der

112 Kunst (1902) zu einer hohen Wertschätzung der Porträtkunst Rembrandts, stellt diese jedoch in Abhängigkeit zu einer freien Modellwahl:

„In seinen Einzelbildnissen steht Rembrandt auf der höchsten Stufe der Menschendarstellung. Aber er erhebt sich nur dort gewaltig über seine geschickten Zeitgenossen, wo er sich selbst den Gegen- stand suchte und wo ihm durch diesen etwas anderes zu sagen gestattet war als das, was ein Be- steller oder seine Anverwandte im Porträt suchen. Ihm stand eine alte Frau mit einem Labyrinth von Runzeln und mit dem ganzen Reichtum der Ausdrucksformen, die das Leben in diese hinein- schrieb, ihm stand das verwitterte Gesicht eines polnischen Edelmannes, die blitzartig wechselnden Züge eines verschmitzten Juden künstlerisch höher als die wohlgepflegte Tüchtigkeit der Ratsher- ren, Gelehrten und Großkaufleute.“ (Gurlitt 1902, 435)81

Rembrandts Qualitäten entfalteten sich demnach in Reaktion auf das Gesehene, seine Höchst- leistungen waren nicht durch finanzielle Zuwendung abrufbar, da erst ein inneres Interesse sie wachrufen konnte. Letztlich drängten Rembrandt nicht wirtschaftliche, sondern inhaltliche und gestalterische Fragen zum Bild:

„Geht man die Reihe seiner Einzelbildnisse durch, so versteht man, wie es kam, daß Rembrandt arm starb, van der Helst neben ihm reich wurde: Nicht die Bestellung lockte ihn, sondern das Bild. Man erkennt sehr bald, wieviel mehr Rembrandt solche Leute zu malen liebte, die er bezahlte, als solche, die ihn bezahlten; wie wenig er geneigt war, Bildnisse zu schaffen, die im Wohnzimmer des Dargestellten diesem zur Genugthuung hingen, wie sehr er an die Besitzer seiner Bilder künstleri- sche Anforderungen stellte.“ (Gurlitt 1902, 435)

Gurlitt dreht das Abhängigkeitsverhältnis kurzerhand um. Der Künstler hat hier nicht länger den Ansprüchen des Porträtkunden zu entsprechen, er stellt vielmehr selber Ansprüche an die Modelle seiner Bildnisse, ja sogar an die Besitzer seiner Bilder. Die Armutsformel ist dabei weniger zur Heroisierung dieser Praxis als zur Beglaubigung des beschriebenen Sachverhaltes eingeflochten. Dekorative Wirkungen und zufriedene Auftraggeber erscheinen dagegen als Kennzeichen für mindere künstlerische Qualität. Gurlitts Satz „Nicht die Bestellung lockte ihn, sondern das Bild“ zieht sich als Formel durch die untersuchten Texte, wenn es darum geht, die Vorstellung von einem autonomen Ursprung der Kunst mit der Tatsache der Auftragsarbeit zu harmonisieren. Noch Eberhardt Hanfstaengl (1947) beschreibt das Interesse des Künstlers an seinem Motiv als bestimmenden Qualitäts- faktor eines Werkes:

81 Es sei angemerkt, daß Gurlitt mit den „blitzartig wechselnden Züge[n]“ ein antisemitisches Stereotyp verwendet (vgl. Klein 1999). 113 „An der Qualität der Bilder läßt sich auch das Interesse des Malers an seinem Gegenüber erkennen. Manchmal spürt man die innerlich unbeteiligte, man möchte sagen rein geschäftsmäßige Erledi- gung des Auftrages, dann wieder die energische, intensive Besitzergreifung des Wesens einer Per- sönlichkeit, deren Charakter sich in Haltung und Gesichtszügen ausgeprägt hat.“ (Hanfstaengl 1947, 22)

Die ‘innere Beteiligung‘ des Künstlers ist Voraussetzung für die Produktion von Kunst. Wird dem nicht entsprochen, so handelt es sich lediglich um die „rein geschäftsmäßige Erledigung des Auftrages“. Wie Bode und andere ist auch Hanfstaengl bemüht, Rembrandt zum Amster- damer Bürgertum auf Distanz zu halten:

„Mit diesen zahlreichen Bildnisaufträgen, die für die Dargestellten manche Anforderung an ihre Geduld und ihr Kunstverständnis stellten, war Rembrandt in die vornehmen, patrizischen Kreise der Stadt als Künstler eingetreten (...).“ (Hanfstaengl 1947, 24)

Er betritt ihre Kreise, aber nicht ohne, wie schon bei Gurlitt, Anforderungen an seine Auftrag- geber zu stellen. Wie in diesem eingeschobenen Nebensatz wird immer wieder das Konflikt- potential angedeutet, das in der Berührung Rembrandts mit der Gesellschaft entsteht. Als harmonisierendes Element tritt in diesen Darstellungen vermehrt Saskia auf. Neben dem pri- vaten Glück, das Rembrandt auch von außen zugänglicher macht, werden ihr gute Kontakte in vornehmen Bürgerkreisen zugeschrieben. Carl Neumann sieht in ihr ein Bindeglied des Künstlers zur Außenwelt:

„Diese Beziehungen knüpften sich also fester, und in den nächsten Jahren finden wir Rembrandts Pinsel sogar für die höchsten Kreise, für den Statthalter selbst, beschäftigt; es gab einen Punkt, wo auch seine Kunst sich den Anschauungen und dem Geschmack der vornehmen Gesellschaft zu- gänglich zeigte. Macht aber gewann sie nic ht über ihn, und es wird sich eine Grenze erkennen las- sen, an der sein innerstes Wesen dem, was in dem Habitus der oberen Kreise modisch und fremd- ländisch war, Halt gebot.“ (Neumann 1902, 70)

Die Annäherungsbewegung des Künstlers an die Gesellschaft wird hier sogleich konterkariert, der Geschmack der „oberen Kreise“ ist offenbar verdächtig und über eine vorübergehende ‘Zugänglichkeit‘ reicht die Verbindung nicht hinaus. Vor allem gewannen diese Vornehmen, die Neumann mit den Adjektiven „modisch und fremdländisch“ diskreditiert, nie „Macht“ über Rembrandt, sein „innerstes Wesen“ behielt die Grenze im Blick. Die Autonomie des Künstlers darf nicht durch den Verdacht äußerer Einflußnahmen in Zweifel geraten. Der be- reits zitierte Eberhard Hanfstaengl wird den späten Rembrandt gerade für seine Fähigkeit be- wundern, Auftragsarbeiten in einer Weise auszuführen die ohne kompromittierende Wirkung für sein Künstlertum bleibt:

114 „Wie sicher geht Rembrandt immer wieder den schmalen Pfad zwischen den Wünschen des Be- stellers und der eigenen kompromißlosen künstlerischen Verpflichtung!" (Hanfstaengl 1947, 66)

Auch Jan Veth (1906) weist auf die Kontrolliertheit hin, mit der sich Rembrandt in der Zeit seines gesellschaftlichen Erfolgs mit den Auftragsporträts befaßt habe. Gemäß den bereits skizzierten Entwicklungsnarrationen sieht Veth in den Aufträgen eine vorübergehende Tätig- keit, die noch zur Lehrzeit Rembrandts zu zählen sei. Dem Verdacht der Einflußnahme und der „rein geschäftsmäßige[n] Erledigung“ tritt er dabei entgegen:

“Von einem Sich Fügen nach einer Mode-Vorschrift scheint in all dem viel weniger die Sprache zu sein, als von einem Aufsuchen der eigenartigen Schwierigkeiten, von einer strengen Übung der Selbstzucht, von einem geduldigen Durchgründen der Forderungen des Faches. (...) Allein auf der Basis solchen demütigen Betrachtens kann sich eine tiefere psychologische Wiedergabe entwickeln.“ (Veth 1906, 49 f.)82

Veth relativiert die Auftragspraxis des frühen Rembrandt als fortgeschrittenes Stadium der Selbstausbildung. Rembrandt habe sich in diesen Bilder nicht dem Modegeschmack unter- worfen, sondern die Gelegenheit genutzt, um die „eigenartigen Schwierigkeiten“ einer Gat- tung zu suchen und sich in strenger „Selbstzucht“ weiterzubilden. Auch hier interessierte ihn demnach, mit Gurlitt gesprochen, „das Bild, nicht die Bestellung“. Die ästhetische Differenz dieser Auftragsbilder zum Spätwerk erklärt Veth nicht als Opportunismus, sondern aus der Notwendigkeit des Erlernens bestimmter Techniken, die erst die ‘psychologische Tiefe’ des reifen Rembrandt ermöglichten. In seiner scheinbaren Nähe zum Publikum bereitet der Künstler somit nur seine spätere Distanzierung vor.

Daß der späte Rembrandt seinen Zeitgenossen entfremdet gewesen sei, steht für die Autoren dieser Rezeptionsphase außer Zweifel (vgl. die Fallstudie zur Nachtwache). Die Thematik der ‘Verkennung‘ soll hier nur angesprochen werden, soweit sie für Rembrandts Umgang mit den Auftraggebern von Bedeutung ist. Dabei ist auf ein wichtiges Charakteristikum des Topos vom ‘verkannten Künstler‘ hinzuweisen: Daß nämlich die Ablehnung auf Gegenseitigkeit be- ruht. Die Gesellschaft verachtet den Künstler und der Künstler verachtet, so sehr er darunter leiden mag, die zeitgenössische Gesellschaft. Wie Neumann es ausdrückte, gebot das ‘inner- ste Wesen‘ Rembrandts Halt, als die Annäherung zu einer Gefährdung seiner Kunst zu wer- den drohte. Bei Hanfstaengl war vom Desinteresse an Auftragsarbeiten die Rede, die rein ge-

82 „Van een zich voegen naar eenig mode-voorschrift schijnt in dit alles veel minder sprake te zijn, dan van een opzoeken der eigenaardige moeielijkheden, van een strenge oefening en zelftucht, van een geduldig doorgronden der eischen van het vak. (...) Alleen op de bazis van zulk deemoedig aanschouwen kan een dieper psycholo- gische vertolking zich ontwikkelen.“ (Veth 1906, 49 f.). 115 schäftsmäßigen Charakter hatten. Karl Storck (1903) sieht dieses Desinteresse am außen und am Erfolg bereits zu Lebzeiten Saskias umgesetzt, als Rembrandt, diesem Autor zufolge, die Auftragsmalerei zurückstellte:

„Es ist bezeichnend, daß der Meister gerade jetzt, wo sich die Aufträge drängten, immer wieder seine Saskia und sich selber malte. Er verlangte ja nie nach Geld und verstand nie zu wirtschaften. Er wollte nur die Kunst.“ (Storck 1903, 510)

Ihn interessiert das Bild, nicht die Bestellung; „er verlangte ja nie nach Geld (...). Er wollte nur die Kunst“ - dem Interesse Rembrandts an der Kunst entspricht sein Desinteresse an der Auftragsmalerei. So ist auch die Distanzierung Rembrandts von der Gesellschaft nicht nur eine ‘Verkennung‘, sondern eine notwendige und bewußte Abkehr, kann doch Kunst nur dort sein, wo keine Auftraggeber sind. In den Worten von Wilhelm Hausenstein (1926):

„Das Interesse Rembrandts am Bildnis hat in dem nämlichen Verhältnis abgenommen, wie das In- teresse des Bildnisses an Rembrandt. Im gleichen Verhältnis werden die Bildnisse allerdings schö- ner...“ (Hausenstein 1926, 179)

2.1.3 Die Privatisierung der Kunstproduktion: Zur Einheit von Leben und Werk

„Das Wesentliche, was er [Rembrandt, M.H.] schafft, ist im tiefsten Sinne Emanation seines Le- bens und seiner Persönlichkeit, und dieses Leben heißt: schaffen, grübeln, wachsen, verwerfen und gewinnen, diese Persönlichkeit hält ungemessene Steigerungen eines großen Temperaments um- schlossen. Alles fließt. Deshalb betont auch die Literatur bei keinem Künstler so stark wie bei Rembrandt den Zusammenhang von Arbeit und Lebensschicksal.“ (Theodor Heuss 1964 [1906], o.S.)

Wie in der wertenden Polarisierung zwischen Auftrag und Autonomie bereits deutlich wurde, ist die diskursive Praxis einer Distanzierung des Künstlers von seiner Umgebung in eine Dia- lektik eingebunden: Dem negativen Pol steht die Privatisierung der Kunstproduktion als posi- tiv bewerteter Pol gegenüber. In drei Abschnitten möchte ich nun die Topik beschreiben, mittels derer sich in der Kunstlite- ratur um 1900 die Vorstellung einer Einheit von Leben und Werk Rembrandts entfaltet:

1. Die Vergabe von Bildtiteln, die sich auf Personen oder Ereignisse aus dem dokumentarisch belegten Leben des Künstlers beziehen (Biographische Bildtitel). 2. Die wechselseitige Erklärung von Phänomenen des Werks und äußeren Lebensumständen des Künstlers (Werk und Leben).

116 3. Die Deutung des ‘inneren Lebens‘ Rembrandts, seines ‘Charakters‘ oder seines ‘Wesens‘ (Werk und Charakter).

Den theoretischen Hintergrund dieser Topoi bildet die Hermeneutik, deren Interesse an der Genese einer Vorstellung vom Autor aus dem Werk in einem Exkurs darzulegen sein wird. Zunächst sollen jedoch die drei hier aufgeführten Punkte im einzelnen verdeutlicht werden.

2.1.3.1 Biographische Bildtitel

Ein früher und einflußreicher Protagonist der Praxis, die Werke Rembrandts auf dessen Bio- graphie zu beziehen und diese Verbindung auch in der Wahl des Bildtitels zum Ausdruck zu bringen, war Wilhelm Bode. Er soll uns hier als Fallbeispiel dienen. Bodes früheste Äußerung Zur Rembrandt-Literatur (1870) ist zunächst darauf ausgerichtet, die kurz zuvor erschienene Monographie Vosmaers (1868) würdigend zu besprechen (Bode 1870, 174). Zu diesem Zeitpunkt war der gerade 25jährige Bode noch mit dem kunsthistori- schen Studium in Berlin und Wien befaßt. Er nutzte den Text auch, um Vosmaers Werkver- zeichnis aus eigener Kenntnis zu ergänzen und sich somit erstmals als Rembrandtkenner zu profilieren.83 Mit dem zentralen Interesse an Zuschreibungsfragen,84 das die Publikationen Bodes über Jahrzehnte hinweg bestimmen sollte, sind die ‘Privatisierungen‘ eng verbunden. So mag es als symptomatisch erscheinen, daß die frühesten Neuzuschreibungen, mit denen Bode Vosmaers Übersicht ergänzt, Selbstbildnisse Rembrandts sind,85 also einer Gattung an- gehören, die es in besonderem Maße nahezulegen scheint, im Blick auf das Bild zugleich die Person des Künstlers als Objekt der Wahrnehmung aufzufassen. Um auch andere Porträts mit namentlichen Titeln zu versehen, waren 1870 die Informationen über Rembrandts Lebensum- stände noch nicht detailliert genug. Erst auf Basis der Archivfunde der 80er Jahre war der Neigung Raum gegeben, die Werke möglichst nahe an die Privatperson des Künstlers heran- zuführen. Dokumentiert ist diese Neigung in den Versuchen, Familienmitgliedern und ande- ren Personen aus dem engeren Umfeld des Künstlers, deren Namen in Archivdokumenten überliefert sind, ein Gesicht zu geben, sie in den Bildnissen Rembrandts dingfest zu machen. Offensiv, umfassend und mit weitreichender Wirkung ist diese Privatisierung der Bildnisse in dem 200 Seiten starken Aufsatz Rembrandt’s künstlerischer Entwicklungsgang in seinen Ge- mälden ausgeführt, mit dem Bode 1883 seine vorläufige Version eines Werkkataloges der Gemälde vorlegte und der bis zur Publikation von Neumanns Monographie (1902) als eine

83 Zur Biographie Bodes vgl. den zweibändigen Katalog der Berliner Gedächtnisausstellungen von 1995, beson- ders Otto 1995. 84 Vgl. Otto 1995, 31. 85 Es handelt sich um die zwei Bildnisse, Bode stuft sie als ‘Studienköpfe‘ ein, die damals in Kassel und Gotha zu finden waren (ersteres heute als Kopie eingestuft, RS 5b; letzteres heute in München, RS 7). 117 wesentliche Referenzliteratur der deutschsprachigen Rembrandtrezeption betrachtet werden kann.86 Teilweise im Anschluß an Vosmaer und andere Autoren, macht Bode neben einer quantitativ stetig anwachsenden Zahl sogenannter Selbstbildnisse hier unter anderem Rem- brandts Gattin Saskia, den Vater, die Mutter und die Schwester des Künstlers im Werk aus. Außerbildliche Quellen für solche Zuschreibungen fehlen fast völlig.87 Die Bezeichnung stützt der Autor in der Regel auf drei Punkte. (1) Aus einer augenscheinlich bestimmten ‘Ähnlichkeit‘ von Bildnisköpfen schließt er auf mehrfache Verwendung desselben Modells. (2) Die Inszenierung des Modells bezeichnet er als wenig repräsentativ, auch sei die Ausfüh- rung der Bilder untypisch für Porträtaufträge. Daraus folgt eine Einstufung der Bildnisse als ‘Studienköpfe‘ die zu ‘rein künstlerischen Zwecken‘ entstanden seien. (3) Findet sich zu der abgebildeten Person schließlich ein durch Quellen belegtes Familienmitglied, dessen Alter zum Zeitpunkt der Datierung der fraglichen Bildnisse ungefähr mit dem geschätzten Alter der Abgebildeten übereinstimmt, so ist die Betitelung perfekt. Prinzipiell geht Wilhelm Bode 1883 davon aus, daß die Mehrzahl Rembrandtscher Bildnisse aus solchen rein künstlerischen Motivationen im privaten Kontext entstanden seien oder als Freundschaftsbilder verstanden werden müßten. So sei bereits kurz nach der Heirat mit Sas- kia, also zu einem Zeitpunkt, zu dem der Künstler sich eben erst als Porträtist in der Amster- damer Gesellschaft etabliert hatte, die Porträttätigkeit „fast ausschließlich auf den Kreis der Freunde und Verwandten des Meisters beschränkt“ gewesen (Bode 1883, 442):

„Die Bildnisse dieser Zeit, die uns bekannte Persönlichkeiten vorführen - und solche bilden die Mehrzahl -, zeigen den Künstler selbst, seine Gattin, seine Verwandten, Freunde und Gönner.“ (Bode 1883, 454)

Diese Beobachtung schließt für Bode einen ökonomisch motivierten Hintergrund der Bild- produktion aus; sie gestattet vielmehr einen Umkehrschluß:

„Und auch unter den uns bisher nicht bekannten Personen werden wir vielleicht in den meisten Fällen dem Künstler Nahestehende vermuten dürfen (...).“ (Bode 1883, 454)

Daß dieser Praxis einer privatisierenden Deutung der Kunstproduktion die Tendenz zur Auto- nomisierung des Schaffens innewohnt, zu seiner Befreiung von äußeren Einflüssen, wird spä- ter noch ausführlich dargestellt. Hier soll zunächst die Beschreibung des Versuchs im Vorder-

86 Der Text erschien gemeinsam mit Arbeiten zu Elsheimer und Hals in Bodes Buch Studien zur Geschichte der holländischen Malerei. 87 Eine Ausnahme bildet die berühmte Silberstiftzeichnung der Saskia, die im Berliner Kupferstichkabinett auf- bewahrt wird und die Bode bereits 1870 in einem Nachstich publiziert hatte (Bode 1870, 137). Sie trägt einen handschriftlich Rembrandt zugeschriebenen Vermerk, der über die Identität der Abgebildeten Auskunft gibt. Daran anschließend lassen sich verschiedene Doppelbildnisse, Gemälde und Radierungen als porträthafte Dar- stellungen bezeichnen. 118 grund stehen, Bezeichnungen für unbekannte Porträtköpfe zu finden und diese möglichst per- sönlich mit dem Künstler zu verbinden. Der Berliner Kunsthistoriker schließt dabei direkt an aktuelle Forschungsergebnisse an. Noch im Jahr des Erscheinens von Bodes Studien (1883) hatte der Archivar Nicolaas de Roever erste Ergebnisse seiner Quellensuche zu den letzten Lebensjahren Rembrandts in der neu gegründeten Zeitschrift Oud Holland veröffentlicht. Die wichtigste ‘Ausgrabung‘ war dabei der Name Hendrickje Stoffels, der den dürftigen Speku- lationen ein Ende machte, die bis dato über die ‘zweite Frau‘ des Künstlers in der Literatur kursierten. Wilhelm Bode schließt umgehend an diese Entdeckung an und stellt die Verbin- dung der Archivquellen mit den Bildquellen her:

„Vertrat nun Hendrikje zweifellos lange Zeit, vielleicht bis zum Lebensende des Künstlers die Stelle einer Gattin bei demselben, so hat dieser sie auch gewiß in seinen Gemälden, Radirungen und Zeichnungen verewigt. Nach den zahlreichen und mannigfaltigen Erinnerungen, die seine Werke an seine Mutter, seine Schwester und namentlich an seine Gattin Saskia Ulenburgh enthal- ten, dürfen wir dies von vornherein annehmen.“ (Bode 1883, 548)

Nun ist sich Bode der Schwierigkeiten durchaus bewußt, die eine Identifizierung der fragli- chen Person mit sich bringt:

„Freilich wie zu einer Sicherheit, zu einem Beweis dafür kommen? Ein Bildnis der Hendrikje Stof- fels ist uns nicht bezeugt; wir wissen nichts über ihr Aussehen, ja kennen nicht einmal ihr Alter. Es bleibt uns also (...) nur der mühsame und schwierige Weg (denn wie verschieden sind die Ansich- ten, wenn es sich darum handelt, eine Ähnlichkeit festzustellen!), in Rembrandt’s Werken ein ju- gendliches Frauenbildnis herauszusuchen, das in den fünfziger Jahren in Bildnissen und als Modell für historische Compositionen häufiger wiederkehrt und in einer Weise aufgefaßt und wie dergege- ben ist, daß wir daraus auf eine sehr enge Beziehung zu Rembrandt schließen dürfen.“ (Bode 1883, 548)

Nach einigem Abwägen wird Bode fündig, und schlägt dann, unter Vorbehalt, neue Titel für eine ganze Reihe von Bildern vor, die nun also nicht länger ein anonymes Frauenbildnis zei- gen, sondern das Porträt der Hendrickje Stoffels in unterschiedlichen Altersstufen, Situationen und Kostümen. In gleicher Weise äußert sich Bodes Interesse auch gegenüber Rembrandts Sohn Titus. Im Vergleich dreier studienartig aufgefaßter Porträtdarstellungen eines Jünglings stellt er fest:

„Daß Rembrandt fast gleichzeitig von einer und derselben Person drei Bildnisse in ganz freier künstlerischer Auffassung malte, ist wohl ein sicheres Zeichen für ein besonderes Interesse und ein ganz nahes Verhältnis derselben zu unserem Künstler. Wer kann der Dargestellte sein? Ohne den

119 Beweis führen zu können, möchte ich die Vermuthung aussprechen, daß wir in diesen Zügen Titus van Ryn, den im Jahre 1642 geborenen Sohn der Saskia, zu erkennen haben.“ (Bode 1883, 535)

Wie ‘sicher‘ das besagte Zeichen auch immer für ein „ganz nahes Verhältnis“ des Modells zum Künstler sein mag, Bodes Argumentationen zeugen jedenfalls von seinem eigenen „be- sondere[n] Interesse“. Die Privatperson des Künstlers im Blick, enthüllt sich das Begehren des Kunsthistorikers, dem Idol nahe kommen zu wollen, den Kreis von dessen Vertrauten ‘in effigie‘ wieder auferstehen zu lassen und sich selbst, im Rahmen der musealen Hängung, in diesem Kreis bewegen zu können. Fragen nach dem Nutzen einer solchen fast schon krimi- nologischen Personenidentifikation stellen sich Bode offenbar nicht. Allerdings zeigt er bei aller Neigung zur Reanimation von Person und Umfeld des bewunderten Meisters durchaus Problembewußtsein hinsichtlich der Beweiskraft seiner Titelfindungen, etwa wenn er später feststellt:

„Schon gegenüber jenen Bildnissen eines Jünglings vom Ausgange der fünfziger Jahre mußte ich bei dem Versuche, dasselbe als das Portrait von Rembrandt’s Sohn Titus nachzuweisen, zugeste- hen, daß ich nur eine Hypothese zu geben vermöchte, die ich nur auf das Alter des Dargestellten, auf die Auffassungsweise und die häufige Wiederholung der Bildnisse ein und derselben Persön- lichkeit in einem kurzen Zeitraum zu stützen vermochte.“ (Bode 1883, 545)

Es sei darauf hingewiesen, daß die Unterscheidung zwischen Hypothese und Tatsache sich in der kultischen Verehrungspraxis mehr als einmal verlor.88

88 Hier noch einige Beispiele für Bodes Zuschreibungen und deren Rezeption. In dem Ehebildnis der königlichen Sammlung des Buckingham Palace, gewöhnlich mit dem Titel Bürgermeister Pancras und seine Gattin verse- hen, machte Bode ein Doppelporträt Rembrandts und Saskias aus (1883, 418 f.). 1891 stellte er einem jüngst vom Haager Mauritshuis erworbenen Männerbildnis nicht nur ein Echtheitszertifikat aus, sondern legte auch nahe, in diesem Bildnis Adrian van Rijn, den älteren Bruder Rembrandts zu sehen: „Die skizzenhafte Behandlung des Haager Portraits, die Verwendung derselben Gestalt für seine historischen Gemäl- de, namentlich aber das Auftreten derselben in Rembrandt’s radirten Studien führen nach den zahlreichen Ana- logien in den Werken des Künstlers mit Sicherheit zu dem Schlusse, dass der Dargestellte eine dem Künstler ganz nahestehende Persönlichkeit sein muss. Die Hypothese, dass hier Rembrandt’s Bruder Adriaen Harmensz dargestellt sei, wird daher keineswegs zu gewagt erscheinen.“ (Bode 1891, 4). Dieser Bildtitel wird von anderen Autoren übernommen (vgl. Valentiner 31908, 334; Bredius 1935, Nr. 130). Seinen spekulativen Charakter mahnt dagegen ausdrücklich Hofstede de Groot an (1915, 184, Nr. 384: „Alter Mann mit einer Narbe an der Stirn. (...) Der Dargestellte gehört zu dem Typ, den man ‘Rembrandts Bruder Adriaen‘ benennt.“). Während Bauch (1966, 45) den identifikatorischen Verweis noch in vergleichbar skeptischer Weise mitführt, verzichten spätere Kata- loge ganz darauf (Gerson 1968, Nr. 304: „Bildnis eines Mannes“; De Vries/Tóth-Ubbens/Froentjes 1978, 133: „Portrait of a Man with Grey Curly Hair“). Dieser Fall kann auch die Verflechtungen der Rembrandt-Experten Wilhelm Bode und Abraham Bredius illustrieren. Bredius hatte das Gemälde eben erst für das Mauritshuis er- worben, als der Zuschreibungsartikel Bodes in Oud Holland erschien, jener Zeitschrift, deren Mitherausgeber Bredius seit 1886 gewesen ist. Im Anschluß an die von Bredius (gemeinsam mit Hofstede de Groot u.a.) organisierte Amsterdamer Rembrandt- Ausstellung von 1898 erwarb Bode für die Berliner Galerie ein Bild, daß in Deutschland für einige Jahrzehnte zum Inbegriff der Kunst Rembrandts werden sollte, den „Mann mit dem Goldhelm“ (so der Titel bei Gerson 1968, Nr. 261). Bode sah darin bereits 1891 ein weiteres Bildnis des Bruders Adriaen: „Ein noch im Handel befindliches Bild Rembrandt’s (...) stellt denselben Mann dar, nach rechts gewandt und mit einem grossen Helm auf dem Kopfe.“ (Bode 1891, 4). Auch diese Titelzuschreibung fand in der deutschen Literatur zunächst Nach- 120 Bodes Zuschreibung von Bildnissen in den privaten Bereich Rembrandts beschränkt sich je- doch nicht auf Köpfe, die bisher namenlos waren. Einige der Porträtierten, deren Namen auf die eine oder andere Weise überliefert wurden, verortet Bode im Freundeskreis des Künstlers, so daß wir es nun auch hier mit Personen zu tun bekommen, die Rembrandt nahe standen. Eine bemerkenswerte Brücke schlägt er dabei im Falle der Porträts von Vater und Sohn Ha- ring. Beide waren, Quellen zufolge, in die Abwicklung von Rembrandts Bankrott verwickelt, der eine als Hausmeister, der andere als Auktionator der Insolventenkammer. Bode begründet das Entstehen der Porträts mit einer Freundschaft, die sich im Laufe des gemeinsamen Um- gangs eingestellt habe. Als einzigen Beleg für diese Beziehung dient dem Autor die Existenz der Bildnisse. Die Möglichkeit einer geschäftlichen Ursache spricht er nicht an. Auch im Falle Bruyninghs, des Sekretärs der Desolaate Boedelkamer, sieht Bode das Porträt als Freund- schaftsbild. Grund genug, den Künstler für seine Tugendhaftigkeit zu loben:

„Es ist ein schönes Zeugnis für den Charakter Rembrandt’s, daß derselbe mit den Executionsbe- amten, mit denen er fast ein Jahrzehnt hindurch die peinlichen Geschäfte seines unheilvollen Ban- kerotts abzumachen hatte, nicht nur leidlich auskam, sondern daß er in freundschaftlichen Verkehr mit ihnen trat.“ (Bode 1883, 533)

Auch für einige Porträts von Geistlichen, von Bode in das spätere Werk Rembrandts datiert, findet der Autor einen Weg zur ‘Privatisierung‘:

„In dem Malerwerke Rembrandt’s sind wir unter dessen Bekannten bereits nach seiner Uebersied- lung [nach Amsterdam, M.H.] mehreren Geistlic hen begegnet; in ihrem Kreise hatte er ja auch Saskia Ulenburg, die Tochter eines holländischen Geistlichen, kennen und lieben gelernt. Auch in dieser Epoche sehen wir ihn unter den protestantischen Predigern Amsterdams neue Beziehungen anknüpfen, von denen uns seine Werke Zeugniß ablegen.“ (Bode 1883, 462)

Wenn Rembrandt protestantische Prediger malt, handelt es sich demnach weniger um Auf- träge, die er erfüllt, sondern um Beziehungen, die er zu einem Kreis pflegt, mit dem ihn enge persönliche Kontakte verbinden. Wie kann Bode, mangels Quellen, derartige Aussagen legi- folger (Neumann 1902, 385: „Adrian van Rijn im Helm“; Valentiner 31908, 335: „Rembrandts Bruder mit dem Helm“). Hofstede de Groot relativiert die Bezeichnung wiederum (1915, 136: „Älterer Mann mit vergoldetem Helm. (...) Der Dargestellte wird mit Rembrandts Bruder Adrian identifiziert.“). Er gibt Gründe gegen diese Identifikation an. Wie im vorigen Fall wird auch hier der Verweis auf die zweifelhafte Namensgebung noch einige Zeit mitgeführt (Bredius 1935, Nr. 128; Rosenberg 1948, Nr. 93; Bauch 1966, 45). In einzelnen Fällen hat Bode allerdings auch privatisierende Zuschreibungen abgelehnt. So widerspricht er ange- sichts des in Amsterdam aufbewahrten Doppelbildnisses eines prächtig gekleideten Paares der „von verschiedenen Seiten und zu verschiedenen Zeiten“ geäußerten Absicht, hierin Rembrandt und seine Frau sehen zu wollen und bleibt bei der tradierten Bezeichnung Die Judenbraut (1883, 552). Falsches Alter und unzureichende Ähnlichkeit sind seine Argumente. In Band VII seines Werkkataloges (1897-1905) trägt das Bild den Titel „Doppelbild eines holländischen Ehepaars, bekannt unter dem Namen die Judenbraut“ (o.S., Nr. 538). Spätere Autoren haben das Bildnis erneut privatisiert und darin ein Hochzeitsbild von Rembrandts Sohn Titus und seiner Braut Magdalene van Loo vermutet (Z.B. Valentiner 31908, 538). 121 timieren? Ein Beispiel für seine Argumentationen liefert der Fall eines Porträts, das bisher unter den Titeln Rembrandts Vergolder und Rembrandt’s Schüler Doomer aufgetreten war. Bode weist diese Titel zurück, stellt aber fest:

„Man ist gewiß nicht irre gegangen, wenn man in diesem so liebevoll vollendeten Meisterwerke eine dem Künstler nahestehende Persönlichkeit gesucht hat.“ (Bode 1883, 464)

Es ist der Eindruck ‘liebevoller Vollendung’ eines Werkes, aus dem hier auf die Herzensnähe des Modells zum Künstler geschlossen wird; der Übergang von Privatisierung zu Psychologi- sierung ist fließend. Deswegen wird es nun Zeit, über die bloße Titelgebung hinaus von der Ebene der Anknüpfung biographischer Kontexte an einzelne Werke zu sprechen. Zuvor sei jedoch das Beispiel Bodes durch einen Verweis auf dessen Einfluß abgeschlossen. Den Höhepunkt der Beschäftigung Bodes mit dem Problem einer Übersicht der malerischen Werke Rembrandts bildet der achtbändige Katalog der Gemälde (1897-1905), den die Lite- ratur seiner Zeit kurz „Bode’s Rembrandt-Werk“ nennt.89 Die Verbreitung vieler seiner Titel- Zuschreibungen nimmt ihren Ausgang aber nicht nur direkt aus diesem monumentalen Ver- zeichnis, sondern auch aus jenem handlicheren und preiswerterem Band Rembrandt. Des Mei- sters Gemälde aus der Reihe Klassiker der Kunst, der zuerst 1904 erschien. Diese Publikation, die sich weitgehend an Bodes Katalog orientierte, spielt vermutlich, mit ihrer proklamierten Vollständigkeit und der fotografischen Reproduktion aller Werke (31908: 643 Abbildungen), eine wichtige Funktion bei der weiteren Popularisierung des Künstlers.90 Von der Neigung zu einer intimen Annäherung an Rembrandt zeugen hier 64 Selbstbildnisse und 92 Bildnisse nach Familienmitgliedern. Mitunter wird auf den spekulativen Charakter einzelner Titulierungen verwiesen,91 jedoch werden Bildnisse Saskias, beider Eltern Rem- brandts, seines Bruders Adrian nebst Gattin, seines Sohnes Titus und Frau, seiner Lebensge- fährtin Hendrickje Stoffels mit dem gemeinsamen Kind Cornelia als gesichert vorgestellt;92 hinzu kommen noch verschiedene Freunde des Künstlers. Mit Bezug auf die möglichen Motivationen für diese auffällige imaginäre ‘Bevölkerung‘ der Welt des Künstlers gebe ich zu bedenken, daß mit dem steigenden Stellenwert für eine kulti- sche Rezeption auch ein Anstieg des Marktwertes von Bildern verbunden sein kann. Wie im

89 Vgl. die Besprechungen der einzelnen Lieferungen durch Woldemar von Seidlitz in der Allgemeinen Zeitung München. 90 Während Bodes Verzeichnis in acht Bänden etwa dem heutigen A2-Format entsprach und die deutsche Auf- lage auf 160 Stück limitiert war, erschien der nicht einmal A4 große Klassiker-Band 1908 bereits in dritter Auf- lage. Diese wurde, statt von dem inzwischen verstorbenen Adolf Rosenberg, von Bodes Mitarbeiter Wilhelm Valentiner herausgegeben. Da die Anschaffungskosten auch bei diesem Buch beträchtlich gewesen sein dürften, ist anzunehmen, daß die Nachfrage vor allem von Bibliotheken und aus dem Bürgertum kam. 91 Diese Relativierungen erfolgen durch ergänzende Adjektive („sog.“ oder „fraglich“). 92 Alle diese Figuren sind historisch belegt, aus quellenkritischer Sicht können jedoch nur einige Bilder Saskias als „gesicherte“ Bildnisse der empirisch nachgewiesenen Person gelten. Um den Wert derartiger Bezeichnungen zu ermessen, müßte allerdings grundsätzlich nach dem Abbildcharakter von Porträts gefragt werden. 122 Falle der Zuschreibungen von strittigen Werken an Rembrandt muß berücksichtigt werden, daß ein öffentlich etablierter ‘Kenner’ wie Bode neben seinem musealen Hauptberuf nicht nur als Autor, sondern auch als Gutachter und Berater auf dem Kunstmarkt eingebunden war.93 Wenn sich die Tendenz zur Privatisierung des künstlerischen Schaffens auch für den gesam- ten Untersuchungszeitraum, also mindestens bis in die 40er Jahre des 20. Jahrhunderts, fort- gesetzt beobachten läßt, so konnten sich doch keineswegs alle Titulierungen Bodes durch- setzen. Dies mag auch mit einem Faktor zu tun haben, den Wilhelm Bode in seinen frühen Publikationen (1870, 1883) noch nicht voraussehen konnte. Durch die umfassende Bereitstel- lung fotografischer Reproduktionen bieten sich dem Publikum zuvor ungekannte Vergleichs- möglichkeiten. Damit kam eine Grundschwierigkeit derartiger Zuschreibungen verstärkt zum tragen, auf die Bode bereits 1883 in Parenthese hingewiesen hatte: die subjektiv unterschied- liche Bewertung von „Ähnlichkeit“.94 Adolf Rosenberg, Autor der Einführung in den Klassi- ker-Band, scheint sich dieses Problems bewußt zu sein. Am Beispiel einiger Saskia-Porträts tritt er prophylaktisch Zweifeln entgegen, die sich aus dem Eindruck einer Unähnlichkeit identisch benannter Personen auf verschiedenen Bildnissen ergeben mochten:

„Auf Bildnistreue kam es Rembrandt also auf den meisten Bildern, auf denen er sich und seine Gattin oder diese allein dargestellt hat, gar nicht an. So sehr war es ihm immer um das malerische Problem, das ihn jeweils beschäftigte, zu tun, daß es ihm schließlich ganz gleichgültig war, ob Sas- kia schwarze, braune oder gar hellblonde Haare bekam, wenn er nur in seinem Ringen um den ihm vorschwebenden koloristischen Ausdruck einen Schritt vorwärts gelangte.“ (Rosenberg 1904, XXI)

Die privatisierende Titelgebung begibt sich hier in die Gefahr eines zerstörerischen Parado- xes. Denn wo bleibt der Reiz der Vorstellung, ein Künstler habe sich einer engen Verwandten oder eines Freundes als Modell bedient, wenn konstatiert werden muß, er habe dieses Modell nicht abbildgetreu wiedergegeben? Wo die Phantasietätigkeit des Künstlers das Abbild ver- fremdet haben soll, ist nicht nur dem ersehnten Erscheinen des Urbildes ‘in effigie‘ der Nähr- boden entzogen. Der Verweis auf den Anteil der künstlerischen Phantasie am Bild droht zu- dem prinzipiell den imaginären Charakter der Vorstellung vom Bild als einem Abbild einst- mals sichtbarer ‘Wirklichkeit‘ zu enthüllen.

93 Auf diesen Zusammenhang verweist nicht zuletzt die Tatsache, daß Bodes Werkkatalog (1897-1905) im Ver- lag des Pariser Kunsthändlers Charles Sedelmeyer erschien, über den wiederholt Verkäufe Rembrandtscher Werke abgewickelt wurden. Die genaue Bewertung der Preisentwicklung in Folge von Zuschreibungen und Titulierungen bedürfte allerdings einer eigenen Untersuchung. 94 „(denn wie verschieden sind die Ansichten, wenn es sich darum handelt, eine Ähnlichkeit festzustellen!).“ (Bode 1883, 548). 123 2.1.3.2 Werk und Leben

„Rembrandts Kunst ist eine durchaus subjektive. In seinen Werken sind seine tiefsten Empfindun- gen, selbst seine Beziehungen und Erlebnisse niedergelegt; seine Gemälde und Radierungen geben uns daher ein Spiegelbild seines Lebens und Denkens. (...) wenn man daher Darstellungen wie das Opfer Manoahs mit der Erwartung der Geburt seines Sohnes Titus, das Opfer Isaaks mit dem Tode eines seiner Kinder (...) in Zusammenhang hat bringen wollen, so hat man die Empfindungsweise des Meisters zweifellos richtig getroffen. Gerade die nähere Bekanntschaft mit seinen Werken er- öffnet uns einen ungeahnten Einblick auch in sein Leben (...).“ (Wilhelm Bode 1906, 12 f.)

„So erzählen uns die Gemälde und Zeichnungen Rembrandt’s den Roman seines Lebens (...).“ (Otto Seeck 1898, 48)

Als zweites Segment in der Topik der ‘Privatisierung der Kunstproduktion‘ sollen nun die Beschreibung äußerer Lebensumständen des Künstlers mit Hilfe der Werkbetrachtung und die Erläuterung von Phänomenen des Werks durch biographische Hinweise dargestellt werden. Als Beispiel dafür wähle ich die Auseinandersetzung um einer Anzahl früher Frauenbildnisse, deren umstrittene Identifikationen jeweils zu unterschiedlichen Vorstellungen von Rem- brandts Junggesellendasein im Amsterdam der Jahre 1630-1633 führen. Die fraglichen Bildnisse95 hatte Wilhelm Bode bereits 1883 und noch einmal 1897 als ‘Stu- dienköpfe‘ eingestuft. Damit schloß er einen ökonomischen Entstehungskontext aus und be- hauptete statt dessen einen privaten Zusammenhang zwischen Künstler und Modell. Aus dem Bildvergleich folgerte Bode zudem, daß es sich um ein und dasselbe Modell handele, weshalb eine längere Bekanntschaft der jungen Dame mit dem Maler angenommen werden müsse. Dem Vorschlag von Émile Michel, in einigen dieser Bildnisse Saskia zu sehen, lehnte er ab. Erstens sei die Ähnlichkeit zu gering, zweitens würden die fraglichen Bilder in die Jahre 1632 und 1633 datiert, also vor die Verlobung und Eheschließung von Saskia und Rembrandt. Mit Verweis auf die gutbürgerliche Herkunft Saskias schließt Bode die Hypothese Michels aus:

„Auch wenn es wahrscheinlich wäre, dass Saskia schon im Jahre 1632 in Amsterdam anwesend war, und dass Rembrandt damals schon ihre Bekanntschaft machte, so ist doch wohl ausgeschlos-

95 Im ersten Band des Werkverzeichnisses von 1897 identifiziert Bode elf weibliche Porträtköpfe als „Rembrandts Schwester“ (Bode 1897, Nr. 56 - 60, Nr. 62 - 66). Er datiert diese Bilder, meist der Signatur folgend, in die Jahre 1632 und 1633. Die Mehrzahl der Bildnisse werden in späteren Werkkatalogen (Hofstede de Groot 1915, Bredius 1935, Bauch 1966, Gerson 1969) übernommen, allerdings wird ihre Bezeichnung relativiert. Bereits Rosenberg (1904) wird von der „Sogen. Schwester Rembrandts“ sprechen (Rosenberg 1904, 53 - 62). Nach dem Urteil des Rembrandt Research Projects sind heute noch zwei dieser Bilder Rembrandt zugeschrieben, die Nummern A 49 und A 50 im zweiten Band des Corpus (Bruyn/Haak/Levie/van Thiel/van de Wetering 1986), das entspricht Bodes Nummern 57 und 64. Die restlichen Gemälde sind als Werkstattkopien oder als Arbeiten aus dem Umfeld Rembrandts eingestuft (vgl. die Nummern C 57 - C 61 ebd.). 124 sen, dass das Pflegekind eines strengen, protestantischen Geistlichen dem jungen Künstler für seine Kompositionen, und zwar fast regelmäßig als Modell, gesessen haben sollte.“ (Bode 1897, 27)96

Statt dessen plädierte er für die Identifikation der jungen Frau als Rembrandts jüngere Schwe- ster Lysbeth, über deren Existenz die Geburtsregister der Stadt Leiden Auskunft geben. Bis zu diesem Punkt der Argumentation haben wir es mit dem Problem eines Bildtitels zu tun. Im folgenden wird daraus jedoch eine Verwendung des Bildes als biographische Quelle. Auf- grund der Datierung mußten die Gemälde nämlich bereits in Amsterdam entstanden sein. Bode formuliert aus diesen Versatzstücken eine „interessante Hypothese für die Biographie“97 Rembrandts:

„Der zärtliche Sohn, der das Elternhaus nur vorübergehend verlassen hatte, würde sich gewiss am liebsten von der Mutter in der grossen, fremden Stadt haben häuslich einrichten lassen. Aber sie war zu alt, um sich dieser Mühe zu unterziehen; dafür schickte sie, so scheints, die jüngste, eben erwachsene Tochter Lysbeth, das einzige noch ledige Glied der Familie nach Amsterdam, um ihren Sohn dort einzurichten und für den Anfang Haus zu halten. Ein Dokument für diese Annahme fehlt uns freilich; aber wie früher schon und wie durch das ganze Leben des Künstlers können wir wie - der aus seinen Werken auf sein Leben zurückschließen.“ (Bode 1897, 24)

Mangels anderer Quellen stützt Bode seine Hypothese auf das Prinzip, welches er in Rem- brandts künstlerischem Schaffen auszumachen glaubt, die Involvierung des Lebens in das Werk. Verfolgen wir diesen Fall noch etwas weiter, um so die Konsequenzen der veränderten Bildtitel für das Bild des Künstlers nachzuvollziehen. 1898 zog Otto Seeck im Rahmen seiner Ausstellungsrezension für die Deutsche Rundschau die Bodesche Bezeichnung in Zweifel:

„In dieser ganzen Bildnisgruppe sieht daher Bode jene Lysbeth und nimmt danach an, sie habe, als Rembrandt von Leyden nach Amsterdam übergesiedelt war, im Hause ihres Bruders gewohnt, ob- gleich dies nirgends überliefert ist (...).“ (Seeck 1898, 45)

Im Vergleich mit einem übereinstimmend als ‘Saskia‘ identifizierten späteren Bildnis, macht Seeck statt dessen auch in den fraglichen früheren Gemälden die Braut des Künstlers aus. Mit Bode stimmt er darin überein, der „Gegenstand“ dieser Bilder „müsse ganz bei Rembrandt gewohnt haben“, denn:

„Während der kurzen Besuche (...), die ein vielbeschäftigter Bräutigam seiner Braut abstattet, las- sen sich so zahlreiche Porträts nicht zu Stande bringen.“ (Seeck 1898, 46)

96 Michel und Bode sehen die mehrfach porträtierte Person auch in den Frauengestalten verschiedener Historien- bilder, z.B. im „Raub der Proserpina“ und im „Raub der Europa“. 97 Bode 1883, 420. 125 Demnach könnte es wiederum nicht Saskia sein, da die Ehe erst 1634 geschlossen worden sei, die Bilder aber früher datiert werden müßten. Um diesen Widerspruch zu lösen, formuliert Seeck die Annahme, Rembrandts Ehe sei zweimal geschlossen worden, dieser habe Saskia zunächst gegen den Widerstand seiner „Schwägerschaft“ entführt und eine „dem Rechte nach ungültig[e]“ Ehe vollzogen (Seeck 1898, 47), die später unter Zustimmung der nächsten An- gehörigen Saskias legalisiert worden sei. Für diese Darstellung, die gleich jener Bodes nir- gends überliefert ist, findet Seeck Unterstützung in einem Porträt Saskias, das „vom Künstler wohl als Darstellung der Flora gemeint“ gewesen sei:98

„Jenes (...) Porträt trägt die Jahreszahl 1634 und muß wohl im April oder Mai, also noch vor der Hochzeit Saskia’s entstanden sein, da sie mit lauter Blumen des ersten Frühlings geschmückt ist und diese offenbar nach der Natur getreulich nachgezeichnet sind. Trotzdem läßt sich deutlich wahrnehmen, daß sie guter Hoffnung ist (...). Sie muß also nicht nur 1633, sondern schon 1632 mit ihrem späteren Gatten verbunden gewesen sein, wenn auch nicht auf gesetzlichem Wege.“ (Seeck 1898, 47)

Indem er das Flora-Bild als ein in jeder Hinsicht naturalistisches Abbild Saskias auffaßt, kommt Seeck somit zu einer neuen Konzeption der Lebensverhältnisse Rembrandts um 1633. Eine weitere Hypothese zu diesen Bildern, und damit eine dritte Variante zu Rembrandts Am- sterdamer Junggesellenzeit, liefert Wilhelm Valentiner 1906 in dem Band Rembrandt in Bild und Wort. Valentiner kann den Bildnissen keine Ähnlichkeit mit Saskia entnehmen, obwohl auch er darin ein und dieselbe Person sieht. Bodes Lysbeth-Hypothese spricht er an, kann sich ihr jedoch nicht anschließen. Vielmehr erscheint ihm eine Folgerung als wahrscheinlich, der sich sowohl Bode als auch Seeck verschlossen hatten:

„(...) fast geht es über Bruderliebe hinaus, wie er sie mit Schmuck und herrlichen Gewändern aus- stattete. Auch mag man sich wohl fragen: Sollte der Künstler, mit seiner stark sinnlich angelegten Natur in diesen Jahren frei von Leidenschaft für das weibliche Geschlecht geblieben sein? Dann aber ist zu erwarten, daß sich seine Erlebnisse in seiner subjektiven Kunst spiegeln, ebenso wie sich später in ihr alles offenbart, was ihm an Leid und Liebe im häuslichen Leben begegnete. Keine weibliche Gestalt aber hat in diesen Jahren eine gleich tiefgreifende Bedeutung für seine Kunst, wie jenes Mädchen gehabt (...).“ (Valentiner 1906, 61 f.)

Wir hätten es bei dieser Person demnach mit einer ‘Jugendliebe‘ des Künstlers zu tun. Dabei kehrt sich in Valentiners Argumentation die Richtung der bisher zitierten Schlußfolgerungen um. Er geht von einem mittlerweile offenbar konsensfähigen Charakterzug Rembrandts aus, dessen „stark sinnlich angelegte[r] Natur“, und schließt von dort aus auf die Kunst. Und er

98 Seeck 1898, 47. Seeck bezieht sich hier auf das in der Petersburger Eremitage aufbewahrte Bild. 126 formuliert eine Grundannahme, die wir in ähnlicher Weise bereits bei Bode fanden: Daß nämlich Rembrandts Kunst einen „subjektiven“ Charakter habe und die Bilder deshalb als Offenbarungen von „Leid und Liebe im häuslichen Leben“ des Künstlers gelesen werden dürften.99 Die Konsequenzen dieser Annahme demonstriert Valentiner sogleich ein weiteres Mal. Eingeleitet durch ein Geschmacksurteil über weibliche Schönheit verknüpft er das Werk des Künstlers mit dessen Erscheinung, Charakter und Lebensumständen:

„Wenn freilich die Gestalt nichts von einer ‘ersten Liebe‘ an sich hat, wenn ihre Augen halb kind- lich, halb blöde dreinsehen und sie sich ungelenk und schwerfällig benimmt, nun - Rembrandt war nicht als Märchenprinz zur Welt gekommen, der unter den Schönsten seines Landes Brautschau hält. Die Gestalten seiner Frühwerke sind der Ausdruck seines Wesens: sie sind unbeholfen wie junge Bären, in den Zügen voller Derbheit, in der Bildung des Körpers massig und eckig. Er war ja doch ein Sohn des Volkes. Er griff die Arbeit mit schweren, knochigen Händen an; kein Wunder, daß den ersten Werken noch der Schweiß der Arbeit anhaftet.“ (Valentiner 1906, 62)

Angesichts des Potentials zur Reanimation und Veranschaulichung von Leben und Schicksal des Künstlers, welches sich mittels der hier geschilderten Auffassung der Werke als biogra- phischer Quellen erschließen läßt, wird es nicht verwundern, daß die Häufigkeit und die In- tensität von deren Verwendung zunimmt, je literarischer die Texte werden, je weniger wis- senschaftlich sie sich geben. Nicht selten wird die von Valentiner postulierte ‘Subjektivität‘ der Kunst Rembrandts in solchen Beispielen absolut gesetzt. So stellt etwa der kulturreforme- risch engagierte Ferdinand Avenarius, Vorsitzender des Dürer-Bundes und Herausgeber der Zeitschrift Der Kunstwart (vgl. Hein 1992, 92), die Motivwahl Rembrandts stetig in direkten Zusammenhang mit dessen Privatleben:

„Während des Brautstandes alle die biblischen Bräute; dann Saskias Bildnisse; das ausgelassene Doppelporträt in Dresden (...); als aber Saskia gestorben, die Klage in den ‘Drei Bäumen‘; dann die melancholischen Landschaften von den einsamen Gängen um Amsterdam; und weiter die ver- schiedenen Bilder von Trost und Mitleid.“ (Avenarius 1906, 332)100

99 An dieser Praxis ändert auch die skeptische Äußerung wenig, mit der Valentiner kurz zuvor die Reichweite des ‘Werks als Quelle‘ eingeschränkt hatte: „Die Biographie Rembrandts wird stets lückenreich bleiben (...). Über die Zeit bis zu seiner Heirat wüßten wir nichts weiter, wenn nicht die Werke uns etwas zu Hilfe kämen. Freilich sie geben unsicheren Bescheid, will man sie über Tatsachen befragen.“ (Valentiner 1906, 60). 100 Die Radierung Die drei Bäume deutet vor Avenarius auch Alfred Wurzbach als Totenklage; er macht dort ein im Gebüsch verborgenes Bildnis Saskias aus (Wurzbach 1886, 11). Zudem versteht er eine der umstrittendsten Figuren in Rembrandts Werk in dieser Weise: „(...) der Auszug der Compagnie des Capitäns Franz Banning Cock, welcher in dem Todesjahr der Saskia 1642 vollendet wurde, zeigt ebenfalls ihr Porträt in der einen Mäd- chenfigur, welche wie ein leuchtender Schatten mitten durch die ausziehenden Schützen schlüpft.“ (ebd.) Daß er mit dieser Deutung nicht allein steht, wird im Kapitel zur Nachtwache ausgeführt. 127 Ganz ähnlich klingt es im selben Jahr bei Richard Muther, der mit seiner Vorliebe für den französischen Impressionismus kulturpolitisch eher als Antagonist des deutschnational orien- tierten Avenarius zu behandeln wäre:

„Überhaupt stehen alle Bilder jener Jahre im Zusammenhang mit Rembrandts Verlobung. Das plötzliche, scheinbar unlogische Auftauchen ganz entlegener Stoffe erklärt sich nur daraus, daß Rembrandts sämtliche Werke persönliche Stimmungen symbolisieren. Es war so seltsam, daß er, der Müllersohn aus Leiden, diese vornehme Patriziertochter [Saskia, M.H.] fast gegen den Willen ihrer Verwandten gewann. Darum malte er sich als Fürsten der Unterwelt, der die Proserpia ent- führt. (...) Als der Vormund Saskias gegen das Verlöbnis ist, erinnert sich Rembrandt der Szene der Bibel, wie Simson zu seinem Weibe gehen will und das Haus verschlossen findet. ‘Ich glaubte, du wärest ihr gram geworden, und habe sie einem andern gegeben‘, ruft der Alte herunter. Rembrandt, als Simson, droht mit geballter Faust.“ (Muther 1906a, 13)

Am chronologischen Faden der Werke wickelt Muther so das Privatleben des Künstlers ab:

„1635, als Saskia sich Mutter fühlte, hatte er die jubelnde, lichtdurchflutete Radierung der Verkün- digung an die Hirten gezeichnet. Nun, da sein erstes Kind starb, begann er das Bild des Abraham, der den Isaak opfern muß.“ (Muther 1906a, 14)

Und schließlich, nach Saskias Tod:

„In seinen übrigen Werken klingt zunächst die Erinnerung an Saskia aus. (...) Es ist kein Zufall, daß er gerade damals den Tod Marias radierte. (...) Beim guten Samariter gedachte er der Stunden, als er selbst am Sterbelager Saskias saß.“ (Muther 1906a, 16)

In Muthers Darstellungen erscheint das gesamte Werk des Künstlers als dessen ‘Selbstbild- nis‘. Der erfolgreiche Kunstschriftsteller und Professor für Kunstgeschichte in Breslau bringt seinen Ansatz zur Deutung der ‘subjektiven Kunst‘ Rembrandts selbst auf folgende Formel:

„Vielleicht ist es überhaupt nur möglich, Rembrandt näherzukommen, wenn man sich entschließt, seine Bilder gar nicht als Bilder, sondern nur als seelische Dokumente aufzufassen.“ (Muther 1906a, 11)

Bevor wir aber, diesem Hinweis folgend, zur Deutung der Kunst als Quelle des ‘inneren Le- bens‘ ihres Urhebers überwechseln, möchte ich noch ein Beispiel dafür bringen, wie durch Verweise auf das Leben des Künstlers eine Erklärung für ein bestimmtes Phänomen des Werks gefunden wird. Schon in der frühen klassizistischen Rezeption hatte sich der Begriff des Helldunkel, beziehungsweise des clair-obscur oder chiaroscuro, als wichtige Kategorie

128 für die Beschreibung der Bildsprache Rembrandts eingebürgert.101 Bezüglich der Ursachen für diese gestalterische Vorliebe des Holländers kursieren in der Literatur der vergangenen drei Jahrhunderte verschiedene Erklärungskonzepte. Während bereits die Klassizisten mit dem Hinweis auf Rembrandts skurrilen Charakter und seinen Sinn fürs Phantastische das Werk aus dem Künstler heraus zu erklären trachteten - hier findet sich die These, Rembrandt habe ein düsteres Atelier mit nur einem kleinen und hoch gelegenen Fenster bevorzugt - , 102 wurde auch der Einfluß von Vorbildern wie Caravaggio und Elsheimer diskutiert.103 Zur Jahrhundertmitte stellt sich diesem genealogischen Prinzip aus dem Umfeld der Milieutheorie Hippolyte Taines der Vorschlag zur Seite, die niederländischen Lichtverhältnisse und die Bauart der Häuser seien für die besonderen Lichteffekte verantwortlich zu machen.104 Noch näher an die Person des Künstlers führt die Erklärung heran, die hier vorgestellt werden soll. Sie reanimiert mögliche Kindheitserinnerungen Rembrandts, der, als Sohn eines Müllers, oft und gerne in der Mühle gespielt haben mag. So fragt Eberhardt Hanfstaengl 1939:

„Ist es nicht verführerisch zu glauben, daß die dumpfe, aber phantasieanregende Atmosphäre einer Windmühle mit ihrem ewig klappernden Räderwerk, mit dieser von Mehlstaub durchtränkten Luft, in der ein Lichtstrahl fast greifbar eingeschnitten steht - bewegte Figuren plötzlich hell erleuchtet, um sie gleich wieder in schattenhaftem Dunkel verschwinden zu lassen -, daß dieser heimlich-un- heimliche Raum in dem Werk Rembrandts, der hier seine Kindheit verbracht hat, immer wieder hintergründig mitschwingt?“ (Hanfstaengl 1939, 3)

Es ist eine populär orientierte Schrift, in der Hanfstaengl diesen Vorschlag formuliert. Der vormalige Direktor der Berliner Nationalgalerie mußte sich nach seiner Entlassung 1937 als

101 Sandrart stellt lediglich fest, Rembrandt ließe „in seinen Werken (...) wenig Licht sehen“ (1674, zit. nach Slive 1953, 209). Félibien (1685) spricht davon, Rembrandt habe die Lichter und die Schatten sehr gut verstanden (vgl. Slive 1953, 212). Roger de Piles (1699) spricht dann vom Helldunkel: „Il avoit une suprême intelligence du Clair-obscur“ (zit. nach Slive 1953, 218). Im 18. Jahrhundert wurde eine phantastische Motivik in helldunkler Ausführung häufig als „goût de Rembrandt“ bezeichnet, auch das „clair obscur à la Rembrandt“ war eine vertraute Wendung (Slive 1953, 142). Die Verbreitung dieses Topos ist wesentlich mit dem Sammlerinteresse an Rembrandts Radierungen verbunden. Ein Beispiel für die Kontinuität mag die Bezeichnung Rembrandts als „roi du clair-obscur“ liefern (ohne Autor, in: L’Artiste, Band VI, Paris 1840, 420). 102 In dieser Art äußert sich Adam Bartsch (1797, XXVI). 103 Der Name Elsheimer fällt unter anderem bei Lübke 1877, 203; Bode 1883, 264; Michel 1893, 242; Veth 1906, 12; Hamann 1906, 322; von Caravaggio sprechen zum Beispiel Burckhardt 1877, 7; Michel 1893, 242; Bode 1905, 3; Valentiner 1906, 26; Goldbeck 1906, 1162. 104 Athanase Coquerel (1869) gibt an, Rembrandt habe unter den nebligen Himmeln seiner Heimat gelernt, spar- sam mit Licht umzugehen („Avant tout, sous un ciel brumeux où la clarté est rare et faible, Rembrandt apprit à économiser savamment la lumière.“Coquerel 1869, 36). Auch von Alfred Lichtwark (1917 [1886], 270) wird das Helldunkel durch die lokalspezifischen Innenräume mit den Fensterläden und durch die Fülle der Lichteffekte in der Dämmerung begründet. Für Bode bezeugt das Helldunkel die Vorliebe der Holländer für das häusliche Leben (1883, 26). Seine Argumentation läßt an Hegels Definition der deutschen „Gemüthsrichtung“ denken in die auch die Holländer eingeschlossen wurden (vgl. Hegel 1939, 122). 129 Privatgelehrter finanzieren.105 Der promovierte Kunsthistoriker wiederholt seine spielerisch geäußerte Spekulation noch einmal in seinem umfassenderen Rembrandtbuch von 1947:

„Es bleibt immer ungeklärt, wie und wann bei Rembrandt der Sinn für das Licht geweckt wurde, wo dies Grunderlebnis seinen Anfang nimmt - sicher nicht erst, als er in die Lehre ging und durch seine Lehrer von Elsheimer, von Caravaggio erfuhr (...). Man möchte glauben, daß hier früheste Kindheitseindrücke zugrunde liegen, die sich unauslöschlich im Gemüt des Künstlers eingegraben haben. Hat er in der väterlichen Mühle beobachtet, wie ein steiler Sonnenstrahl in der mit Mehl- staub gefüllten Luft einen kompakten Lichtstrahl zeichnet? Wie Gegenstände, Gesichter plötzlich unwahrscheinlich hell aufleuchten und anderes um so dichter in Dämmer und Nacht eingehüllt wird? Unheimlich gespensterhaft tauchen Gestalten auf und unter, alles Rätselvolle kann in dieser Atmosphäre gedeihen.“ (Hanfstaengl 1947, 13)

Wie Hanfstaengl seinen Vorschlag im Status der Frage beläßt, so müssen auch wir mit Mut- maßungen über die Vorläuferrolle Wilhelm Lübkes verfahren, der 1877 geschrieben hatte:

„Wohl aber mag der Knabe, der sich nach Kinderart gern und viel in der Mühle aufhielt, an den durch die Luken einfallenden Sonnenstrahlen, die geheimnisvoll in die dunkeln mehldurchstäubten Räume drangen, den ersten Eindruck jener zaubervollen Helldunkelwirkungen erfahren haben, die er später zu einem neuen Element in der Kunst ausbilden sollte.“ (Lübke 1877, 197)106

Wenn sich diese Äußerungen auch selbst als ‘Phantasien über Rembrandt‘ kennzeichnen, so ist darin doch das besagte Prinzip erkennbar, Fragen des Werkes durch Bezugnahme auf die Person Rembrandts, seine Erlebnisse und Erfahrungen, zu klären. Weit häufiger als solche Versuche zu einer naturalistischen Begründung des gestalterischen Phänomens ‘Helldunkel‘ finden sich Beispiele für dessen metaphorische Verwendung.107 An- gesichts seiner hohen Präsenz in der Auseinandersetzung mit Rembrandts Kunst liegt das nahe, zumal dieser Begriff mit seiner paradoxalischen Spannung und seinem Verweis aufs Visuelle über lyrische Qualitäten verfügt. Als Wilhelm Bode 1905 im abschließenden Band

105 Vgl. Brenner 1963; vgl. auch die biographische Angabe in Hanfstaengl 1947, 189. 106 Ein drittes Beispiel dieser Animation Rembrandtscher Kindheitstage findet sich bei Otto Krimmel: „man kann sich leicht den Knaben denken, wie er das seltsame Spiel des Lichtes verfolgt, wenn die Sonne durch enge Luken, wie durch Kanäle, in das von Mehlstaub erfüllte Innere leuchtet, wenn geheimnisvoll die riesigen Flügel sich drehen, gigantische Schatten weithin werfend“ (Krimmel 1906, 97). Ähnlich äußern sich Verhaeren (1912, 16) und Esswein (1921, 13). Vgl. zu diesen Beschreibungen auch die kurze Mühlen-Szene im Spielfilm Rembrandt (Steinhoff 1942, Sequenz 4, Szene 25). 107 So trägt etwa der Rembrandt-Roman von Valerian Tornius (1934) den programmatischen Titel Zwischen Hell und Dunkel. Zentrale Bedeutung hat der Begriff bei Julius Langbehn, der ihn zur Illustration seiner Vorstellung einer ‘Synthese‘ der auseinandertreibenden Kräfte der Gesellschaft verwendet: „Jedes Ding strebt nach Ergän- zung. Etwas wohltätige Dunkelheit würde der heutigen deutschen Bildung sehr gut tun; mit der gangbaren Auf- geklärtheit gemischt, würde sie für das geistige Dasein des Deutschen ein zukunftschwangeres Helldunkel erge- ben.“ (Langbehn 501922, 79). 130 des achtteiligen Werkkatalogs seine Einführung in „Rembrandt’s Leben und Charakter“ be- ginnt, bedient er sich dieser Metaphorik als Einstiegsformel:

„Während der Lebenslauf des ‘Malerfürsten‘ in den spanischen Niederlanden, , lichtvoll und glänzend ist wie seine Bilder, zeigt das Leben seines jüngeren Zeitgenossen in den nördlichen Niederlanden einen starken Wechsel von Licht und Schatten, jenes eigentümliche Hell- dunkel wie in seinen Gemälden, worin das Dunkel einen weit grösseren Raum einnimmt als das Licht.“ (Bode 1905, 1)

Wie die Gegenüberstellung von Rembrandt und Rubens, so hat auch die biographisch orien- tierte Verwendung der Helldunkel-Metaphorik zu diesem Zeitpunkt bereits weniger innova- tive als topische Qualitäten. Ihr wirkungsvoller Zusammenschluß findet sich bereits 1876 bei Eugène Fromentin. Dieser Autor erschließt uns auch den Übergang zum nächsten Abschnitt, indem er zwischen einem öffentlichen und einem privaten Rembrandt unterscheidet, deren Schicksal unter dem Dach der Metapher zusammenfindet:

„Rembrandts Leben ist, wie seine Malerei, voll von Halbschatten und dunklen Winkeln. Ebenso wie sich Rubens zeigt, so wie er war, im vollen Lichte seiner Werke, seines öffentlichen und seines privaten Lebens, klar, strahlend, schillernd von Geist, gut gelaunt, von stolzer Anmut und Würde, ebenso entzieht sich Rembrandt und scheint immer etwas zu verbergen, sei es gemalt, sei es ge- lebt.“ (Fromentin 1972 [1876], 251)108

2.1.3.3 Werk und Charakter

Auch wenn die Datierungen der zum Thema ‘Helldunkel‘ zitierten Beispiele es zum Teil nicht erwarten ließen, ist doch festzustellen, daß bereits im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts das Interesse daran zurückging, Rembrandts Lebensumstände, die öffentliche Seite seiner Biographie, aus seiner Kunst heraus deuten zu wollen. Ein Grund dafür ist in den Informatio- nen zu sehen, die in den 80er Jahren beim Durchforschen der Archive bekannt wurden und die sich mit den geltenden bürgerlichen Moralvorstellungen kaum zur Deckung bringen ließen. Diese Beobachtung muß jedoch in die umfassendere Tendenz zum Wandel des Rem- brandtbildes in der zweiten Jahrhunderthälfte eingeordnet werden, die den Künstler und sein Werk von einem beispielhaften Vertreter der Gesellschaft seiner Zeit zu einem vermeintlichen Außenseiter derselben werden läßt. Indem Rembrandt von den Autoren zunehmend im Kon-

108 „La vie de Rembrandt est, comme sa peinture, pleine de demi-teintes et de coins sombres. Autant Rubens se montre tel qu’il était au plein jour de ses oeuvres, de sa vie publique, de sa vie privée, net, lumineux et tout cha- toyant d’esprit, de bonne humeur, de grâce hautaine et de grandeur, autant Rembrandt se dérobe et semble tou- jours cacher quelque chose, soit qu’il est peint, soit qu’il est vécu.“ (Fromentin 1972 [1876], 251). Die Übersetzung erfolgte unter Verwendung der deutschen Fassung von Schellenberg (21919, 321). 131 flikt mit seinen Zeitgenossen gesehen wird, verlagert sich der imaginierte Ursprungsort seiner Kunst nach Innen. Analog dazu werden die einzelnen Arbeiten des Künstlers verstärkt als Quellen für seinen Charakter gedeutet, man sieht in ihnen die Entäußerung seines Seelenle- bens. Begleitet wird diese Unterscheidung zwischen äußeren ‘Lebensumständen‘ und innerem ‘Seelenleben‘ von der des ‘Menschen Rembrandt‘ und des ‚Künstlers Rembrandt‘, wobei letzterer als die schöpferische Instanz, und damit als der ‘Wahre‘ von beiden gilt. Dem ‘Rem- brandt der Archivquellen‘ kommt nur noch eine sekundäre Bedeutung zu. Der ‘Künstler Rembrandt‘ steht im Vordergrund; das Werk wird zur entscheidenden Quelle aller Vorstel- lungen von dieser Figur und zum Prüfstein109 für das Urteil über sie. Statt wie Kris und Kurz angesichts dieses Phänomens von einer Verknüpfung von Leben und Werk zu sprechen,110 sehe ich darin im Anschluß an Foucaults „Funktion Autor“ eine ‘Gene- rierung des Künstlers aus dem Werk‘. Denn es ist hier ja gerade nicht die Verknüpfung des äußeren Lebens mit dem Werk zu beobachten, sondern die Negierung der Bedeutung der hi- storisch-empirischen Figur und ihre Ersetzung durch eine rein diskursive Künstlerfigur, die ihre Konturen im wesentlichen aus den Deutungen der Werke gewinnt. Die historisch-empi- rischen Figur bildet dabei nur die Hülle an sich unbedeutender Namen, Ereignisse und Daten, die Charakterstudie dieser Gestalt wird jedoch allein aus dem Werk entwickelt. Bevor ich den Zusammenhang dieser Beobachtungen mit der hermeneutischen Methodik herzuleiten ver- suche, möchte ich nun zunächst einige Beispiele für dieses werkfixierte Bild des ‘inneren Rembrandt‘ vorstellen.

Carl Neumann formuliert 1902 offensiv die Vorstellung vom künstlerischen Artefakt als bio- graphischer Quelle:

109 Als Prüfstein („toetssteen“) für alle Aussagen über den Künstler hatten De Roever und Bredius noch 1887 das Archiv bezeichnet. Die kunsthistorische Biographik ist ihnen in den nächsten Jahrzehnten nicht darin gefolgt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, ist ihr letzter Bezugspunkt zum Urteil über Rembrandt immer ‘dessen Werk‘ (Bredius/Roever: Rembrandt. Nieuwe Bijdragen tot zijne levensgeschiedenis II, in: Oud Holland, 5. Jg., 1887, 210 - 227.) 110 In ihrem epochenübergreifenden Vergleich der Motivik von Künstlerbiographien haben diese beiden Autoren verschiedene Arten des Versuches beschrieben, Leben und Werk des Künstlers als Einheit darzustellen (Kris/Kurz 1934, 113 ff.). Sie unterscheiden zwei „zentrale Gedanken“, um die sich die Beispiele ordnen ließen. Der erste Gedanke betrifft den Versuch, „die Entstehung des Kunstwerks durch lebensnahen Vergleich zu erfassen“, also biologistische Konzepte von Geburt und Schöpfung oder populäre Psychologisierungen wie das Triebmodell des Sexuallebens auf die Kunstproduktion zu übertragen. Das zweite Modell versucht, „zwischen Kunstwerk und Künstler eine unmittelbare Verbindung herzustellen“. Dabei seien neben den Ansätzen „aus Eigentümlichkeiten des Kunstwerkes auf Lebensumstände des Künstlers zu schließen“ auch solche zu beobach- ten, „den Charakter des Künstlers mit dem seiner Werke zu verbinden, aus dem Werk auf den Künstler zu schließen“ (ebd., 117). Mit diesen Beobachtungen stimme ich weitgehend überein, was allerdings nicht für die Erklärung des Phänomens gilt, die Kris und Kurz vorschlagen. Sie sehen in diesen Strategien den literarischen Ausdruck der „Auseinandersetzung mit der Aura von Macht und Geheimnis, die den Künstler umgibt“ und ma- chen darin demnach eine Art psychologische Gesetzmäßigkeit aus. In Umkehrung dieser Erklärung wäre jedoch zu bedenken, daß die „Aura“ nicht zuletzt ein Produkt der beschriebenen Erklärungsmodelle darstellt. 132 „Aus der Einsamkeit seiner Leydener Jahre und aus der äußerlichen Bewegtheit des ersten Amster- damer Jahrzehnts dringt kaum ein artikulierter Ton, kaum ein Wort zu uns. Nur seine Werke sind da, und sie haben Zungen, zu reden.“ (Neumann 1902, 333)

Unter Hinweis auf den geringen Umfang jener Art von Quellen, derer sich Biographik sonst gerne bedient, fordert auch Wilhelm Valentiner (1906) zu dieser besonderen Form der Lek- türe der Werke auf:

„Die Briefe [an Huygens, M.H.], im ganzen sieben, sind die einzigen, welche uns von Rembrandt erhalten sind. Ihr wenig persönlicher Inhalt besagt, daß dem Künstler kaum daran lag, sein Wesen anders als mit Hilfe der bildenden Kunst auszudrücken.“ (Valentiner 1906, 82)

In dieser Sichtweise lädt Rembrandt selbst zur biographischen Deutung seines Werks ein und legitimiert so die Methodik des Kunsthistorikers. Noch 1948 wird Richard Hamann den Man- gel an Dokumenten durch die besondere Quellenqualität der Kunstwerke ausgeglichen sehen:

„Ist es ein unglücklicher Zufall, daß nur so wenig Urkundliches über sein Leben erhalten ist? Kaum! Rembrandts Leben ist sein Werk (...). In diesem Werk ist das Menschliche aufgespeichert, das sein Leben bedeutet, in diesem Werk erlebte er es.“ (Hamann 1948, 11)

Wenn Rembrandts Leben sein Werk ist, dann haben wir mit diesem Werk zugleich ihn selber, Rembrandt, oder doch wenigstens sein Wesentliches. Konsequenter als es Hamann hier faßt, ließe sich die Vorstellung einer Identität von Autor und Werk wohl kaum formulieren. Hier ist nicht von einer historischen Gestalt die Rede, sondern von einer ins Werk projizierten Er- scheinung. Der empirische ‘Rembrandt‘ der Archivquellen verblaßt angesichts einer derarti- gen Wiederbelebung ‘Rembrandts‘ als diskursiver Künstlerfigur.

2.1.4 Exkurs: Hermeneutik als geisteswissenschaftliches Paradigma

2.1.4.1 Zur historischen Stellung hermeneutischer Theoriebildung

Den theoretischen und wissenschaftsgeschichtlichen Hintergrund der zuletzt beschriebenen Ansätze einer Imagination des Künstlers aus dem Werk bildet die Hermeneutik. Als Lehre oder Kunst vom ‘Verstehen‘ kann sie in den für uns relevanten Jahrzehnten um 1900 als ein Konzept mit paradigmatischer Bedeutung für die Geisteswissenschaften angesehen werden. Für eine hermeneutische Sichtweise auf bildende Kunst (bzw. Literatur, Musik etc.) stellt die Person des künstlerischen Urhebers einen entscheidenden Faktor zum Werkverständnis und zugleich selbst einen zentralen Gegenstand des Erkenntnisinteresses dar. Friedrich Schleier- macher, Wegbereiter der hermeneutischen Methodik im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, unterteilt die „psychologische Aufgabe“ des Verstehens in zwei Aspekte:

133 „Das eine ist, den ganzen Grundgedanken eines Werkes zu verstehen, das andere, die einzelnen Teile desselben aus dem Leben des Autors zu begreifen. Jenes ist das, woraus sich alles entwickelt, dieses das in einem Werke am meisten Zufällige. Beides aber ist aus den persönlichen Eigentüm- lichkeiten des Verfassers zu verstehen.“ (Schleiermacher 1977 [1838], 185)111

Mit dem Werk gilt es demnach zwangsläufig zugleich den Verfasser oder, in unserem Fall, den Künstler zu verstehen, dessen „persönliche[n] Eigentümlichkeiten“ das Energiezentrum der Werkgenese bilden.112 Zeitgenössisch zur hier untersuchten Literatur ist es der Berliner Philosophieprofessor Wil- helm Dilthey, der die theoretischen Grundlagen zur hermeneutischen Methodik bereitstellt. In seinem Entwurf zur Entstehung der Hermeneutik sind die für unseren Zusammenhang we- sentlichen Punkte formuliert. Bereits der erste Lehrsatz dieser Abhandlung stellt heraus, daß sich das Verständnisinteresse über das Werk - Dilthey denkt hier primär an das literarische Werk - auf dessen Urheber richtet:

„(Satz 1) Verstehen nennen wir den Vorgang, in welchem aus sinnlich gegebenen Äußerungen see- lischen Lebens dieses zur Erkenntnis kommt. (...) (Satz 3) Das kunstmäßige Verstehen von schriftlich fixierten Lebensäußerungen nennen wir Ausle- gung, Interpretation.“ (Dilthey, zit. nach Pöggeler 1972, 74)

Wie aber ist dieses Verstehen möglich, wenn doch zugleich die Eigentümlichkeit der subjek- tiven Äußerung betont werden soll? Wie bereits vor ihm Friedrich Schleiermacher,113 löst auch Dilthey dieses Problem durch eine spannungsvolle Konstruktion des Individuums, welches seine einzigartige Subjektivität auf einer überindividuellen Basis menschlicher Wesensart entfaltet:114

„Jeder ist in sein individuelles Bewußtsein eingeschlossen gleichsam, dieses ist individuell und teilt allem Auffassen seine Subjektivität mit. (...) Wie kann eine Individualität eine ihr sinnlich gege- bene fremde individuelle Lebensäußerung zu allgemeingültigem objektiven Verständnis sich brin- gen? Die Bedingungen, an welche diese Möglichkeit gebunden ist, liegt darin, daß in keiner frem- den individuellen Äußerung etwas auftreten kann, das nicht auch in der auffassenden Lebendigkeit enthalten wäre. Dieselben Funktionen und Bestandteile sind in allen Individualitäten, und nur durch

111 Hier zitiert nach Werber/Stöckmann 1997, 237. 112 Der Begriff ‘Eigentümlichkeit‘ verweist auf die Verbindung zur juristischen Frage des Eigentumsrechts am geistigen Werk. Dieses Problem wurde ausführlich von Plumpe (1979; 1981) und von Bosse (1981) erörtert und wird von mir im Exkurs zur juristischen Konzeption des Eigentums dargestellt. Zum Zusammenhang mit der Hermeneutik vgl. auch Werber/Stöckmann (1997) und Zons (1983). 113 Vgl. Gadamer 1970, 1064. 114 Diese Spannung kann verglichen werden mit dem zwiespältigen Verfahren der Abgrenzung Rembrandts von seinen Lehrern, Schülern und direkten Zeitgenossen bei gleichzeitiger Verbindung des Künstlers mit historischen Ahnen und zukünftigen Erben. 134 die Grade ihrer Stärke unterscheiden sich die Anlagen verschiedener Menschen.“ (Dilthey, zit. nach Pöggeler 1972, 76)

Auf folgenden Voraussetzungen fußt demnach der hermeneutische Akt des „allgemeingülti- ge[n] objektiven“ Verstehens: (1) Das Werk gilt als sinnlich gegebene Äußerung seelischen Lebens, in ihm wird die Sub- jektivität des individuellen Bewußtseins mitgeteilt (Diese Position werde ich im Anschluß unter dem Begriff des ‘Expressionsprinzips‘ analysieren). (2) Der Unterschied zwischen fremder und auffassender „Lebendigkeit“ (d.i. ‘Individualität‘) beruht lediglich auf einer graduellen Variation derselben „Funktionen und Bestandteile“. Diese Gleichartigkeit des Materials ermöglicht es dem Interpreten, im Werk die eigentümli- che Gestalt des schöpferischen Individuums zu erkennen. (3) Damit auf Basis dieser grundlegende Gemeinsamkeit tatsächlich ein Verstehen ermöglicht wird, ist allerdings eine besondere Befähigung dieses Interpreten gefordert:

„Die Auslegung ist ein Werk der persönlichen Kunst, und ihre vollkommenste Handhabung ist durch die Genialität des Auslegers bedingt; und zwar beruht sie auf Verwandtschaft, gesteigert durch eingehendes Leben mit dem Autor, beständiges Studium. (...) Hierauf beruht das Divinatori- sche in der Auslegung.“ (Dilthey, zit. nach Pöggeler 1972, 76)

Der Akt des Verstehens wird selbst zur Kunst, ihm wird divinatorischer (= seherischer) Cha- rakter zugesprochen. Damit gleicht er sich dem Schöpfungsakt an. Entsprechend nobilitiert Dilthey die Interpreten und spricht von „genialen Künstlern der Auslegung“ (ebd., 75). So- wohl die Fähigkeit zur Entäußerung als auch die zu deren Verständnis beruhen in dieser Sichtweise zuletzt auf einer emphatischen Vorstellung von den Potentialen genialer Indivi- duen. Hans-Georg Gadamer faßt Diltheys Position zusammen:

„Verstehen ist reproduktive Wiederholung der ursprünglichen gedanklichen Produktion aufgrund der Kongenialität der Geister.“ (Gadamer 1970, 1064)

Die durch Schleiermacher und nach ihm durch Dilthey formulierten Möglichkeiten des Ver- stehens können als eine elementare Voraussetzung für die wissenschaftsgeschichtliche Epo- che des Historismus gelten. Die Hermeneutik bildet die Grundlage für die historischen Gei- steswissenschaften, also auch für die Kunstgeschichte:

„Insbesondere die psychologische Interpretation wurde in der Nachfolge Schleiermachers, gestützt durch die romantische Lehre vom unbewußten Schaffen des Genies, die immer entschiedenere theoretische Basis der Geisteswissenschaften insgesamt.“ (Gadamer 1970, 1064)

135 Raimar Zons stellt neben der Entwicklung geisteswissenschaftlicher Disziplinen aus einem hermeneutischen Interesse zugleich den Zusammenhang dieses Interesses mit dem Konzept der urheberrechtlichen „Werkherrschaft“ (Bosse) des Autors heraus:

„Geisteshermeneutik also, die sich später ‘Geisteswissenschaft‘ nennt, methodisiert Autorschaft und Werkherrschaft.“ (Zons 1983, 121)

Damit ist die Hermeneutik als der wissenschaftliche Theoriekomplex benannt, der das Prinzip künstlerischer Autorschaft stützt und entscheidend an der Plausibilisierung der modernen Subjektkonzeption beteiligt ist.

2.1.4.2 Beispiele hermeneutischer Programmatik in der Rembrandtliteratur

Rembrandt zu ‘verstehen‘ und ein angemessenes Bild von seiner ‘eigentümlichen‘ Persön- lichkeit zu zeichnen kann als ein primäres Interesse der überwiegenden Zahl der Publikatio- nen angegeben werden, die sich in den Jahrzehnten um 1900 mit diesem Künstler befassen.115 Häufig liegt dieser Anspruch den Darstellungen als unausgesprochene, selbstverständlich er- scheinende Prämisse zugrunde, nicht selten wird er jedoch auch programmatisch vorgetra- gen.116 Als erstes prominentes Beispiel der expliziten Formulierung eines hermeneutischen Begehrens kann uns nochmals Carl Neumann dienen. Im Vorwort zur ersten Auflage seiner Rembrandt-Monographie (1902) formuliert Neumann sein Erkenntnisinteresse und benennt die Quellen, die er zum Erreichen seines Ziels nutzen will:

„Der Genius enthält in sich eine Überfülle von Möglichkeiten, von denen die geleisteten Werke vielleicht nur eine kleine Lese und Auswahl sind. In dem Augenblick, wo diese Beobachtung und Erkenntnis gewonnen wird und sich als ein Problem auftut, und wo es nun gilt, die Künstlerseele als das eigentlich Schaffensmächtige und Ursprüngliche zu schildern, zu begreifen, in ihrer Psy- chologie zu analysieren, verwandeln sich die Werke ihrer Zahl und vermeintlichen Vollständigkeit nach in etwas Zufälliges; sie erscheinen nun als Belege, als Äußerungsweisen - und um so wichti- gere Belege, je charakteristischer sie sind - einer Kraft, die über ihnen steht. Die Künstlerpersön- lichkeit wächst über den Werken empor, und es entsteht der unsägliche Reiz, diese Persönlichkeit zu fassen, aus den Werken herauszuarbeiten und als das eigentlich Wahre zum Leben und Sprechen zu bringen. Etwas derart hat mir vorgeschwebt, als ich dieses Buch schrieb.“ (Neumann 1902, VI)

115 Es sei an dieser Stelle nochmals betont, daß die Rembrandtliteratur hier lediglich als ein Beispiel für das um- fassende Feld einer biographisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung fungiert und daß dieses Feld um 1900 insgesamt von einer hermeneutischen Annäherung an Kunst und Künstler bestimmt ist. 116 In diesem Anspruch stimmen Texte überein, die wir im Falle eines Rückgriffs auf konventionelle Unterschei- dungskriterien (wissenschaftlich vs. populär; seriös vs. trivial) voneinander abgrenzen müßten - eine Beobach- tung, die wiederum für eine großzügigen Rahmung des Analysematerial spricht. 136 Diesem Bekenntnis zufolge betrachtet es Neumann als seine Aufgabe, „die Künstlerseele als das eigentlich Schaffensmächtige und Ursprüngliche zu schildern, zu begreifen, in ihrer Psy- chologie zu analysieren“. Als wesentliche Quellen dazu sieht er die Werke an, die er „als Be- lege, als Äußerungsweisen“ der „Künstlerpersönlichkeit“ betrachtet. Ganz im Sinne einer diltheyschen Hermeneutik besteht das Ziel seiner interpretatorischen Bemühungen darin, diese Persönlichkeit „als das eigentlich Wahre zum Leben und Sprechen zu bringen“.

In vergleichbarer Weise verleiht auch Wilhelm Valentiner (1906) einem Interesse Ausdruck, daß zum Künstlerindividuum durchdringen möchte. Dabei sieht er die Archivdokumente als ungeeignete Quellen an und setzt dagegen die Werke als Spuren, die wenigstens ein partielles Verständnis der „innere[n] Geschichte“ Rembrandts zulassen:

„Die Finanzgeschichte Rembrandts kann man aus diesen Akten schreiben, aber nicht die Ge- schichte seines Lebens. Sie geben keine Antwort auf die Frage, wo die Gönner und Freunde blie - ben, als die Not hereinbrach, und als so viele Schätze verschleudert wurden; sie geben noch weni- ger Einsicht in die Empfindungen und Leiden Rembrandts. Für die innere Geschichte des Künstlers in den Jahren von 1642 bis 1656 sind die Urkunden stumm. Wieder sind aber die Werke da, um zu reden. (...) Nur den allgemeinen Umriß einer tiefgehenden Wandlung des Menschen lassen sie er- kennen. Und diese Wandlung ist Entäußerung, Vertiefung, Beseelung. (...) Die Erscheinung mag eine Täuschung wechselnder Formen sein; aber sie läßt uns ahnen, daß hinter ihr eine Wahrheit steht, die ihr Wesen ist, auch wenn es uns nicht beschieden wäre, dieses Wesen voll zu erfassen.“ (Valentiner 1906, 365/366)

Wenn Valentiner die Werke Rembrandts als Zeugnisse zur Einsicht in die „Empfindungen und Leiden“ des Künstlers bezeichnet, stellt er sich methodisch in die Tradition Diltheys und dessen Programm der Erkenntnis des „seelischen Lebens“ aus den „sinnlich gegebenen Äuße- rungen“. Seinen Ansatz einer Genese der Künstlerfigur aus dem Werk erklärt der Autor als angemessene Methode zum Verfassen der Geschichte von Rembrandts Leben, wobei er zu- gleich den Anteil historisch-empirischer Quellen an der Lösung dieser Aufgabe abstreitet. Das ‘eigentliche‘ Leben des Künstlers liegt in den Werken, in den Akten liegt nur dessen „Finanz- geschichte“. Ein weiteres Element der diltheyschen Methodik, die elitaristische Konzeption der Möglich- keit eines „kongenialen“ Verstehens, findet sich bei Theodor Hetzer (1926):

„Es ist sehr leicht, aber auch sehr billig, in einem allgemeinen und rührenden Sinne auf das tiefe Gemüt, den frommen Sinn des ‘magischen Lichtmalers‘ Rembrandt hinzuweisen. Allein, es ist un- geheuer schwer, wahrhaft in die seelischen Tiefen Rembrandts, dieses sehr ungewöhnlichen Indi- viduums Rembrandt zu dringen. Es ist wahrhaft etwas Rätselvolles und Abgründiges, etwas Uner-

137 gründliches in seiner Kunst, es ist ganz etwas anderes als die Gefühle, die ein Durchschnittspubli- kum sich von ihm bestätigen läßt. Es gehört ein irgendwie kongeniales Wesen dazu, hier mit Rem- brandt umzugehen, ihn hier zu interpretieren.“ (Hetzer 1926, 250)

Im selben Jahr in dem Hetzer diese Äußerung in seiner Vorlesung zu Rubens und Rembrandt vorträgt, veröffentlicht Werner Weisbach seine Rembrandt-Monographie. In diesem umfas- senden Werk vereint der Berliner Professor für Kunstgeschichte wissenschaftlich-kritische Methodik mit der Absicht, eine breite Leserschaft zu erreichen.117 Die quellenkritische Praxis des Kunsthistorikers und sein offensiver Widerspruch gegen zahlreiche empirisch nicht trag- bare Topoi der Rembrandtliteratur schließen dabei keineswegs eine hermeneutische Perspek- tive auf Werk und Künstler aus. Vielmehr beginnt Weisbach seinen Text, indem er eine der- artige Beschäftigung mit „Werk und Leben der großen künstlerischen Genien“ als ein gleich- sam anthropologisch konstantes „Bedürfnis von Kulturvölkern“ beschreibt:

„Aus dem Interesse für die als beglückende ästhetische Erscheinungen empfundenen Werke er- wächst ein Interesse für ihre Schöpfer, das sich in verschiedenen Formen äußert. Die Menschen bringen diesen, die sie als Ausnahmen und als Gestalter schöner wertvoller Dinge ansehen dürfen, auch eine besondere menschliche Teilnahme entgegen, suchen sie sich auf diese oder jene Weise verständlich zu machen und in ihr Wesen einzudringen.“ (Weisbach 1926, 1)

Weisbach warnt zwar davor „aus mehr oder weniger zuverlässigen Quellen und Dokumenten eine menschliche Physiognomie (...) [des] Helden herauszupräparieren, Lücken durch eigens konstruierte psychologische Motivierungen und aus der Phantasie geschöpfte Zutaten auszu- füllen, um ein möglichst abgerundetes Bild“ zu bieten (ebd.), doch erscheint ihm andererseits auch eine „rein formale Analyse (...) [die] von allem Menschlich-Persönlichen abzusehen sucht“ als unzureichender Weg zur „Aufhellung von Kunstwerken und der Kunst“ (ebd., 2):

„Ist durch sie [die rein formale Analyse, M.H.] das künstlerische Verständnis gewiß in e i n e r Richtung vertieft und verfeinert worden, so genügt sie doch nicht gegenüber Werken, die sich als Schöpfungen von durchaus individueller Prägung im höchsten Sinne erweisen.“ (Weisbach 1926, 2)

Und für diese ‘höchsten‘ Leistungen der künstlerischen Natur stellt Weisbach fest:

„In jedem Fall sind in die Werke (...) wesentliche Eigenschaften ihres Schöpfers eingegangen, sie stellen sich als Manifestationen seines Inneren dar; feinste Schwingungen der Seele haben in ihnen Spuren hinterlassen. Die Schöpfung als Ganzes kann als Ausdruckssymbol für die geistig-seelische

117 Zur Person Weisbachs vgl. dessen Autobiographie (Weisbach 1956). 138 Gerichtetheit und für die Anschauungsform des Menschen genommen werden.“ (Weisbach 1926, 2)

Von dieser Theorie des Werks als Ausdruck der „wesentliche[n] Eigenschaften“ seines Schöpfers geht der Kunsthistoriker dazu über, seine methodische Position zu erläutern, die mit der Hermeneutik Diltheys im Einklang steht:

„Das Werk und den Menschen als eine Einheit zu begreifen ist eine Hauptaufgabe unserer Be- trachtungsweise: das Werk aus dem Menschen und den Menschen aus dem Werke zu deuten. In je - dem Individuum steckt eine geistige Einheit, die das Zentrum seines Wesens bildet. (...) Die gei- stige Einheit eines Menschen kann für uns nur verständlich und nachfühlbar gemacht werden durch eine Synthese dessen, was an geistigen Regungen, an Bekundungen, an Handlungen bei ihm das Wesentliche und Maßgebende ist. Ein Erschauen jener wesentlichen Symptome muß der Zusam- menschau vorangehen. Ebenso muß durch eine Analyse der im zeitlichen Verlaufe sich entwic - kelnden Werke der Gesamtcharakter des Werkes als ein Ganzes erschlossen werden.“ (Weisbach 1926, 2 f.)

Ähnlich wie bereits Schleiermacher und Hegel beschreibt Weisbach den ‘hermeneutischen Zirkel‘ des Verstehens als eine Folge von Lektüren, die sich vom einzelnen Werk auf das ‘Lebenswerk‘ und wieder zurück bewegt und so erst bei „zweiter und dritter Lektüre den ‘Sinn‘ des Teils“ erschließt (Zons 1983, 119). Auch Schleiermachers Regel von dem „ganzen Grundgedanken eines Werkes“, dessen Verständnis erst die Bedeutung der einzelnen Teile erschließt und im Hinblick auf die „persönlichen Eigentümlichkeiten des Verfassers“118 ent- wickelt werden muß, wird von Weisbach aufs Neue formuliert:

„Will man die Werke, die sich in einer Reihe von Einzelleistungen darstellen, als Gesamtheit erfas- sen, so muß man ihrem Zusammenhang mit der geistig-seelischen Einheit, aus der sie hervorge- wachsen sind, nachgehen. Man hat in der Wandlung und Entwicklung, der sie sich unterworfen zeigen, den Pol aufzusuchen, auf den sich alles beziehen läßt. Dann erweisen sich die einzelnen Kundgebungen als Emanationen jener individuellen Einheit, als Spiegelungen von Seele und Cha- rakter ihres Schöpfers. Alles was an geistig-seelischen Elementen in einem Werke Ausdruck ge- winnt, geht in irgendeiner Form auf die geistig-seelische Struktur des Schaffenden zurück.“ (Weis- bach 1926, 4)

Der Kunsthistoriker bindet in diese Bewegung eines wechselseitigen Verstehens des „Grund- gedankens“ eines Künstlers und seiner Werke auch die Frage nach den sozialen und histori-

118 Schleiermacher 1977 [1838], 185, hier zitiert nach Werber/Stöckmann 1997, 237. 139 schen Bedingungen der Werkentstehung ein (ebd., 3). Zweck dieser zusätzlichen Informatio- nen ist und bleibt jedoch die Erkenntnis des schöpferischen Individuums:

„Das Phänomen Rembrandt mit seiner zwiefachen Wesensäußerung: als gelebtes Leben und als ge- schaffenes Werk in seiner Einheit zu erfassen, sei das Ziel, dem wir uns nach Möglichkeit anzunä- hern bestrebt sein wollen.“ (Weisbach 1926, 5)

2.1.4.3 Zur hermeneutischen Tendenz anti-wissenschaftlicher Einfühlungsmethoden

Diese Reihe von Beispielen hermeneutischer Programmatik in der Rembrandtliteratur ließe sich fortsetzen,119 und in der Tat sollte sie noch um einen Aspekt ergänzt werden: um eine de- zidiert anti-wissenschaftliche Abgrenzungsformel, der sich verschiedene Autoren zur Legiti- mierung ihrer Aussagen bedienen. Die fraglichen Autoren folgen in der Regel einem Modell, das Wissenschaft und Kunst als zwei konträre Methoden zur Wirklichkeitserkenntnis ansieht, wobei der wissenschaftlichen Rationalität die künstlerische Intuition als Methode gegenüber- gestellt wird. Aus dieser Perspektive erscheint es ihnen verständlicherweise absurd, wissen- schaftliche Erkenntnisse über Kunst gewinnen zu wollen. Was an die Stelle dieser negativ bewerteten Wissenschaftlichkeit gesetzt wird, erinnert allerdings durchaus an die methodi- schen Konzepte der Hermeneutik. Die Richtung und Reichweite derartiger Abgrenzungsfor- meln soll im folgenden veranschaulicht werden.

Julius Langbehns erfolgreiche kulturpessimistische Programmschrift Rembrandt als Erzieher (1890) stellt ein markantes Beispiel für die simplifizierende Polarisierung dar, welche den „Objektivismus“ der Wissenschaften als einseitige Irrlehre anprangert und ihm den künstleri- schen „Irrationalismus“ als Heilmittel entgegenstellt. Langbehn fordert für die „deutsche Kultur“ eine Synthese zwischen diesen beiden Polen und greift auf das „Helldunkel“ Rem-

119 So stellt etwa Wilhelm Fraenger (1920) die Bedeutung eines hermeneutischen Erkenntnisansatzes für die Zu- schreibungsproblematik heraus: „Die Stilkritik ist völlig außerstande mit jener simplen Frage: Gut oder schlecht = echt oder unecht? einen endgültigen Entscheid zu fällen, solange sie nichts anderes als die technische Qualität als Wertkriterium erstellen kann. Erst der Versuch, den groben Griff rein technischer Befragung durch die Me- thoden psychogrammatischer Formdeutung zu verfeinern, führt durch ein Forschungsneuland zu dem Ziele.“ (Fraenger 1920, VIII). Der junge Heidelberger Kunsthistoriker beabsichtigte nichts Geringeres als die „Durch- dringung der Seelenform des jungen Rembrandt zur Grundlegung für seine frühe Kunst“ (ebd., IX). Des weiteren findet eine der zentralen methodischen Forderungen Diltheys, der Interpret solle durch „eingehen- des Leben“ mit dem zu deutenden schöpferischen Individuum und durch dessen „beständiges Studium“ die in- nere Verwandtschaft vertiefen, in der Vorstellung von kunsthistorischer ‘Kennerschaft‘ ihre Entsprechung. Der Kenner legitimiert sein Urteil durch einen quantitativ hohen Aufwand für das Studium eines Künstlers, respek- tive der diesem Künstler zugeschriebenen Werke. Veranschaulicht wird dieser Aufwand bis heute nicht nur in Maßeinheiten der Zeit, sondern auch in solchen des Raumes. Zum Itinerar als Kompetenzformel vgl. Bode 1883, VII ff.; zu dessen Unzulänglichkeit vgl. Werner Dahls Kritik an Max Lautner: „So leicht, wie Herr Lautner es sich mit dem Besuch der ‘meisten‘ Galerien Deutschlands und dem kunstgeschichtlichen Studium gemacht hat, so leicht wiegt auch seine Kunstkenntnis und sein Urteil.“ (Dahl 1891, 247). 140 brandts als visuelle Metapher für diese Synthese zurück.120 Der Diagnose des selbsternannten „Rembrandtdeutschen“ zufolge leidet die Gegenwart an zuviel Rationalismus, zuviel Ver- nunft, zuviel Spezialismus. Im Einklang mit zahlreichen Autoren seit der Romantik empfindet er die Zeit in der er lebt als zerrissen und sehnt sich nach einer alles vereinenden Synthese. Wie im „Helldunkel“ Rembrandts sollen sich deshalb das Helle (Optimismus, Verstand, Wis- senschaft, etc.) und das Dunkle (Pessimismus, Mystizismus, Kunst, etc.) „vermählen“ und so zu einer Heilung des „deutschen Geisteslebens“ führen (Langbehn 501922 [1890], 80). Wenn wir die nationalistischen Implikationen an dieser Stelle einmal beiseite lassen, dann ist Lang- behn nicht zuletzt ein radikaler Vertreter der Kunsterziehungsbewegung, deren Anliegen unter anderem darin besteht, die Kunst nicht dem alleinigen Zugriff der Wissenschaft untergeordnet sehen zu wollen.121 Vielmehr müsse Kunst mitten im Leben stehen, damit sie ihre lebensspen- dende, bei Langbehn „heilsam verdunkelnde“, Wirkung ausüben könne. Die isolierte Präsen- tation von Kunst in Museen erscheint Langbehn denn auch schädlich, weil die dort ausge- stellten Werke heimatlos würden - „das Schlimmste, was [ihnen] passieren kann“ (Langbehn 501922 [1890], 86). Langbehn fordert eine kontextualisierende Hängung, die dem „Durch- schnittsmenschen“ Anhaltspunkte bietet, statt nur sinnlos wie in einem Wörterbuch aufzu- reihen:

„Museen sind Erziehungsorgane; das ist ihr Verhältnis zum gesamten Volk; bloße Belegsammlung für wissenschaftliche Forschung sollen sie nicht sein.“ (Langbehn 501922 [1890], 86)122

In seinem gesamten Buch tritt Langbehn vehement einer rein wissenschaftlichen Weltsicht entgegen. Unter dem Stichwort „einseitige Gelehrsamkeit“ präsentiert er in vier Punkten seine Kritik der zeitgenössischen Wissenschaft (ebd., 120 ff.). Sein erster Kritikpunkt ist der „Spe- zialismus“, mit der die heutigen Universitäten den Blick für das Ganze verlören. Im Zusam- menhang damit spricht er als zweites von einer „mikroskopischen Weltanschauung“, dem übermäßigen Zergliedern der Dinge in kleinste Details, der er eine „makroskopische“ Sicht entgegensetzen will. So blicke z.B. Rembrandts „verwischte, verblasene“ Darstellungsweise nur „scheinbar über die Dinge hinweg, wirklich aber ihnen ins Herz“ (ebd., 124). Langbehns

120 Die dichotomische Unterscheidung zwischen rational und irrational stellt sicher einen der wesentlichen Codes dar, der in der Moderne als Raster zur Welterklärung wie auch zur Handlungsorientierung der Individuen dienen konnte. Ich würde jedoch nicht so weit gehen wie Eckhardt Neumann, der in verschiedenen Passagen seiner Künstlermythen den Widerspruch gegen den Rationalismus als die dominante Grundfigur der Moderne schlecht- hin erscheinen läßt und hierin auch, auf Basis eines diffusen anthropologischen Bedürfnisses nach Irrationalität, den Schlüssel zur Kunstproduktion von der Romantik bis Beuys ausmacht (Neumann 1986, z.B. 52 ff. und 100 ff.). 121 Vgl. zu den lebensreformerischen Ganzheitskonzepten im Kontext der Kunsterziehungsbewegung Hein 1992, 97 ff. 122 Hier erscheint die konzeptionelle Verwandtschaft zwischen den Thesen Langbehns und Wilhelm Bodes musealer Praxis historistischer Raumensembles als interessanter Ansatzpunkt für eine weiterführende Untersuchung. Vgl. dazu Schuster 1995; Gaehtgens 1992. 141 dritter Kritikpunkt ist der tiefgreifendste. Mit dem Vorwurf der „falschen Objektivität“ attac- kiert er nichts Geringeres als die empirische Prämisse der Wissenschaften und verlangt deren Fundierung auf normativen Werturteilen. Hier durchdringt seine rassistische Weltsicht die Wissenschaftskritik. Die „Objektivität“ der meisten modernen Gelehrten, so Langbehn, „wel- che alle Dinge als gleichwertig behandelt“, sei „genau so unwahr wie jene moderne ‘Humani- tät’, welche alle Menschen für gleichwertig“ erkläre (ebd., 125). Schließlich wirft er der Wis- senschaft im Kern eine „mechanistische Weltauffassung“ (ebd., 129) vor, also eine Vorstel- lung absoluter Rationalisierbarkeit und Zerlegbarkeit aller Aspekte des Lebens, der er, in die- sem Detail im Einklang mit lebensphilosophischen Sichtweisen bis hin zu Simmels Rem- brandtbuch,123 eine „organische“ Sicht entgegenhält:

„Erst wenn der starke Hauch einer reinen und seelentiefen Mystik, vereint mit dem Feuer des Gei- stes, in die dürren Reiser der spezialistischen Beobachtung fährt, kann eine neue, gewaltige Flamme des inneren nationalen Lebens emporlodern!“ (Langbehn 501922 [1890], 130)

In wahrer Kunst ist für Langbehn vor allem diese Mystik präsent, so in der gotischen Kunst des Mittelalters. Rembrandt sei noch einen Schritt weiter gegangen, indem er die Synthese zwischen Wissenschaft und Kunst vollzogen habe. Deswegen erscheint Langbehn ein im ‘heutigen‘ Sinne wissenschaftlicher Umgang mit Kunst geradezu als absurd.

In die Reihe der kulturpessimistischen Positionen, die der Immunität irrationalen Kunstschaf- fens gegen die Zergliederungsmethoden moderner Rationalisten das Wort reden, fügt sich auch Emil Verhaeren ein. Hinsichtlich der hymnischen Tonlage steht das Rembrandtbuch (1905 [deutsch 1912]) des belgischen Autors den Schriften Langbehns in nichts nach. Aller- dings proklamiert Verhaeren kein chauvinistisches, sondern ein radikal subjektivistisches Bild des Künstlers; politisch steht er nicht dem Nationalismus, sondern dem Anarchismus nahe. Seine Position schärft Verhaeren durch eine Abgrenzung von den Methoden moderner Wis- senschaft, die seiner Ansicht nach auf Objektivität zielen:

„Die moderne, geduldige, schnüffelnde, zerkrümelnde, kleinliche Kritik, die nur mit den feinsten Instrumenten arbeitet, war glücklich, ein so gewaltiges Stück Ruhm in ihre Klauen zu bekommen. Sie hat ihre Zähne darin eingegraben, ihn [Rembrandt, M.H.] gierig ringsum von außen benagt, nie aber ist sie dazu gelangt, von innen aus diese gewaltige, dunkle Riesenmasse zu durchdringen. Was wir versuchen wollen, ist, eine Studie zu geben, die nicht von außen, sondern von innen zu erfassen strebt.“ (Verhaeren 1912, 6)

123 Vgl. Kölbl 1998, 47 ff. 142 Die moderne Kritik mutiert hier zur Bestie, der es trotz feinsten Instrumenten, Klauen und Zähnen nicht gelingen kann, die „gewaltige, dunkle Riesenmasse“ des genialen Individuums zu durchdringen, da sie sich ihr von außen nähert. Statt auf solche die Materie zergliedernde Methoden, setzt Verhaeren auf geistige Durchdringung. Er will Rembrandts Genie von innen erfassen. In gerade diesem Punkt, dem Vertrauen auf ein intuitives Moment zur Annäherung an den Künstler (beziehungsweise zum ’Verstehen’ von Künstler und Werk) kann jedoch keineswegs eine Grenzlinie zu einer sich wissenschaftlich legitimierenden Kunstgeschichtsschreibung gezogen werden. Die hermeneutische Methodik setzt nicht weniger auf Intuition und grenzt sich ebenfalls gegen als ‘rationalistisch‘ aufgefaßte Ansätze ab.124 So zielt auch Carl Neumann statt einer kleinteiligen historischen Kritik auf die Künstlerpersönlichkeit als etwas Ganzes, Großes, das „über den Werken“ ‘emporwächst’ (Neumann 1902, VI). Allerdings führt er nicht genau aus, wie er sich dieses Genie vorstellt. Sicher ist für ihn allein, daß es existiert und daß es mit dem Instrumentarium rationalistischer Kritik nicht erklärt, ja nicht einmal erfaßt werden kann. Ohne eine Auflösung für dieses Problem anzubieten, konstatiert Neumann 1918:

„Man mag zweifeln, ob z.B. unser im tiefsten Kern mit dem Vorurteil des naturwissenschaftlich Gesetzlichen und Entwicklungsmäßigen belastetes Zeitalter das Wesen des Genius versteht. Das Genie ist Überraschung und Rätsel. Das Erscheinen großer Staatsmänner und großer Künstler ist keine Art Notwendigkeit. Mit dem Wünschen und der Kausalrechnung allein bringt man es nicht über die Homunkulität.“ (Neumann 1918, 24)

Die Vorstellung von einer irrationalen Herkunft und dem damit verbundenen „Rätsel“ des genialen Künstlerindividuums führte auch einen weiteren Professor für Kunstgeschichte zu der rhetorischen Wendung, rationalistischen Methoden die Zugangsmöglichkeit zum wesent- lichen des ‘Phänomens Rembrandt‘ abzusprechen. Richard Muther, seit 1895 Professor in Breslau, wählt als Einstiegsmotiv in seinen Rembrandt-Aufsatz (1906) ein Gemälde, das sich thematisch bestens zur Problematisierung der ‘Rätselhaftigkeit‘ des Künstlers eignet:

„Ein Bild von Rembrandt in der Dresdner Galerie stellt Simson dar, wie er den Philistern Rätsel aufgibt, und Rembrandts ganzes Schaffen, den Philistern seiner Zeit ein Rätsel, ist rätselhaft bis zum heutigen Tag geblieben. (...) Alle Hilfsmittel der Wissenschaft sind in Bewegung gesetzt, er läßt sich nicht packen, nicht deuten. Wie kein andrer Mensch den Vornamen Rembrandt trug, ist er

124 Wilhelm Dilthey unterscheidet in diesem Punkt ausdrücklich zwischen Geisteswissenschaften und Naturwis - senschaften: „(Satz 5) Verstehen (...) ist das grundlegende Verfahren für alle weiteren Operationen der Geistes- wissenschaften (...). Wie in den Naturwissenschaften alle gesetzliche Erkenntnis nur möglich ist durch das Meß- bare und Zählbare in den Erfahrungen und in diesen enthaltenen Regeln, so ist in den Geisteswissenschaften jeder abstrakte Satz schließlich nur zu rechtfertigen durch seine Beziehung auf die seelische Lebendigkeit, wie sie im Erleben und Verstehen gegeben ist.“ (zit. nach Pöggeler 1972, 75/76) 143 auch als Künstler etwas Einziges, spottet jeder geschichtlichen Analyse, bleibt, der er war, eine rät- selhafte, unfaßbare Hamletnatur - Rembrandt.“ (Muther 1906, 11)

Die Mittel einer rationalistischen Wissenschaft sind dieser Darstellung zufolge unzulänglich, sie mühen sich vergeblich darum, Rembrandts rätselhafte Geschlossenheit aufzubrechen. Ihre Zielrichtung wird dabei abwertend charakterisiert: Sie wollen den Künstler „packen“, ihn „deuten“, doch reichen sie nicht an ihn heran. Mit Gelehrsamkeit allein können die Philister der Gegenwart, die Vertreter der Wissenschaft, nicht zu dieser rätselhaften „Hamletnatur“125 durchdringen. Nicht durch eine wortreiche Analyse, so veranschaulicht Muther im letzten Satz dieses Zitates, nur durch ein einziges Wort kann das Mysterium dieses Künstlers zum Ausdruck gebracht werden. Und dieses Zauberwort, das Lösungswort von Rembrandts Rätsel, spottet tatsächlich jeder geschichtlichen Analyse, verschafft es doch einer Erzfeindin aller logischen Untersuchungs- und Schlußverfahren, der Tautologie, den ersehnten Zugang zum Heiligtum. Es ist nicht mehr und nicht weniger über ihn sagbar als sein Name: Rembrandt.126

Der Autor des letzten Zitats, Richard Muther, ist in diesem Zusammenhang besonders inter- essant, da um seine Person 1896 ein gleichsam ‘symptomatischer‘ Streit entbrannte, in dem es Eingangs um einen Plagiatsvorwurf, insgesamt jedoch um die Differenzierung zwischen kunstgeschichtlichem Fachdiskurs und populärer Kunstliteratur ging. Die Fachkollegen grenzten Muther faktisch aus ihrer wissenschaftlichen Gemeinschaft aus, sie kritisierten seine Berufung zum Professor für Kunstgeschichte, und zwar im wesentlichen aufgrund seiner er- folgreichen, eingängig formulierten und in Details empirisch vereinfachenden Bücher.127 Der „Fall Muther“ kann somit als ein Exempel für praktizierte Diskurshygiene betrachtet werden: Ein institutionalisierter Zirkel reserviert für sich den Kompetenzanspruch und fordert von al- len Rednern, die mit diesem Anspruch auftreten wollen, nicht nur eine bestimmte Position innerhalb ihres Zirkels, sondern die Einhaltung von Diskursregeln.128 Daß für derartige ‘Grenzbeziehungen‘ zur Konsensfindung über die Zuständigkeit wissen- schaftlich fundierter Kunstgeschichte und über ihre methodischen Legitimierungsformen um

125 Der Vergleich mit Figuren Shakespeares wie mit Shakespeare selbst hätte als Topos einen eigenen Untersu- chungsabschnitt verdient. Hier sei lediglich darauf verwiesen, daß auch Langbehn sich der dramatischen und zugleich elitaristischen Metaphorik bedient und Rembrandt mit Hamlet vergleicht (Langbehn, 501922, 72). 126 Die Sakralisierung des Namens ist eine weitere rhetorische Strategie zur pathetischen Aufladung der Texte. Hier einige Beispiele ähnlicher Verwendungen des Namens als ‘einzig Sagbares‘ und als tautologischer Schlüs- sel zum Geheimnis: „Er war eben Rembrandt. (...) Ein durchaus Eigener.“ (Pfleger 1906, 464), „(...) dieser Son- nenstrahl ist der Geist höchster Individualität. Er hat Rembrandt zu Rembrandt gemacht.“ (Bode 1890, 304 f.), „Rembrandt versucht sich als Cyniker, wie er sich als gentilhomme versucht; er ist aber weder Cyniker noch Bohème, wie er auch nicht gentilhomme ist. Er ist Rembrandt. Er ist eine Welt für sich (...).“ (Hausenstein 1926, 21). 127 Vgl. Schleinitz 1993. 128 Zu einer theoretischen Reflexion über die Prozeduren der Ausschließung, die die Produktion des Diskurses kontrollieren, vgl. Foucault 1991, 11 ff. 144 1900 durchaus noch grundsätzlicher Bedarf bestand, läßt sich durch weitere Beispiele des Zweifels bezeugen, der von Außenstehenden gegen den Fachzirkel vorgebracht wurde. Theodor Heuss diskutiert in seinem kurzen Rembrandtaufsatz 1906 kritisch die Reichweite einiger Versuche der Annäherung an Rembrandt. Dabei distanziert sich der Autor zunächst mit ironischem Unterton von Langbehns Stilisierung des Künstlers zum ‘nationalen Erzieher‘, um sich dann, jetzt im affirmativen Anschluß an Langbehn, gegen rationalistische For- schungsmethoden zu wenden:

„An Rembrandts Wesen sollte Deutschland genesen. Der holländische Maler wuchs zum nationa- len Propheten (...). Dies Unmögliche allein zeigt die Unklarheit des Buches und des Mannes, dem immerhin das Ver- dienst bleibt, die kulturpolitische Diskussion in Fluß gebracht zu haben. Aber darin äußerte sich In- stinkt, daß Rembrandt aus der Geschichte der bildenden Kunst herausgehoben und vor einen größe- ren Hintergrund gestellt wurde. Man begriff, daß es sich hier um ein seelisches Phänomen handelt, das weit über die Fragen nach Kolorit, Komposition und Pinselführung hinausgreift.“ (Heuss 1964 [1906], o.S.)

Es sind demnach nicht die Fragen einer technischen und ästhetischen Kunstanalyse, Fragen „nach Kolorit, Komposition und Pinselführung“, auf die sich eine Betrachtung Rembrandts beschränken soll, er ist vielmehr „aus der Geschichte der bildenden Kunst“ herauszuheben um „vor eine[m] größeren Hintergrund“ seinen tatsächlichen Wert zu offenbaren, den eines „see- lische[n] Phänomen[s]“. Die Erlangung von Erkenntnissen auf dieser erweiterten Ebene bin- det Heuss wie die Theoretiker der Hermeneutik an eine quasi-organische Befähigung und an ein intensives Studium:

„Wer sich schon in den Bannkreis dieses Mannes begeben hat, weiß: hier liegen Verborgenheiten und Probleme, die nicht im Vorübergehen entdeckt und ergründet werden können. Man muß in sie hineinwachsen.“ (Heuss 1964 [1906], o.S.)

Von der Angemessenheit einer intuitiven Methode, die in Rembrandt „hineinwachsen“ will und sich dabei entschlossen vom Fachdiskurs (hier: von den ‘offiziellen Kunsthistorikern‘) abgrenzt, lesen wir ein weiteres Mal im programmatischen Nachwort der umfangreichen Rembrandt-Monographie Wilhelm Hausensteins (1926):

„(...) ich habe der ‘Kritik‘ nichts hinzugefügt; ich habe empfunden und habe versucht, Empfindun- gen aufzurühren; hier ist nichts als ein Buch der Gefühle; ich werde mich damit abfinden, wenn die im buchstäblichen Sinne erdrückende Mehrheit der offiziellen Kunsthistoriker, die für eine von ihr betriebene Hilfsdisziplin den tönenden und in sich unsinnigen Namen der ‘Kunstwissenschaft‘ in Anspruch nimmt, an diesem Buch ironisch vorübergeht; ich zöge es bei weitem vor, mich in ge-

145 lehrten Einzelheiten geirrt zu haben (...), als von Berufenen etwa das Urteil hören zu müssen, dies Buch sei ohne Wärme des Herzens, ohne Ernst der Gedanken, ohne jegliche Kunst verfaßt.“ (Hau- senstein 1926, 550)

Für Hausenstein erscheint ein künstlerisches Verfahren als der einzige Weg, um sich Kunst zu nähern. ‘Wissenschaft‘ steht für ihn, ganz in der Tradition der Polarisierung rationalistischer und intuitiver Erkenntnistypen, der Kunst prinzipiell unverständlich gegenüber. Seine betont subjektive Beobachtungsposition sowie sein Anspruch, ein Buch über einen Künstler dürfe selbst nicht „ohne jegliche Kunst“ verfaßt sein, könnten sich durchaus auf Dilthey berufen, der „die Auslegung“ „ein Werk der persönlichen Kunst“ genannt hatte (Dilthey, zit. nach Pöggeler 1972, 76).

Eine umfassende Abgrenzung zu verschiedenen literarisch-wissenschaftlichen Perspektiven auf Rembrandt vollzog auch Kurt Pfister, der 1919 seinen Annäherungsversuch an den Künstler veröffentlichte. Auf Basis einer Unterscheidung zwischen dem Künstler als Alltags- menschen und dem Künstler als Schöpfer129 geht es ihm wesentlich darum, die Legitimität einiger kunsthistorischer Arbeitsmethoden für den zweiten dieser Forschungsgegenstände zu verwerfen:

„Es soll hier die Gebärde eines Schaffenden gedeutet werden. Nicht die Legende seines täglichen Lebens. Man kann gewiß (Hofstede de Groot hat in einer sehr sorgfältigen Sammlung den Versuch unternommen) Urkunden und Dokumente zusammenstellen und so ein Gerüst des äußeren Lebens errichten. Aber alles, was über die Feststellung solcher Tatsächlichkeiten hinausgeht, - Länder und Städte, deren Dunst und Rhythmus einer in sich einsog, Frauen, die er liebte, Freunde, die um ihn standen oder auch nur der Duft und sanftes Dunkel eines Sommerabends, in den er schritt - alles dies entzieht sich begrifflicher Festlegung und erschließt sich nur, in seltener Stunde der Gnade, dem ahnungsvollen Gefühl des Liebenden.“ (Pfister 1919, 7)

Kurt Pfisters Literaturdiskussion ist zwar nicht dazu geeignet, ihrem Autor einen Platz inner- halb der akademischen Disziplin zu erwerben, vielleicht zeigt sie dennoch das Problem der frühen akademischen, biographisch-hermeneutisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung in aufrichtigerer und direkterer Weise an, als diese es selbst zu artikulieren vermochte. Ist es ungerechtfertigt, die hermeneutische Methodik jener historischen Phase, die von Diltheys Konzeption des „Verstehens“ geprägt wurde, durch den Hinweis auf ihre Nähe zu explizit anti-wissenschaftlichen Ansätzen zu kritisieren? Oder muß nicht tatsächlich einge- standen werden, daß beiden Zugangsweisen die Sehnsucht nach der Einswerdung mit dem

129 Wenn auch der Autor Pfister einem solchen Vergleich nicht standhält, muß doch vorausgeschickt werden, daß diese wesentliche Unterscheidung u.a. bei Benedetto Croce vorgeprägt ist (vgl. Kris/Kurz 1934, 16 f.). 146 imaginären Genius gemeinsam ist, und daß sich die Unterschiede lediglich auf der Ebene der mehr oder weniger elaborierten Begründung bewegen, in welche diese narzißtischen Selbst- projektionen erhabener Größenphantasien eingekleidet werden? Pfister jedenfalls vermag in den rationalistischen Methoden kunsthistorischer Arbeit keine Befriedigung für sein expressionistisches Begehren nach einem Nachvollzug der „Gebärde eines Schaffenden“ zu finden. Wie auch manchem akademischen Kunsthistoriker liefern ihm diese Verfahren keine hinreichende Möglichkeit zur Artikulation dessen, was ihn die Begeg- nung mit Kunst zu sagen drängt:

„Nichts von Katalog und Inventar. Der kunstphilologischen und kunstwissenschaftlichen Arbeit von Bode, Neumann, Hofstede de Groot (...) und anderen danken wir die (im großen und ganzen endgültige) Festlegung des Rembrandtschen Werkes. Aber wir sind doch alle darin einer Meinung, daß dadurch nur die allerdings unerläßliche Grundlage geschaffen wurde, auf der die eigentliche Arbeit, das Jacobsringen um das Werk, erst zu geschehen hat. (...) Hier soll die Gebärde eines Schaffenden gedeutet werden. Gebärde ist sinnlicher Ausdruck innerer Gesichte. In die Sprache der Kunstbetrachtung übersetzt: Seelischer Antrieb wird körperlich vermittels Farbe und Umriß.“ (Pfister 1919, 7 f.)

2.1.5 Beispiele zur Topik hermeneutischer Kunstgeschichtsschreibung

Nachdem ich im letzten Abschnitt die Bedeutung hermeneutischer Prämissen für die Rem- brandtliteratur um 1900 dargestellt habe, sollen nun drei Topoi skizziert werden, durch wel- che diese theoretische Perspektive innerhalb des Diskurses konkretisiert wird. Für die herme- neutische Konzeption, der diese einzelnen Beispiele untergeordnet werden können, möchte ich zuvor den Begriff des ‘Expressionsprinzips‘ einführen. Damit sei die Vorstellung von Kunst als unmittelbar sinnlichem, wenn auch ästhetisch verschlüsseltem Ausdruck einer zu- vor unsichtbaren Wahrheit verstanden, bei welcher es sich um die subjektive Wahrheit des Künstlers und/oder um eine als umfassend verstandene Wahrheit der Dinge (bzw. der Welt) handelt. Dieses Prinzip impliziert die Vorstellungen von der Singularität des Künstlersubjekts, von der radikalen Autonomie jedes wahrhaften Kunstschaffens und von einer irrationalen Motivation des Künstlers zu seiner Tätigkeit. Innerhalb dieses mit dem Begriff des ‘Expres- sionsprinzips‘ bezeichneten diskursiven Segments werde ich mich im einzelnen mit (1) den unterschiedlichen Varianten der Metaphorik von Oberfläche und Tiefe, (2) der Verwendung von psychologistischem Vokabular und (3) der Vorstellung von einer folgerichtigen Ent- wicklung des Gesamtwerks beschäftigen.

147 2.1.5.1 Die metaphorische Paraphrasierung der Dichotomie ‘Oberfläche/Tiefe‘

Mit seiner Konzeption des künstlerischen Schaffens als Ausdruck (Visualisierung, Entäuße- rung) einer verborgenen Wahrheit basiert das Expressionsprinzip auf einer dichotomischen Vorstellung, in der Phänomene der Oberfläche und Phänomene der Tiefe einander gegenüber- stehen.130 In der Rembrandtliteratur spielt diese Dichotomie eine wichtige Rolle bei den Versuchen, die Bedeutungspotentiale der Kunst und den Prozeß des Kunstschaffens zu beschreiben. In unterschiedlichen Metaphoriken variieren die Autoren diese Unterscheidung zwischen Oberfläche und Tiefe und tragen so zur Stabilisierung der Vorstellung vom Expressionsprinzip als einer Art ‘Naturgesetz‘ des Kunstschaffens bei. So sieht zum Beispiel Jan Veth (1906) im Durchschauen und Überwinden der Oberfläche des Alltäglichen die Leistung des Künstlers:

„So offenbarte sich ihm das Leben von allen Seiten. An allem, dem er seine Andacht widmete, ent- deckte er neue Züge. Aus dem physisch Alltäglichen löste er das psychisch Schöne. Es ist, als ob er überall einen tieferen Grund, einen wahrhafteren Organismus bloßlegt.“ (Veth 1906 a, 38)

In ähnlicher Weise stellt Hans Grimm (1906) die Kunst Rembrandts als Transzendierung der Tiefe an die Oberfläche, als Überwindung einer Dichotomie von Schein und Sein dar:

„Nicht die Körper und Figuren, die äußere Scheinwelt, die das Thema der italienischen Kunst sind, sucht er wiederzugeben, sondern, was er von dem Nichtsinnlichen, dem wirklich Wirklichen ahnt, welches nicht in tausend und abertausend Egoismen sich erschöpft, sondern ein Allverbindendes, Alleiniges und Allumfassendes ist. So zerbricht Rembrandts Kunst die verhüllende körperliche Form und sucht die Seele, und so hat sie in der Darstellung des Seelischen und Empfundenen ihr Tiefstes und Mächtigstes gegeben (...).“ (Grimm 1906, 217)

Die „äußere Scheinwelt“, die Rembrandts Kunst hier „zerbricht“, wird durch Grimm in ab- wertender Absicht der „italienischen Kunst“ als Gegenstand zugeordnet. Diesem sinnlichen Schein stellt der Autor ein „wirklich Wirkliche[s]“ gegenüber, dem er eine synthetisierende, ‘allverbindende‘ Kraft zumißt. Rembrandt vermag es, dieses ‘Nichtsinnliche‘ vor Augen zu führen, indem er es in den Erscheinungen sichtbar macht:

„Er erkennt, daß das innere Wesen alles ist, und daß Hülle und äußere Erscheinung nur Bedeutung haben, soweit sie das Wesen abdrücken, verkörpern und verdeutlichen.“ (Grimm 1906, 219)

130 Es sei hier nur angedeutet, daß dieses dichotomische Muster als Aktualisierung traditionsreicher Konzepte der abendländischen Philosophietradition verstanden werden kann, etwa der Unterscheidung von Schein und Sein, wie sie exemplarisch in Platons Höhlengleichnis formuliert ist. Auch die christliche Weltsicht basiert auf einer verwandten dichotomischen Aufteilung in diesseitiges und jenseitiges Leben. Mit Bezug auf meine Überlegun- gen zur Unterscheidung des Werks nach dem Code Auftrag vs. Autonomie möchte ich jedoch besonders darauf hinweisen, daß sich auch die Dichotomie von Oberfläche und Tiefe als Ableitung der Unterscheidung zwischen einem ‘äußerlichen Gesellschaftslebens‘ und einem ‚innerlichen Privatleben‘ beschreiben läßt. 148 Der Banalität der Welt der „äußere[n] Erscheinung[en]“ tritt in Rembrandts Kunst ein Ab- druck des „innere[n] Wesen[s]“ entgegen, welches „alles ist“ und der „Hülle“ erst Bedeutung verleihen kann. Der Künstler kann die Unvereinbarkeit zwischen außen und innen überwin- den. In seiner Kunst finden die beiden Pole zu einer Synthese zusammen.131

Wilhelm Valentiners (1906) Anwendung der Tiefen-Begrifflichkeit ist etwas anders aufge- baut. Hier enthüllt Rembrandt nicht die Wirklichkeit hinter dem Sichtbaren, sondern er ver- tieft den Ausdruck der Bildkunst. Vertiefung, das bedeutet hier eine Verstärkung des „geisti- gen Gehalt[s]“ der Kunst, und zwar, ausgehend von religiösen Bildthemen, in den unter- schiedlichsten Bildgattungen:

„Was Rembrandt bringen sollte, hieß Vertiefung alles vorher geleisteten. Um diese Aufgabe zu er- füllen, gewann er sich dieses neue Gebiet, die religiöse Kunst, für die seelischer Inhalt Lebensbe- dingung ist, während er zugleich die alten Darstellungsformen innerlich ausbaute: er gab dem Bild- nis einen tieferen geistigen Gehalt und wies wie im Vorübergehen darauf hin, daß auch das Genre noch durch Individualisierung der Gestalten neu zu beseelen sei; er führte die schlicht holländische Landschaftsmalerei weiter und wies mit einigen Stimmungslandschaften weit über die eigene Zeit hinaus.“ (Valentiner 1906, 50)

Porträt, Genre und Landschaft - Rembrandt vertieft den „geistigen Gehalt“ dieser Gattungen. Die Herleitung dieser Fähigkeit aus der Beschäftigung mit religiösen Themen zeigt an, daß für Valentiner die „Vertiefung“ eine spirituelle Kategorie darstellt. Er spricht vom ‘innerli- chen Ausbau‘ der alten Darstellungsformen, benennt jedoch nicht die äußerlichen Merkmale der Bildgestaltung, durch welche der Künstler diesen Ausbau zu erreichen vermag. Es deutet sich hier lediglich an, daß sich die Vorstellungen von der seelischen Vertiefung des Künstlers und der Tiefe des geistigen Gehaltes seiner Bilder gegenseitig stützen. Damit wird, ganz im Sinne des ‘Expressionsprinzips‘, das Werk ein Zeichen, das einer an sich unzugänglichen, verborgenen Kraft zur Sprache verhilft: Es ist Ausdruck der inneren Befindlichkeit des Künstlers, es macht dessen wesenshaft-seelische Bedeutsamkeit auf der Oberfläche der Lein- wand sichtbar. Der tiefe Gehalt des Werkes wie des Künstlers, äußert sich dabei offenbar ausschließlich in den Bildwerken selbst und kann nicht in die Sprache der Kunstliteraten transformiert werden. Verbalisierbar ist allein der Verweis auf das Vorhandensein dieser ‘Tiefe‘, sowie die Auffor- derung an die Betrachtenden, sich selbst das Instrumentarium für deren Nachvollzug zu erar-

131 Ähnlich noch einmal bei Seiffert-Wattenberg (1936): „Rembrandt wollte das fließende Leben. Das Unsichtbare dem Auge sichtbar zu machen, den Fluß auf die Leinwand zu bannen, darauf kam es ihm an. Gelang es ihm, so war die Schale durchstoßen; der Weg zu einer gültigeren, weil gegenwärtigen Wirklichkeit lag frei.“ (Seiffert-Wattenberg 1936, zit. nach Fischoeder 1937, 159). 149 beiten. Der Akt des Verstehens bedarf, wie oben ausgeführt, der gleichen subjektiven Tiefe wie der des künstlerischen Schaffens. Doch worin besteht die Tiefe, worin offenbart sie sich? Ist es die Präsenz religiöser Themen, die zur Rede über geistige Tiefen ermutigt? Wie verhält sich dazu der Naturalismus, die Orientierung am bloß Sichtbaren, die zugleich häufig hervor- gehoben wird. Theodor Heuss hat sich 1906 zum Verhältnis dieser beiden Aspekte, Natura- lismus und geistiger Aussage, geäußert:

„Er ist der unbeirrte Maler der Wirklichkeit und sein Naturalismus, der seelische wie der gelegent- liche stoffliche, nicht Tendenz, sondern Selbstverständlichkeit. Und dann dies: wohl ist er durch die Oberflächen in Tiefen gedrungen, aber nie hat er dabei das Erscheinungsbild zu spiritualistischen Experimenten vergewaltigt. Auch seine Mystik lebt von Anschauung und zarter Sinnlichkeit. Er hat die Wirklichkeit nicht verschönert, sondern sie durchdrungen und erschöpft. Wer sich schon in den Bannkreis dieses Mannes begeben hat, weiß: hier liegen Verborgenheiten und Probleme, die nicht im Vorübergehen entdeckt und ergründet werden können. Man muß in sie hineinwachsen.“ (Heuss 1964 [1906], o.S.)

Heuss betont die Gleichzeitigkeit von Anschauung und Durchdringung der Wirklichkeit in Rembrandts Kunst. Die „Verborgenheiten und Probleme“ hat Rembrandt in ein naturalisti- sches Erscheinungsbild hineingelegt.132 Weder Phantastik noch Idealisierung teilen dem Be- trachter hier etwas von den Tiefen mit; es ist offenbar die Oberfläche der Dinge selbst, in de- ren Darstellung der Künstler die geheimnisvollen Inhalte abzulegen wußte, die sich erst durch eine geistige Durchdringung dieser Oberfläche erkennen lassen. Was hält die Kunst Rem- brandts bereit, das den Autoren ein derartig widersprüchliches Konzept als plausibel erschei- nen läßt? Ein Beispiel Theodor Hetzers soll zu einem Versuch der Erklärung dieses Phänomens über- leiten. Hetzer (1941) beschreibt die Wirkung, die der Anblick des Opfers Manoahs133 auf einen idealer Betrachter ausübt:

„Tritt man in Dresden vor das Bild, so ist man sofort in seinem Banne; man hat Mühe, die anderen in demselben Saal vereinigten Gemälde Rembrandts und seiner Schule zu betrachten. Es beherrscht auf das herrlichste die Wand, es leuchtet aus unerschöpflichen Tiefen in den Raum. Es ist still und entrückt, schlicht und einfach, aber wunderbar mächtig. Hier zum ersten Mal meint man etwas ganz Echtes, ganz Wesentliches von Rembrandt zu vernehmen, jenen ergreifenden Klang tiefer

132 In vergleichbarer Weise stellt Alfred Stange 1954 eine Ambivalenz von Realismus und geistigem Gehalt in Rembrandts Kunst fest: „Immer begegnet er uns in seinen Bildern als Holländer, und ein jedes lehrt, daß er mit den realistisch geschulten Augen gearbeitet hat (...). Zugleich aber gab er allem, was er formte und darstellte, eine bislang ungeahnte Transparenz. Seine Bilder öffnen Hintergründe, die vor ihm verschlossen, die nicht ein- mal geahnt waren. So wurde seine Kunst zur Vergeistigung der bodenständigen holländischen Malerei, holländi- schen Denkens und Lebens schlechthin.“ (Stange 1954, 6). 133 Zum Problem der Zuschreibung des Bildes vgl. Werner Sumowskis Kommentare in Hamann 1969, 450 ff. 150 Frömmigkeit und reiner Menschlichkeit, jene Versenkung, der das Treiben der Welt nichts anhaben kann, wie wir ihr fortan immer wieder bis zum Verlorenen Sohn der Leningrader Eremitage begeg- nen.“ (Hetzer 1984 [1941], 325)

Hetzer läßt den Leser in der Rolle eines imaginären Betrachters („man“) die Begegnung mit dem Bild erleben. Er schildert die Wirkung des Opfers Manoahs als eine allgemeingültige, die nicht vom wahrnehmenden Subjekt ausgeht und entsprechenden Variationen unterliegen mag, sondern tatsächlich als durch das Bild festgeschriebene Wirkung erscheint.134 Die Tiefen des Bildes sind in Hetzers Beschreibung sinnlich erfahrbarer Natur, es sind die „unerschöpfli- chen Tiefen“ des Bildraumes, aus denen ein ‘Leuchten‘ in den Raum des Betrachters dringt. Ausgehend von dieser letzten Beobachtung möchte ich die These aufstellen, daß ein Anlaß für die Neigung zur Thematisierung der Dichotomie von Oberfläche und Tiefe in der Rem- brandtliteratur in einem ästhetischen Charakteristikum der Rembrandtschule, nämlich in dem ausgeprägten Helldunkel, auszumachen ist. Diese gestalterische Formel eignet sich zum An- schluß von Kommunikationen über Begriffspaare wie ‘Sichtbar/Unsichtbar‘, ‘Phy- sisch/Metaphysisch‘, ‘Körperlich/Geistig‘ und besonders ‘Oberfläche/Tiefe‘. Eine Erklärung dafür kann aus dem Eindruck diffuser Tiefenräumlichkeit hergeleitet werden, den das Hell- dunkel, wie verschiedenste Bildbeschreibungen bezeugen, beim Betrachter hervorzurufen vermag. Der Begriff der ‘Tiefe‘ wird in dieser ersten Bedeutung, die auf den visuellen Wahr- nehmungsakt bezogen ist und deren Voraussetzung das Helldunkel bildet, für die weitere Kommunikation bereitgestellt. Seine zweite Bedeutung, eine abstrakte, die sich auf den gei- stigen Gehalt einer Darstellung bezieht, kann hieran anschließen.

In dieser Weise hatte bereits Eugène Fromentin (1876) von der Fähigkeit des Helldunkels gesprochen, ein gutes Bild zu intensivieren, zu „vertiefen“. Hier sah der Autor der Maîtres d’autrefois eine elementare Leistung des Ausdrucks der „Wahrheit“ durch die Kunst:

„(...) es gibt eine Art und Weise, das Bild zu vertiefen, die Wahrheit in der imaginären Erschei- nung zugleich ferner und näher zu rücken, sie zu verbergen, klar vor Augen zu führen und sie ganz darin aufgehen zu lassen, welche die Kunst, und namentlich die Kunst des Helldunkel ist.“

134 Einen besonderen Reiz entwickelt diese Passage im Hinblick auf die Normierung des Kunstgenusses, die hier praktiziert wird und dabei ihre Verwandtschaft mit dem sakralen Andachtsmoment offenlegt. Als Pointe ist dar- auf hinzuweisen, daß hier Andacht vor einem Bild eingeübt wird, das selbst eine Andachtsszenerie vorführt: Ein Paar kniet vor einem Opferfeuer, über dem sich ein Engel erhebt. Die Präsenz einer übersinnlichen Macht, die von Hetzer in der Beschreibung des Rezeptionserlebnisses heraufbeschworen wird, ist zugleich ein Thema des zum Beispiel genommenen Bildes. Mit Ausnahme des nicht offiziell geweihten Museumsraumes, in dem die ‘Andacht‘ vollzogen wird, sind also wichtige Momente der kultischen Verehrung des Bildes erfüllt. 151 (Fromentin 1972 [1876], Übers. unter Verwendung von Bodenhausen, 280 und Schellenberg, 290)135

Dreißig Jahre später variiert Wilhelm Bode diese Auffassung:

„Daß man Rembrandt von jeher wegen seines Helldunkels am meisten bewundert hat, ist durchaus berechtigt; war es ihm auch nur ein Mittel zum Zweck, so war es doch eben das Mittel, durch wel- ches er seine Wunder gewirkt hat. Nur durch sein Helldunkel war er imstande, alle die verborgenen Schätze zu enthüllen, die sein Seherauge in der Natur entdeckte.“ (Bode 1906, 15)136

Für Bode endet Rembrandts Interesse nicht in der künstlerischen Realisierung des Helldun- kels, dieses ist ihm vielmehr nur „Mittel“ zu dem Zweck, die „verborgenen Schätze“ in der Natur zu enthüllen. So gelangen wir vom Ausgangspunkt einer Vertiefung der Kunst durch das Helldunkel zur Dichotomie von ‘sichtbarer Natur‘ und ‘verborgenen Schätzen‘, von ‘Wahrheit‘ und ‘imaginärer Erscheinung‘. Fromentin hatte die visionären Potentiale des Rembrandtschen Helldunkels besonders in sei- ner ausführlichen Diskussion der Nachtwache zur Sprache gebracht. Er sieht hier die Aus- weitung einer naturalistischen Porträtaufgabe ins Visionäre mittels des Helldunkels. Am Bei- spiel der Mädchenfigur in der linken Bildhälfte beschreibt Fromentin die Leistung Rem- brandts:

„Und doch ist das Kleine Mädchen mit dem Hahne da, (...) um zu bezeugen, dass dieser grosse Porträtist vor allem ein Visionär, dass dieser ganz ungewöhnliche Kolorist besonders ein Maler des Lichtes (...) ist, und dass es ausserhalb der Natur, oder vielmehr in den Tiefen der Natur, Dinge gibt, welche dieser Perlenfischer allein entdeckt hat.“ (Fromentin 1972 [1876], zit. nach Schellen- berg, 318 f.)137

Mit dem Bild des „Perlenfischer[s]“ formuliert Fromentin nochmals besonders anschaulich die Rembrandt zugeschriebene Fähigkeit, nicht „ausserhalb der Natur“, aber in deren „Tiefen“ verborgene Wahrheiten sichtbar zu machen. Seine Version des ‘Expressionsprinzips‘ hatte Fromentin bereits in der Einführung zu seinem Buch formuliert:

135 „En résumé, il y a une manière de creuser la toile, d’éloigner, de rapprocher, de dissimuler, de mettre en évi- dence et de noyer la vérité dans l’imaginaire, qui est l’art, et nominativent l’art du clair-obscur.“ (Fromentin 1972 [1876], 226). 136 Wenige Sätze später bezieht sich Bode ausdrücklich auf Fromentin. 137 „Et cependant la Petite Fille au coq, bien ou mal à propos, est là pour attester que ce grand portraitiste est avant tout un visionnaire, que ce très exceptionnel coloriste est d’abord un peintre de lumière, que son at- mosphère étrange est l’air qui convient à ses conceptions, et qu’il y a en dehors de la nature, ou plutôt dans les profondeurs de la nature, des choses que ce pêcheur de perles a seul découvertes.“ (Fromentin 1972 [1876], 248). 152 „Malerei ist die Kunst, das Unsichtbare durch das Sichtbare auszudrücken (...).“ (Fromentin 1972 [1876], zit. nach Schellenberg, 5)138

Ein Schritt, den Fromentin noch nicht vollzieht ist, um 1900 häufig in der Rembrandtliteratur zu finden: Die ‘Tiefe‘ der Werke wird mit der ‘Seelentiefe‘ des Künstlers gleichgesetzt. Im Werk bildet sich so nicht nur die Weitsicht seines Schöpfers ab, es belegt darüber hinaus des- sen inneren Reichtum, dessen geistige Größe. Nachdem in diesem Abschnitt die Präsenz des Expressionsprinzips in den metaphorischen Paraphrasen der Dichotomie Oberfläche/Tiefe veranschaulicht wurde, folgt nun ein Abschnitt zur Topik des psychologistischen Vokabulars. Darin ist zu präzisieren, wie sich die Autoren jener Zeit den Prozeß der autonomen Kunstschöpfung als eine ‘Äußerung‘ des Künstlers vor- gestellt haben.

2.1.5.2 Psychologistisches Vokabular

Im ‘Rembrandtjahr‘ 1906 publizierte der niederländische Künstler Joseph Israëls in deutscher Sprache einen Text über seinen verehrten Landsmann (Boomgaard 1995, 137). 139 Als Maler zählte Israëls neben George Hendrik Breitner und Anton Mauve zu den wichtigsten Vertretern der Den Haager-Schule, die stilistisch dem Impressionismus nahestand. Sein Text, 1910 nochmals in gekürzter Fassung nachgedruckt,140 ist als ein persönlicher Erfahrungsbericht über die Begegnung mit der Kunst Rembrandts abgefaßt. Israëls sieht in Rembrandt ein Vor- bild modernen Künstlertums. Diese Einschätzung entwickelt er nicht zuletzt auf Basis der Unterscheidung zwischen Auftragskunst und autonomem Kunstschaffen, die ich oben bereits eingeführt habe. In seiner Auseinandersetzung mit Rembrandts Zeichnungen formuliert Is- raëls zudem die Vorstellung von einer intuitiven Arbeitsweise seines Vorbilds:

„(...) als ich begriffen hatte (was ich heute noch glaube), daß der Meister diese Zeichnungen nicht gemacht hatte, um sie mit zierlichen Linien zu umgeben und sie dann dem Publikum vorzuführen, da fühlte ich ihre wahre Tragweite. Meist warens Gefühlsäußerungen, mit denen er seinem phanta- siereichem Gemüth zu Hilfe kommen wollte. Ohne jedes Nachdenken auf das Papier geworfen, aber von einer Hand, die bei jedem Zucken und bei jeder Erregung Meisterstücke schuf.“ (Israëls 1910, 127)

138 „L’art de peindre n’est que l’art d’exprimer l’invisible par le visible (...)“ (Fromentin 1972 [1876], 3). 139 Israëls Text erschien zuerst als 26-seitige Einzelpublikation (Berlin: Concordia Deutsche Verlags-Anstalt), in der Übersetzung von Else Otten. 140 Vgl. die Anmerkung Maximilian Hardens zum leicht gekürzten Nachdruck in: Die Zukunft, 72. Band, Berlin 1910, 125. 153 „Wahre Tragweite“ künstlerischer Produkte kann sich hier zunächst nur jenseits von Gefällig- keit („zierlichen Linien“) und Öffentlichkeit („dem Publikum vorzuführen“) entfalten. Dann wird benannt, wohin diese Tragweite trägt, wenn nicht ins Gefällige und nicht nach außen. Die Zeichnungen helfen dem „phantasiereichen Gemüth“, sich auszudrücken, es sind „Ge- fühlsäußerungen“, die nicht der Ratio und dem Kalkül („ohne jedes Nachdenken“), sondern der Spontaneität und emotionalen Direktheit („auf das Papier geworfen“) unterliegen. Israëls Vorstellung von Rembrandts künstlerischen Intentionen lassen diesen als Vorläufer einer im weiteren Sinne ‘expressionistischen‘ Kunstpraxis erscheinen.141 Die Zeitgenossenschaft der gleichnamigen Kunstrichtung zeigt die Virulenz des Prinzips an, das die Werke als unmittel- baren Ausdruck der singulären Subjektivität des Künstlers versteht und sie ganz in ihrem Ur- heber begründet wissen möchte. Zudem liefert dieses Verständnis künstlerischer Praxis einen Baustein zur Plausibilisierung einer hermeneutischen Genese des Künstlers aus dem Werk. Dabei kommt bevorzugt ein Vokabular zum Einsatz, das auf den psychologischen Fachdis- kurs verweist, dessen wachsende Bedeutung im 19. und frühen 20. Jahrhundert auffällige Pa- rallelen zur Entwicklung der hermeneutischen Biographik aufweist. Diese Entlehnungen psychologischen Vokabulars sollen nun zunächst vorgestellt werden.

Wie die oben zitierte Passage Joseph Israëls bereits zeigte, sind wir nunmehr beim Gegenpol zu den Darstellungen des gespannten Verhältnisses zwischen Künstler und Auftraggeber an- gekommen. Wurde dort der negativ bewertete Pol der Unterscheidung von Auftragsarbeit und autonomer Kunst illustriert, so haben wir es nun mit den Veranschaulichungen der positiv bewerteten künstlerischen Praxis zu tun. Diese elementare Unterscheidung, die am Anfang der Analyse vorgestellt wurde, gewinnt hier deshalb erneut an Bedeutung. Dies läßt sich beispielhaft bei August L. Mayer beobachten, der in seinem 1915 in der Zeit- schrift Kunst und Künstler erschienenen Artikel ein Modell der künstlerischen Programmatik

141 Tatsächlich war die deutsche Übersetzung dieses Textes zuerst in Bruno Cassirers Kunst & Künstler erschie- nen, einer Zeitschrift, die zur gleichen Zeit als eine der ersten in Deutschland die Idealität der Stilistik und des Künstlertums Vincent van Goghs proklamierte. Die Vorstellung von einer ‘Verinnerlichung’ des Ursprungs künstlerischen Schaffens ist aber keineswegs auf die expressionistische Zeitgenossenschaft zu begrenzen. Bereits in der romantischen Tendenz zum ‘Phantastischen’ wurde ein vergleichbares Konzept gegen die regelgerechte akademische Kunstpraxis gestellt. Selbst in Franz Kuglers gelehrtem Handbuch der Geschichte der Malerei (1837) schlug sich diese Betonung des Phantastischen in der Kunst Rembrandts nieder: „Es hat diese Art der Darstellung etwas Phantasmagorisches, was an jene, am Schlusse des Mittelalters so überwiegende Richtung der nordischen Kunst auf das Wunderbare und Seltsame erinnert; es treten uns hiedurch seine Gestalten wie fremde, mährchenhafte Wesen entgegen (...).“ (1837, 177). Ein früheres Beispiel ist Goethes Adaption der sogenannten Faust-Radierung (vgl. Carstensen 1993; Völker 1991). Diese Phänomene hat Udo Kultermann zum Anlaß genommen, um die Neubewertung Rembrandts bereits in der Frühromantik beginnen zu lassen (Kultermann 1981, 233). Dem stelle ich entgegen, daß die Kriterien des romantischen Rembrandtbildes im Rahmen der klassizistischen Prägungen verbleiben und den Schritt zum Sezessionismus der Jahrhundertmitte lediglich vorbe- reiten. Nicht mit der Romantik, sondern erst mit dem Realismus wird ein neues Rembrandtbild möglich. Die auffälligen motivischen Verwandtschaften zwischen dem Künstlerideal um 1800 und jenem um 1900 können nicht bestritten werden, dürfen aber ebensowenig über die gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Differen- zen hinwegtäuschen, die es für ihr jeweiliges Verständnis zu berücksichtigen gilt. 154 Rembrandts entwirft, in dem dessen Abgrenzung von einer bewußten, effektorientierten, de- korativen und auftragsgebundenen Kunstproduktion konstitutiv ist:142

„(...) wenn man diese Dinge verfolgt, erkennt man, wie weit Rembrandt davon entfernt war, Bilder im italienischen Sinne malen zu wollen, wie es gar nicht in seiner Absicht lag, einen dekorativen Schmuck für Wände von Palästen und Bürgerhäusern zu schaffen. Man erkennt dabei immer mehr, wie wenig es Rembrandt darum zu thun war, Bilder in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes zu ma- len, sondern wie er mehr und mehr, einem innersten Drang folgend, seine Gesichte, seine Ideen auf der Leinwand mit Farbe niederschreiben musste, wie Rembrandt kein Gemälde schuf, um Men- schen ihre Behausungen wohnlicher zu gestalten, um Schönheit und Harmonie zu verbreiten, son- dern wie er auf diese Weise dem Ausdruck verlieh, was ihm auf die Nägel brannte, ganz einerlei, ob es beim Publikum Gefalle n fand oder nicht. Nie wurden Gemälde geschaffen, die so wenig Bil- der sind, wie die Werke des reifen Rembrandt, nie aber auch Gemälde, die so unendlich viel mehr sind.“ (Mayer 1915, 488)

Erneut begegnen wir hier der Spaltung künstlerischer Werke in dekorative Aufträge und auto- nome Bildfindungen; erneut wird Rembrandts Autonomie als Ergebnis eines Prozesses ge- schildert („mehr und mehr“); auch die negative Bewertung des ‘Gefälligen’ sei nur kurz an- gemerkt. Ähnlich wie Israëls führt auch Mayers Argumentation von der Formulierung dessen, was Rembrandt ‘nicht‘ ist, zum Prinzip der Kunstschöpfung aus dem ‘Innersten‘. Zur Cha- rakterisierung von Rembrandts künstlerischem Interesse eröffnet Mayer dabei zwei Katego- rien von „Gemälden“. Die einen sind „Bilder in dem gewöhnlichen Sinn des Wortes“, sie die- nen als „dekorative[r] Schmuck“, verbreiten „Schönheit und Harmonie“ und finden „beim Publikum Gefallen“. Der Nachklang der Vorstellungen idealschöner Regelkunst ist deutlich. Rembrandts Gemälde sind dagegen „unendlich viel mehr“ als diese Bilder. Dieser Gegensatz wird nicht ästhetisch beschrieben, sondern aus der konträren Konzeption künstlerischen Schaffens heraus begründet. Rembrandts Kunst nimmt demnach einen höheren Stellenwert ein, da der Künstler „einem innersten Drang folgend, seine Gesichte, seine Ideen auf der Lein- wand mit Farbe niederschreiben musste“, da er in seinen Gemälden „dem Ausdruck verlieh, was ihm auf die Nägel brannte“. Als Grundprinzip des Kunstschaffens variiert Mayer die Expressionsformel. Neben der Di- chotomie von Oberfläche („Leinwand“) und Tiefe („Gesichte“) wird dabei die Frage nach der Motivation der Kunstproduktion gestellt. Zu ihrer Beantwortung wird nicht nur ein psycholo- gistischer Begriff angeführt („Drang“), sondern zugleich eine irrationale Notwendigkeit for- muliert, die den Künstler zum Handeln zwingt („niederschreiben musste“).

142 Dieser Artikel Mayers steht unter dem starken Eindruck der Lektüre von Heinrich Wölfflins soeben publizier- ten Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen, auf die der Autor auch explizit Bezug nimmt. 155

Die Begrifflichkeiten, mit denen August Mayer Ursprung, Motivation und Prozeß künstleri- schen Schaffens zu veranschaulichen sucht, sind symptomatisch für die Rembrandtliteratur seiner Zeit. Seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts ist die auffällige Präsenz eines Vokabulars zu beobachten, das eine psychologische Vorstellung von der Kunstproduktion zu vermitteln sucht, dabei allerdings nicht nur bei Mayer auf der Ebene unscharfer, mit dilettanti- schem Gestus eingebrachter Begriffe stehenbleibt. Die Funktion dieser Darstellungen und der für sie getroffenen Begriffsauswahl scheint mir weniger im Gewinn von Erkenntnissen über die fraglichen Vorgänge zu liegen, als in der rhetorischen143 Abgrenzung der Vorstellungen vom künstlerischen Schaffen gegen rationale Prozesse, wie sie als Grundlage für wissen- schaftliche Erkenntnisgewinne, technische Fertigung und wirtschaftliche Produktion angese- hen wurden.144 Einige Beispiele sollen die Diskussionsbasis für diese These verbreitern und zugleich die Reichweite der gebräuchlichen Vokabeln aufzeigen. 1918 spricht Carl Neumann den Zeich- nungen Rembrandts einen hohen Stellenwert im Gesamtwerk des Künstlers zu. Er unterschei- det dabei eine geringe Zahl von Skizzen und Vorarbeiten von einer überwiegenden Menge „absichtslose[r] Zeichnung[en]“:

„Die Bedeutung der absichtslosen Zeichnung, die aus der Freude am Gestalten, aus reinem künstle - rischen Trieb entspringt und ohne Hinblick auf Verwendbarkeit in Kompositionen, kann innerhalb der Rembrandtschen Kunst gar nicht hoch genug angeschlagen werden.“ (Neumann 1918, 10)

Nach Ansicht des Heidelberger Kunsthistorikers entsteht also der quantitativ wie qualitativ bedeutendste Teil der Rembrandtschen Zeichnungen unabhängig von jedem direkten Zweck. Als Motivationen wirken hier vielmehr „Freude am Gestalten“ und „reine[r] künstlerische[r] Trieb“. Mit seiner Kategorie des ‘Absichtslosen‘ betont Neumann die Autonomie des Schaf- fensprozesses, die in der Spontaneität zeichnerischer Praxis bevorzugt zum Ausdruck käme.145

143 Es sei darauf hingewiesen, daß hier nicht von einer zielgerichteten Rhetorik der Autoren, sondern von einer rhetorischen Funktionsweise des Diskurssegments die Rede ist. 144 Mit diesem Konzept schließe ich an Beobachtungen Gerhard Plumpes an, der im Hinblick auf die Unterschei- dung zwischen dem schöpferischen Potential bildender Künstler und der reproduktiven Leistung der Fotografen bemerkt hat „Die entscheidende Pointe dieser Abgrenzung liegt in der unterstellten Rückführbarkeit sowohl von technischen Verfahren wie von wissenschaftlichen Erkenntnissen auf generalisierbare Voraussetzungen, die niemand für sich exklusiv reklamieren kann. Diese Ausschließlichkeit beansprucht aber der ästhetische Diskurs für das künstlerische Werk, wenn er es kategorisch an die unverwechselbare Individualität seines Urhebers bin- det.“ (Plumpe 1990, 17). 145 Ein weiterer Vorzug, der die zeichnerischen Arbeiten als Gegenständen einer solchen Argumentation prädestiniert, kommt in diesem Zitat nicht direkt zum Ausdruck: Im Vergleich zu Gemälden und Radierungen haben Zeichnungen die vermeintlich größte Distanz zu ökonomischen Motivationen, sind sie doch, jedenfalls in der Wahrnehmung jener Zeit, nur in seltenen Fällen für den Verkauf bestimmt. Vor diesem Hintergrund ist auch Neumanns Interesse zu sehen, den Zeichnungen einen vollwertigen Werkstatus zuzusprechen, würde doch durch 156 Neumanns Schüler Wilhelm Fraenger setzt sich 1920 ebenfalls mit Rembrandts Zeichnungen auseinander. Er nimmt sie zum Anlaß, grundsätzliche Überlegungen über die ‘richtige Kunst- ausbildung‘ anzustellen:

„Es gibt zweierlei Arten des Zeichnenlernens: Eine von außen herangetragene, rezepthaft vorberei- tete. Sie ist die vom Lehrer gebotene Anweisung zu gewissen Handfertigkeiten. Dies ist der Lehr- gang aller Durchschnittskünstler, der stets Uneigenen. Die andere bricht aus dem Erkenntnis- drang, den Raumzusammenhang der Dinge selbständig zu erfassen, triebhaft unstillbar empor. Und sie gebiert - hat nur der Künstler jene mütterliche Geduld, die Wochen eigenreifender Formwerdung nicht vorzeitig zu durchbrechen - den großen, individuelle n Stil.“ (Fraenger 1920, VIII)

Fraenger trifft eine binäre Unterscheidung. Auf der einen Seite steht eine rationalisierte Aus- bildungspraxis, die regelhaft abläuft, von einem Außenstehenden gesteuert wird und „zu ge- wissen Handfertigkeiten“ befähigt. Die Qualität der daraus resultierenden Arbeiten ist zur Durchschnittlichkeit verdammt, der Schüler verbleibt im Bereich des „Uneigenen“. Das Ge- genteil dessen ist der ‘individuelle Stil‘, der durch Befolgung „von außen herangetragene[r]“ Rezepte nicht erreicht werden kann. Dieser Verfahrensweise, aus der allein ‘wahre‘ Kunst hervorgehen kann, ist wiederum eine Variation des Expressionsprinzips zugrundegelegt: Et- was im begabtem Individuum Verborgenes bricht „triebhaft unstillbar empor“, wobei als Mo- vens ein „Erkenntnisdrang“ ausgemacht wird.146 Neben dieses psychologistische und erupti- vistische Vokabular treten noch die Begrifflichkeiten ‘eigenreifend‘ und ‘mütterlich‘, so daß sich insgesamt, neben der Betonung des Individuellen („selbständig“), von einer organischen Konzeption des Kunstschaffens sprechen läßt. Weitere Fragen zu dem Ablauf der schöpferi- schen Prozesse oder zu deren Ursprüngen werden mit dieser Naturalisierungstrategie obsolet. In der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Kunstproduktion ist demnach keine Ana- lyse kausaler Zusammenhänge, sondern lediglich die Beschreibung natürlicher Prozesse ge- fragt. Da derartigen Prozessen jedoch per definitionem Authentizität zugeschrieben wird, be- dürfen sie keiner weiteren Erklärungen.147 Eine Variation zu den bisherigen Beispielen liefert der niederländische Kunsthistoriker Frede- ric Schmidt-Degener (1928, zuerst 1919). Er sieht in der künstlerischen Praxis Rembrandts die Bereitschaft des Künstlers zu einem ungesteuerten Handeln:

eine derartige Einstufung der Anteil autonom entstandener Arbeiten am Gesamtwerk wiederum steigen. 146 Wenn Fraenger in dem Zitat von einem „selbständigen“ ‘Erfassen‘ des „Raumzusammenhang[s] der Dinge“ spricht, so grenzt er speziell die Raumgestaltung bei Rembrandt von einem renaissancistisch konzipierten Pers- pektivraum ab. 147 In Fraengers Zitat deutet dies auch der Vergleich des künstlerischen Schaffens mit der biologischen Gebär- fähigkeit der Frau an. Mit dieser quasi-organischen Vorstellung vom Schaffensprozeß steht Fraenger nicht allein (vgl. Wenk 1997). 157 „Was Rembrandt hervorbrachte, hatte meist etwas Unerwartetes und, vor allem später, etwas Beun- ruhigendes. Er wagte das Abenteuer des Künstlerdaseins, die vollständige Hingabe an seine Beru- fung. Kräfte, die er selbst entfesselte, reißen ihn mit; mitunter lebt er in den Tag hinein, oder schweift ins Unbekannte, bis am Ende seines Lebens neue rätselhafte Aufgaben ihre Erfüllung for- dern.“ (Schmidt-Degener 1928, 3)

Künstlertum wird in dieser Sichtweise nicht primär als Ausübung einer bestimmten berufli- chen Praxis, sondern als eine umfassende Lebenspraxis verstanden - auch dies ist ein Aspekt der Autonomisierung. Das Verhalten des Künstlers, die „Hingabe an seine Berufung“, er- scheint dabei als Akt der Befreiung von den Zwängen bürgerlicher Verhaltensnormen. Schmidt-Degeners Ausgangspunkt ist demnach die Repressionshypothese, die in der bürgerli- chen Gesellschaft eine Unterdrückung der Potentiale ‘ursprünglicher‘ Subjektivität sieht.148 Rembrandt wird in dieser Beschreibung zum Beispiel erfüllter Subjektivität, die sich über eine Abkehr vom Alltäglichen definiert. Indem er dieses Verhalten als unbewußtes, traumwandle- risches Agieren, als Lust an Abenteuer und Rätsel, als rauschhaften Genuß einer potentiellen Gefährdung durch geheimnisvolle „Kräfte“ schildert, trägt Schmidt-Degener die zeitgenössi- schen Phantasien einer entfesselten Subjektivität in das Rembrandtbild hinein.149 Das unbewußte Handeln wird dabei jedoch nicht als willkürlich verstanden. Indem er sich von den geltenden Verhaltensnormen löst, entfesselt Rembrandt Kräfte, die in ihm selbst ruhten, und bringt damit letztlich nur die ihm ‘eigenen‘ Potentiale zur Entfaltung. Zwar erscheinen seine künstlerischen Aufgaben als ‘rätselhaft‘, doch wird mit dem gelungenen Werk zugleich ihre Sinnhaftigkeit und die Notwendigkeit des künstlerischen Handelns bestätigt. Dem Künstler selbst ist dabei, wie einst dem durch göttliche Eingebung inspirierten Künstler der Antike, der Prozeß der Werkentstehung unklar. Mit den Worten des Kunstschriftstellers Karl Scheffler:

„Weiß doch der geniale Künstler selbst nicht, wie ihm das Unsterbliche gelingt. Er tut, was er nicht lassen kann, befriedigt mit äußerster Anstrengung die Forderungen seines nicht analysierbaren Ge- fühls, und ihm gelingt das Werk, das, wie das Objekt der Natur, der Zergliederung spottet und nur als Organismus, als Schöpfungswunder hingenommen werden kann.“ (Scheffler 1906, 24)

Die Wege der individuellen Gestaltungsentscheidungen sind nicht rationalisierbar, das Werk gelingt nicht infolge erlernbarer und kalkulierter Regeln, sondern als ein veritables „Schöp- fungswunder“, dessen Urheber „selbst nicht“ weiß, wie ihm geschieht.150 Auch hier kommt

148 Zur Kritik an der Repressionshypothese vgl. Foucault 1983, 25 ff.; vgl. auch Lemke 1997, 257. 149 Angesichts von Schmidt-Degeners ‘Rembrandt‘ ließe sich beispielsweise an die Machtphantasien eines Phan- tomas, an den Somnambulen Cesare in Robert Wienes expressionistischem Film Das Cabinett des Dr. Caligari (1919) oder auch an das surrealistische Schaffenskonzept eines ‘psychischen Automatismus‘ denken. 150 Helmut Scheuer hat diese Betonung des Irrationalen in der Künstlerbiographik zum Ende des 19. Jahrhun- 158 eine organische Vorstellung zum Einsatz; Scheffler spricht vom Werk als „Organismus“, das der Zergliederung - einem Phänomen moderner Wissenschaft wie Industrie - spotte.151 Die ‘äußerste Anstrengung‘, mit der Scheffler sein Genie dem irrationalen inneren Antrieb folgen läßt, weist zudem auf die Nähe dieser Konzeption zur antiken Inspirationslehre hin, mit der die ‘Exhaustation‘ verbunden ist, die auf den inspirierten Schöpfungsakt folgende äußerste körperliche Erschöpfung.152 Nur selten überwiegt diese klassische Begrifflichkeit die bereits zitierten Psychologismen neuerer Provinienz; das Beispiel Schefflers kann uns als Hinweis darauf dienen, daß die hier referierten Intuitionskonzepte der Kunstgeschichte um 1900 tat- sächlich nur auf der Begriffsebene am zeitgenössischen psychologischen Fachdiskurs partizi- pieren, daß sie im Kern jedoch traditionsreiche Topoi von Kunst und Künstlertum fortschrei- ben. Diese Vorläuferrolle antiker Inspirationslehre wird noch einmal in dem Sprachbild deutlich, das Theodor Hetzer (1926) verwendet, um die künstlerische Motivation Rembrandts zu cha- rakterisieren und sie von der des Rubens zu unterscheiden:

„Bei Rubens die Malerei im objektiven Zusammenklang mit dem äußeren Leben, (...) Rembrandt aber auf den Gott angewiesen, der in ihm lebte, sein Glück und seine Rechtfertigung in sich selbst finden müssend, stolz sein müssend aus Erhaltungstrieb auf sich selbst, da er von der Welt verach- tet oder gering geschätzt war (...)“ (Hetzer 1984 [1926], 250)

Hetzer führt die Motive der gesellschaftlichen Marginalisierung des Künstlers und dessen ‘innerer Beauftragung‘ zusammen und sieht darin ein Charakteristikum Rembrandts. In dieser Vorstellung von der zerbrochene Einheit zwischen der Vision des einzelnen Künstlers und den Anschauungen der Allgemeinheit findet der Leipziger Kunsthistoriker ein Indiz für die ‘Modernität‘ des Holländers:

„Auch darin ist Rembrandt nun wieder modernem Empfinden, und zwar erst recht spezifisch nordi- schem modernem Empfinden verwandt, daß er einer der ersten ist, die den Auftrag als Last emp- finden, die den Ausgleich nicht finden zwischen sich, der inneren Nötigung und Vision, und den

derts an Beispielen von Hillebrandt, Justi, und Hermann Grimm illustriert. So schreibt etwa letzterer über Goethe: „Dichten war ihm ein unbegreiflicher Proceß“ (Grimm 1877, zit. nach Scheuer 1979, 106). Im Rahmen seiner These einer Ästhetisierung ursprünglich politischer Impulse in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts inter- pretiert Scheuer diese Tendenz zur unbewußten „Innerlichkeit der Künstlernatur“ als Symptom der „bürgerlichen Selbsttäuschung dieser Zeit, denn Rationalität, Reflexion und Wendung nach außen hätten den gewebten Illu- sionsschleier allzuleicht zerreißen können“ (Scheuer 1979, 106; vgl. auch den Abschnitt 3.2 dieses Teils). 151 Die hier artikulierte Ganzheitsvorstellung erinnert an Julius Langbehns kulturpessimistische Gegenwartskritik, zu deren wichtigsten Angriffspunkten ebenfalls die „Zergliederung“ („Mechanisierung“, „Atomisierung“) zählt. Auf den Kontext lebensphilosophischer Konzepte, etwa bei Henri Bergson oder in Simmels Rembrandtbuch, sei nur am Rande hingewiesen. 152 Eckhard Neumann (1986, 60) stellt die Rezeption der Exhaustationstheorie durch Nietzsche dar. Daß diese Überlegungen gerade in einem frühen Text Karl Schefflers wiederkehren, erklärt sich aus der Nietzsche- Rezeption, die diesen überaus produktiven Kunstliteraten in seiner ersten Werkphase prägte. Den Hinweis auf diesen Zusammenhang verdanke ich Andreas Zeising. 159 Anschauungen und Wünschen der Allgemeinheit. Das, was sich bei uns als ein gefährlicher Ruhm des Künstlers herausgebildet hat, daß er vom Publikum nicht verstanden wird, auch dies Phänomen finden wir bei Rembrandt.“ (Hetzer 1984 [1926], 250 f.)

Das ‘Absichtslose‘ und der ‘rein künstlerische Trieb‘ bei Neumann, der „triebhaft unstillbar“ emporbrechende „Erkenntnisdrang“ bei Fraenger, das ‘nicht analysierbare Gefühl‘ und das „Schöpfungswunder“ bei Scheffler, der ‘innerste Drang‘ und der Ausdruck dessen was ‘auf die Nägel brennt‘ bei Mayer, die ‘inneren Nötigung und Vision‘ bei Hetzer - diese Formulie- rungen sind Paraphrasen über ein nicht genauer zu bestimmendes Geschehen und dessen Ur- sprünge, Phänomene deren Charakteristik hier nicht durch eine direkte Beschreibung, nicht durch ein weiteres Hinterfragen ihrer selbst bestimmt wird, sondern durch ihre Gegenüber- stellung mit einem anderen. Dieses andere wird dann auch jeweils benannt: Fraenger verweist auf das von außen gelehrte, „rezepthaft vorbereitete“ Zeichnen als Weg aller „Durchschnitts- künstler“ und der „stets Uneigenen“, Scheffler nennt das Prinzip der „Zergliederung“, Hetzer spricht von den „Anschauungen und Wünschen der Allgemeinheit“ wie Mayer vom wohnli- chen Gestalten der „Behausungen“ in „Schönheit und Harmonie“ und Frederic Schmidt-De- gener wird Rembrandts Bereitschaft zum „Abenteuer des Künstlerdaseins“153 das Verhalten seines dichtenden Zeitgenossen Vondel entgegenstellen:

„Vondel äußert sich klar und gleichmäßig. Erklärungen sind nicht vonnöten. Selbst was er unter der Maske von etwas anderem sagt, begreift Jan- und Allemann. Bei Vondel gibt es keine geheimnis- vollen Schleier, wie sie vor den Bildern seines Stadtgenossen hängen. Man schätzte Rembrandt wohl und bewunderte vorübergehend Radierungen oder frühe Gemälde, doch für seine tiefen Ge- danken hatte seine Zeit keinen Sinn.“ (Schmidt-Degener 1928, 3)

Es sind drei Aspekte, gegen die Rembrandts Kunstschaffen in diesen Zitaten abgegrenzt wird: (1) eine allgemein verständliche und gefällige Ästhetik, (2) ein äußerlicher Zweck der Werke sowie (3) ein planmäßiger (also auch zergliederbarer), nachvollzieh- und lehrbarer Weg, der zu diesen Werken führt. Die Gegenseite dessen, also die Seite der Rembrandtschen Kunst, wird durch Verweise auf Unklarheit und Verschleierung beschrieben. Hier besteht etwas, das sich den Blicken und der Vernunft entzieht, das jenseits der rational erfaßbaren Welt existiert und doch zugleich in ihrem Zentrum, im menschlichen Individuum, welches hier symbolhaft durch den Künstler verkörpert wird.

Angesichts der auffälligen Virulenz von psychologischen Begriffen in der biographisch ori- entierten kunstgeschichtlichen Literatur um 1900 ist erneut auf die zeitgleiche Entwicklung

153 Schmidt-Degener 1928, 3. 160 eines psychologischen (bzw. psychoanalytischen) Fachdiskurses hinzuweisen. Die kunsthisto- rische Rezeption dieses sich neu formierenden Wissensfeldes bleibt - dies erscheint mir zu- mindest für den Bereich der Rembrandtliteratur als belegt - auf der Ebene einer Übernahme von Begrifflichkeiten stehen. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Theoriebildung der Psychologie oder der Verwendbarkeit von deren Vokabular für die eigenen Subjektkonzepte fehlt. Wo im Zusammenhang mit dem künstlerischen Schaffen von ‘Trieb’, ‘Zwang’ oder ‘Drang‘ die Rede ist, werden weder Definitionen noch Verweise auf Autoren und Schriften des damit angesprochenen Fachdiskurses angeführt. Ich sehe in diesem Begriffsgebrauch des- halb keine interdisziplinäre Erweiterung von Methoden und Theorien der Künstlerbiographik, sondern lediglich eine interdiskursive Übernahme von Vokabeln eines anderen Fachdiskurses, die dabei jedoch in ihrer Komplexität reduziert werden.154 Die Verwendung dieser Begriffe, auf denen die psychologistischen Erklärungsansätze basieren, erfolgt nicht durch präzise Herleitung aus deren fachlichem Gebrauch, sondern als Übernahme eines unscharfen, alltägli- chen Begriffsverständnisses. Es erscheint mir sinnvoll, die verschiedenen Argumentationen, denen die künstlerische Praxis als eine notwendige und unbewußt ausgeführte Veranlagung bestimmter menschlicher Indivi- duen erscheint, unter einem Oberbegriff zusammenfassen. Ich schlage deshalb vor, in diesem Zusammenhang von einem Prinzip des ‘Kunstmüssens‘ zu Sprechen. Diese Bezeichnung soll Assoziationen zum Begriff des ‘Kunstwollens‘ wecken, den Alois Riegl um 1900 in der Ab- sicht prägte, eine Motivationsquelle für die Entwicklung des Stilwandels in der Kunstge- schichte zu benennen und somit eine irrationale Notwendigkeit dieser Kunstentwicklung be- grifflich neu zu fassen.155 Analog zu dieser überindividuell orientierten Begrifflichkeit werden im ‘Kunstmüssen‘ die Strategien individuell orientierter Konzepte irrationaler Notwendigkeit der Kunstproduktion zusammengefaßt. Dieser Begriff soll hier eingeführt werden, um das rhetorisches Potential der in den einzelnen Argumentationen verwendeten Psychologismen zu entschärfen, das darauf abzielt, im künstle- rischen Schaffen die Errichtung eines Gegenpol zu den gesellschaftlich dominanten Prinzi- pien der ‘Zweckmäßigkeit‘ zu plausibilisieren. Vom Prinzip des ‘Kunstmüssens‘ spreche ich also, um eine diskursive Strategie sichtbar zu machen, die sich selbst durch begriffliche An- gleichung an einen Legitimierungsdiskurs, in diesem Fall den psychologischen und sein brei- tes interdiskursives Echo, unsichtbar zu machen versucht. Ich sehe hinter dieser Strategie die Absicht, in jenen aus dem ‘Kunstmüssen‘ hervorgegangenen Werken die Materialisierungen des autonomen Subjekts erblicken zu können, und damit über sinnlich erfahrbare Belege für dessen Existenz, über ‘Objektivierungen des Subjekts‘ zu verfügen.

154 Zu diesem Verständnis „interdiskursiver“ Sprachpraxis, ihrer Vermittlungsposition zwischen Fachdiskursen und ihrer Reduktion der Bedeutungspotentiale von Begriffen vgl. Link 1982, 5 f. 155 Vgl. Riegl 1973 [1901] und Riegl 1931 [1902]. 161 Das Prinzip des Kunstmüssens steht mit dem Expressionsprinzip in enger Verbindung. Letzte- res versteht das Werk als Ausdruck einer im Künstler (oder in der Welt) verborgenen Wahr- heit, ersteres versteht das künstlerische Schaffen als den ungesteuerten, notwendigen, organi- schen und aus sich selbst heraus motivierten Akt der Hervorbringung dieses Ausdrucks.

2.1.5.3 Die Folgerichtigkeit des Gesamtwerks

Eng verbunden mit der Vorstellung von einer Notwendigkeit der Entstehung des einzelnen Werkes, wie sie im Konzept des Kunstmüssens ihren Ausdruck findet, ist der Topos der Fol- gerichtigkeit der künstlerischen Entwicklung des Gesamtwerks. Er besagt, daß die Entschei- dungen und Handlungen des künstlerischen Genies nicht zufällig sind, obwohl sie intuitiv getroffen werden mögen, weshalb ihre Folgerichtigkeit dem Künstler selbst unbewußt bleiben mag. Dieser Topos ist von Bedeutung für eine organische Auffassung des Gesamtwerks, die der nicht minder organischen Verbindung zwischen dem Künstler und seinem einzelnen Werk entspricht. Ein folgerichtig entwickeltes Œuvre verfügt über Geschlossenheit, seine Teile sind zu einem Ganzen verbunden und grenzen sich dadurch zugleich von allem ab, was außerhalb dieses Geflechts steht. Das Gesamtwerk wird zum Korpus. Entsprechend seinem Interesse, das Ansehen der Arbeiten des jungen Rembrandt innerhalb der Kunstgeschichte zu verbessern, stellt Wilhelm Bode (1883) die Kontinuität heraus, die Frühwerke und Hauptwerke verbindet:

„Rembrandt’s Genie bekundet sich aber vor allem darin, daß er trotz seiner im Grunde oberflächli- chen und kleinlichen Lehrer und trotz der kleinen Verhältnisse, in denen er seine Lehrzeit zu- brachte, gleich im Anfange seiner selbständigen Thätigkeit die seinem Talente entsprechende Richtung wählt: die Schilderung des Gemüthslebens, die Stimmungsmalerei, als deren malerischen Ausdruck er das Helldunkel erkennt und ausbildet.“ (Bode 1883, 395)

Rembrandt wählt „die seinem Talente entsprechende Richtung“, er beginnt nicht mit Werken, sondern gleich mit ‘seinem Werk‘, das sich offenbar folgerichtig aus den (natürlichen) Anla- gen des Künstlers entwickelt. Den Lehrern wird dabei kaum Bedeutung zugesprochen, sie stehen außerhalb. Im wesentlichen wird der geniale Künstler als Autodidakt verstanden, der, so Bode, „mit sich selbst gewissermaßen einen völlig systematischen Cursus durchmacht“ (ebd., 394). Die Geschlossenheit des Individuums, eine elementare Anforderung in der hier dargestellten Vorstellung vom Künstlersubjekt, wird bereits in den frühesten künstlerischen Schritten aus- gemacht. Zur Rückkehr des jungen Rembrandt aus Lastmans Amsterdamer Werkstatt in die Geburtsstadt Leiden bemerkt Hans Grimm (1906):

162 „Hiernach scheint es, daß Rembrandts Natur schon damals übermächtig nach Ruhe und Einsamkeit verlangte und daß er nichts sehnender wünschte, als in der Stille den künstlerischen Problemen, die ihn mit fragenden Augen ansahen, nachzusinnen und nachzuforschen. Seine Künstlerseele scheint sich schon damals ihres Weges völlig klar und scheint mit bestimmten, selbstgefundenen Ideen be- schäftigt zu sein.“ (Grimm 1906, 215)156

Die „selbstgefundenen Ideen“ werden in der Zurückgezogenheit und Stille des Leidener Ate- liers erkundet. ‘Rembrandts Weg‘ beginnt - eine Metapher, die Kontinuität und Folgerichtig- keit auch dann zu gewährleisten vermag, wenn von ‘Umwegen‘ die Rede ist oder wenn es ‘Talsohlen‘ zu durchschreiten gilt. Mit dieser Konzeption des Genies ist die Idee einer unbewußten Folgerichtigkeit allen Han- delns verbunden. Dabei wird der Künstler ständig und zu verschiedenen Seiten hin von Ein- flüssen seiner Umgebung abgegrenzt. Cornelius Gurlitt (1902), für den Rembrandt den Aus- druck germanischen Kunstwollens darstellt, demonstriert die Gratwanderung, der sich eine derartige Abgrenzung des Künstlers und seines Weges sowohl vom „[F]remden“ wie auch vom zeitgenössisch „[N]iederländischen“ ausgesetzt sieht:

“War er selbst gleich nicht nach Italien gereist - was sollte er dort? - so kannte er doch aus Stichen, aus Kopien das, was seine Landsleute so oft aus ihren Bahnen herausgeworfen hatte. Raffael und Michelangelo waren in seiner Sammlung vertreten. Aber (...) er, ein Schüler des italienisch ge- schulten Lastmann, gönnte fremdem Wesen auch nicht einen Hauch von Einfluß auf sein Schaffen: Nicht Unkenntnis, nicht eine verbissene Gegnerschaft gegen alles Fremde, sondern die sorglose Größe des eigenen Schauens macht ihn frei von aller Überlieferung: Man sieht seinen Werken an, daß sie auf gleichem Boden erwuchsen als die seiner niederländischen Zeitgenossen, aber auch von diesen hatte keiner Einfluß auf den unbeirrt geraden Weg seiner geistigen Entwicklung.“ (Gurlitt 1902, 434)

Folgerichtig beschreitet Rembrandt den „unbeirrt geraden Weg seiner geistigen Entwick- lung“, und er tut dies allein aus sich selbst heraus, er läßt seine Richtung von keinem äußeren Faktor bestimmen. Von den Italienern läßt er sich nicht ‘aus seiner Bahn werfen‘ und seine Zeit- und Volksgenossenschaft ist in seinen Werken zwar wiederzufinden, jedoch ohne di- rekten Einfluß auf seinen Weg zu haben. Was er hervorbringt, gehört ihm unmittelbar zu und bestätigt so zugleich seine singuläre Subjektivität.

156 Grimm paraphrasiert hier ausdrücklich Carl Neumann, der schrieb: „[Seine] Werke, die zwischen 1627 und 1631 in Leyden entstanden sind, (...) zeigen eine ihres Weges völlig klare, mit bestimmten, selbstgefundenen Problemen sich beschäftigende, rastlose Künstlerseele.“ (Neumann 1902, 37). Ein weiteres Beispiel bei Karl Storck: „Rembrandt muß sich sehr früh über sein künstlerisches Wollen klar geworden sein. In der Überzeugung, dafür bei den Lehrmeistern keine Förderung finden zu können, kam der Achtzehnjährige ins Vaterhaus zurück und betrieb seine Studien auf eigene Faust.“ (Storck 1920, 6). 163 Ein Zitat von Karl Voll kann uns deutlich machen, daß es sich dabei keineswegs um die häu- fig beschworene ‘künstlerische Freiheit‘ handelt. Zwar sind die Motivationen des Künstlers als Gegenbild zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Handlungszwängen des Bürgers entworfen - der Bürger handelt in Folge äußerer Anforderungen, der Künstler gehorcht seiner ‘inneren Stimme‘ - doch ist in diesem Konzept für Freiheit im Sinne von Ungebundenheit, Beliebigkeit oder gar Gesetzlosigkeit (Anarchie) kein Platz:

„[Es muß] konstatiert werden, daß er in einer wahrhaft heroischen Weise, gleichviel was des Le- bens Gunst oder Ungunst ihm brachte, dem Ziel folgte, das ihm durch sein Genie gesteckt war. Wer eine solch reiche Begabung als Geschenk der Natur erhalten hat, auf dem liegen schwere Pflichten, und zu Rembrandts größter Ehre muß gesagt werden, das er sein ganzes Leben hindurch sich dieser Pflichten bewußt war.“ (Voll 1906, 89)

Das Leben des künstlerisches Genies erweist sich in dieser Beschreibung dem bürgerlichen Verhaltenskodex als wesentlich verwandt. Die Pflicht bestimmt sie beide. Wir werden auf diese Beobachtung, die der lange Zeit geläufigen Vorstellung vom Künstler als Gegenbild des Bürgers und als ‘Außenseiter der Gesellschaft‘ widerspricht, zurückkommen müssen. Halten wir vorerst fest, daß Karl Voll im Künstlertum das Erfüllen einer Aufgabe sieht, eines Zieles, welches Rembrandt „gesteckt war“. Der Rahmen des Handelns ist demnach klar begrenzt, die Richtung vorgegeben, die vermeintliche Freiheit erweist sich als determiniert. Mit Bezug auf die serielle Folge der Selbstbildnisse wird Wilhelm Pinder (1943) noch einmal das organische Prinzip zum Ausdruck bringen, das in dieser Vorstellung von der Geschlos- senheit und Folgerichtigkeit des Werks wirksam ist:

„Aber es bleibt bestehen, daß es doch einmal überhaupt zu dieser Erscheinung gekommen ist, daß einmal ein Mensch von unvorstellbarer Größe (...) gleichsam aller Menschen Werden, Reife und Vergehen in einer organischen Folge von Kunstwerken sichtbar gemacht hat.“ (Pinder 1943, 12 f.)

Schließen wir diesen Abschnitt mit dem Versuch, zu erklären, welche Funktion der Topos der ‘Folgerichtigkeit des Gesamtwerks‘ innerhalb des diskursiven Feldes des autonomen Künst- lersubjekts erfüllt. Ich schlage vor, ihn als Auseinandersetzung mit einem spezifischen Pro- blem der Subjektkonzeption zu betrachten. Die Vorstellung vom Individuum als einer in der Zeit existierenden und dennoch mit sich selbst zu jedem Zeitpunkt identischen Form stellt ein Problem dar, das im Bild der Folgerichtigkeit einer individuellen Entwicklung aufgehoben wird. Zur diskursiven Darstellung einer solchen Entwicklung bedarf es einer Folge von Ereig- nissen, hier: der einzelnen Werke, die als eine zeitlich gestaffelte Folge unauflösbar mitein- ander gekoppelter Ereignisse oder als Teilereignisse innerhalb eines geschlossenen Ereignis- rahmens dargestellt werden, dem Gesamtwerk. Da diese aufeinanderfolgenden Ereignisse

164 (oder Teilereignisse) voneinander unterscheidbar sein müssen, wohnt dem Ablauf die Gefahr der Auflösung inne, als dessen Folge lediglich vereinzelte Ereignisse, nicht aber ein dadurch generierter Korpus in Erscheinung treten würde.157 Um die diskursive Figur eines Künstlers als einer geschlossenen Erscheinung aufrecht erhalten zu können, müssen plausible Konti- nuitätsargumentationen gebildet werden, und es muß die Unauflöslichkeit der Kopplung einzelner Werke zu einer Gruppe veranschaulicht werden. Die bloße Quantität der zugeschriebenen Werke ist in eine chronologische Narration, in eine Entwicklungsgeschichte einzubinden, so daß schließlich der Korpus des Gesamtwerks als materielles Dokument der Existenz seines Urhebers fungieren kann und dessen die Lebenszeit umspannende Identität mit sich selbst unterstreicht.

Ich verstehe den Topos der ‘Folgerichtigkeit des Gesamtwerks‘ demnach als eine rhetorische Formel zur Plausibilisierung der Vorstellung von der Zusammengehörigkeit einer Folge un- terscheidbarer Teile zu einem Ganzen; er bildet die zur Genese eines zeitlich ausgedehnten Ereignisbündels notwendige Klammer. Eine gebräuchliche Metapher für dieses Prinzip der Folgerichtigkeit ist der ‘Weg‘. In ihr wird der Zusammenhang unterscheidbarer Ereignisse durch deren Verortung in einem raum-zeitlichen Kontinuum hergestellt, die Ereignisse wer- den zu Orten, die innerhalb einer zeitlichen Folge abgeschritten werden. Eine weitere Meta- pher ist die der ‘organischen Entwicklung‘. Hier wird eine nicht hinterfragbare Kraft ange- nommen, die zugleich in der Ereignisfolge wirkt und sich in ihr ausdrückt. Die organische Konzeption plausibilisiert die Vorstellung von Identität im (kontinuierlichen) Wandel, indem sie eine Analogie mit der Erfahrung von organischem Wachstum herstellt, die der Mensch aus der Beobachtung seiner Umwelt und seiner selbst gewinnt. Daß dieser Weg derjenige eines einzigartigen Individuums ist, kann schließlich nur durch ständige Konflikte mit der Außenwelt verdeutlicht werden, die sein Beschreiten hervorruft. Dem dritten und letzten Hauptteil („Rembrandt im Zenith“) seiner Rembrandt-Monographie stellt Carl Neumann folgende Zeilen voran:

„Diese Ric htung ist gewiß, Immer schreite, schreite! Finsterniß und Hinderniß Drängt mich nicht zur Seite. Goethe.“ (Neumann 1902, 341)

157 Diese Gefahr läßt sich am konkreten Beispiel der Abschreibung von Werken aus dem Rembrandt-Korpus veranschaulichen. 165 166 2.2 Künstlerleben

2.2.1 Autonomisierung als Läuterungsprozeß

Die Unterscheidung des künstlerischen Schaffens Rembrandts nach dem Code ‘Auftrag vs. Autonomie‘, die zu Beginn des vorigen Kapitels beschrieben wurde, produziert auf den ersten Blick ein beachtliches Problempotential, stellt sich dabei doch das paradoxe Bild eines Künstlers ein, der zugleich der negativ bewerteten Marktnachfrage und dem positiv einge- stuften ‘inneren Auftrag‘ Folge leistet. Faktisch tritt dieses Problem in den untersuchten Tex- ten jedoch nicht in Erscheinung, da diese sich ein Prinzip zunutze machen, das seine theoreti- sche Formulierung in Hegels Philosophie der Geschichte erfuhr: das Prinzip der Aufhebung eines Paradoxons durch die Umwandlung der Gleichzeitigkeit von These und Antithese in eine Narration (vgl. Gumbrecht 1997, 421). Die Auftragsorientierung erscheint dabei als läß- liche ‘Jugendsünde‘ des frühen Rembrandt, die in Folge eines Läuterungsprozesses durch das autonome Kunstschaffen abgelöst wird. Die beiden als widersprüchlich verstandenen Formen künstlerischer Praxis werden aus einer bedrohlichen synchronen Konkurrenz in eine chrono- logische Narration überführt; das Paradoxon wandelt sich zu einer belehrenden Parabel. In dieser dramaturgischen Ausgestaltung des Lebenswegs und der künstlerischen Entwick- lung wird Rembrandt also infolge eines Reifungsprozesses, der einem Subjektivierungsprozeß entspricht, eine stetig wachsende Distanz zu den Einflüssen des Kunstmarktes zugesprochen. Rembrandt löst sich, so sieht es diese Narrativierung vor, Schritt für Schritt von den weltli- chen Dingen ab, Mensch und Künstler ziehen sich ins Innere zurück, und erst dort, frei von den Einflüssen der Außenwelt, erreicht das Werk seinen Höhepunkt. Nur vorübergehend tre- ten die widersprüchlichen Aspekte ‘Auftrag’ und ‘Autonomie’ auch gleichzeitig in Erschei- nung: in der Übergangsphase eines notwendigen und folgerichtigen Entwicklungsprozesses.158 Die folgenden Beispiele sollen zeigen, wie diese autonomisierende Narration in der Rembrandtliteratur umgesetzt wurde.

Ich beginne diesmal mit einem Zitat aus dem Bereich der kunsterzieherisch engagierten Zeit- schriften, mit Ferdinand Avenarius. In seinem feierlichen Text zum Rembrandtjahr stellt der Herausgeber des Kunstwart die Entwicklung von Leben und Werk des Meisters in einer dra- maturgischen Zuspitzung dar, deren Grundstruktur von zwei gegenläufigen Bewegungen ge- bildet wird: dem Niedergang des weltlichen Glanzes bei gleichzeitigem Aufstieg des künstle- rischen Ewigkeitswerts. Rembrandts Lebensweg beginnt demnach als wirtschaftliche Erfolgs-

158 Diese Ablösungsvorstellung ist an mythischen Erzählmustern wie Passion, Erleuchtung, Einweihung oder Reinigung orientiert, aus denen sie zugleich ihre Plausibilität bezieht. Sie macht Rembrandt zur Figur in einer meist nur vage bestimmten metaphysischen Szenerie. 167 geschichte. Direkt nach seiner Übersiedlung nach Amsterdam werden die ersten Triumphe als Porträtmaler durch das private Glück gekrönt:

„Und als ihm ein reiches Mädchen, das er leidenschaftlich liebt, die Hand reicht, da, in der Ehe mit Saskia, tritt er auf die Höhe seines Erdenglücks.“ (Avenarius 1906, 330)

Die Vorstellung vom gesellschaftlichen Erfolg und privaten Glück des jungen Rembrandt ist bereits zur Jahrhundertmitte ein Topos, etwa bei Waagen (1862, 89-90), wo jedoch, nicht zu- letzt aufgrund der beschränkten Quellenlage, von nachfolgendem weltlichem Unheil kaum die Rede ist. Die biographischen Erzählungen stellen dagegen seit Ende der 80er Jahre einen kau- salen Zusammenhang her zwischen den Ereignissen um die gesellschaftliche Person und die künstlerische Entwicklung Rembrandts. In dieser Weise entwirft auch Ferdinand Avenarius, eine zentrale Figur der Kunsterziehungsbewegung um 1900, sein heroisches Rembrandtbild, in dem ein doppelter Schicksalsschlag die Abwendung des Künstlers von der Gesellschaft hervorruft. Die berufliche Katastrophe der Ablehnung der Nachtwache durch die Besteller fällt mit der privaten Katastrophe von Saskias Tod zusammen:

„Am Ende dieser Periode steht der höchste Hochgesang auf das Licht, den je ein Maler gesungen hat: die Scharwache. Seine Besteller -- sind enttäuscht. Es ist in demselben Jahr 1642, in dem seine Saskia stirbt. Nun senkt sich sein Weg.“ (Avenarius 1906, 331)

Der metaphorische ‘Lebensweg’, der äußerlich bergab, zugleich aber innerlich bergauf führt, hat seinen Kulminationspunkt in der Ablehnung der Nachtwache. Wie bei Avenarius, so ist diese ‘Verkennung’ eines Meisterwerks bei vielen Autoren zum Elementarereignis in der Ge- schichte der Autonomisierung Rembrandts stilisiert worden (vgl. den Abschnitt zur Nachtwa- che). Dem chronologischen Zeitverlauf entspricht Avenarius auch im weiteren durch eine Metaphorik von Weg und Bewegung:

„Er arbeitet nach wie vor mit ungeheurem Fleiß, aber die Mode zieht langsam von ihm weg, und ihr nachzuschleichen ist er nicht der Mann.“ (Avenarius 1906, 331)

In der Bewegungs-Begrifflichkeit wird hier die Vorstellung der ‘Distanz’ zwischen Künstler und Welt veranschaulicht. Dabei ist es jedoch die Mode, die „von ihm weg[zieht]“. Zum Bruch führt die Bewegung der Welt - Rembrandt bleibt, wo er ist, genauer: Er geht seinen ‘eigenen’ Weg:

„(...) immer ist er schnell wieder dort, wo sein Weg geht, seiner, den noch keiner gebahnt hat: zu neuen Aussichten hoch über der Dumpfheit der Täler.“ (Avenarius 1906, 331)

168 Ein zweites Bild zur Veranschaulichung von Distanz: Täler und Höhen, dazu die ‘Eigentüm- lichkeit‘ des Künstlers, die sich von der Nachahmung absetzt („noch keiner gebahnt“) und die Abwertung der Talseite als ‘dumpf‘. Die Polarität zwischen Künstler und Außenwelt wird in der narrativen Entwicklungsvorstellung durch eine Polarität vom ‘vorher’ und ‘nachher’ des künstlerischen Schaffens unterstützt:

„(...) wer hat das bloß Gefällige zugunsten tieferer Werte vollkommener überwunden, als er? Man vergleiche mit der bunten Herrlichkeit der früheren die stille Größe der späteren Werke.“ (Avena- rius 1906, 335)

Avenarius nutzt auch das Material der Selbstbildnisse, das sich besonders gut für die Schilde- rung einer zunehmenden Identifikation des Menschen Rembrandt mit seiner eigenen künstle- rischen Produktion und einer Abkehr von der Welt zu eignen scheint:

„Welcher Weg vor allem von den Selbstbildnissen seiner Jugend mit ihrem Putz und ihrem Nach- etwas-Aussehen-wollen bis zu den reifen und dann bis zu diesen späten, die mit so erbarmungslo- sem Gleichmut gegen sich selbst Verarmung und Verfall aufzeigen, aber auch ein Wachsen an in- nerer Größe, das uns in Ehrfurcht erschauern macht!“ (Avenarius 1906, 335)159

Äußerer Verfall und inneres Wachstum in eine gegenläufige Bewegung zu koppeln, unter- nimmt auch Karl Voll (1906). In seinen Worten zur Charakterisierung von Rembrandts Ver- hältnis zur Gesellschaft scheint zudem die mythische Formel der ‘Prüfung‘ durch:

„Als dem großen Meister die Mittel zu behaglicher Lebensführung genommen waren, als seine Ar- beiten anfingen, durch das Übermaß der künstlerischen Größe seinen Zeitgenossen unverständlich zu werden: mit einem Wort, als Mißgeschick und Mißerfolg ihn bedrängten, da ist er nicht, wie man glauben sollte, der Gewalt der widrigen Umstände erlegen, sondern, auf den Druck mit Ge- gendruck antwortend, hat er sich von allem befreit, was sozusagen äußerlich an seiner Kunst war; er hat sie immer reiner und herrlicher gestaltet, und so stehen gerade seine spätesten Arbeiten im umgekehrten Verhältnis zum moralischen und materiellen Erfolg.“ (Voll 1906, 443)

Die Prüfung durch „Mißgeschick und Mißerfolg“ läßt den Künstler nicht klein beigeben, son- dern „mit Gegendruck“ antworten. Rembrandt „befreit“ sich von allem Äußeren. Eine derar- tige Aussage impliziert die Vorstellung von Kunst als einer ‘reinen‘, separaten Sphäre, die

159 Die Opferung des äußerlichen Glanzes als Preis für das Erreichen ‘innerer Größe‘ is t eine stark christologisch inspirierte Mythisierungsformel, die zur gleichen Zeit eine Rolle bei der Personifikation des modernen Künstler- bildes in der Figur des Vincent van Gogh erhält. Ihre früheres Auftreten in der Rembrandt-Literatur zeigt, daß es in diesen Texten nicht um die quellenkritische Nacherzählung eines ‘wahren Künstlerschicksals’ geht, sondern um die Darstellung eines topisch konzipierten Idealmusters von modernem Künstlertum, das mit wenigen Varia- tionen ebenso unter dem Namen ‘Rembrandt‘, wie unter dem Namen ‘van Gogh‘ auftreten kann. 169 ‘außerhalb’ der „moralischen und materiellen“ Regionen existiert, in der andere Wertmaß- stäbe gelten und in die sich der Künstler zurückziehen kann. Diese Unterscheidung wird auf eine bipolare Struktur von innen und außen, also von ‘der Kunst’ und ‘der Gesellschaft’, re- duziert. Die reine, autonome Region der Kunst liegt als Reich des Künstlers außerhalb der ‘Welt’. In Volls Zitat wird die Grenze zwischen beiden Bereichen in der Formel vom „Druck“ und „Gegendruck“ veranschaulicht. Indem der Künstler dem Druck der Ausschließung be- stimmter menschlicher Verhaltensweisen und künstlerisch-ästhetischer Entscheidungen durch die Agenten der Gesellschaft mit Gegendruck antwortet, wird eine Grenze definiert. In der Formel vom „umgekehrten Verhältnis“ kommt die Binarität des Konzeptes und damit die oppositionelle Haltung dieser Kunstwelt gegenüber der gesellschaftlichen Welt erneut zum Ausdruck. Vergleichbare Formulierungen wären etwa ‘Wende’ oder ‘Richtungswechsel’.160

Ein längeres Zitat aus dem Rembrandt-Vortrag von Heinrich Wölfflin (zuerst 1909) kann die Spannweite des narrativen Läuterungskonzeptes veranschaulichen. Wölfflin, damals Professor für Kunstgeschichte in Berlin, beginnt seinen Text, indem er die Vorstellung von der Gegen- läufigkeit äußerer und innerer Entwicklung Rembrandts als grundlegende Formel zum Ver- ständnis des Künstlers vorschlägt:

„Wenn irgend etwas das Außerordentliche von Rembrandts Natur beweist, so ist es dies: Daß der Gang seiner Kunst eine so ganz andere Linie ergibt als der Gang seines Lebens. Hier ein glänzen- der Anfang: früher Ruhm, Reichtum, ein hübsches Weib, ein stattliches Haus, und dann, nachdem der Tod die Frau noch jung hinweggenommen, das Schwanken der materiellen Grundlage, Schul- den, Bankerott, Verlust all der Sachen, die die Augenweide des Künstlers gewesen waren, ein ar- mes Quartier, öffentlicher Verdruß wegen des illegitimen Verhältnisses mit einer jungen Magd, die ihm Gefährtin geworden war, künstlerische Verkennung und Vereinsamung und endlich ein verlas- senes Sterben im dreiundsechzigsten Lebensjahr. Aus den Bildern Rembrandts könnte man diese Biographie unmöglich herauslesen. Gerade in dem Zeitpunkt, wo der Himmel für ihn sich hoff- nungslos verdüstert - in den Jahren des finanziellen Zusammenbruchs - ist seine Schöpferkraft am mächtigsten, und seine Kunst verklärt sich zu einer wunderbar stillen Feierlichkeit. Und während die Unreinheit des jugendlichen Gefühls, wie man es ja öfter findet, bei Rembrandt ganz besonders empfindlich herauskommt, so daß seine frühen Arbeiten oft einen sehr gemischten Eindruck hin- terlassen, bietet die Kunst des alten Rembrandt einen gleichmäßig gewaltigen, fast heroischen An- blick. Es scheint, als ob durch ein böses Schicksal das Gold aus den Schlacken erst hätte herausge- schmolzen werden müssen.“ (Wölfflin 1946 [1909], 131)

160 Wilhelm Pinder spricht von der „Lebenswende“ (Pinder 1943, 14). 170 Das Schicksal als Geburtshelferin vollkommener Kunst - auch dieses Bild Wölfflins para- phrasiert die oben angesprochenen Prüfungs- und Reifungsnarrationen, denen die Basisoppo- sition ‘Künstler vs. Gesellschaft’ zugrunde liegt.161 Wölfflins Begriff der ‘Entschlackung‘ verdeutlicht den Läuterungsprozeß: Hier wird Rembrandts Lebenslauf zu einer sinnstiftenden Parabel geformt. Wie die Begriffe Verinnerlichung, Vertiefung und Beseelung tritt auch diese ‘Entschlackungsmetaphorik‘ wiederholt auf, wenn es darum geht, den Vorgang der Befreiung des Künstlers zu veranschaulichen und zur Plausibilisierung der Narration beizutragen. Welche Anschlußmöglichkeiten machen das Bild der ‘Entschlackung‘ in diesem Kontext er- folgreich? Zunächst liefert es einen positiven Entwicklungsprozeß, indem es das ‘Vorher’ eines unreinen - „gemischten“ - Zustandes vom erstrebenswerten ‘Nachher’ eines reinen Idealzustandes (z.B. das „Gold“) unterscheidet. Dann kennzeichnet es diesen Prozeß als ‘ur- tümlich’, ist doch die Gewinnung des Metalls aus dem Gestein in menschheitsgeschichtlicher Perspektive eine grundlegende Kulturtechnik, in der zudem irdische Elementarkräfte wirken. Als wesentliche Kraft in der Entschlackung kann das Feuer als Verstärkung der Dramatik des Befreiungsprozesses dienen. Daran lassen sich gut Begriffe wie Schmerz, Leid, Verlust oder Kampf anschließen. Carl Neumann bedient sich dieser Metaphorik in der Neuauflage seines Rembrandt-Buches (1922). In seiner kritischen Antwort auf die lebensphilosophische Auseinandersetzung mit Rembrandt bei Georg Simmel plädiert er dafür, „Rembrandts Kunst entgegen präzeptorhafter Verabsolutierung als einen stetig vorschreitenden Befreiungskampf von historischen Schlac- ken zu ermitteln“ (Neumann 1922, 32). Auf diese dramatische Metaphorik, die Rembrandts Kunst zum Befreiungskampf stilisiert, greift Wilhelm Pinder zurück, wenn er 1943 die wirt- schaftliche Niederlage Rembrandts im Sinne einer Befreiung als Bedingung für dessen gei- stig-künstlerischen Sieg darstellt:

„[Wir, M.H.] verstehen, daß der stoffliche Reichtum jener äußeren Glückszeit auf die Dauer Trug und Verführung war und daß er verloren gehen mußte, um geistiges Gold an den Tag zu fördern.“ (Pinder 1943, 33)

Zuvor hatte Pinder noch einmal die Parabel vom umgekehrt proportionalen Verlauf des welt- lichen und des geistigen Glücks aufgegriffen, der wir bereits bei seinem Lehrer Heinrich Wölfflin begegnet waren. Die Lebensskizze, die Pinder seiner Einführung in Rembrandts Selbstbildnisse voranstellt, läßt den hagiographischen Charakter des Läuterungsmodells stark

161 Die dramaturgische Zuspitzung von Rembrandts Lebensweg in einer Gleichung, nach der sich das weltliche Lebensglück umgekehrt proportional zur künstlerischer Vollkommenheit verhält, findet sich auch bei Adolf Rosenberg: „Wenn der Lebensweg Rembrandts den Künstler auch aufwärts führte, so ging es mit den äußeren Verhältnissen des Menschen nach dem Tode Saskias stetig bergab.“ (Rosenberg 1904, XXX). 171 hervortreten. Der Konflikt mit der Umwelt, die schmerzhafte Einsamkeit des Genies und die Größe seines Heldentums sind wohl in keinem Rembrandt-Roman in glühenderen Farben geschildert worden, als in diesem Text des Berliner Ordinarius für Kunstgeschichte:

„Sein Leben kennt etwas, das nun auch zu allen Gesetzen des Lebens gehört: das ‘Ungesetzliche’, die Katastrophe. Sie umschattet schon den Mann in der zweiten Hälfte der Vierziger. Sie trifft den Mann von fünfzig Jahren mit voller Wucht: Bankerott, Versteigerung, Vertreibung aus eigenem Hause. Sie trifft ihn an der Lebenswende. Diese ist entscheidend; sie kann das Bergab der Lebens- zeit zum Bergauf der Lebenskraft machen, sie kann aber auch eine zweite Jugend herbeiführen. Bei Rembrandt scheint, so unglaublich es klingt, beides zu geschehen. Er empfängt einen schweren Schlag, der ihn tief erschüttert und vorzeitig altert, aber eben der Schlag ruft kraftvolle Gegenwehr hervor. Das letzte Gold in den tiefsten Gründen erschließt erst der Blitz. Nur der Rhythmus kommt ins Wanken: von jetzt an geht alles schneller. Der Künstler vertieft sich fast erschreckend großartig, aber noch vor der Mitte der Fünfziger ist der Mann ein Greis.“ (Pinder 1943, 13 f.)

In der Art eines Naturgesetzes („Das letzte Gold [...] erschließt erst der Blitz“) formuliert Wil- helm Pinder die heroische Vorstellung, derzufolge die ideelle Erfüllung durch materielle Op- fer zu bezahlen sei. Sie wird uns im anschließenden Abschnitt zum topischen Motiv des Lei- dens noch einmal beschäftigen. Halten wir vorerst das narrative Muster der ‘Autonomisie- rung‘ fest, in dem der Künstler aus einer schädlichen Umklammerung durch die gesellschaft- liche Welt befreit wird und zu sich selbst, zur Vollendung seiner Subjektivität im autonomen Kunstschaffen gelangt.162

2.2.2 Zur Verkennungstopik

In der seit den 1890er Jahren gebräuchlichen Narration über Rembrandts Leben führt der ‘Weg‘ des Künstlers aus der Gesellschaft in die Isolation. Diese ‘autonomisierende‘ Erzäh- lung fungiert als Beschreibung von Unterschieden, sie demonstriert, welche Charakteristika einen ‘Künstler‘ ausmachen und wovon diese abzugrenzen sind. Am Zielpunkt dieser Ent- wicklung wird die diskursive Figur ‘Rembrandt‘ in Bezug auf die gesellschaftliche Welt ihrer Zeit als außenstehend verstanden.163 Zugleich wird ein stetiges Wachstum der

162 Es handelt sich hierbei um eine pädagogische Dramaturgie, die auf den bürgerlichen Bildungsroman der Goethezeit als wesentlichen literarischen Vorläufer der Biographik der Jahrhundertwende zurückverweist (vgl. Scheuer 1979, Kap. II). 163 Die wenigen privaten Bezugspersonen, die ihn in verschiedenen Erzählungsvarianten noch begleiten, fallen für dieses Phänomen der Isolation nicht ins Gewicht. Mit dem Motiv der Verkennung durch die Zeitgenossen wird speziell in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts häufig der Verweis auf eine lang andauernde Geringschätzung dieses Künstlers auch von Seiten von Kunstkennern des 18. und frühen 19. Jahrhunderts 172 überhistorischen künstlerischen Stellung Rembrandts postuliert, wobei diese beiden Entwicklungen als kausal verknüpft erscheinen: Die Kennzeichen der äußeren Isolation nehmen in den fraglichen Argumentationen die Position von Belegen der inneren Reifung ein. Der Ausschluß des Künstlers durch seine Zeitgenossen bezeugt somit, daß die Bedeutung seines Werks - und damit auch die des schöpferischen Individuums selbst - über die Verständnismöglichkeiten seiner Zeit hinausgewachsen sei.164 Die Störung der Kommunikation zwischen dem Künstler und seinen Zeitgenossen wird demnach Letzteren angelastet. Es herrscht nicht einfach nur Unverständnis zwischen beiden Polen, sondern der Künstler wird verkannt, da die Gesellschaft (noch) nicht in der Lage ist, seine wahre Bedeutung zu überschauen. Neben der narrativen Schilderung dieser Verhältnisse in Form des Autonomisierungsprozes- ses wird die Verkennung des Künstlers in einer Anzahl weiterer Topoi veranschaulicht. In dieser Verkennungstopik geht es nur zum Teil um das Werk und die darauf erfolgenden Re- aktionen.165 Als Zeichen für das Mißverhältnis zwischen künstlerischer Bedeutung und gesell- schaftlicher Anerkennung spielt daneben die Beschreibung der näheren Lebensumstände des Künstlers und seines körperlichen Zustandes eine bedeutende Rolle. Es sind drei Motive, das Leiden, die Armut und die Einsamkeit, die in der Rembrandtliteratur die Vorstellung vom schweren Schicksals des Künstlers zu veranschaulichen helfen und so den Prozeß seiner dis- kursiven Subjektivierung vorantreiben.

2.2.2.1 Das Leiden als körperliches Zeichen der Verkennung

Auf die topische Präsenz des Leidens in der Vorstellung vom modernen Künstlertum ist in der Forschung wiederholt verwiesen worden. Seine Traditionslinien können auf die antike My- thologie und die christliche Heiligenvita zurückgeführt werden,166 seine Prägung für die Mo- ergänzt, bis hin zu der Behauptung, Rembrandt sei über 150 Jahre lang vergessen gewesen (z.B. bei Lichtwark 1917 [1885], 261; Gurlitt 1902, 438). 164 Hier verbindet sich mit dem Isolationsmodell also eine genuin moderne Idee, die Vorstellung vom historischen Fortschritt menschlicher Erkenntnispotentiale. 165 Dieser Aspekt der Verkennungstopik im engeren Sinne - die Ablehnung der künstlerischen Leistung - wurde in Ansätzen bereits im vorangegangenen Abschnitt (Narrativierungen) angesprochen und fand zudem im Abschnitt Rembrandts Verhältnis zur Auftragsarbeit Beachtung. Er kommt nochmals ausführlicher im Kapitel Nachtwache zur Sprache, wo auch die rezeptionsgeschichtliche Entwicklung der Verkennungsthematik aufgeschlüsselt wird. 166 Zahlreiche Beispiele könnten besonders die rhetorische Gleichsetzung des Künstlers mit dem christlichen Märtyrer belegen. Ich verzichte hier auf eine Ausführung, da diese inhaltlich keine Erweiterung des Spektrums liefern würde. Anstatt derartigen Bezugnahmen auf Heiligenviten eine psychologische Bedeutung im Sinne der Sehnsucht nach einer Imitatio christi zu unterstellen (vgl. Neumann 1986, 58 ff.) sehe ich darin primär ein Phä- 173 derne erhält er in der Konzeption des romantisch-idealistischen Genies um 1800 (Neumann 1986, 54 ff.). Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts bilden ‘Dichter und Denker‘ das Zen- trum dieser heroischen Subjektvorstellung. Der bildende Künstler steht zunächst in ihrem Schatten und weist erst in der zweiten Hälfte jenes Jahrhunderts eigenständige Konturen als Sinnbild der Subjektivität auf. In der Rembrandtliteratur tritt das Leiden nicht als eigenständiges Hauptmotiv, sondern als Begleitmotiv innerhalb der Verkennungstopik auf. Verweise auf körperliches Leiden sind dabei selten, es ist vielmehr das Leiden am Tod der engsten Familienmitglieder und das Lei- den unter der sozialen Situation, die hier thematisiert werden. Beispiele dafür finden sich erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, was zum einen mit den gleichzeitigen Tendenzen zur Marginalisierung des Künstlers zu tun hat, zum anderen aber aus dem Umstand herzuleiten ist, daß erst in dieser Phase in Folge der Archivstudien Informationen zum Privatleben des mittleren und späten Rembrandt bekannt wurden, die als Anknüpfungspunkte für entspre- chende Schilderungen dienen konnten. Die fraglichen Stilisierungen bleiben dabei im Rahmen der seit der Frühromantik entwickel- ten und über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg variierten und etablierten Vorstellung vom intensiven und schicksalsträchtigen Leben des Genies.167 Dabei kennt die Leidenstopik zwei wesentliche Variationen. Beide bringen das Leiden des großen Individuums in einen kausalen Zusammenhang mit dessen herausragender Leistung. Beim Prometheusmotiv (1) wird dieser negativ bestimmt. Wie der Heros der antiken Legende hat sich der Einzelne hier in einen übermenschlichen Bereich vorgewagt und wird dafür von den Göttern, beziehungsweise in einer säkularisierten Sicht vom ‘Schicksal‘ oder vom ‘Le-

nomen der Metaphorik. In der Absicht, Rembrandts Leben und Wirken deutend darzustellen, greifen viele Auto- ren auf christlich geprägte Begriffe und Beispiele als eine verfügbare Kollektivsymbolik zurück, d.h. sie machen metaphorischen Gebrauch von einem Themenfeld, das sich um 1900 aufgrund seiner allgemeinen Bekanntheit für eine solche Verwendung anbot. Christliche Kollektivsymbolik ermöglicht aufgrund ihrer Komplexität eine ausgezeichnete Differenzierung von Aussagen, kann die literarische Qualität eines Textes durch ihren Reichtum an Äquivalenten steigern und bewirkt dabei gleichzeitig, für uns vielleicht der wichtigste Punkt, eine Nobilitie- rung des Erzählgegenstandes, seine Erhebung in den Status ‘geistigen Adels‘. Die dabei mitgeführte metaphysi- sche Erhöhung der Kunst ist ebenfalls nicht zu übersehen. 167 Die historische Entwicklung unterschiedlicher Facetten dieses Geniekonzepts bei einzelnen Philosophen und Literaten, wie sie Jochen Schmidt (1985) ausführlich herausgearbeitet hat, ist für unsere Zusammenhänge nur von marginalem Interesse. Keiner der Autoren meiner Untersuchung bezieht sich in diesem Punkt direkt auf einen Vordenker oder entwickelt selbst einen hinreichend komplexen Entwurf der Genialität, daß sich ein Ver- gleich mit den bei Schmidt ausgeführten Positionen lohnen würde. Es ist vielmehr festzustellen, daß in den Jahr- zehnten um 1900 eine unscharfe Vorstellung vom Genie zirkuliert, die eine variable Anzahl von Topoi aufweist. Diese Rede vom Genie stützt sich offenbar auf hinreichende allgemeine Akzeptanz, so daß sie im Kontext der Künstlerbiographik ohne weitere Erklärungen abgerufen werden kann. 174 ben‘, bestraft. Die geistige Höhe seines Schaffens bezahlt der Künstler also durch Verluste, Mängel und Schmerzen im materiellen Bereich. Das Leiden wird als Sühne aufgefaßt, als Ausgleich eines Schuldenkontos. Unabhängig davon, ob die Sühne als gerechtfertigt betrach- tet wird oder nicht, liegt dieser Sichtweise eine metaphysische Struktur zugrunde. Das Erziehungsmotiv (2) kehrt die Kausalverhältnisse um. Hier wird das Leiden als produkti- ver Faktor verstanden, der einen entscheidenden Impuls zum schöpferischen Künstlertum liefert und zur Verbesserung der künstlerischen Leistungen beiträgt. Schmerzen und Verluste betreffen die äußerliche Ebene des ‘Menschen‘. Sie erziehen den ‘Künstler‘ dazu, sich von dieser Ebene zu distanzieren und statt dessen die Aufgabe, das Glück und die Erfüllung im geistigen Reich der Kunst zu suchen.168 Leiden ist hier also Mittel zur Verinnerlichung und Vertiefung.169

(1) Ein Beispiel für das Prometheusmotiv finden wir bei Wilhelm Valentiner (1906). Er ver- weist zwar auf die mythische Struktur dieser Formel, jedoch ohne deren Geltung grundlegend aufzuheben:

„(...) aus [Rembrandts] Kunst haben wir die Liebe zu den Gestalten und den Dingen, die ihn umga- ben, so genau kennen gelernt, daß wir wohl mit Recht annehmen dürfen, daß jede plötzliche Ver- änderung, die mit ihnen vorging, zu einem tiefen, schmerzlichen Riß in seiner Seele wurde. Und solcher erschütternder Ereignisse gab es mehr als genug in seinem Leben, zumal in dessen zweiter Hälfte. Es war, als sollte der alte Glaube an ihm zur Wahrheit werden, das Menschengröße durch Leiden erkauft werden soll. In rascher Folge starben Rembrandts Frau, seine Kinder und seine nächsten Verwandten. Bald darauf kam der Künstler durch seine Kunstsammlungen in Schulden, musste seinen Besitz versteigern lassen und ging aller Ehre verlustig. So wurde ihm entrissen, woran er am meisten hing; er mußte auf die Stützen verzichten, die Menschen und Besitz bieten.“ (Valentiner 1906, 92)

Im Anschluß an derartige Schadensberichte wird in der Regel auf den ungebrochenen Schaf- fensdrang verwiesen, der Rembrandt bis in seine letzten Jahre zu Meisterleistungen befähigt habe. Die vom Schicksal auferlegte Last des Leides mag den Menschen treffen, seinen künst- lerischen Höhenflug kann sie jedoch nicht ernsthaft gefährden.

168 Eckhardt Neumann weist auf die christliche Tradition dieser „Interpretation des Leidens als eines pädagogi- schen Instruments“ seit Augustinus hin (De civitate dei I, 8): „Gott bedient sich des Leids als eines Instruments zur correctio, also zum Zweck der Besserung, und andererseits setzt er es als probatio zur Prüfung des Men- schen ein.“ (Neumann 1986, 68). 169 Eine Variation bringt beide Motive zusammen: das Leiden erscheint als Strafe, die jedoch nur den Trotz des Künstlers hervorruft und somit indirekt wiederum erzieherische Wirkung zeigt (so z.B. bei Verhaeren 1912, 22 und 54). 175 In einer Verkürzung der Narration der Prometheuslegende - diese sieht erst das Vergehen wi- der die Götter vor und dann, in einem zweiten Schritt, die Bestrafung - tritt bereits im roman- tischen Künstlerbild das Leiden zumeist als direkte Begleiterscheinung künstlerischer Praxis auf (Neumann 1986, 55). Hier sehen wir, daß es in diesen Vorstellungen vom Künstlertum primär nicht etwa um das Tradieren antiker Mythologie ging, sondern daß diese Mythologien lediglich der Illustration und Nobilitierung aktuell bedingter Konzeptionen dienten. Prome- theus sollte nicht nachgeahmt werden, er konnte vielmehr als Ahne zur Veranschaulichung und Etablierung der neuen Vorstellung dienen. Nicht die Renaissance eines antiken Motivs, sondern das romantisch-moderne Subjektivitätskonzept stand auf dem Programm. Prometheus als leidender Kulturheros konnte viele Gewänder tragen. In der Gestalt Rem- brandts opferte er sein materielles Wohl der hohen und wahrhaftigen Sache der Kunst. Ein Beispiel: In einer patriotischen Miniatur über Rembrandt, 1916 im Sammelband Das deutsche Angesicht erschienen (1917 als reduzierte Auswahl fürs Feld), konzentriert sich Her- bert Eulenberg darauf, die Opferbereitschaft als Künstlertugend zu proklamieren:

„Rembrandts erhabenes tragisches Beispiel weist dem Künstler den Weg zur Unsterblichkeit. Vor ihn sollte man die jungen Akademiker führen, nicht um ihn zu kopieren, sondern um Persönlich- keiten und eigene Menschen wie er zu werden. Und man sollte sie noch heute anreden wie der alte Cornelius seine Schüler: ‘Nicht darauf kommt es an, meine Herren, möglichst viele tausend Taler im Jahre zu verdienen und ein Haus in der vornehmsten Straße zu erwerben, sondern einzig darauf, Kunst zu machen. Was nützt es dem Maler, wenn er sich hohe Orden und Titel und Revenuen wie Rothschild ermalt und erster Klasse mit sechs Pferden und mit Musik begraben wird, wenn er zehn Jahre später der Lächerlichkeit verfällt und seine Bilder immer höher bis auf den Speicher wandern und die Motten selbst sie nicht mehr mögen? Auf Rembrandt schaut, ihn ehrt wie einen Heiligen, den Welteroberer, der auf der Strohmatte gestorben ist und als Bettler erlosch, um als größter Künstler fortzule ben!‘.“ (Eulenberg 1917, 95)

Der Nachruhm wird von Eulenberg als eigentliches Ziel des Künstlers dargestellt. Materieller Erfolg zu Lebzeiten scheint dem Erreichen dieses Ziels eher abträglich zu sein, denn Materia- lismus ist hier als Gegenpol zum Idealismus gedacht, und dieser ist wahrem Künstlertum als Existenzmodus bestimmt. ‘Leiden‘ - über den rein körperlichen Schmerz hinaus als Ausdruck des bedrohten Individu- ums schlechthin verstanden - wird in dieser Sichtweise geradezu zum charakteristischen Kennzeichen für eine vorbildliche Geisteshaltung. In der Darstellung Eulenbergs erscheinen die Bereitschaft zum Leiden und die Tatsache des Leidens wie die ersten unverzichtbaren Schritte zum praktizierten Idealismus, hier imaginiert als Kardinaltugend der Künstler - und Soldaten.

176 (2) Am häufigsten tritt das Leiden aber wohl mit einem erzieherischen Impetus in Erschei- nung. So erzählt zum Beispiel Richard Hamann (1906) über die Jahre nach Rembrandts Kon- kurs:

„Diese Schicksale prägen sich im Äusseren Rembrandts immer mehr aus. Er verwahrlost immer mehr. Wie er sie innerlich durchlebte, können wir nur ahnen. Eine unendliche Vertiefung - die Er- ziehung durch das Leiden - kündet sich in jedem Werke dieser Zeit an.“ (Hamann 1906, 17)

Wie diese Formel der „Erziehung durch das Leiden“ zu verstehen ist, erläutert Eberhardt Hanfstaengl (1939):

„Dies Leid, diese grausamen Enttäuschungen trieben ihn in die Tiefe der Dinge, in eine totale Ein- samkeit. So geht er dem Dunkel entgegen, das er mit wundersamen Gesichten und goldenen Strah- len erhellt hat, das für ihn nichts Erschreckendes haben kann - mit einer gelassenen Ruhe und in unermüdlicher Arbeit.“ (Hanfstaengl 1939, 14)

Ohne das Leid direkt zu begrüßen, wird es hier doch als produktive Kraft aufgefaßt. Leid er- zieht, indem es dem Leidenden die Oberflächlichkeit ‘äußerlicher‘ Phänomene als enthüllt, indem es ihm die wahre und tiefe Bedeutung der Dinge erschließt. Carl Neumann (1902/1922):

„Wo sind die Menschen, denen Glück auf die Dauer zuträglich ist? Unsere Natur ist zu eudämo- nistisch angelegt, um Unglück und Leid zu begrüßen, um sich ergeben ihnen zu unterwerfen. Den- noch sind es diese unerbetenen Mächte, die da kommen und das Erdreich locker machen, aus dem die Quellen des Tiefsten, das in menschlicher Natur ruht, hervorbrechen.“ (Neumann 31922, 365)

Leiden führt zur Tiefe, auch wenn dies die „eudämonistisch angelegt[e]“, also auf das Lob der Glückseligkeit ausgerichtete Natur des Menschen oft nicht wahrhaben mag. Dem Leiden wird läuternde Kraft zugesprochen. Es vermag demnach, dem Individuum die ganze Tiefe seiner Wesens zu erschließen, also als Schlüssel zur vollendeten Subjektivität zu dienen. Hinsichtlich der Bedeutung des Leidenstopos erscheint mir dieser Zusammenhang tatsächlich als entscheidend: Im Diskurs der Subjektivität fungieren Krankheit, Schmerz und Leidensfähigkeit als Belege für die erhöhte Sensibilität des künstlerischen Subjekts und damit als Ausdrucksmittel der Subjektivität selbst. Einer hermeneutischen Lektüre liefert der Lei- dende ein Zeichen seiner inneren, seiner ‘seelischen‘ Tiefe.170 Diese These wird durch die Be- obachtung belegt, daß der Hinweis auf das Leiden zu den geläufigen Begleitmotiven zählt, wenn in der Rembrandtliteratur von der Tiefe des künstlerischen Subjekts gesprochen wird.

170 Für eine ausführliche Diskussion der hermeneutischen Funktion des Schmerzes in der modernen Literatur und Philosophie vgl. Christians 1999. 177 Wo sich beispielsweise das Leiden des Künstlers in seiner Kunst dingfest machen läßt, da dient es, wie bei Jan Veths (1906) Deutung des radierten Selbstbildnis am Fenster (RS 62), als Beleg der geistigen Tiefe und der Willensstärke:

„Hier sehen wir Rembrandt selbst, wie er, in andächtige Wahrnehmung versunken, von seiner Zei- chentafel aus in die Welt späht, während er bereit ist, das so Betrachtete dem Papier anzuvertrauen. Sein schmerzlich angespanntes Gesicht zeigt die Spuren von viel Streit und viel Leid, aber die tief- zerfurchten Züge sprechen auch von einer ungebrochenen, ja noch gestählten Hartnäckigkeit und von einer fest entschlossenen Einkehr zu tieferem Lebensschatz.“ (Veth 1906, 109)171

Alfred Stange verknüpft noch 1954 Künstlertum, Subjektivität, Tiefe und Tragik zu einem kausalen Geflecht:

„Rembrandt begegnet in jedem seiner Bilder als ein subjektiver und - man darf einfügen: deshalb - tragischer Künstler. Er gab, was ihm in Bibel, Historie und menschlichen Modellen zum tiefgrün- digen Erlebnis geworden war, als persönliche Aussage, deren Richtigkeit und Notwendigkeit in ihm allein begründet lag. Deshalb mußten er und sein Schaffen einsam werden. Jedes seiner späten Werke erscheint als ein Stück der menschlichen Tragödie. Leid und Zerbrochenheit, Gescheitert- sein und Verzicht sind fast ausnahmslos ihr Grundtenor.“ (Stange 1954, 41 f.)

Wenige Jahre zuvor macht Marie Luise Kaschnitz in späten Selbstbildnissen Rembrandts eine „gefestigt[e] und vertieft[e]“ „Persönlichkeit“ aus. Zu den Ursachen für diese Erhebung des Künstlers in den Rang eines autonomen Subjekts zählt auch sie das Leiden:

„Auf den (...) Bildern erscheint die Persönlichkeit Rembrandts durch das Leiden und die äußere Einengung erhöht, durch das Ausgestoßensein aus der patrizischen Gesellschaft gefestigt und ver- tieft. Das Zurückfinden zu sich selbst ist eine neue Begegnung mit dem Menschen, mit einem Neuen nun, der weder der Bereicherung und Ehrung von außen, noch des sicheren Haltes einer bürgerliches Existenz bedarf.“ (Kaschnitz 1948, 34)

Wiederum wenige Jahre zuvor sieht Wilhelm Pinder das Leiden als eine Grundbedingung für die Entstehung des „Selbstbildnis engeren Sinnes“ an, die er bei Dürer und Rembrandt veror- tet. Die Bewußtwerdung über das individuelle Leiden wird dabei geradezu zum konstitutiven

171 „Wij zien hier Rembrandt zelf, zoals hij (...), in aandachtige waarneming verzonken, van achter zijn teekenta- fel de wereld intuurt, terwijl hij gereed is het aldus aanschouwde toe te vertrouwen aan het papier. Zijn smarte- lijk gespannen gelaat vertoont de sporen van veel strijd en veel leed, maar die zwaargegroefde trekken spreken ook van een ongebroken, ja nog gestaalde hardnekkigheid en van een vastbesloten inkeer tot dieper levens- schat.“ (Veth 1906, 109). 178 Moment der Subjektivität überhaupt. Zudem wird erneut das Tragische als eigentlicher Mo- dus des Künstlerischen bestimmt:

„Selbsterforschung kann eben nur das Ich leisten. Erst mit ihr entsteht das Selbstbildnis engeren Sinnes. (...) Nur weil Dürer selber ringt und fragt, und dies als einziger Wissender sehen kann, weil eine eigene schwarze Stunde ihm zur Form wird, nur darum kann eine solche Form des Selbstbildnisses entstehen. Die innere Spaltung in Sehen und Gesehenwerden, aber auch in den Leidenden und den, der dieses Leiden als das nur ihm eigene fühlt und darum gestaltet, erst diese macht das Selbstbildnis engeren Sinnes aus.“ (Pinder 1943, 12)

Die diskursive Funktion des Leidens sehe ich, mit Bezug auf diese Zitatbeispiele, in der De- monstration der Tiefe des Empfindens des Leidenden, die als Beleg für dessen ausgeprägte Subjektivität fungiert. Die Topik des autonomen Künstlers verweist an dieser Stelle besonders deutlich auf ihre Tradition: den „genialischen Subjektivismus“ der Romantik, wie er etwa im Prometheusmythos zum Ausdruck kommt (vgl. Schmidt 1985, I, 254 ff.). Über die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen dieses Subjektkonzepts wird zum Ende dieses Teils noch zu reden sein. Vorerst möchte ich zwei weitere Motive darstellen, die in der Rembrandtlite- ratur im Kontext der Verkennungstopik auftreten: die Armut des alternden Künstlers und seine Einsamkeit.

2.2.2.2 Die Armut als Veranschaulichung der gesellschaftlichen Marginalisierung

„Völlig verarmt, völlig vereinsamt ist Rembrandt am 4. Oktober 1669 in Amsterdam gestorben.“ (Seiffert-Wattenberg 1936, 11)172

Bis ins vierte Viertel des 19. Jahrhundert lagen zu den letzten zehn Lebensjahren Rembrandts nur minimale Informationen vor. Die Quellen schwiegen, die Autoren taten es ihnen gleich und wiesen darauf hin, daß bekannte Hypothesen wie Rembrandts späte Reise nach Schweden und sein dortiger Tod am Königshofe lediglich auf Spekulationen beruhten (Immerzeel 1843, 11).

172 Die Kraft dieser Formel liegt im tragischen Schicksal des verkannten Genies und in dem schockierenden Kontrast zwischen einstiger Nichtachtung und heutiger Verehrung. Sie wirkt besonders, wenn sie als Einstieg in die Lebenserzählung genutzt wird. So verfährt der hier zitierte Begleittext zu einem kleinen Ausstellungskatalog (Seiffert-Wattenberg 1936), so verfahren aber beispielsweise auch der Rembrandt-Film von 1942, der seine Handlung als Rückblende entfaltet, und der Rembrandt-Roman Der Überwirkliche von Hendrik van Loon (deutsch 1933). 179 Die Archivfunde, die im Verlauf der 80er Jahren publiziert wurden, lieferten dann einige neue Anhaltspunkte für die Erzählungen der Vita des späten Rembrandt. Der wachsende Umfang dieser Quellen, ihre Akzeptanz und ihre Ausdeutung durch verschiedene Autoritäten sorgte um 1900 für eine weitgehende Übereinstimmung in den Schilderungen dieser Phase von Rembrandts Leben. An die Stelle der Witwe Catharina van Wyck, die zwischen 1866 und 1883 vorübergehend als letzte Ehefrau des Künstlers gegolten hatte,173 trat die uneheliche Be- ziehung zu Hendrickje Stoffels,174 das Datum seines Todes war nicht länger strittig,175 und verschiedene Gerichtsakten gaben Einblick in die weiteren Familienverhältnisse. Der Grundtenor dieser Darstellungen von Rembrandts Lebensende läßt sich am Beispiel von Adolf Rosenberg (1904) nachvollziehen:

„Noch am Abende seines Lebens hatte der greise Meister die schwersten Prüfungen zu bestehen. Kurz vor 1664 war seine Hendrickje gestorben, und im September 1668 starb Titus (...) In völliger Vereinsamung, von seinen Landsleuten, die ihn einst aufs höchste gefeiert hatten, gänzlich verges- sen, starb Rembrandt in der ersten Oktoberwoche des Jahres 1669.“ (Rosenberg 1904, XXXVI)

Neben der Einsamkeit und dem gesellschaftlichen Desinteresse ist in derartigen Schilderun- gen der Hinweis auf die ärmlichen Verhältnisse zu finden, die den Lebensabend des Künstlers begleiteten. Rosenberg führt hierzu ein Dokument an, das zum erweiterten Kanon des Topos zu zählen ist:

„Daß er in bitterster Armut starb, wird uns noch durch ein nach seinem Tode aufgenommenes In- ventar bestätigt, worin ausdrücklich hervorgehoben wird, daß er nichts an Eigentum hinterlassen hat, ‘mit Ausnahme seiner Kleider aus Wolle und Leinwand und seiner Arbeitsgeräte‘. So endete ein Künstlerleben, das unter so günstigen Vorzeichen begonnen und lange Zeit im leuchtendsten Sonnenglanz gestanden hatte, als erschütterndes Trauerspiel!“ (Rosenberg 1904, XXXVI)

Um 1900 etablierte sich also die noch heute geltende Version der Lebenserzählung, in der Hendrickje Stoffels und Titus van Rhijn die wichtigsten Nebenrollen spielen, dem sterbenden Künstler jedoch nur noch die unmündige Tochter Cornelia und Titus’ Witwe Magdalena van Loo mit ihrer soeben geborenen Tochter Titia zur Seite stehen. Wie die Rezeptionsgeschichte zeigt, stellt sich erst mit dieser Auffassung von Rembrandts Altersjahren auch die Formel

173 Zuerst bei Scheltema 1866, 153; widerlegt durch de Roever, vgl. Bode 1883, 546. 174 Gemäß seiner bereits beschriebenen Neigung zur ‘Privatisierung‘ der Werke Rembrandts baute Bode die Dar- stellungen de Roevers über Hendrickje aus, indem er in den Werken Rembrandts nach ihrem Bildnis suchte. Aus diesen drei Elementen - ihrem Namen, den Dokumente ihres Lebens und schließlich ihrem Gesicht - stabilisierte sich Hendrickjes Rolle in den Lebensschilderungen (Bode 1883, 548 ff). 175 Es wird bereits durch Scheltema mit dem 9. Oktober 1669 angegeben und danach kaum noch angefochten (vgl. Kolloff 1854, 469). 180 seiner Verarmung und Verkennung ein.176 Als einer der spätesten Texte verweist Knackfuß‘ auflagenreiche Künstlermonographie noch 1897 auf Catharina van Wyck als Witwe Rem- brandts (41897, 152). Von Armut, Verkennung oder Einsamkeit ist dabei keine Rede. Als 1911 im selben Verlag eine Kurzversion aus der Hand von Hans Jantzen erscheint, hat sich neben Hendrickje und Titus auch die Armutsformel etabliert:

„So war denn auch das einzige, was Rembrandt bei seinem Tode hinterließ - Pinsel und Palette.“ (Jantzen 1911, 32)

Die Archivfunde der 80er Jahre zogen demnach eine Revision der Vita nach sich. Anstelle einer neutralen Wiedergabe der Quellen ist dabei jedoch deren unterschiedliche Gewichtung zu beobachten. Viel zitiert und variiert wurde der Satz, Rembrandt habe nur einige alte Klei- der, etwas Farbe und Zeichenmaterial hinterlassen. Hierauf konnte sich die Armutslegende stützen, und sie tat das durchaus auch in Texten akademischer Kunsthistoriker bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.177 Andere Dokumente wurden dagegen kaum beachtet, und das, obwohl sie von den beiden führenden Autoritäten im deutschen Raum, Carl Neumann (1902) und Wilhelm Bode (1906) erwähnt und in ihren Konsequenzen gedeutet worden waren. Um den selektiven Umgang mit Quellen und dessen Bedeutung für die Rembrandtlegende zu verdeut- lichen, sollen die fraglichen Passagen hier skizziert werden.

Gemeinsam mit Cornelis Hofstede de Groot hatte Wilhelm Bode 1897 den ersten Band des ambitionierten Projektes eines „beschreibenden Verzeichnisses“ aller Gemälde Rembrandts publiziert.178 Im letzten Band, der 1905 erschien, findet sich neben einem umfangreichen Nachtrag „wiederentdeckter“, also in jüngster Zeit Rembrandt zugeschriebener Gemälde der vollständige Abdruck aller bisher verfügbarer Archivstücke, die Rembrandts Leben betreffen. In seiner kurzen „Lebensgeschichte Rembrandts“, eben dort publiziert, will Bode keine um- fassende Erzählung entwerfen, sondern lediglich in dieses „Urkundenwerk“ einführen (Bode

176 Vgl. dagegen Guhl (1856, 223), der aus dem Mangel an Informationen auf einen Niedergang des Künstlers schließt. 177 So etwa bei Hanfstaengl 1947, 169; Stange 1954, 13; vgl. dagegen Weisbach 1926, 75 ff. Auch Richard Ha- mann nimmt 1948 den Armutstopos zurück, ohne jedoch eine vollständige Relativierung der Verkennungstopik damit zu verbinden (Hamann 1969, 128). 178 Der auf acht Bände konzipierte Werkkatalog unterscheidet sich von allen bisherigen Versuchen einer solchen Zusammenstellung durch die „heliographischen Nachbildungen“, die, in großem Format und auf separaten Blät- tern präsentiert, der nüchternen Beschreibung erstmals ein vollständiges Bildarchiv zur Seite stellten. Bode be- tont die Exklusivität des Projektes selbst in der Einleitung zum ersten Band. Wurzbachs Rembrandt-Galerie hatte 1886 100 Gemälde publiziert, dabei jedoch noch nicht auf Fotografien, sondern auf Nachstiche („Stiche, Radierungen und Schwarzkunst-Blätter“) zurückgegriffen. 181 1905, o.S.). Im Detail bedeutete dies eine Auslegung der unangenehmen Dokumente - über Rembrandts Verhalten als Schuldner, die Streitigkeiten mit Geertje Dircx und das „Konkubi- nat“ mit Hendrickje Stoffels - und deren Einbindung in ein positives Gesamtbild von „Rem- brandt’s Leben und Charakter“ (vgl. Bode 1905, 8 f.). In dieser Erschließung der Quellen setzt sich Bode auch gründlich mit Rembrandts kompli- zierten Finanzverhältnissen auseinander. Zunächst geht es dabei um den Niedergang des bür- gerlichen Glanzes, der sich im repräsentativen Haus und in der reichen Kunstsammlung ge- äußert hatte und seit 1656 im Konkursverfahren abgewickelt wurde. Wie wir gesehen haben, wird dieser wirtschaftliche Ruin in den geläufigen Lebenserzählungen mit der gesellschaftli- che Isolation verbunden, die Armut des späten Künstlers fungiert als Zeichen und Beleg für dessen Marginalisierung. Auch Wilhelm Bode stellt seiner Beschreibung der finanziellen Situation am Lebensende Rembrandts ein entsprechendes Fazit voran:

„Rembrandt’s Hinterlassenschaft bestand, wie uns die Urkunden bezeugen, nur in seinem dürftigen Hausrath, seinem Arbeitszeug und seinen Kleidern. Danach müssen wir annehmen, dass der Künstler in diesen letzten Jahren in völliger Armuth gelebt habe.“ (Bode 1905, 14)

Über Eigentum habe Rembrandt nicht verfügt, denn dieses hätte ja in Folge der verbliebenen Restschuld den Gläubigern zugestanden. Allerdings sei die Vorstellung der damaligen Le- bensumstände des Künstlers mit dem Begriff ‘Armut‘ nicht erschöpfend dargestellt:

„(...) aber die kleine Wohnung konnte deshalb doch noch in einer bescheidenen Behaglichkeit ein- gerichtet und selbst künstlerisch etwas ausgestattet sein. In der That liessen die Witwe von Titus und der Vormund von Cornelia drei Zimmer des Sterbehauses mit ‘Gemälden, Zeichnungen, Rari- täten und Antiquitäten‘ schliessen und die Thüren versiegeln. Dass Rembrandt nicht die Noth wirklicher Armuth ausgekostet hat, geht auch daraus hervor, dass der Vormund von Titus‘ Tochter Titia, François van Bylaert, sich erst befriedigt erklärt auf die notarielle Aussage der beiden Vor- münder von Rembrandt’s Tochter Cornelia, dass der Künstler laut jenem Vertrage zwischen Rem- brandt einerseits und Hendrickje und Titus andererseits, ausser seinen Malutensilien und einigem Leinen- und Wollenzeug nichts besessen habe, sondern dass der ganze Nachlass nur den Erben von diesen beiden angehöre und von Rembrandt nur benutzt worden sei.“ (Bode 1905, 14)

Reduziert auf ihren wesentlichen Gehalt besagen diese Erläuterungen, daß Rembrandt zwar kein Eigentum hinterließ, aber nicht als besitzlos gelten konnte. Als rechtmäßige Eigentümer dessen, was auch von Rembrandt zu Lebzeiten „benutzt“ wurde, waren zunächst Titus und Hendrickje, später deren Erben, also die Witwe von Titus und Hendrickjes noch unmündige Tochter Cornelia, anzusehen. Grundlegend für diese Eigentumsverhältnisse war der Vertrag, den Hendrickje und Titus nach dem Konkurs Rembrandts mit diesem geschlossen hatten. Da-

182 durch wurde er zu einem Angestellten des von diesen beiden geleiteten Kunsthandels, erhielt Kost und Logis und zahlte ihnen seine Schulden durch Gemälde und Radierungen ab. So blieb Rembrandt ohne Eigentum, er hatte seine Selbständigkeit verloren, konnte aber zugleich wieder den Unterhalt seiner Familie sichern. In den Worten Neumanns (1902):

„Der Sinn dieser Bestimmungen ist durchsichtig genug. Rembrandt bleibt in Insolvenz; er ist bei dem Geschäft, das seine Familie betreibt, angestellt; den Forderungen der Gläubiger kann er die Thatsache entgegensetzten, daß er nichts besitzt und nichts zahlen kann.“ (Neumann 1902, 594 f.)

Auf dieser Basis ließ sich sogar, darauf weisen Bode (1905) und Neumann (1902) hin, wieder eine Kunstsammlung aufbauen, deren Wert die rechtmäßigen Eigentümer nach Rembrandts Tod vor dem Auge des Gesetzes und dem Zugriff der Gläubiger durch Versiegeln der Türen entzogen. Bode sind diese Zusammenhänge klar und er schließt daraus, „dass Rembrandt nicht die Noth wirklicher Armuth ausgekostet hat“; Neumann hatte festgestellt:

„Drei Zimmer, deren Inhalt nicht spezifiziert wird, sind voll von Malereien, Zeichnungen, Raritäten und Antiquitäten. Es war also wieder eine Sammlung da, von der Rembrandt auch im letzten Jahr- zehnt seines Lebens den Genuß gehabt hatte. Aber von allem gehörte ihm nichts, und der Notar konstatierte, daß nur seine Kleider, die Leibwäsche und sein Malgerät sein Eigentum gewesen seien.“ (Neumann 1902, 595)

Wie diese Zitate zeigen, wird in den grundlegenden Texten der beiden einflußreichsten deutschsprachigen Autoren Material zur Verfügung gestellt, das die Vorstellung von einem im Alter völlig verarmten Rembrandt entscheidend relativiert. Eine umfassende Thematisie- rung dieser Beobachtung würde jedoch einen Argumentationspfeiler der Verkennungsthese gefährden. Im Anschluß daran wäre selbst die zentrale Vorstellung der künstlerischen Auto- nomie Rembrandts in Frage gestellt, da sich das Vermögen des Kunsthandels von Titus und Hendrickje ja wenigstens teilweise aus dem Verkauf jener rembrandtschen Arbeiten gespeist haben mag, die in so reicher Zahl die Bände von Bodes Verzeichnis füllen. Außerhalb der beiden zitierten Textpassagen nimmt die deutschsprachige Rembrandtliteratur diese Zusam- menhänge tatsächlich auch kaum zur Kenntnis.179 Wurden sie dennoch erwähnt, so stand ihnen in den markanten summarischen Textteilen am Anfang oder Ende der Bücher und Aufsätze die Formel der Verkennung, Vereinsamung und Verarmung entgegen. Ihre Blütezeit erlebte diese Formel übrigens erst, als die oben aufgeschlüsselten Quellen zum späten Besitzstand des Künstlers bereits publiziert waren. Auch in den zitierten Texten Neumanns

179 Weisbach (1926) und Hamann (1948) übernehmen in ihren umfassenden Rembrandt-Monographien die For- mel von Neumann und Bode und verknüpfen die Relativierung der Armutsthese mit einer Fortsetzung der Ver- kennungstopik (vgl. Anmerkung 20). 183 und Bodes bleibt sie prinzipiell unangetastet. Die beiden Autoren stellen sich in diesem Punkt nicht gegen den Trend der Deutungen, sondern gewähren den Relativierungen der späten Armut Rembrandts letztlich keinen Einfluß auf die Schilderungen der Einsamkeit und Verkennung des Künstlers. Bodes Entwurf der Künstlerpersönlichkeit lautet:

„Aus allem gewinnen wir das Bild einer echten Künstlernatur, eines Mannes, der ganz seiner Kunst lebte, die ihn auf das Heim hinwies, die ihn abgeschlossen und mit der Zeit selbst abstossend gegen die Aussenwelt werden liess.“ (Bode 1905, 14 f.)

Und Neumann schreibt angesichts später Selbstbildnisse:

„Bitter, aber im Vorgefühl und der Sicherheit seines Rechts sieht er uns wie ein gestürzter König an, vertrieben und einsam, aber hoheitsvoll und doch ein König.“ (Neumann 1902, 490)

2.2.2.3 Rembrandts Einsamkeit - Endpunkt der Autonomisierung und ‘Ort der Kunst‘

Die Konzeption der Lebensgeschichte Rembrandts als Läuterungsprozeß dominiert die deutschsprachigen Texte des Untersuchungszeitraums, sie ist keineswegs nur ein Randphä- nomen und etwa auf ‘populäre‘ oder ‘triviale‘ Texte zu begrenzen. In der Vorstellung von der künstlerischen Autonomie, als deren Veranschaulichung die dramaturgische Zuspitzung von Rembrandts Leben zur ‘Rembrandtlegende‘ gesehen werden kann, kommt dem Topos der ‘Einsamkeit‘ eine zentrale Position zu, mit dem ich nun die Beschreibung der verschiedenen Motive der Verkennungstopik abschließen möchte. Grundsätzlich lassen sich in der untersuchten Literatur zwei Auffassungen dieser Einsamkeit Rembrandts ausmachen. Das erste Modell schildert den Entwicklungsgang des Künstlers als einen Weg aus der Öffentlichkeit in die Einsamkeit, wobei besonders das Spätwerk von der Isolation geprägt ist. Hier liegt demnach ein Prozeß der ‘Vereinsamung‘ vor. Im zweiten Fall wird diese Vorstellung erweitert. Die gesellschaftliche Vereinsamung des späten Künstler wird dabei lediglich als markanter Ausdruck einer grundsätzlichen Einsamkeit des künstleri- schen Genies verstanden, die sich entsprechend auch in früheren Schaffensphasen zeigen läßt.

Die vorausgegangenen Kapitel haben mit ihren Beispielen zur Frontstellung des Künstlers gegen die Gesellschaft bereits die Grenzen des privaten Bereichs angedeutet, der Rembrandt als Wirkungsstätte zugeschrieben wird. In der Läuterungslegende, die den Künstler aus der frühen gesellschaftlichen Höhe über die Katastrophe (Saskias Tod, Uneinigkeit mit den Auf- traggebern, finanzieller Ruin) in die künstlerische Tiefe treibt, bildet die Einsamkeit den

184 Schlußpunkt des Weges. Es ist zugleich der ideale Ort des autonomen Künstlers, an dem seine Kunst ihre Vollendung erleben kann. Einige Beispiele für die Präsenz dieses Topos: Richard Hamann (1906):

„Rembrandt vereinsamt, zieht sich immer mehr in sich selbst und auf die Arbeit zurück. Alles Äu- ßere verliert seinen Wert für ihn.“ (Hamann 1906, 13)

Richard Muther (1906):

„Hatten sich schon vorher seine Beziehungen zur Außenwelt gelöst, so wird jetzt seine Kunst ganz die eines einsamen Menschen, der nur noch zum Pinsel greift, um seelisch sich auszusprechen.“ (Muther 1906, 16)

Und Eberhardt Hanfstaengl (1947):

"Eine schwächere Natur wäre dieser seelischen Belastung erlegen. Rembrandts starker Geist wächst an diesem Widerstand. Es ist als würde er nun seiner selbst völlig sicher, er weiß nun, was er sich zutrauen kann, in welche Höhen und Tiefen sein Weg führen wird. Diesen Weg muß er al- lein gehen.“ (Hanfstaengl 1947, 66)

Hanfstaengls Zitat ist etwas reicher in der Topik als die vorigen. In die Einsamkeit führt den Künstler hier ein Weg, der nicht nur in seiner Folgerichtigkeit als vorbestimmt erscheint - jener wichtige Topos, mittels dessen Kunstgeschichtsschreibung immer wieder die Geschlos- senheit des Gesamtwerkes und des Entwicklungsganges von KünstlerInnen beschreibt -, son- dern den dieser mit einer Geradlinigkeit geht, die seinen unbedingten Glauben an dessen Richtigkeit und seine Antizipation von dessen Richtung vermuten läßt. Diese Konstellation führt zu Formulierungen, die Rembrandt nicht nur passiv, sondern in einer aktiven Rolle an der Vereinsamung mitwirken lassen, so bei Carl Voll (1906):

„Ganz am Ende seines Lebens tritt Rembrandt fast freiwillig aus aller Verbindung mit seiner Um- gebung. Er schwebt wie ein abgeklärter Geist nur noch in höheren Sphären. Da schuf er jene tiefer- greifenden Szenen vom ‘König Saul und David‘, und die ‘Rückkehr des verlorenen Sohnes‘, wo er in der Gestalt des alten Vaters, der in wortloser Liebe die Arme verzeihend um den endlich wie der- erlangten Sohn schlägt, das Abschiedswort an sein Volk und an die ganze Menschheit spricht, ein Wort voll hoher Würde und der selbstlosesten Lie be. 1669 starb Rembrandt in einer Einsamkeit, die uns nach dem, was wir heute über seine letzten Jahre wissen, imposant erscheint.“ (Voll 1906 a, 595)

Die Opposition von niedriger materialistischer Gesellschaft und höheren geistigen Sphären bringt Rembrandt hier zum ‘Schweben‘. Aus den angeführten Bildbeispielen wird er als ein Weiser gedeutet, der seinen Zeitgenossen symbolisch vergibt. Schließlich ist mit Nachdruck

185 der Effekt der Einsamkeitsformel benannt, sie läßt uns Rembrandt „imposant“ erscheinen, sie erhebt ihn zu einer übermenschlichen Größe. Diese Größe plaziert Rembrandt im überirdischen Reich der Genies, überführt ihn in den Rang einer „Vornehmheit“, die Theodor Hetzer (1941) nochmals von ihrem gefälligen weltli- chen Pendant distanziert:

„Es ist auch mit seiner Vornehmheit etwas anderes als mit der des van Dyck; sie kommt nicht aus der Gesellschaft, hat daher nichts mit Eleganz zu tun. Sie kommt aus dem Reifwerden des Künst- lers, aus der Vollendung des Menschen, aus der Souveränität des Einsamen; man kann sie daher mit Tizians natürlicher Macht, mit Tintorettos Vergeistigung vergleichen, nicht mit van Dycks ge- fälligem und gewandtem Talent.“ (Hetzer 1984 [1941], 344)

Ein elementarer Skeptizismus gegenüber der Öffentlichkeit äußert sich hier. Vergeistigung und Reifwerden ereignen sich im Peripheren, jenseits der Gesellschaft, die Einsamkeit ist Voraussetzung und Quelle, sie ist der Ort geistiger „Souveränität“. In dieser Konzeption einer Genialität, die über alle Belange des Alltags erhaben ist, zeigt sich eine Vorstellung von Einsamkeit, die über die Beschreibung einer als faktisch angenommenen Vereinsamung Rembrandts weit hinausreicht. Was sich in der Spätzeit des Holländers vollzo- gen haben soll, ist dabei nur die Konsequenz und das sichtbare Zeichen einer grundsätzlichen Distanz zwischen Künstler und Gesellschaft. Carl Neumann hat diese elementare Distanz anhand biographischer Daten bereits in der Früh- zeit des Künstlerlebens ausgemacht. Die von Biographen aller Epochen überlieferte Tatsache, daß der junge Rembrandt nur einige Monate bei seinem zweiten Lehrer Pieter Lastman in Amsterdam verweilte, um sich dann in Leiden autodidaktisch weiterzubilden, nutzt Neumann (1902) zu einer Schilderung der Bedeutung der Einsamkeit für die „Künstlerseele“:

„Wenn Rembrandt dennoch nach wenigen Monaten sich in sein stilles Leyden zurückzog und we- der von Amsterdam noch von Haarlem, geschweige denn von Italien weiteres sehen und hören wollte, und das in dem jugendlichen Alter von 20 bis 25 Jahren, so muß das Bedürfen einer Natur übermächtig gesprochen haben, die nach Ruhe und Einsamkeit verlangte, und von der ganz be- stimmte Probleme mit so fragenden Augen sich aufgethan hatten, daß Rembrandt nichts sehnender verlangte, als in Stille zu sinnen, zu forschen, zu schaffen. Diese psychologische Vermutung wird durch den Anblick und Eindruck seiner Werke, die zwischen 1627 und 1631 in Leyden entstanden sind, vollauf bestätigt. Sie zeigen eine ihres Weges völlig klare, mit bestimmten, selbstgefundenen Problemen sich beschäftigende, rastlose Künstlerseele.“ (Neumann 1902, 37)

Die Kunst, so möchte man paraphrasieren, rief ihn zu sich. Die Einsamkeit ist auch hier kein Zustand, sondern ein Ort, und zwar nicht nur das „stille[s] Leyden“, sondern überhaupt ‘der Ort der Kunst‘. Bereits der junge Rembrandt sucht ihn auf, um dort, so variiert Neumann

186 weitere geläufige Topoi dieser Geniekonzeption, der Kunst als ‘Verlangen‘ nachzugeben, sich mit „selbstgefundenen“, also eigentümlichen Problemen zu beschäftigen und einen ihm „völ- lig klaren“ Weg mit Folgerichtigkeit zu beschreiten. Wie aber bewertet Neumann den Rembrandt, der wenig später in der Weltstadt Amsterdam gesellschaftliche Erfolge feiert?

„Was er in Leyden angefangen, hatte in Amsterdam eine Ablenkung erfahren; er war auf eine feste, sich verbreiternde Straße gelangt, die geradewegs zu Erfolg und Glück führte. Es gibt Menschen, denen in der Einsamkeit wohler ist. Was ist Glück und äußerer Erfolg für Naturen, die ein starkes inneres Leben leben, dessen übermächtige, gebieterische Antriebe sich von außen nicht bestimmen lassen? An den Selbstporträts, die gleichzeitig neben den zuvor besprochenen Porträts hergehen, läßt sich sehen, daß Rembrandt in der Stille seine anderen Probleme weiter verfolgte.“ (Neumann 1902, 63 f.)

Nur scheinbar bewegt sich der Künstler also auf Abwegen. Neben den Orten des „äußere[n] Erfolgs“ ist ihm auch weiterhin „in der Einsamkeit wohler“. Das „starke[s] innere[s] Leben“ seiner Natur läßt sich „von außen nicht bestimmen“. „Er war auf eine feste, sich verbreiternde Straße“ „zu Erfolg und Glück“ gelangt, und ging doch zugleich seinen innerer Weg weiter, verfolgte gleichzeitig „in der Stille seine anderen Probleme“. Neumann unterscheidet hier wiederum zwischen dem vorübergehenden Phänomen eines äußeren Rembrandt und dem dauerhaften, ganz von innen heraus schaffenden Künstler, der selbstredend der ‘Wahre‘ ist. Ein Sprung zu Eberhardt Hanfstaengl (1939) zeigt die Haltbarkeit dieses Topos. Auch hier wird die Einsamkeit als Ort des Künstlers verstanden, als „sein eigene[r] geistige[r] Bezirk“. Dabei greift Hanfstaengl auf den traditionsreichen Vergleich mit Rubens zurück, der in älte- ren Texten, etwa bei Kugler (1837, 177) oder bei Thoré (1858, 324), zu einer politischen Po- larisierung des fürstlichen Rubens mit dem bürgerlichen Rembrandt diente, und nun dem um- triebigen Weltmann einen Eremiten der Kunst gegenüberstellt:

„Rembrandt ist nie ein Mann der Öffentlichkeit gewesen, etwa wie Rubens, wir hören fast nichts von Ehrenämtern, in fast sonderlingshafter Abgeschlossenheit lebte er in seinem Heim (...). Dieses Tendieren zum eigenen Ich und zum engsten Kreis der Angehörigen mag den Zeitgenossen ge- fühlsmäßig und fast peinlich bewußt geworden sein. Bei aller Hochschätzung für sein Können, man empfindet ihn als eigenwillig und unberechenbar, der ‘Ordnung‘ widerstrebend und immer wieder muß man die Erfahrung machen, daß er in Erledigung eines Auftrages oder geldlicher Angelegen- heiten enttäuscht. (...) Dieses Eingeschlossensein in den eigenen geistigen Bezirk bestimmt nicht zum geringsten die Tragik und Größe von Rembrandts Künstler- und Menschendasein.“ (Hanf- staengl 1939, 7 f.)

187 Die Gegenüberstellung Rembrandts mit Rubens hat eine lange Tradition, sie ist jedoch nicht geeignet, um die Vereinsamung des holländischen Künstlers in seiner eigenen Gesellschaft zu illustrieren, da der Flame Rubens ja nicht der selben politischen Gesellschaft angehörte und zudem einer älteren Generation entstammte. Der niederländische Kunsthistoriker Frederik Schmidt-Degener, in den 20er Jahren Direktor des Rijksmuseums in Amsterdam (Boomgaard 1995, 95), hat Rembrandt deshalb mit einem anderen Antipoden konfrontiert. Ich möchte die entsprechende Konzeption aus Schmidt-Degeners 1928 ins Deutsche übertragener Untersu- chung Rembrandt und der holländische Barock 180 im Folgenden etwas ausführlicher vorstel- len. Der Dichter Joost van den Vondel nimmt hier die Rolle eines gesellschaftlichen und sti- listischen Gegenpols zu Rembrandt ein. Die Positionen des angepaßten und integrierten Kunstlobbyisten und des risikofreudigen und deshalb marginalisierten Künstlers sind dabei klar verteilt:

„Was Rembrandt hervorbrachte, hatte meist etwas Unerwartetes und, vor allem später, etwas Beun- ruhigendes. Er wagte das Abenteuer des Künstlerdaseins, die vollständige Hingabe an seine Beru- fung. Kräfte, die er selbst entfesselte, reißen ihn mit; mitunter lebt er in den Tag hinein, oder schweift ins Unbekannte, bis am Ende seines Lebens neue rätselhafte Aufgaben ihre Erfüllung for- dern. Vondel äußert sich klar und gleichmäßig. Erklärungen sind nicht vonnöten. Selbst was er unter der Maske von etwas anderem sagt, begreift Jan- und Allemann. Bei Vondel gibt es keine geheimnis- vollen Schleier, wie sie vor den Bildern seines Stadtgenossen hängen. Man schätzte Rembrandt wohl und bewunderte vorübergehend Radierungen oder frühe Gemälde, doch für seine tiefen Ge- danken hatte seine Zeit keinen Sinn.“ (Schmidt-Degener 1928, 3)

Obwohl er Rembrandt erst in dessen zweiter Lebenshälfte deutlich in der Rolle eines Außen- seiters der Amsterdamer Gesellschaft sieht, sucht Schmidt-Degener doch nach prinzipiellen Ursachen für diese Situation. Ist der gebürtige Leidener vielleicht in der fremden Stadt immer ein „abseitiger Sonderling“ (ebd., 7) geblieben?

„So wenig es auch sein möge, etwas von einer früheren Heimat, etwas vom Fremdling, vom Au- ßenseiter, dem vor sich hin Brütenden und dem gern in sich versunkenen Leidener, blieb immer in Rembrandt zurück.“ (Schmidt-Degener 1928, 4)

Schmidt-Degener läßt beide historischen Vergleichsfiguren im Barock wurzeln, doch wäh- rend sich der ältere, Rembrandt, von den „Äußerlichkeiten“ des „Barock-Mystizismus“ habe lösen können, sei dies Vondel nicht gelungen (ebd., 18). Der Kunsthistoriker geht davon aus, daß die beiden sich kannten, sieht aber in ihrem jeweiligen Kunstschaffen einen Widerspruch,

180 Die niederländische Erstfassung erschien 1919 in der Zeitschrift De Gids. 188 der ein gegenseitiges Verstehen ausschließt. Da zudem die Schriftquellen nichts Gegenteiliges besagen, kann er den Künstler und den Dichter zu ideellen Gegenspielern ausbauen. Dabei läßt uns Schmidt-Degener über sein eigenes Qualitätsurteil nicht im Zweifel:

„Für Vondel ist das Wichtigste an einem Maler seine gesellschaftliche Bedeutung. Er blickte empor zu den großen Barockkünstlern, in königlichem oder fürstlichem Dienst, Günstlingen, wie van Dyck, in Sammetmäntel gehüllt und behängt mit goldenen Ehrenketten, verkappten Diplomaten, die während des Malens Briefe diktierten, oder sich aus Seneca vorlesen ließen, Menschen von Welt, wie Sandrart, der mit den Schöngeistern vom „Muiderkring“ umzugehen wußte. Rembrandt und der Muiderkring sind eine undenkbare Kombination. ‘Je compte parmi les mala - droits‘ hätte er mit den Worten eines modernen Dichters sagen können. Kurz und ungehobelt ist sein Ausdruck, kargen Wortes, und manchmal mit brutaler Ironie gewürzt. Den gewandten Mann, der auf dem Parkett von Fürstenhöfen eine gute Figur gemacht hätte, konnte Vondel nicht in ihm finden.“ (Schmidt-Degener 1928, 22 f.)

Gesellschaftliche Integration, gewandte Umgangsformen, gute Verbindungen zu adligen Kreisen und künstlerisches Schaffen im Dienste von Fürsten - in Schmidt-Degeners Vorstel- lung vom Künstlertum haben solche Elemente keinen Platz. Er sieht das wahre Künstlertum außerhalb einer schöngeistigen Demimonde. Rembrandt, der für dieses Künstlertum steht, kann deshalb in der Gesellschaft seiner Zeit nur ein Außenseiter sein. Statt mit den „Schön- geistern vom ‘Muiderkring‘“ bringt Schmidt-Degener ihn mit modernen Konzeptionen des tragischen Künstlersubjekts in Verbindung. Aus dem Fehlen eines Vondelschen Lobgedichtes auf Rembrandt schließt Schmidt-Degener auf eine Abneigung des Dichters gegen diesen „Letzten der großen universalen Meister“ (ebd., 43). Die Behauptung, Vondel sei außerstande gewesen, die künstlerische Höhe Rem- brandts zu erkennen, stilisiert der Autor zum Vorwurf, den er durch eigene scharfe Urteile auflädt:

„(...) keiner der beiderseitigen Freunde, kein Lutma oder Coppenol, [hat] Vondel dazu bewogen, auch nur das Vorhandensein von Rembrandts Werken in seinen Schriften anzuerkennen. Vondels Muse zeigte viel Interesse für die unbedeutenden Rheinlandschaften eines Hermann Saftleven und für die widerwärtigen Stilleben von Brizé; daß diese die unbedeutendsten Äußerungen der hollän- dischen Landschaft und des holländischen Stillebens waren, schien ihn nicht zu stören.“ (Schmidt- Degener 1928, 22)181

181 Hier ist einmal mehr das Vorhandensein von Porträts der Genannten Anlaß zu der Vermutung, es handle sich dabei um ‘Freunde‘ Rembrandts. 189 Schmidt-Degeners normatives Kunsturteil wendet sich auch direkt gegen Vondels dichteri- sche Leistungen. Die Ausmalung des neuen Rathaussaals, zu der Rembrandt 1661 eine Dar- stellung der Verschwörung des Claudius Civilis beigesteuert hatte, basiert auf einem Gedicht Vondels. Schmidt-Degener gibt es in spöttischer Verkürzung wieder („Die Großen des Lan- des bechern beim Mondschein zwischen heiligen Eichen.“ ebd., 32). Aus der Tatsache, daß Rembrandts Gemälde nach kurzem Aufenthalt im Rathaus wieder abgehängt wurde, schließt Schmidt-Degener auf die Ablehnung des Bildes durch die kulturpolitisch Verantwortlichen. Für diese These mag einiges sprechen, Quellen lagen ihm darüber jedoch nicht vor. Schmidt- Degener geht dennoch ausdrücklich von einem offenen Konflikt zwischen Rembrandt und jenen gesellschaftlichen Kreisen aus, in denen sich Vondel so gewandt zu bewegen gewußt habe. Wenn Rembrandt den Vorstellungen seiner Zeitgenossen nicht entsprochen haben sollte, so entspricht er doch denen des modernen Autors um so mehr: Schmidt-Degener sieht in dem Vorgang um den Claudius Civilis vor allem einen Beleg für die Unabhängigkeit und Charakterstärke Rembrandts:

„Ertrug man es nicht, daß Rembrandt sich an einen eigenen Entwurf hielt? Hatte man ihn vielleicht beauftragt, bei der Ausführung der Skizze von Flinck zu folgen? Was auch der direkte Anlaß gewesen sein mag, der Konflikt mit den höchsten Machthabern ist of- fenkundig. Der Verlauf zeugt für Rembrandts Charakter. Der Claudius Civilis wird endgültig aus dem Rathaus entfernt - Rembrandt hat also von genügendem Entgegenkommen nichts wissen wol- len. Es läßt ihn kalt, daß einer seiner Gläubiger sich bereits auf die problematische Summe spitzt, die für das Werk bezahlt werden soll. Rembrandt beharrt auf seinem Standpunkt.“ (Schmidt-Dege- ner 1928, 33)

Statt der Integration in die Gesellschaft und der Berücksichtigung ökonomischer Argumente erfüllt sich das Künstlertum hier im „Konflikt mit den höchsten Machthabern“. In Schmidt- Degeners wertender Polarisierung künstlerischen Schaffens nach dem Code ‘öffentlich vs. privat‘ läuft die Gegenüberstellung der gesellschaftlichen Integration Vondels und der Isola- tion und Innerlichkeit Rembrandts auf eine radikale Vereinsamung des Letzteren hinaus, den der Autor schließlich als einen Depatriierten ansieht:

„Rembrandt stirbt. Und in seinem Todesjahr (1669) macht Vondel Grabgedichte auf den alten Goldschmidt Lutma, Rembrandts Freund, auf Hendrik Halleman, Priester der Gesellschaft Jesu, auf die kunstfertige Katharina Questiers, auf Augustin van Teylingen, einen Priester eben jener Gesell- schaft und auf Jan van Amstel, einen Seekapitän. Vondel schweigt über Rembrandt. Auf den Tod von Flinck war eine Medaille geschlagen worden, und Vondel hatte das Grabgedicht nicht verges- sen. Rembrandt verschwand in einer unendlichen Stille.

190 Für das damalige Amsterdam und für Holland hatte dieser Tod nicht die geringste Bedeutung. Rembrandt gehörte nicht mehr zu seinem Geburtslande.“ (Schmidt-Degener 1928, 42)

Es sei noch einmal verdeutlicht: Diese Konfliktstellung zu seinen Zeitgenossen, die zu Rem- brandts völliger Vereinsamung führte, sieht Schmidt-Degener nicht als Fehler Rembrandts an, sondern als Folge von dessen unbeugsamem Künstlertum. ‘Depatriierung‘ soll auch nicht heißen, Rembrandt sei kein Holländer gewesen. Im Gegenteil: Durch patriotische und anti- flämische Zwischentönen gibt Schmidt-Degener zu verstehen, daß die Zeitgenossen Rem- brandts in unheilvoller Weise von „Flandern's Vorbild und Flandern's Rhetorik“ beeinflußt gewesen seien.182 Von diesem Holland habe sich Rembrandt distanziert und er habe statt des- sen seine Botschaft an die Menschheit gerichtet. So sieht Schmidt-Degener Rembrandts Ein- samkeit letztlich als Folge seiner prophetischen Zukunftsschau, die den Künstler zu einem Vertreter anti-rhetorischer und emotionaler Kunst machte, mit anderen Worten zu einem ‘Modernen‘:

„Rembrandt wandte sich nicht an Holland, auch nicht an das kommende Holland, sondern an die Menschheit der Zukunft. Er sprach über Menschlichkeit, - mit stets größerem Nachdruck - und da- mit war der Menschheit von dazumal weniger gedient denn je. Er hatte darum so gut wie keine Aussicht, verstanden zu werden. Es sollte noch lange dauern, bis Rousseau der Menschheit wieder den Mut aufzwang, sich selber zu durchschauen! Begreifen wir Rembrandt recht, dann strebt er un- bewußt danach, das Gefühl zur Grundlage von Glaube und Weltanschauung zu machen. Er ver- kündet, daß geistiger Gehalt das Gegengewicht verwickelter Formprobleme sein muß, und daß der Reichtum eines Kunstwerkes am reinsten in den Bewegungen des menschlichen Gemütes zu finden ist.“ (Schmidt-Degener 1928, 45)

Um Rembrandt zum Vorbild gegenwärtigen Künstler- und Menschentums zu machen, bedient sich die Rhetorik der kunstgeschichtlichen Literatur einer Polarisierung des Subjekts mit sei- ner zeitgenössischen Gesellschaft. Die Heroisierung des Künstlers funktioniert nur vor dem Hintergrund einer Abwertung seines Umfeldes. Armut, Leiden und Einsamkeit sind dabei die Topoi, durch die Rembrandt zum verkannten Genie stilisiert wird und mittels derer er als Vorkämpfer und als Märtyrer eines modernen Menschenbildes in Erscheinung tritt.

182 „Der offizielle Kunstsinn hatte einen flämischen Anstrich, und in dieser Hinsicht unterschied sich der statthal- terische Hof nicht im mindesten von den Bürgerherren von Amsterdam. Als im Haag der Oranje-Saal gebaut wurde, stand die holländische Malerschule in der höchsten Blüte. Doch auch da werden ausschließlich Rubens- Epigonen und flamisierende Holländer beschäftigt. Rathaus und Oranje-Saal hätten Glanzpunkte holländischer Kultur werden können. Dank der Obrigkeit wurden es unfruchtbare Enklaven in der holländischen nationalen Kunst. Flandern's Vorbild und Flandern's Rhetorik sind für Hollands Entwicklung oft unheilvoll gewesen. Kein ungeeigneterer Lehrer für holländische Art als der Flame.“ (Schmidt-Degener 1928, 35). 191

192 2.3 Grenzziehungen: Die Eigentümlichkeit des Künstlers und der Korpus des Werks

„(...) diese Dinge, die ihm, man weiss nicht woher, kamen, und die, man weiss nicht wie, darge- stellt sind, alles das ist unschätzbar. Keine andere Kunst kennt ähnliches; niemand vor Rembrandt und niemand nach ihm hat derartiges zu sagen vermocht.“ (Eugène Fromentin, Übers. von Schel- lenberg 1919, 312)183

Nach meinen bisherigen Beobachtungen der Rembrandtliteratur ließe sich die Praxis der dis- kursiven Genese einer Künstlerfigur wie folgt beschreiben: Der Eigenname einer empirisch- historischen Künstlerfigur wird mit einem Werkkorpus verbunden, dem ‘Gesamtwerk‘. Aus- gehend von dieser Verbindung wird durch eine Anzahl von Diskursen die Vorstellung von einem Subjekt entwickelt, deren Plausibilität mit ihrer Komplexität und deren Autorität mit ihrer Anschließbarkeit an aktuelle Subjektproblematiken steigt. Diese Diskurse lassen einer- seits Informationen zirkulieren, die aus den beiden Elementen der Verbindung gewonnen wurden (Werkinterpretationen, biographische Daten). Neben diesen hermeneutischen Verfah- ren, aus denen die diskursive Künstlerfigur als Einheit von Leben und Werk hervorgeht, sind andere Diskurse mit der Abgrenzung dieses spezifischen Autor-Werk-Komplexes von seiner Umgebung beschäftigt. Die ersten beiden Kapitel dieses Teils meiner Arbeit befaßten sich primär mit den Verfahren der Kopplung von Leben und Werk. Dieses dritte Kapitel soll nun das andere Problem in den Vordergrund rücken: die Grenzziehungsprozesse, deren Funktion ich darin sehe, Rembrandt als wirkungsvoll profilierte diskursive Künstlerfigur aus dem histo- rischen und kunsthistorischen Hintergrund hervortreten zu lassen.

Ein charakteristisches Dilemma der Kunstgeschichtsschreibung um 1900 bildet die paradoxe Spannung zwischen dem Paradigma einer historischen Entwicklung und der Kopplung des Werks an ein schöpferisches Subjekt. Diese Konstellation zwingt die Autoren dazu, zugleich die Position eines Werks in der Geschichte der Kunstgeschichte auszumachen und den Urhe- ber des einzelnen Werks klar zu benennen. Ersteres setzt eine Verknüpfung der Werke eines Künstlers mit anderen, früheren und gleichzeitigen, voraus, während letzteres gerade die Ab- grenzung von diesen erfordert. In der Rembrandtliteratur lassen sich drei Ebenen derartiger ambivalenter Abgrenzungskonflikte beschreiben: die Unterscheidung der Werke Rembrandts von seinen kunsthistorischen Vorbildern, von der Kunstpraxis seiner Lehrer sowie von den Arbeiten seiner Schüler. In der folgenden Auseinandersetzung mit dieser Problematik wird zudem die zentrale Bedeutung des Begriffs der ‘Eigentümlichkeit‘ zu untersuchen sein.

183 „(...) ces choses inspirée on ne sait d’òu et produites on ne sait comment, tout cela est sans prix. Aucun art ne les rappelle; personne avant Rembrandt, personne après lui ne les a dites.“ (Fromentin 1972, 242). 193 2.3.1 Lehrer und Ahnen, Schüler und Erben - Zwischen Individualität und Genealogie

In direktem Zusammenhang mit der Frage nach dem Impuls und Ursprung des künstlerischen Schaffens steht die Frage nach den Einflüssen, denen die Kunst Rembrandts durch Vorläufer ausgesetzt war. Bei der Beschreibung dieses topischen Bereichs ist zwischen (1) der Bedeu- tung seiner Lehrer und (2) dem Einfluß älterer Meister der Kunstgeschichte zu unterscheiden. Wie sich zeigen wird, unterstützt diese Topik die Vorstellungen von der Autonomie des Künstlers. Allerdings werden die beiden Aspekte dabei in der Regel auf verschiedene Weise behandelt. Während den Lehrern jeder maßgebliche Einfluß auf Rembrandts ‘eigentümliche Stilistik‘ abgesprochen wird, steht einer Nähe des Künstlers zu etablierten Größen der Malerei nichts im Wege, zumindest solange diese nicht mehr persönlich mit ihm in Berührung ge- kommen sein können und er ihnen nicht ‘äußerlich‘, sondern vor allem ‘dem Geiste nach‘ als verwandt erscheint. Analog zu dieser unterschiedlichen Behandlung von Lehrern und ‘Ahnen‘ fällt auch die Einstufung der Nachfolger aus. Der direkte Kontakt der Schüler mit dem großen Meister erscheint als schädlich; erst über die Zeiten hinweg stellt sich eine fruchtbare Kom- munikation ein, die geistige ‘Erben‘ hervorbringt. Diese Beobachtungen sind zunächst zu belegen und in ihre diskursiven Kontexte einzubinden.

Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts reduzierte sich die Zahl derer, die als Rembrandts Leh- rer genannt wurden, auf zwei: Knapp drei Jahre lang (1622-1624) sei er bei Jacob van Swa- nenburgh in Leiden in der Lehre gewesen und daran habe sich ein halbjähriger Aufenthalt bei Pieter Lastman in Amsterdam angeschlossen.184 Diesen Lehrern wird jedoch durchweg nur wenig Einfluß auf die künstlerische Entwicklung ihres Schülers zugesprochen. Als dem Unbekannteren der beiden treffen Swanenburgh die geringschätzigeren Urteile. Dieser Maler wird in einstimmiger Weise bewertet, wobei die Einstimmigkeit sowohl chronologisch als auch topographisch über unseren Untersuchungsrahmen hinausgreift. Es ist deshalb nicht abwegig, an dieser Stelle einmal den englischen Autor C. J. Holmes (1911) zu Wort kommen zu lassen:

„Wir müssen uns nicht lange mit der dreijährigen Lehrzeit Rembrandts bei Jacob van Swanenburch aufhalten. Rembrandt war ein Junge von vierzehn Jahren, der alles zu lernen hatte, und der größere Teil der Ausbildung, die er empfing, wird das Elementare betroffen haben. Auch war Swanenburch kein Maler von besonderem Charakter oder Originalität, der eine tiefe Prägung in seinen Schüle rn hinterlassen hätte. Ältere wie neuere Urteile stimmen hinsichtlich der Armut seines Talentes über- ein (...).“ (Holmes 1911, 25)185

184 Diese Darstellungen gelten bis heute als zutreffend. 185 „We need hardly trouble ourselves with the three year’s apprenticeship of Rembrandt to Jacob van Swanen- 194 Pieter Lastman sprach man die größeren handwerklichen Fertigkeiten zu. Stilistisch wurden jedoch beide Maler als ‘unselbständig‘ eingestuft. Swanenburgh wie Lastman hatten, den Überlieferung über ihr Leben wie auch der Anschauung ihrer Werke zufolge, ihre Prägung in Italien erhalten. Ihre Stilistik wurde zumeist als ‘Italianismus‘ diffamiert, von dem sich Rem- brandts ‘Eigentümlichkeit‘ positiv abgrenzen ließ. Franz Rebers Einschätzung von Rem- brandts Werdegang (1894) ist hierfür symptomatisch:

„Was bei dem ziemlich schwachen Italisten Elsheimerscher Richtung [Swanenburgh, MH] zu ler- nen war, eignete er sich dort in drei Jahren an, etwas mehr dann noch in etwa halbjährigem Aufent- halt bei Pieter Lastman in Amsterdam. Das meiste werden wohl die eigenen Naturstudien des Kna- ben gethan haben, auf welche er auch sicher das meiste Vertrauen setzte, als er, 1623 nach Leiden zurückkehrend, seine eigene Künstlerlaufbahn begann.“ (Reber 1894, 334/335)

Die entscheidenden Impulse für Rembrandts Kunst kamen demnach aus Rembrandt selbst, es waren Talent, Fleiß und autodidaktisches Naturstudium, die ihn prägten, und nicht seine Leh- rer. Karl Storck bewertet 1903 die geringe Leistungsfähigkeit seiner Lehrer als einen Vorteil, der zur Herausbildung der natürlichen Eigenart Rembrandts beigetragen habe:

„Die in ihm liegende Anlage war zur vollen Entfaltung gelangt, weil ihr durch keine schulmäßige Erziehung entgegengewirkt worden war. War er doch in Leyden fast ganz auf sich angewiesen. Sein Lehrer, der bescheidene Swanenburgh, konnte ihn allenfalls in die wichtigsten Geheimnisse der Lichtmalerei einführen, zur Beobachtung der Menschen, zum Festhalten des Gesehenen mit Stift und Pinsel reizte ihn die eigene Natur. Er fühlte wohl selbst, daß ihm Lehrer nicht viel würden geben können. So blieb er denn, als er 1623 als Siebzehnjähriger zum berühmteren Pieter Lastman in die Schule kam, nur ein halbes Jahr bei ihm in Amsterdam (...).“ (Storck 1903, 509)

Die Autonomie des Künstlers, die bewußte Besinnung auf seine Eigenständigkeit, äußert sich in diesen Schilderungen also bereits während seiner Ausbildung. Wilhelm Valentiner (1906) hat diese Eigenständigkeit Rembrandts dem Einfluß seiner Herkunft zugeschrieben:

„In Holland, dem freien Land der Individualisten und Republikaner, bildeten sich keine Schulen. Darum setzte Rembrandt auch keine fort. Es gab eine Reihe großer Persönlichkeiten, um die sich eine Schar kleiner Meister sammelten. (...) Rembrandts Kunst aber ist nicht aus einer breiten, ein-

burch. Rembrandt was a boy of fourteen who had everything to learn, and the greater part of the instruction he received must have been rudimentary. Nor was Swanenburch a painter of so much character or originality as to impress any deep mark upon his pupils. All opinion ancient and modern agrees as to the poverty of his talent (...).“(Holmes 1911, 25) Ähnliche Bewertungen finden sich bereits bei Planche (1853, 245) und Nagler (1843, 4), deren Urteile jedoch noch deutlich durch die klassizistische Tradition des ungebildeten Rembrandt beeinflußt sind und den Anteil des Naturstudiums stark machen. 195 heitlichen Strömung emporgetaucht. Sie selbst war ein breiter Strom, der Zuflüsse erhielt aus vie - len winzigen Quellen, denen man noch in seinen früheren Werken nachgehen kann. Das Große war nirgends um Rembrandt, als er begann, und wo es war, sah er es doch nicht.“ (Valentiner 1906, 35)

Obwohl er kurz zuvor auf die ästhetische Verwandtschaft mit Caravaggio und Honthorst ver- wiesen hatte, widerspricht Valentiner hier der Bedeutung direkter Traditionslinien und setzt das monolithische Individuum an die Stelle der geflechtartigen Konzepte der ‘Schule‘ oder der ‘Werkstatt‘. In der Absicht, Rembrandts Größe hervortreten zu lassen, umstellt ihn Va- lentiner mit einer „Schar kleiner Meister“, von denen sich der herausragende Künstler abhe- ben kann.186 „Zuflüsse[n]“ bedurfte nur der frühe Rembrandt, doch für den „breiten Strom“ seiner Kunst waren diese „winzigen Quellen“ nicht entscheidend. In Valentiners Zitat deutet sich zudem eine Gleichsetzung Rembrandts mit Holland an, eine ideale Verkörperung nationaler Eigenart durch den Künstler, die zur Zeit dieses Textes, 1906, im nationalistischen Segment des Diskurses bereits fest etabliert war. Diese Gleichsetzung darf nicht mit der älteren Identifikation Rembrandts als eines typischen Vertreters seiner Ge- sellschaft, also eines integrierten Bürgers, verwechselt werden, wie sie etwa bei Théophile Thoré zu finden war. Historische Aspekte sind aus diesem Entwurf niederländischen Wesens weitgehend ausgeblendet, an ihrer Stelle steht ein essentialistisches Konzept des im Kern un- veränderlichen ‘Nationalcharakters‘, den Rembrandt personifiziert. Der Künstler wird dabei mit einem im Wortsinne ‘bodenständigen‘, ländlich-bäuerlichen Typus verbunden, während die gehobene städtische Gesellschaft als zivilisatorisch überformt - als ‘französierend‘ oder ‘italisierend‘ - kritisiert wird. Dieser Dichotomie liegt die Unterscheidung zwischen ‘Authen- tizität‘ und ‘Künstlichkeit‘ zugrunde. In Bezug auf Lastman sind die Formeln vom geringen Einfluß der Lehrer zu diesem Zeitpunkt bereits einer leichten Relativierung unterworfen. Zumindest mit dem frühen Rembrandt wer- den Werke Lastmans verstärkt verglichen, zugleich hat auch eine kritische Auseinanderset- zung mit Rembrandts Orientierung an italienischer Kunst begonnen, die allerdings auf Texte mit Forschungscharakter oder betont wissenschaftlichem Anspruch beschränkt ist.187 Die partielle Berührung von Rembrandt und Lastman wird darüber hinaus genutzt, um eine genealogische Achse zu entwerfen. In symptomatische Weise tritt dieses Phänomen 1904 bei Adolf Rosenberg hervor:

186 Valentiners Darstellung macht zugleich deutlich, warum den Schülern Rembrandts um 1900 nur qualitativ minderwertige Werke zugeschrieben wurden, während die Arbeiten besserer Qualität in inflationärer Zahl unter dem Namen ‘Rembrandt‘ geführt wurden. 187 In diesem Punkt spaltet sich ein nationalistischer Zweig des Diskurses erkennbar ab, der bis in die Texte der 40er Jahre weiterhin die radikale Opposition Rembrandts zu Italien betont. 196 „Pieter Lastmann war einer von den holländischen Malern, die während eines längeren Aufenthalts in Rom vollständig dem Einfluß der italienischen Kunst erlegen waren und diese italienisierende Richtung auch in ihrer Heimat fortsetzten. Damit wußte Rembrandt, der der italienischen Art, da- mals wenigstens noch, verständnislos gegenüberstand, nicht viel anzufangen. In Rom hatte Pieter Lastmann aber den aus Frankfurt a.M. gebürtigen Adam Elsheimer kennen gelernt und sich im Verkehr mit ihm manches angeeignet. (...) Seinen Einfluß hat man in einigen Jugendbildern Rem- brandts zu erkennen geglaubt (...). Wenn sich das wirklich so verhalten hat, so hat Rembrandt je - denfalls das, was er durch Lastmann von Elsheimer gelernt, so selbständig verarbeitet, daß von ei- ner Nachahmung nicht die Rede sein kann.“ (Rosenberg 1904, XII)

Rosenberg geht sehr zurückhaltend mit den Einschätzungen der jüngeren Forschung um und betont die „selbständig[e]“ Verarbeitung der ‘Einflüsse‘ durch Rembrandt. Statt einer Stär- kung des Lehrers Lastman, also der unmittelbaren Bezugsperson, stellt er den Einfluß eines Künstlers heraus, mit dem Rembrandt nur indirekt, durch Vermittlung Lastmans, in Verbin- dung getreten sein kann. Dieser Verweis auf Adam Elsheimer dürfte einmal mehr auf Wil- helm Bode zurückzuführen sein, der bereits in seinen Studien zur Geschichte der holländi- schen Malerei (1883) Elsheimers Einfluß auf die Kunstentwicklung in den Niederlanden nachdrücklich betont hatte. Rosenbergs Vorsicht dokumentiert den Stellenwert der Autono- mie des schöpferischen Individuums. Daneben tritt jedoch ein genealogisches Moment: Die- ser Rembrandt steht nicht mehr ganz allein, obwohl seine Kunst ihm allein gehört. Auf glei- cher Höhe, dabei historisch in sicherer Entfernung, werden nun weitere Figuren sichtbar. Keine Lehrer, keine nachgeahmten Vorbilder, sondern gleich große Geister, die in anderen Zeiten und deshalb in anderer Weise einer verwandten Wesensart Ausdruck verliehen haben. Wir begegnen an dieser Stelle einer weiteren Problematik, deren Präsenz in kunsthistorischen Texten des gesamten Untersuchungszeitraumes, mal zentral mal marginal, nachweisbar ist. Sie betrifft den stilistischen Wandel, der beschrieben werden kann, wenn man die kunstge- schichtliche Entwicklung einer topographisch eingegrenzten Region oder einer ethnologisch eingegrenzten Gruppe beobachtet. Angesichts dieses Phänomens wird die Frage aufgeworfen, welche Gewichtung zwischen der Bedeutung eines unveränderlichen ‘Wesens‘ und den Ein- flüssen des historischen ‘Werdens‘ zu treffen sei. In diesem Kontext wird nun das künstleri- sche Individuum Rembrandt einerseits von seinen Lehrern gelöst, womit seine Eingebunden- heit in konkrete historische Entwicklungsprozesse an Bedeutung verliert, zum anderen wird im Künstler jedoch die Präsenz eines überzeitlichen und überpersönlichen ‘Wesens‘ ausge- macht, das ihn mit anderen historischen Figuren, seinen ‘Ahnen‘, in Verbindung bringt. Das autonome Individuum wird somit wiederum an eine kollektive Kategorie gebunden, es kommt in ihm, in einzigartiger (subjektiver) Weise, das zum Ausdruck, was die Angehörigen des

197 Kollektivs verbindet. Substanz dieser ‘Bindung‘188 ist, je nach Vokabular, die Nation, das Volk, das Blut oder ähnliche Variationen der gleichen Idee. Stünde die Frage des Nationalismus hier im Zentrum, wäre es geboten, Differenzierungen einzuführen. Ich setzte mich über dieses Gebot hinweg, da es mir primär um die Gemeinsam- keit der Argumentationen geht, die ich in der dialektischen Strategie einer historischen Isola- tion des Künstlers und dessen gleichzeitiger überhistorischen Kollektivierung sehe. Bei der Ausformulierung dieses elitären Kollektivs wird der Aspekt historischer Entwicklung durch eine Genealogie der Namen ersetzt, wobei die Vorstellung von einer persönlichen Weitergabe der Essenz des Kollektivs (nicht des je individuellen künstlerischen Vermögens) zu beobach- ten ist. Ein Beispiel dafür bietet Wilhelm Bode, der 1883 über Elsheimer schreibt:

„Das germanische Gefühl für das Heimliche und für behagliche Häuslichkeit spricht sich bei ihm zuerst wieder rein und voll aus, mag er nun Innenräume oder die freie Natur schildern. Wir finden dasselbe bereits bei Dürer und den deutschen Kleinmeistern, die sich an Dürer anschließen; später ist es der Grundzug der holländischen Malerei, insbesondere Rembrandt’s (...). Gewissermaßen vermittelt und übertragen wird diese Auffassungsweise Dürer’s auf Rembrandt grade durch Els- heimer.“ (Bode 1883, 264)

Kurz zuvor hatte Bode die genealogische Kette nachgezeichnet, mittels derer er die Vermitt- lung und Übertragung des „germanische[n] Gefühl[s]“ zu plausibilisieren suchte. Demnach gehe die Kunst Uffenbachs, des Lehrers Adam Elsheimers „auf die ältere deutsche Kunst, namentlich auf Dürer“ zurück (Bode 1883, 238 f.). Derartige Genealogien, die dem histori- schen Wandel die Weitergabe einer geistigen Essenz entgegenzustellen trachten, stimmen in ihrer Tendenz überein, können jedoch von Fall zu Fall mit anderen Namen und variierten In- halten besetzt werden. So schreibt etwa Richard Hamann (1906):

„Die Kunst Dürers ist zu Lukas von Leyden hinübergeflossen und hat sich mit feinerem Helldun- kel, holländischerer Stimmung erfüllt. Rembrandt hat Lukas von Leyden gekannt und benutzt. (...) An Rembrandt führt auch (...) ein Deutscher heran, Elsheimer, und vermittelt nächtliche Effekte seltsamer Beleuchtungen. Rembrandts Lehrer, Pieter Lastmann, mag hier die Anknüpfung gegeben haben. Aber doch nur bei Dürer finden wir das graphische Werk eine gleich grosse und selbstän- dige Rolle spielen wie bei Rembrandt und wir dürfen vermuten, aus ähnlichem innerem Bedürfen,

188 Der quasi-religiöse Charakter dieses Denkens mag durch die Begriffsverwandtschaft (Religio = Bindung) an- schaulich werden. 198 angestammter Anlage heraus. Es ist derselbe Zug nach Verinnerlichung, Vertiefung, das Grübleri- sche, Insichgekehrte des nordischen Charakters - Faust, Melancholie.“ (Hamann 1906, 321 f.)189

Genealogische Verbindungen des Holländers mit Ahnen aus dem süddeutschen Raum sind keineswegs auf die Texte deutschsprachiger Autoren beschränkt. In der offiziellen Rem- brandt-Biographie des Amsterdamer Jubiläums-Komitees (1906) stellt Jan Veth eine ähnliche Verbindung her, allerdings nicht zu Dürer, sondern zu einem anderen Großmeister ‘deutscher Kunst‘:

„Es ist übrigens kurios wie, insofern man Lastman als einen Nachfolger Elsheimers gelten lassen kann, Rembrandt damit geistig von dem stürmischsten Genie abstammt, das die deutsche Malkunst des 16. Jahrhunderts hervorgebracht hat, von Matthias Grünewald. Dieser hatte nämlich einen Lehrling namens Hans Grimmer, dessen Lehrling, Philipp Uffenbach, der Meister Elsheimers ge- wesen ist. Über Lastman hinweg reicht Elsheimer wiederum Rembrandt die Hand.“ (Veth 1906, 12)190

In Grünewald sieht Veth den einzigen Maler der früheren Kunstgeschichte, der an „Rem- brandts tiefgründigen Lebensgriff“191 erinnere. Es ist nicht verwunderlich, daß diese Rückbindung des schöpferischen Individuums an ein topographisch oder ethnologisch bestimmtes, überzeitlich konstantes Kollektivsubjekt beson- ders in den Texten des nationalistischen Diskurszweiges hervortritt. So reduziert etwa Maria Grunewald (1929) in ihrer kurzen, rassistisch argumentierenden Darstellung Der nordische Rembrandt die Vethsche Kette auf ihre elementaren Glieder, nicht ohne der grundlegenden Opposition gegen Italien Raum zu geben:

„Über Lastmann und Elsheimer ist er letzten Endes Enkelschüler von Matthias Grünewald. Nach seiner künstlerischen Art könnte man ihn fast unmittelbar an diesen anschließen; doch war sein persönlicher Lehrer anders eingestellt, stand unter italienischem Einfluß.“ (Grunewald 1929, 17)

189 Für eine ähnliche Genealogisierung Dürers mit Rembrandt siehe Wölfflin 1940 (1922), 125. 190 „Kurieus is het overigens hoe, in zooverre men Lastman als een bepaald volgeling van Elsheimer kan laten gelden, REMBRANDT daarmee geestelijk komt af te stammen van het onstuimigste genie dat de Duitsche schil- derkunst van de zestiende eeuw heeft voortgebracht, - van Matthias Grünewald. Deze namelijk had een leerling die Hans Grimmer heette, wiens leerling weder, Philipp Uffenbach, de meester van Elsheimer was geweest. Over Lastman heen reikt Elsheimer dan weder de hand aan REMBRANDT.“ (Veth 1906, 12). 191 „Waarheid is dat, wanneer men in de vroegere kunstgeschiedenis naar een schilder wilde omzien, die aan REMBRANDT’S hartgrondigen levensgreep kon herinneren, men moeielijk iemand zou vinden meer aan zijn grootheid verwant, dan de sombere geweldenaar het was, die Grünewald heette.“ (Veth 1906, 12). 199 Kommen wir nun zu dem Bereich der Nachfolge des Künstlers, wo sich, wie bereits ange- deutet, eine Entsprechung zu diesem ambivalenten Konzept einer Abgrenzung Rembrandts von seinen Lehrern bei gleichzeitiger Bindung an Vorläufer von historischer Monumentalität aufzeigen läßt. Die Bewertung der Schüler ist zwar weniger abschätzig als die der Lehrer, schließlich standen sie unter der persönlichen Obhut Rembrandts und ihre Fehlentwicklung würde zumindest teilweise auf ihren Meister zurückwirken, dennoch wird auch hier dem Prinzip Folge gelei- stet, daß Größe erst in Relation zu ihrem Gegenteil zum Ausdruck kommt. Symptomatisch erscheint etwa, wie Richard Hamann (1906) einige als schwächer eingestufte Radierungen in Rembrandtscher Stilistik dem Schüler Jan van Vlieth zuschreibt:

„Was an Rembrandt selbst noch unfertig und roh erscheint (...) ist bei Vlieth die grobschlächtigste Manier. Seine Physiognomien sind noch roher und gröber, seine Körper noch plumper und aufge- blasener, und es ist wohl möglich, dass manches in den frühen Radierungen besonders Anstössige (...) auf Vliets Rechnung zu setzen ist.“ (Hamann 1906, 318)

Hier läßt sich die Bestimmung des Künstlers als eines kontinuierlichen Qualitätsniveaus be- obachten, auf die ich im folgenden noch zu sprechen kommen werde.192 Der Schüler dient da- bei als Abgrenzungsfigur: Sein Name kann dem minderen Material zugeschrieben werden; er assistiert somit der Erhöhung des Meisternamens. Vom Glanz des Lehrers fällt dagegen wenig auf die Schüler ab. Da jenem als einem autonomen Künstler die Quintessenz seines Schaffens aus dem Inneren zukommt, kann sie auch nicht weitergegeben werden. Rembrandt hatte ‘das Wesentliche‘ nicht von anderen lernen können, und nun bleibt dieses wiederum unlehrbar. Eingeschlossen in die Individualität Rembrandts ist es an ihn allein gebunden, sein ‘Eigen- tum‘, oder, mit Hamann, sein „ganz Persönliches“:

„Es ist (...) undenkbar, daß ein Schüler anders als unverstanden etwas ganz Persönliches nach- stammelnd und sich selbst aufgebend, Rembrandt hier etwas hätte absehen können.“ (Hamann 1906, 318 f.)

Die Schüler sind zum Eklektizismus verdammt, zum ‘Nachstammeln‘ einer äußerlich ähnli- chen Form, die jedoch der inhaltlichen Ausfüllung durch den Geist ihres Urhebers sichtlich entbehrt. Frederic Schmidt-Degener formuliert 1928 (zuerst 1919) das daraus resultierende Schicksal der direkten Nachfolger:

„(...) da man nur selten bis zu seinem Geist durchdrang, lernten seine Nachfolger keinen Stil, son- dern nur eine Mode. (...) Als Ganzes betrachtet, ist die Rembrandtschule ein Mißerfolg; die Berüh-

192 Vgl. Foucault 1993, 20 ff. und hier den Abschnitt zur Zuschreibungspraxis. 200 rung mit dem Genius wird für Talente, scheint es, oft zum Unglück. Obwohl der Meister Maßnah- men ergriff, um die Individualität seiner Schüler zu wahren, konnten sich doch nur wenige halten; die meisten versengten ihr Persönchen elend an dem großen Feuer.“ (Schmidt-Degener 1928, 3 f.)

Adolf Rosenberg (1904) variiert diese Sichtweise. Zwar steht für ihn Rembrandts Einfluß außer Frage, doch dafür findet er ein anderes Motiv, um den Meister von seinen Schülern ab- zugrenzen:

„Obwohl Rembrandt durch Lehre und Beispiel, durch seine Schüler wie durch seine Werke, einen mächtigen Einfluß auf die Kunst seiner Zeit und insbesondere seines Landes ausgeübt hat, hat die - ser Einfluß nicht lange angehalten, weil seine Schüler, besser auf ihren Vorteil bedacht als ihr Mei- ster, rechtzeitig andere Wege einschlugen, als sie sahen, daß der Modegeschmack sich von Rem- brandts Art abgewandt hatte. Für uns aber liegt ihre Bedeutung nur in dem, was sie von Rembrandt empfangen haben.“ (Rosenberg 1904, XXXVI)

Die Schüler folgten demnach dem Wechsel der Moden und wandten sich von der Art ihres Meister ab - Rosenberg stellt Distanz in der gleichen Weise her, wie dies bereits zwischen Rembrandt und seinen Lehrern üblich war. Beide Personengruppen sind einer Orientierung an äußeren Einflüssen erlegen, dem ‘Italianismus‘ oder dem „Modegeschmack“, wodurch das Herausragende der autonomen Gesinnung Rembrandts wiederum verstärkt hervortritt. Wie zur Strafe für diese opportunistische Haltung stellt Rosenberg fest, daß die Schüler Rem- brandts nicht als sie selbst, sondern nur im Hinblick auf ihren Lehrer, auf die Person des ge- nialen Meisters, unser Interesse weckten, daß wir Ihnen „Bedeutung“ allein in Bezug auf Rembrandt zusprächen.

Was Rembrandt Entscheidendes geleistet hat, wird in der hier nachgezeichneten Perspektive nicht nur durch die Zeitgenossen verkannt, es bleibt auch in der Kunst lange Zeit ohne Nach- folge. Als Erben des Künstlers werden schließlich nicht jene gehandelt, die in persönlicher Verbindung mit ihm standen. Die Autoren unserer Untersuchungszeit umgeben den ‘großen Einzelnen‘ mit einer breiten historischen Sicherheitszone, erst in gehörigem Abstand plazie- ren sie Nachfolger, die dann freilich auch keine bloßen Stilkopisten, sondern selbst gänzlich ‘eigentümlich‘ Schaffende sind, denen zugesprochen wird, den Geist des Meisters in sich auf- genommen zu haben. Da man erst der eigene Zeit die Erkenntnis der wahren Größe und die Leistung einer angemessenen Würdigung Rembrandts zuspricht, erfahren historische Namen des späten 17. bis frühen 19. Jahrhunderts kaum einmal die Ehre, mit dem Holländer auf eine Ebene gestellt zu werden. Im Zuge der topischen Ernennung Rembrandts zum ‘Vorläufer der Modernen‘ oder gar zum ‘ersten Modernen‘ finden sich dagegen zahlreiche Äußerungen, in denen Künstler des späte-

201 ren 19. Jahrhunderts als Nachfolger des Holländers bezeichnet werden. Die Verbindung über die Jahrhunderte hinweg wird dabei zunächst auf ästhetischem Gebiet hergestellt. In Nach- folge Eugène Fromentins (1876) sieht man in Rembrandt einen Lichtmaler (luminariste), der als Ahne der plein-air-Malerei betrachtet werden könne. Gegen den ursprünglichen Sinn Fro- mentins wird diese Verbindung um 1900 auch auf die Impressionisten ausgeweitet.193 Adolf Rosenberg (1904):

„Zwei Jahrhunderte nach Rembrandts Tode ist dieser Kampf mit dem Licht und die Bezwingung des Lichts von den Künstlern mit leidenschaftlichem Eifer wieder aufgenommen worden, und wie weit auch ihre Wege, zu diesem Ziele zu gelangen, auseinander führen mögen, ob sie sich ‘Impres- sionisten‘, ‘Freilichtmaler‘, ‘Luministen‘, ‘Nebulisten‘ oder sonstwie nennen, so streben sie doch alle demselben Sterne nach, der Rembrandt auf seiner ganzen Lebensbahn geleuchtet hat und von dem er nicht abgewichen ist, wie hart ihn auch das Schicksal zerzaust hat.“ (Rosenberg 1904, X)

Doch damit ist die Rolle Rembrandts als Vorbild der moderner Kunst noch nicht erschöpft. Karl Scheffler stellt im Rembrandt-Almanach (1906) fest:

„Genies, die auf Grenzscheiden der Zeit stehen und ein Äußerstes mit gesteigerter Leidenschaft an- streben, werden ihren Nachahmern fast immer verderblich. Rembrandts schwere, mit Zukunftsge- danken gesättigte Kunst mußte erst ein paar Jahrhunderte ablagern, um eine Quelle neuer Anregun- gen zu werden. Sie ist es geworden. Es gibt heute kaum einen bedeutenden modernen Maler, der nicht in irgendeiner Weise auf Rembrandt hinwiese.“ (Scheffler 1906, 33)

Als Beispiele nennt der Kunstschriftsteller Scheffler einige Maler des französischen Natura- lismus sowie des Impressionismus, darunter „Millet und seinen Kreis“, Fantin-Latour, Degas, Liebermann und Fritz von Uhde (ebd.). Es besteht kein Zweifel an der Richtigkeit des hier von Scheffler und anderen konstatierten Einflusses der Rembrandtrezeption auf moderne Kunstrichtungen. Die Studien von Chu (1974) und Stückelberger (1996) haben die Reich- weite dieser Facette der Rembrandteuphorie veranschaulicht. Der essentialistischen Beschrei- bung einer „mit Zukunftsgedanken gesättigte[n] Kunst“, die ihren Gehalt erst nach Jahrhun- derten preisgibt, ist jedoch das Modell der Projektion einer aktuellen Perspektive entgegenzu- halten, die sich einen historischen Vorläufer entwirft, um das eigene Handeln zu legitimieren. Wie die allgemeine Begeisterung für Rembrandt bereits vermuten läßt, bleiben die Annähe- rungen aktueller Künstler an Rembrandt, seien sie nun durch die Künstler selbst oder durch deren Biographen ausgesprochen worden, nicht auf die noch recht anschauliche ästhetische Verbindung über das Thema ‘Licht‘ beschränkt. Indem Rembrandt um 1900 zum Maß allen Künstlertums aufsteigt, und dies zugleich in den vermeintlich unterschiedlichsten Lagern ge-

193 Vgl. die Ausführungen zu Fromentins künstlerischer Position im Abschnitt Nachtwache. 202 sellschaftspolitischen Denkens wie künstlerischen Schaffens, wird der Verweis auf seine Vor- bildlichkeit zum Topos in den Lobpreisungen von jüngeren Künstlern und Kunstrichtungen. In den Stammbäumen, die zur Nobilitierung neuerer Kunst angelegt werden, hat der Name Rembrandt besonderes Gewicht. Wem Rembrandt als Sinnbild des modernen Künstlers gilt, der schreibt auch den jüngeren Vertretern ‘wahrhaftigen Kunstschaffens‘ den Namen Rem- brandt ins Stammbuch. Ein Beispiel für diese Praxis ist Julius Meier-Graefe, der die künstleri- sche Vorbildlichkeit Vincent Van Goghs (1925) wie schon diejenige Hans von Marées‘ (1909/1910) durch den Verweis auf Rembrandt legitimiert.194 Karl Scheffler beschrieb das Phänomen dieser späten aber umfassenden ‘Lehrtätigkeit‘ Rembrandts im Anschluß an die bereits zitierte Passage:

„(...) die Psychologen gehen bei ihm in die Lehre, die Romantiker lassen sich von ihm anregen, und man kann kaum eine moderne Radierung in die Hand nehmen, sei sie von Whistler, Zorn, Lieber- mann, Menzel oder irgendeinem andern, ohne den Geist Rembrandts zu spüren. (...) Er gilt den Frommen als fromm und den Aufgeklärten als modern; Christen, Pantheisten, Monisten und Spiri- tisten können ihn als einen der Ihren erklären, und sowohl Realisten wie Idealisten erkennen ihn als Oberhaupt an.“ (Scheffler 1906, 33 f.)

Es ist zu fragen, ob Scheffler diese höchst widersprüchliche Anschlußfähigkeit Rembrandts für unterschiedlichste moderne Bestrebungen ironisch kommentiert oder ihr Beliebigkeit vor- wirft. Das Gegenteil ist der Fall. Scheffler sieht den Ursprung der Rembrandtbegeisterung nicht im modernen Blick auf diesen Künstler, sondern im universellen Umfang der „geheim- nisvolle[n] Erscheinung“ (Scheffler 1906, 34) des Holländers selbst, und er schließt seine Phänomenbeschreibung mit der Feststellung:

„Er ist ein Ganzer, eine Welt, woraus es jedem zurückschallt, wie er hineinruft.“ (Scheffler 1906, 34)

Fassen wir die hier gemachten Beobachtungen zusammen. Die Vorstellungen von Rem- brandts Vorläufern und jene von Rembrandts Nachfolgern verhalten sich weitgehend symme- trisch zueinander. Als Grundmuster gilt: In direkter Berührung mit seinen Zeitgenossen (hier: seinen Lehrern oder Schülern) wurde nur wenig weitergegeben, und nichts von Bedeutung. Das Wesentliche erscheint als unlehrbar. Dagegen bestehen über die engere Zeitgenossen- schaft hinaus tiefe Verbindungen mit ‘Ahnen‘ und ‘Erben‘. In dieser Konzeption gelingt ein Paradox: Die Autonomie des großen Künstlers bleibt erhalten - er hat nichts wesentliches ge-

194 Siehe Meier-Graefe 1909/1910, Band II, 772 und Meier-Graefe 1925, 307. Mit Verweis auf einen Text Otto Beneschs von 1924 stellt Boomgaard fest, man habe damals in Cezanne die wahre Fortsetzung Rembrandts in der Kunst der eigenen Zeit gesehen (Boomgaard 1995, 191). 203 lernt oder übernommen und niemand kann ihm direkt nachfolgen -, dennoch ist er eingereiht in die Genealogie großer Meister und kann als idealer Vertreter eines in geistiger Wesens- gleichheit verbundenen Kollektivs fungieren, das zugleich die Möglichkeit autonomer Sub- jektivität demonstriert.195

Die hier analysierten Abgrenzungsstrategien sollen nun unter einer veränderten theoretischen Perspektive betrachtet werden, die ihren Ausgang von der auffälligen Verwendung des Be- griffs ‘Eigentümlichkeit‘ nimmt.

2.3.2 Exkurs: Die juristische Konzeption des Eigentums und die künstlerische Eigentümlichkeit

Der Literaturwissenschaftler Gerhard Plumpe hat in einer Folge von Arbeiten die Präformu- lierung wesentlicher Elemente des modernen Kunstdiskurses im juristischen Diskurs unter- sucht (Plumpe 1981, 181). Seine Ausgangsthese lautet, daß die „‘Verrechtlichung’ künstleri- scher und literarischer Praxis seit der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Selbstverständnis von Kunst und Literatur nicht äußerlich geblieben“ sei, sondern dieses „im Gegenteil funda- mental erfaßt und zu seiner - als epochale Wende begriffenen - Umstrukturierung beigetra- gen“ habe (Plumpe 1979, 178). Deshalb sei die Frage nach den Determinanten des epochalen Einschnitts, der im 18. Jahrhundert eine neue literarische Praxis und ein neues künstlerisches Selbstverständnis habe entstehen lassen, in veränderter Perspektive zu stellen (Plumpe 1981, 181). Es stellt einen Konsens der Forschung dar, für die Zeit um 1800 von einer ‘epochalen Wende‘ zu sprechen. Dies gilt zunächst unabhängig davon, ob diese Wende auf die Episteme des Wis- sens, auf die Organisationsformen der Öffentlichkeit oder auf die Ausdifferenzierung auto- poietischer Subsysteme der Gesellschaft bezogen wird, also unabhängig davon, ob die beob- achteten Veränderungen mit dem Vokabular der theoretischen Konzepte von Foucault, Ha- bermas oder Luhmann beschrieben werden. Methodisch nähert sich Plumpe diesem Phäno- men durch die Erschließung empirischen Materials zur Begriffsgeschichte, in der Absicht, Ähnlichkeiten zwischen juristischem Diskurs und Kunstdiskurs zu beschreiben. Eine kurze Skizze seiner Untersuchungen soll diese Vorstellung von einer Interferenz zwischen den bei- den Bereichen veranschaulichen und die anschließende Übertragung dieses Erklärungsmo- dells auf Beispiele der Rembrandtliteratur vorbereiten.

195 Aus dieser Konstellation erklärt sich auch die Anschlußfähigkeit für nationalistische Entwürfe, die im Künst- lerheros den höchsten Ausdruck des Nationalcharakters erblicken. 204 Geleitet von der Frage nach der Stellung des Autors als Rechtssubjekt analysiert Plumpe zu- nächst den Wandel des Bedeutungsspektrums der Begriffe ‘Eigentum‘ bzw. ‘eigentümlich‘. Als Ursache für die dabei beobachteten Veränderungen benennt er Unklarheiten im Verlags- recht, die durch die technische Entwicklung der Buchreproduktion entstanden seien. Demnach hat einer Zunahme an technischer Komplexität die Überarbeitung der juristischen Konzeption des Urhebers zur Folge gehabt. Plumpe unterscheidet drei Phasen der begriffsgeschichtlichen Entwicklung:

„- Zunächst ist ‘Eigentümlichkeit’ einfach Bezeichnung des legitimen Besitzes eines Objekts (dies meinen die frühen Verwendungen in juristischen Kontexten bis Mitte des 18. Jahrhunderts) - Dann ist ‘Eigentümlic hkeit’ Bezeichnung der Genesis des Eigentums durch Arbeit (‘Fleiß’) (so die Juristen in den Nachdrucksdebatten des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts) - Schließlich ist ‘Eigentümlichkeit’ Bezeichnung der Herkunft ‘geistigen Eigentums’ aus der Inve- stition von Individualität (so argumentiert das Recht in den [...] Quellen seit Anfang des 19. Jahr- hunderts).“ (Plumpe 1979, 183)

Die entscheidende Wendung liegt in dem hier als Punkt zwei angeführten Übergang zur natur- rechtlichen Eigentumslehre, die ihre wesentliche Ausformulierung durch John Locke erfahren hat. Locke bestimmte Eigentum „als Ergebnis individueller Aneignung eines ursprünglichen Gemeinguts durch Bearbeitung“ (Plumpe 1988, 334). Das Eigentumsrechts an einem Gegen- stand, dessen Teile als Gemeingut zu betrachten sind, erwirbt sich das Individuum demnach durch die Investition seiner Arbeitskraft, die in diesen Gegenstand eingegangen ist. Diese Vorstellung bildet auch die Grundlage zu den Konzepten eines literarischen Urheberrechts, die im späten 18. Jahrhundert entwickelt wurden und sich im 19. Jahrhundert als Rechtspraxis durchsetzten. So unterscheidet z.B. J. G. Fichte in seiner Schrift zum „Beweis der Unrecht- mäßigkeit des Büchernachdrucks“ den ‘körperlichen’ Teil des einzelnen Buches, der durch Kauf Eigentum des Käufers wird, vom geistigen Teil, den Worten und Gedanken des Textes. Dieser ist Gemeingut, denn der Leser eignet sich ihn durch Lektüre an. Dem Schriftsteller verbleibt als Eigentum allein die Form der Gedanken, denn er kann diesen „keine andere geben als die seinige, weil er keine andere hat“, weshalb diese Form „auf immer sein aus- schließliches Eigentum“ bleibt (Fichte, zit. n. Plumpe 1981, 185). Weder das materielles Objekt des Buches, noch das geistige Material, dessen ‘Ausdruck’ es darstellt, kann als urheberrechtlicher Gegenstand fungieren. In dieser Situation „führte der juristische Diskurs eine neue Kategorie ein: die Formierung des geistigen ‘Gemeinguts‘ als Inschrift des Individuellen.“ (Plumpe 1988, 335) Diese Konzeption, die in der ‘eigentümlichen‘ Form der Gedanken das ‘Eigentum‘ ihres Au- tors ausmachte, entstand in Abgrenzung zu einer „normativ regulierten literarischen Praxis, in der ‘Witz’ und ‘Kunst’ der Schriftsteller einem Tableau der Schreibweisen unterworfen [wa- 205 ren], die festgesetzten Zwecken und Wirkungen [korrelierten] und insofern dem Autor als Rechtssubjekt keinen Platz [gaben]“ (Plumpe 1981, 185 f.). Für den Bereich der bildenden Künste lassen sich mit diesem „Dispositiv der Regelpoetik“ (Plumpe 1988, 335) die klassizi- stischen Regeln des Kunstschönen vergleichen, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun- derts eine neue Ordnung des künstlerischen Gestaltens vorgaben. Zur zentralen Bedeutung der regelgerechten Kunstpraxis stellt Plumpe für den literarischen Bereich fest:

„So konnte Johann Jacob Bodmer etwa 1740 die Meinung vertreten, ‘daß ein jeder anderer Mensch in gleichmäßigen Umständen eben dergleichen Werk [der Kunst und Wissenschaft] hätte verferti- gen können’ - eine Meinung, die für die juristische Problemlösung ruinös war, da sie das ‘geistige Werk’ als Ergebnis generalisierender Fähigkeiten verstand.“ (Plumpe 1988, 335)

Der naturrechtliche Arbeitsbegriffs Lockes hatte es dagegen ermöglicht, die Individualisie- rung der ‘Sache’ durch den Zugriff der ‘Person’ zu denken, und hattet damit die Grundlage für ein elementares Segment des modernen Kunstdiskurses geliefert: die Beziehung von Autor und Werk. Plumpe sieht hier den entscheidenden Korrelationspunkt zwischen Rechts- und Kunstdiskurs:

„Die Beziehung ‘Autor’ - ‘Werk’ muß als Modalität einer allgemeinen Konzeption verstanden werden, die auf der Basis einer rudimentären ‘Subjekt-Objekt-Dialektik’ Eigentum als Verbindung von ‘Person’ und ‘Sache’ begreift.“ (Plumpe 1981, 180) „Festzuhalten ist aus diesen juristischen Erörterungen, daß die Kategorien individualisiertes (Schöpfer-) Subjekt und individuelles, in seiner Form distinktes Werk - als Paraphrase der Elemen- tarrelation ‘Person’/’Sache’ - aus dem Motiv heraus entwickelt wurden, den Begriff des Eigentums auch in Bezug auf intellektuelle und künstlerische Arbeit denken und rechtfertigen zu können. (...) Das Wort ‘eigentümlich’ scheint die umrissene Diskursinterferenz plastisch zu indizieren.“ (Plumpe 1979, 192)

Nach der Beschreibung dieser Interferenzen zwischen der juristischen Debatte um künstleri- sches Urheberrecht und dem Wandel von der Regelpoetik zur Individualästhetik im literari- schen Kunstdiskurs hat Plumpe sich mit gleichem methodischen Instrumentarium einem zweiten historischen Abschnitt zugewandt, dem „Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus“.196 In dieser Untersuchung zeichnet er die Auseinandersetzung um die Kunstfähigkeit der Fotografie im juristischen und im ästhetischen Diskurs der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach. Den Kern dieses Problems bildete die Frage nach der Eigentumsfähigkeit fotografischer Bilder. In der Debatte dominierte eine binäre Po- sitionierung von bildender Kunst und Fotografie, wobei dieser Gegenüberstellung die Co-

196 Plumpe 1990, Untertitel. 206 dierung schöpferisch/mechanisch, mit Paraphrasen wie Kreativität/Regelhaftigkeit oder Einzigartigkeit/Reproduzierbarkeit, entsprach:

„Hier hatte der juristische Diskurs zwei Möglichkeiten: er konnte - wozu er im ganzen 19. Jahr- hundert neigte - alle Elemente des photographischen Prozesses als ‘Gemeingut‘ ausgeben und dem Medium jede ‘susceptibility of property‘ bestreiten; oder er konnte einen ‘individuellen Umgang‘ mit der Photographie und die Eigentumsfähigkeit ihrer Bildresultate einräumen.“ (Plumpe 1988, 337)

Die juristische Einschätzung der Fotografie orientierte sich an Begrifflichkeiten, die für den Bereich des literarischen Urheberrechts entwickelt worden waren. Grundlage bildete somit erneut die Naturrechtsbestimmung, derzufolge aus Gemeingut durch die Investition individu- eller Arbeit Eigentum wird. Die Fotografie wurde in der deutschen Rechtsprechung des 19. Jahrhunderts weitgehend als reproduktive Apparatur bewertet, die dem Fotografen keinen Spielraum zum Ausdruck individuellen Formwillens läßt. Als Abbild der Natur verblieb das Ergebnis im Bereich des Gemeinguts und konnte mangels ‘Eigentümlichkeit‘ folglich nicht den ästhetischen Status des Werks beanspruchen (1988, 337). Durch eine Darstellung des zeitgleich sich entfaltenden ästhetischen Diskurses um den Kunstwert der Fotografie weist Plumpe den Reflex der juristischen Kategorien nach (1990, 97ff). Als Ergebnis der Untersu- chungen Plumpes kann zusammengefaßt werden:

„Der juristische Begriff der ‘eigentümlichen Werkform’ hat, als interdiskursives Konzept, die epo- chale Wende zu einer individualitätsorientierten Ästhetik mindestens beschleunigt und ganz sicher sozial stabilisiert. Aus der Perspektive des Rechts liefert die Ästhetik des späten 18. Jahrhunderts eine Antwort auf die Frage nach der Eigentümlichkeit des Kunstwerks.“ (Plumpe 1988, 341).

Unabhängig davon, welchen Stellenwert man Plumpes Beobachtung einer Interferenz zwi- schen juristischem und ästhetischem Diskurs im polykausalen Geflecht von politischen und sozialen Veränderungen, von naturwissenschaftlichen Entwicklungen sowie von aufkläreri- schen und idealistischen Philosophiekonzepten zuweisen möchte - in jedem Fall ist seiner Beobachtung zuzustimmen, daß sich seit dem späten 18. Jahrhundert eine „epochale Wende zu einer individualitätsorientierten Ästhetik“ vollzieht. Im Bereich der bildenden Künste be- stimmen die entsprechenden Neuorientierungen - etwa die Ablösung von akademischen Nor- men, die Kritik an der Einflußnahme von Auftraggebern auf das Werk oder die von Plumpe hervorgehobene Veränderung der Eigentumsbegrifflichkeit - den ästhetischen Diskurs über weite Strecken des 19. Jahrhunderts. Wenn mit Rembrandt in der zweiten Jahrhunderthälfte ein Künstler zum Ideal erhoben wird, der sich zu einer Stilisierung als autonomes Künstlersubjekt eignet, so ist das im Zusammen- hang mit dieser Entwicklung zu verstehen. Die Interferenzthese Plumpes bietet zudem eine

207 neue interpretatorische Perspektive auf diese zentrale Stellung der Individualialität in der mo- dernen Rembrandtrezeption. Tatsächlich tragen die Abgrenzungsdiskurse, die sich um eine Formulierung der individuellen Leistungen Rembrandts bemühen, auch in den Jahrzehnten um 1900 die Spuren der von Plumpe beschriebenen Verwandtschaft zwischen juristischen und ästhetischen Begriffe des ‘Eigentums‘ und der ‘Eigentümlichkeit‘.

2.3.3 Zur Reichweite des Konzeptes der ‘Eigentümlichkeit‘

Die Feststellung von ‘Eigentümlichkeiten‘ ist eine Strategie der Grenzziehung, mit der ein Bereich des ‘Eigenen‘ von einem äußerlichen Bereich unterschieden wird. Im juristischen Diskurs wird auf diese Weise das Eigentumsrecht an einer Sache mit einer Person verbunden. Die Identifikation von Subjekten durch die Benennung von deren Eigentümlichkeiten ist je- doch keinesfalls an ein anthropologisch begrenztes Verständnis von Individualität gebunden. Ein Zitat von Jacob Burckhardt (1877) zeigt uns, daß auch andere Arten der Korpusbildung in dieser Weise legitimiert werden können:

„Denn Holland wurde damals mächtig und reich wie kein anderes Land von Europa. Außerdem aber war es ein stolzes Volk geworden, das nach glorreich bestandenen, furchtbaren Da- seinskämpfen niemanden auf Erden mehr etwas nachfragte und sich in jeder Beziehung des Lebens seine volle Eigentümlichkeit vorbehielt.“ (Burckhardt 1919 [1877], 6)

Der Eigentumsbegriff schließt in dieser nationalpolitischen Verwendung die Bedeutungen von ‘selbständig‘ und ‘autonom‘ ein. Er dient der Eingrenzung jener Menschenmenge, die mit dem Begriff ‘Volk‘ abstrakt bezeichnet wird und für deren Konzeption die Vorstellung von einem ‘nationalen Charakters‘ bedeutsam ist. Dieser prägt, so läßt sich Burckhardt verstehen, die Erscheinungen des ‘nationalen Lebens‘ auf den unterschiedlichsten Ebenen:

„So war denn auch die Kunst, nachdem sie die morsch gewordenen Traditionen des 16. Jahrhun- derts abgeschüttelt, eine völlig nationale. (...) Innerhalb dieser Kunst erhob sich nun die unvergleichliche Originalgestalt Rembrandts. Er fühlte in sich vor allem die volle Selbständigkeit eines Holländers, so intensiv wie selbst wenige seiner Landsleute sie fühlen mochten; dabei war er aber eine Individualität, wie sie in jeder Nation auf- fallen und in ihrem Kreise herrschen würde (...).“ (Burckhardt 1919 [1877], 6 f.)

Die Eigentümlichkeit Rembrandts tritt hier also in Analogie zur nationalen Eigentümlichkeit in Erscheinung. In ihm zeigt sich die „volle Selbständigkeit eines Holländers“, die nationale Charakteristik, die er „so intensiv wie selbst wenige seiner Landsleute“ zu fühlen vermochte. Über diese gleichsam vorbedingte Selbständigkeit hinaus, verfügte diese „unvergleichliche

208 Originalgestalt“ jedoch zusätzlich über eine außerordentliche Individualität, die sie von ihrem Umfeld abgrenzte. Wenn Burckhardt hier für Rembrandt eine Art ‘doppelte Eigentümlichkeit‘ feststellt, so steht er damit auf der Schwelle zwischen zwei Positionierungen des Künstlers im Verhältnis zur Gesellschaft. Die erste Eigentümlichkeit ist holländisch, durch sie ist Rembrandt in sein zeit- genössisches Umfeld integriert, während ihn die zweite Eigentümlichkeit als spezifische Indi- vidualität von seinem „Kreise“ abhebt. Über diese spannungsreiche Konzeption hinaus liegt der besondere Quellenwert von Burckhardts Vortrag darin, daß hier ein scharfer Kritiker der Rembrandtschen Bildästhetik, ein später Verfechter idealer Regeln des am Renaissancevor- bild orientierten Kunstschönen, in abwertender Absicht eine Begrifflichkeit zur Anwendung bringt, die von anderen Autoren zum gleichen Zeitpunkt bereits positiv aufgefaßt wurde. Für Burckhardt ist es durchaus problematisch, wenn ein Kunstwerk von den ‘Eigentümlichkeiten‘ seines Urhebers dominiert wird. Der einflußreiche Kunstgelehrte hält die Kunst nicht für den Ort, an dem es primär um den Ausdruck subjektiver Charakteristik gehen sollte. Am Eigen- willen des Künstlers dürfen die Grundregeln der Bildgestaltung keinen Schaden nehmen. Hier sieht Burckhardt in der Kunst Rembrandts ein Mißverhältnis:

„Was er von seinen Lehrern Swanenburch, Pinas, Lastmann und andern gelernt haben mag - und wäre es auch eine sehr verdünnte Tradition von den italienischen Naturalisten, Caravaggio und an- dern her gewesen - mag wenig gewesen sein, selbst wenn diese Lehrer sehr tüchtige Leute waren. (...) Allein wir dürfen uns Rembrandt von Jugend auf als einen Autodidakten in kühnstem Sinne vorstellen, der seinen Lehrern höchstens ein paar Handgriffe verdanken, sonst aber seine ganze Kunst allein entdecken will. Gewisse Dinge, wie zum Beispiel die normale anatomische Bildung der Menschengestalt, haben ihm vielleicht seine Lehrer umsonst beibringen wollen; er hat sie nie gelernt und sein ganzes sonstiges System mit diesem Mangel in Einklang gefunden oder eher in Einklang gebracht.“ (Burckhardt 1919 [1877], 7)

Ganz akademisch-erzieherisch ausgerichtet, macht Burckhardt eine fehlerhafte Ausbildung des unwilligen Eleven für die Abweichungen verantwortlich, die dessen malerisches System im Vergleich mit der zur Norm erhobenen Renaissancekunst kennzeichnen. Im direkten An- schluß an dieses Zitat liefert er dann eine Definition der Eigentümlichkeiten Rembrandts, die den Begriff eines persönlichen Stils als kunsthistorische Paraphrase jener juristischen Formel erkennbar macht, derzufolge die Eigentümlichkeit des Werkes als eine spezielle, an die Per- son des Künstlers gebundene Art der Formgebung zu verstehen ist:

„Überhaupt bildet sein Stil ein untrennbares, völlig mit seiner trotzig kräftigen und wunderlichen Persönlichkeit identisches Ganzes. Wodurch unterschied er sich von allen Malern, die vor ihm in der Welt gewesen?

209 Durch die Unterordnung des Gegenstandes, welcher es auch sei, unter zwei elementare Groß- mächte: Luft und Licht.“ (Burckhardt 1919 [1877], 7 f.)

Der Künstler wird mit seinem Werk identifiziert, genauer: mit dessen „Stil“. Zur Unterschei- dung von „allen“ anderen Malern verbindet Burckhardt mit dem Namen Rembrandt das ge- stalterisches Prinzip der „Unterordnung des Gegenstandes“ unter „Luft und Licht“.197 Was wir hier beobachten können, ist die „Repräsentation des Autors in der individuellen Form“ des Werkes (Plumpe 1981, 185).

Die Strategie, die Eigentümlichkeit des Werkes zu beschreiben und von dieser auf die Indivi- dualität des Künstlers zu sprechen zu kommen, läßt sich in der Rembrandtliteratur um 1900 in vielen Varianten studieren. Wenn Anton Springer 1886 zwischen Rembrandt und Frans Hals über die Führerschaft in der niederländischen Malerei entscheidet, wählt er zur Bestätigung von Rembrandts Eigentümlichkeit eine Bezeichnung, die sich wie ein Verweis auf die Her- kunft der fraglichen Thematik aus dem Feld der Literatur liest:

„Aber alle diese Ruhmestitel wiegen leicht gegen eine Eigenschaft, welche Rembrandt und nur Rembrandt unter allen Holländern in so reichem Maße besitzt. Rembrandt ist Poet. Jedem Werke drückt er das Gepräge seiner Persönlichkeit auf. Bei aller Wahrheit der Schilderungen zeigen diese doch noch außerdem besondere Züge, welche nur auf die eigenthümliche Empfindungsweise des Künstlers zurückgeführt werden können.“ (Springer 1886, 177)

Als ‘Poet‘ kann Rembrandt die Urheberschaft seiner Werke beanspruchen, da er die Welt nicht nur äußerlich kopiert, sondern durch eine Leistung gestaltet, die „nur auf die eigenthüm- liche Empfindungsweise des Künstlers zurückgeführt werden“ kann. Die Werke gewinnen ihre Form aus der singuläre Charakteristik des künstlerischen Subjekts. Indem Springer den bildenden Künstler als ‘Poet‘ bezeichnet, bringt er ihn mit einer Vorstellung vom schöpferi- schen Individuum in Verbindung, in die sich bereits die Entwicklungen der modernen Urhe- berrechtsbestimmungen eingeschrieben haben. Die Gleichsetzung des bildenden Künstlers mit dem Dichter ist als eine spezifische Form der Nobilitierung zu verstehen, insofern das Kon- zept des ‘dichterischen Schaffens‘ als prototypische Formel für die Produktion geistigen Ei- gentums gelten kann. Ein verwandtes Nobilitierungsmodell hat Martin Warnke bereits für die „Vorgeschichte des modernen Künstlers“198 entworfen. Er beschreibt die Aufwertung der so- zialen Position des zünftischen Künstler-Handwerkers zum „Hofkünstler“, die sich im 14. und

197 Es läßt sich nicht nachprüfen, ob Burckhardt zu diesem Zeitpunkt bereits Fromentins Maîtres d’autrefois (1876) kannte, in denen Rembrandt als Lichtmaler (luminariste) bezeichnet wird. 198 Warnke 21996, Untertitel. 210 15. Jahrhundert vollzieht. In diesem Prozeß des gesellschaftlichen Aufstiegs, so weist Warnke nach, kommt der Gleichsetzung der Handarbeit des Künstlers mit der geistigen Arbeit des Dichters eine wichtige Rolle zu (Warnke 21996, 52 ff.).

Ging es damals um die Befreiung der künstlerischen Tätigkeit vom Schweiß der körperlichen Arbeit, so zielt der moderne Vergleich des bildenden Künstlers mit dem Dichter auf die ge- steigerte Subjektivität, mittels welcher der Poet die Sprache zu einem ‘eigentümlichen‘ Werk formt. Wie Burckhardt und Fromentin zur gleichen Zeit, hat auch Wilhelm Lübke (1877) das Licht als eigentümliches künstlerisches Mittel Rembrandts dargestellt. In seiner Beschreibung der Nachtwache bezeichnet er den Künstler dabei als ‘Poet‘ und trägt zudem eine Abwandlung der naturrechtlichen Konzeption geistigen Eigentums vor:

„[Es] ist nicht zu verkennen, daß dieses fast dämonisch glühende Licht, das frappant Momentane der Bewegungen, die concentrirte Gewalt der gesammten Erscheinung eine Wirkung hervorbrin- gen, wie sie kein Anderer solchem Gegenstande zu entlocken vermochte, und zwar einfach des- halb, weil hier ein großer Poet, ein Zauberer im Reiche des Lichtes (...) die ganze Tiefe seiner An- schauung, den Reichthum seines Geistes in das schlichte Alltagsthema ergossen hat.“ (Lübke 1877, 215)

Das alltägliche Material wird durch den Einfluß der „Tiefe“ einer individuellen „Anschau- ung“ zu etwas umgeformt, das „kein Anderer solchem Gegenstande zu entlocken vermochte“, mit einem Wort: zu etwas Eigentümlichen. In ähnlicher Weise verfährt Adolf Philippi (1901), Professor für Archäologie und Kunstgeschichte in Göttingen,199 bei seiner Würdigung der künstlerischen Leistung Rembrandts angesichts eines späten Porträts:

„Aus voller Seele hat er ein Dasein verklärt, von dem wir ohne ihn nichts wissen würden, das aber nun verewigt weiter lebt durch die Kunst des Malerpoeten. Über die ganze Gestalt ist ein duftiger, durchsichtiger Schatten gelegt, so daß nur der anmutige Kopf das Licht hat, auch dieses noch leicht verschleiert und goldwarm. So etwas kann nur Rembrandt, der überhaupt unter allen, die jemals Bildnisse gemalt haben, der mannigfaltigste ist mit dem größten Umfange, dafür aber auch oft willkürlich und besonders, wie nun einmal die Dichter sind.“ (Philippi o.J. [1901], o.S.)

Auch bei Carl Voll (1906) kulminiert das Lob Rembrandts im Begriff des ‘Dichters‘:

199 Vgl. Langer 1983, 105. 211 „(...) so kommt Rembrandt gerade in seinen letzten Arbeiten zu einer bei aller Tiefe so außeror- dentlich herzlich warmen Auffassung von Mensch und Menschenschicksal, daß er nicht nur als ei- ner der größten Maler, sondern auch als einer der herrlichsten Dichter dasteht.“ (Voll 1906a, 591)

Und noch für Richard Hamann (1948) bedeutet die Kennzeichnung des Malers als ‘Poet‘ zu- gleich eine Verinnerlichung und eine Nobilitierung:

„Die Bildungswelt, in die er hineinschritt, eröffnete ihm die Welt des Imaginären, des Literari- schen, des Poetischen. Auch Rembrandt wurde Poet. Er malte sich das Leben, die Menschen in immer neuen Bildern aus.“ (Hamann 1948, 16)

2.3.4 Metaphoriken der Umwandlung von allgemeinem und fremdem Gut in Eigentum

Kommen wir noch einmal auf das Zitat Anton Springers zurück, in dem es hieß, jedem Werke drücke Rembrandt „das Gepräge seiner Persönlichkeit auf“ (Springer 1886, 177). Der Ge- brauch dieser ‘Prägungs-Metaphorik‘200 veranschaulicht bildhaft die Umformung des Gemeinguts in Eigentum durch den Willen und die spezifischen Anlagen des Künstlers. Dadurch ist den Werken gleichsam eine individuelle ‘Prägung‘ verliehen, durch welche sie auf Rembrandt zurückgeführt werden können. Springer grenzt so die als naturalistisch interpretierten Anteile der Rembrandtschen Kunst von einer simplen Reproduktion des Sichtbaren ab, eine Strategie, die wiederum im Kontext der Fotografiedebatte verortet werden könnte. Die hier angewandte Metaphorik bildet eine typische sprachliche Einkleidung des naturrechlichen Eigentumsprinzips. Auch Carl Neumann sucht eine Formel zur Beschreibung der ‘schöpferischen Umgestaltung’ von Natureindrücken, als er 1918 mit dem Problem konfrontiert ist, Kategorien für die Unter- scheidung von Rembrandts Handzeichnungen finden zu müssen:

„Neben den Zeichnungsblättern, die mit illustrativen oder kompositionellen Aufgaben zusammen- hängen (...) steht die Menge von Zeichnungen, die Studien nach irgendwelcher Natur sind. Sie sind in der Wiedergabe sachlich, wesentlich, schnörkellos, formdeutlich. Von ‘Wiedergabe‘ ist nur in dem Sinne zu sprechen, wie sich ein Meister überhaupt naturaufnehmend verhält. Im Gestalten des Gesehenen spricht sich seine Phantasie und Schöpferkraft aus.“ (Neumann 1918, 10)

200 Vgl. Plumpe 1990, 128 ff. Ein weiteres Beispiel dafür bei Carl Neumann: „Die Menschen kommen, geben ihm Aufträge, nennen ihm ein wohlumschriebenes Thema: einerlei, er macht etwas anderes daraus, er verwan- delt, er läßt den Strom seiner künstlerischen Leidenschaft darüber fließen. Und hier kommt nun der Punkt, (...) wo die Schöpferkraft alles ansieht, was sie gemacht hat, und erkennt, ‘siehe, es war sehr gut‘, wo also das Be- wußtsein der Persönlichkeit wie ein Siegel auf das Schaffen gedrückt wird.“ (Neumann 1902, 334 f.). 212 Neumann unterteilt die Menge der Zeichnungen zunächst in zwei Kategorien: Die einen sieht er im Dienst der Gemälde und Radierungen, die anderen versteht er als Studien nach der Na- tur. Beim Versuch der stilistische Kennzeichnung letzterer wählt Neumann den Begriff „Wie- dergabe“, um das Verhältnis der Zeichnungen zur Natur zu beschreiben. Doch erscheint ihm dieser Begriff sogleich als erläuterungsbedürftig, denn im nächsten Satz grenzt er dessen möglichen Gehalt im Bezug auf einen „Meister“ ein und setzt ihn in Anführungszeichen.201 Neumann spezifiziert die Art und Weise der ‘Naturaufnahme‘ eines „Meisters“ also sogleich im Sinne der urheberrechtlichen Definition, indem er das Gemeingut des „Gesehenen“ durch den Akt des „Gestalten[s]“ mit Hilfe der geistigen Mittel „Phantasie und Schöpferkraft“ in den Werkstatus übertreten läßt. Dabei wird die individuelle Formung der Natur durch den Künstler metaphorisch ausgedrückt. Nach dem „Gepräge“ (Springer) liefert nun die Sprache selbst das Sprachbild: „Phantasie und Schöpferkraft“ sprechen sich „im Gestalten des Gese- henen“ aus. Die Zeichenkunst erscheint hier wiederum als dem dichterischen Schaffen ent- sprechende Form eines ins-Werk-Setzens der Natur.

Die Unterscheidung des ‘eigentümlichen’ künstlerischen Schaffens von einer bloßen Wieder- gabe der Natur ist nur eine der Grenzziehungen, mittels derer die diskursive Künstlerfigur Rembrandt definiert wird. Die Häufigkeit ihres Auftretens läßt um 1900 nach, was sich so- wohl aus einer Stabilisierung der Fotografiedebatte als auch aus dem Nachlassen der Realis- musdiskussion erklären ließe. Zum Ende des 19. Jahrhunderts tritt statt der Abgrenzung künstlerischen Gestaltens von naturalistischer Nachahmung die Authentizitätsproblematik in den Vordergrund. Zu Profilierung des einzelne Künstlersubjekt ist es dabei notwendig, plau- sibel gestalterische Eigentümlichkeiten zu beschreiben, die in seinen Werken hervortreten und diese als ‘Originale‘ erkennbar machen. In diesem thematischen Feld können verschiedene diskursive Praktiken beobachtet werden, die dazu dienen, die Vorstellungen vom schöpferi- schen Subjekt ‘Rembrandt‘ einzugrenzen. Im Zentrum dieser Praktiken stehen natürlich die künstlerischen Werke, die Rembrandt zu- oder abgeschrieben werden. Das Herauspräparieren jener Gruppe von Werken, die als authentischer Korpus des ‘Gesamtwerks‘ angesehen wer- den, ist ein entscheidender Schritt in diesem Prozeß einer diskursiven Subjektgenese. Er wird durch eine Reihe von Abgrenzungsrhetoriken begleitet, die dem Beleg der Eigenständigkeit des Werkes, und damit der Autonomie des Künstlersubjekts, dienen. Die juristische Begriff- lichkeit des Eigentums ist dabei ebenso präsent wie die naturrechtliche Argumentation der

201 Dies verwundert um so weniger, als der Begriff der ‘Wiedergabe‘ - in Entsprechung zu ‘Nachbildung‘, ‘Auf- nahme der Natur‘, ‘Kopie‘ oder ‘Reproduktion‘ - in dem zwischen künstlerischer Originalschöpfung und me- chanischer ‘Wiedergabe‘ differenzierenden Diskurs um den ästhetischen Stellenwert der Fotografie zur Kenn- zeichnung ‘mechanischer’ Verfahrensweisen herangezogen wurde (Plumpe 1990, 34). 213 subjektiven Umgestaltung allgemein verfügbarer Materialien. Bevor ich mich zum Ende die- ses Kapitels mit der Fixierung des ‘Gesamtwerks’ beschäftige, möchte ich einige Beispiele für solche Abgrenzungsrhetoriken anführen. Dabei geht es zunächst um die Frage, wie Rembrandts Praxis der Adaption kunsthistorischer Vorbilder bewertet wurde. Anschließend werde ich mich dem Problem der retuschierten Werkstattkopien widmen. Von dort aus werde ich mich dann den Verfahren zur Bestimmung des Gesamtwerks zuwenden.

2.3.5 Über den Umgang mit den Vorbildern

Wie Anton Springer (1886) betont auch Wilhelm Valentiner (1906) den Stellenwert des Na- turstudiums für die Kunst Rembrandts. Höher stuft Valentiner jedoch die Beschäftigung des Künstlers mit Werken seiner Vorläufer ein. Um die Umwandlung vorbildlicher Kunstwerke in Rembrandtsches Eigentum darzustellen, verwendet er eine Metaphorik, die der Springers ähnelt:

„Das Studium der Kunst bedeutete mehr als das der Natur. Die Beschäftigung mit großen Kunst- werken aus früherer Zeit galt etwa so viel wie den Meistern der italienischen Renaissance der Um- gang mit der Antike. Andere Meister zu benutzen, hielt man für richtig und gut. So nimmt es nicht Wunder, daß Rembrandt später so häufig wie kaum einer unter den großen Künstlern ganze Teile aus fremden Kompositionen übernimmt, freilich, wie oft hervorgehoben wurde, indem er sie mit eigenem Geist durchtränkt.“ (Valentiner 1906, 22)

Vergleichbar der Prägungs-Begrifflichkeit bei Springer, wird auch hier Rembrandts Eigen- tümlichkeit mit Hilfe von Metaphern beschrieben. Die Übertragung einer Flüssigkeit (Durch- tränkung) verwandelt das allgemein verfügbare Material der „fremden Kompositionen“ in Eigentum. Interessant ist Valentiners Versuch, dieses Verfahren zu entschuldigen, die in der Formulierung „hielt man für richtig und gut“ durchklingt. Es vermittelt den Eindruck, als be- dauere der Autor hier die Tatsache, daß die kunsthistorische Methodik des Bildvergleichs, mittels derer die Adaptionen älterer Kunst in Rembrandts Werken argumentativ belegt wur- den, die Idee eines vollkommen autark produzierenden Genius demontiert hatte. Hierzu ein kleiner Exkurs: Der klassizistischen Kritik wie auch dem akademischen Urteil hatte Rembrandt als phantastischer Einzelgänger gegolten, der jedes Vorbild verschmäht, außer das der Natur. Der moderne Rembrandtdiskurs verhält sich zu dieser Position äußerst ambivalent. Er übernimmt die Gegenüberstellung Rembrandts mit dem akademischen Regel- werk des Kunstschönen und kehrt innerhalb dieser Dichotomie die Vorzeichen um. Zugleich wird jedoch das Bemühen deutlich, Rembrandts Bildungsmängel, seinen Ruf eines ‘pictor vulgaris‘, zu korrigieren. Diesem Wunsch kommen die Quellenstudien zur Hilfe, speziell der 214 Katalog von Rembrandts Kunstbesitz, der 1656 durch die Desolate Boedelkamer aufgenom- men worden war. Er belegt den Bestand an Originalen und Reproduktionen von Werken der Renaissancekunst im Haushalt des Künstlers. Seit 1834 wiederholt publiziert, bot er den kunstwissenschaftlichen Untersuchungen seit den 80er Jahren Anhaltspunkte für die Frage nach Vorbildern der Themenwahl und der Kompositionen Rembrandts. In der Fachliteratur erfolgte dann schnell die Ablösung der Vorstellung vom ungebildeten, ganz aus sich selbst und der Natur schöpfenden Rembrandt durch diejenige des bewußt abwägenden Kunstken- ners, der das Alte schätzt, es jedoch kraft seiner künstlerischen Potenz in neue Formen zu überführen weiß. Im Umgang mit diesem Problem ist erneut die Spannung zwischen einer genealogischen Konzeption der Kunstgeschichte und einer individualistischen Auffassung von der Werkent- stehung auszumachen. Ohne seine Stellung im Verlauf der kunsthistorischen Entwicklung zu verkennen, soll die subjektive Charakteristik des Künstlers betont werden; ohne die Verbin- dung zu älterer Kunst zu unterschlagen, muß die Eigentümlichkeit der Werke Rembrandts verdeutlicht werden. Heinrich Weizsäcker bezieht sich 1898 noch weniger auf konkrete künstlerische Entlehnun- gen als auf die konventionelle Wahl der Bildthemen, wenn er Rembrandts eigentümliche An- verwandlung von als Gemeingut verfügbarem Stoff beschreibt:

„Das erschütternde Pathos, das noch einige der Historienbilder seiner letzten Lebensjahre durch- bebt (...) - es schlägt schon in den Werken jener ersten Jugend durch, alle Fesseln der Konvention zerreißend und alten hergebrachten Stoff mit einem völlig neuen und höchst persönlichen Ge- fühlsinhalte füllend.“ (Weizsäcker 1898, 499)

Der Künstler ‘zerreißt‘ die konventionelle Form des „Stoff[es]“ und füllt sie mit seiner inne- ren Qualität, dem „persönlichen Gefühlsinhalte“. So steht nicht etwa die Bezugnahme auf das Hergebrachte, sondern dessen Umwandlung zu etwas Neuem im Vordergrund, das durch seine Verbindung zum schöpferischen Subjekt Eigentumscharakter gewinnt. Als Jan Veth sich 1906 am Beispiel eines Selbstporträts mit Rembrandts Inspiration durch Raffael und Tizian auseinandersetzt, verwendet er eine vergleichbare ‘Umschöpfungsformel‘:

„Rembrandt war zweifellos ein ‘grand profiteur‘, aber er besaß darüber hinaus innerlichen Reich- tum, durch den alles was er in sich aufnahm auf harmonische Weise neu geboren wurde. Oder ist dieses Porträt nicht, im Vergleich mit der Bedeutung der sichtbar zu Rate gezogenen Werke der Italiener, doch vor allem angefüllt mit der, wie man sagen möchte, häuslichen Heimlichkeit, die der

215 weitumfassende Holländer zur Weltkunst am ehesten als sein eigenes Element beigesteuert hat?“ (Veth 1906 a, 87 f.)202

In Veths organischer Metaphorik verwandelt der Künstler das tradierte Material in eine eigen- ständige Neuschöpfung. Dabei werden einmal mehr die zwei Aspekte des „zu Rate gezoge- nen“ fremden ‘Eigentums‘ einerseits und „sein eigenes Element“ andererseits unterschieden. Rembrandt nimmt ersteres ‘in sich auf‘ und füllt es mit seinem (eigenen) „innerlichen Reich- tum“ an, so daß es „neu geboren“ wird. Die vergleichende Analyse Rembrandtscher Werke mit italienischen Vorbildern war kurz nach 1900 in kunstwissenschaftlich orientierten Texten zum Topos geworden. Mit einer losen Sammlung von Beobachtungen dieser Art schließt sich Niels Restorff (1907) an die Reihe solcher Arbeiten an. Bevor er sich jedoch selbst um den Nachweis einiger neuer Bezüge be- müht, schränkt er die Bedeutung der Rezeption historischer Vorläufer für das „Wesen“ des Rembrandtschen Lebenswerks grundsätzlich ein:

„Scharfsinnige Augen haben in Rembrandts Werken eine ganze Reihe von Anklängen an Kompo- sitionen anderer Maler entdeckt. Die folgenden Notizen weisen noch auf einige weitere Fälle hin, in denen Rembrandt von seinen Vorgängern entlehnte. Die Originalität des großen Holländers, dessen Genie ein durchaus ursprüngliches ist, behauptet sich auch inmitten der Anleihen an andere. Daher sind die in Frage stehenden Entdeckungen, ob- schon sie zum Verständnis des Künstlers, seiner Art und Weise, sowie seiner Kunstentwicklung beitragen mögen, in bezug auf das Wesen seines Lebenswerks lediglich Bagatellen.“ (Restorff 1907, 375)

Es war diesen Autoren offenbar wichtig, mit ihren kunsthistorischen Forschungsergebnissen nicht die Grenzen der in sich geschlossenen Künstlerfigur Rembrandt aufzuweichen. Das zeigt auch ein Zitat von Karl Woermann, das den Abschluß dieser Beispiele für die Abgren- zung der ‘Eigentümlichkeit‘ Rembrandts von der künstlerischen Praxis bildgestalterischer Adaptionen bilden soll. In seinem mehrbändigen Überblickswerk zur Geschichte der Kunst aller Zeiten und Völker (1911) veranschaulicht Woermann mit Hilfe einer weiteren Metapher das naturrechtliche Prinzip der Umwandlung von allgemeinem oder fremdem Gut in Eigen- tum:

202 „Rembrandt was ongetwijfeld ‘un grand profiteur‘, maar hij bezat bovenal dien innerlijken rijkdom, die al wat hij in zich opnam harmoniesch deed herboren [neugeboren] worden. Of is niet, vergeleken bij de blijkbaar geraadpleegde werken van der Italianen, dit portret toch bovenal vervuld van die, men zou willen zeggen huise- lijke heimelijkheid, die de wijdomvattende Hollander wel het meest als zijn eigen element in de wereldkunst heeft aangevoerd?“ (Veth 1906a, 87 f.). 216 „Trotz seiner subjektiven Unmittelbarkeit verschmähte Rembrandt es übrigens (...) keineswegs, einzelne Motive und Gestalten den Schätzen der Vergangenheit zu entlehnen, deren eifrigster Be- wunderer und Sammler er war. Aber er unterzog alle Einzelmotive, die er ihnen entlehnte, in dem Schmelztiegel seiner Phantasie einer so gründlichen Umgestaltung, daß sie sich von seinem eigen- sten Eigentum nicht unterscheiden.“ (Woermann 1911, zit. nach 21920, 380)

Noch einmal werden hier die festen Dinge der Welt im Individuum verflüssigt und durch des- sen Potenz zur Umgestaltung in die Form „seine[s] eigensten Eigentum[s]“ überführt.

2.3.6 Die Abgrenzung von Original und Reproduktion: Rembrandt retuschiert Schülerwerke

Ich komme nun zur diskursiven Praxis der Abgrenzung künstlerischer ‘Originalität’ gegen- über dem Feld ‘reproduktiver’ Bilder zurück. Neben der reproduktiven Wiedergabe der Natur und der Entlehnungen bei historischen Vorbildern steht in diesem Zusammenhang die Unter- scheidung der Autorschaft Rembrandts von der seiner Schüler zur Diskussion. Der damit an- gesprochene Bereich der Echtheits- und Zuschreibungsfragen nimmt innerhalb der Rem- brandtliteratur eine zentrale Stellung ein. Die Behandlung dieser Problematik am Beispiel Rembrandts erhielt im Laufe der Jahre eine derart prototypische Position im Kunstdiskurs, daß sie auch darüber hinaus zu einem Synonym für das Thema Authentizität wurde. Mit der wachsenden öffentlichen Wertschätzung Rembrandts und der steigenden Nachfrage nach seinen Werken stellte sich für die professionellen ‘Kunstkenner’ - in der Regel Kunst- historiker aus der Museumspraxis, die zusätzlich als Gutachter tätig waren - die Frage, wie jene Werke aus dem Umfeld Rembrandts einzustufen seien, die als vom Meister retuschierte Arbeiten der Schüler galten. Die Existenz solcher Werke kann in der Literatur bis zu Sandrart (1675) zurückverfolgt werden; der Hinweis auf sie wurde in der älteren Künstlerbiographik überliefert, so wie es noch bei Georg Kaspar Nagler (1843) zu finden ist:

„Es flossen ihm große Summen zu, denn Rembrandt war einmal Modemaler, von welchem jeder etwas haben wollte, und um beständig eine Auswahl bieten zu können, verkaufte er alle von ihm retouchirten Copien seiner zahlreichen Schüler für Originale. Sandrart behauptet, dass ihm diese Manipulation jährlich an die 2500 fl. eingetragen habe, und dazu kamen noch die bedeutenden Lehrgelder, die er forderte.“ (Nagler 1843, 4)

In der klassizistischen Tradition wurden diese Bilder also an den Topos des geizigen Künst- lers mit den unseriösen Geschäftspraktiken geknüpft. Auch wenn diese Einschätzung zur Mitte des 19. Jahrhunderts an Überzeugungskraft und diskursiver Präsenz verloren hatte, bil- deten die Arbeiten selbst doch ein Problem für die neuere Rembrandtrezeption. Signaturen

217 wie „geretuckeert van Rembrandt“, die sich auf mehreren Gemälden und Radierungen fanden, konnten als Bestätigung der überlieferten Atelierpraxis gelesen werden, so daß die Aussagen Sandrarts und anderer nicht gänzlich ins Reich literarischer Phantasien zu verbannen waren. Auch das Inventar von Rembrandts Hausstand aus dem Jahr 1656 verzeichnet mehrere solche Stücke. Der Stellenwert dieser Bilder im Gesamtwerk Rembrandts war fraglich und mußte diskutiert werden. Wilhelm Bode nahm sich 1881 der Problematik an. Der kurze Text, den der damalige Direk- tor der Abteilung für Renaissanceskulpturen im hauseigenen Jahrbuch der königlich preußi- schen Kunstsammlungen unter dem Titel Ein Einblick in Rembrandt’s Schüler-Atelier veröf- fentlichte,203 dokumentiert einen argumentatorischen Drahtseilakt, in dem es Bode gelingt, zwischen den konträren Positionen ‘künstlerischer Schöpfung’ und ‘Kopistentum’ zu vermit- teln. Wie schon der Titel anzeigt, stellt Bode nicht die Zuschreibungsfrage ins Zentrum, sondern behandelt das Problem als Facette des Meister-Schüler-Verhältnisses. Als Einstieg wählt er die topische Gegenüberstellung von Rembrandt und Rubens, also ein polarisierendes Deu- tungsmuster. Diese Entscheidung ermöglicht es, bestimmte problematische Vorstellungen durch ihre Anlagerung an Rubens aus dem Idealbild des konträr gesetzten Rembrandt auszu- schließen - auch wenn diese Vorstellungen im weiteren Textverlauf wiederum in Verbindung mit Rembrandt in Erscheinung treten sollten:

„Wie für P.P. Rubens die Heranziehung seiner zahlreichen Schüler zur Beihilfe an seinen eigenen Werken den hervorragendsten Zug in dem Verhältnisse zu seinen Schülern bildet, so können wir in der Stellung Rembrandt’s zu seinen Schülern gerade das Gegentheil als charakteristisch bezeich- nen: die durchaus eigenhändige Durchführung der eigenen Werke und die Beförderung möglichster Selbständigkeit in den Schülern.“ (Bode 1881, 191)

Rubens‘ Atelierpraxis wird von der Rembrandts unter Verwendung eines Schemas unter- schieden, das sich an einer dichotomischen Kontrastierung von ‘Individualismus‘ und ‘Kol- lektivität’ orientiert. Auf dieser Basis einer grundsätzlichen Opposition zweier Schüler-Leh- rer-Verhältnisse führt Bode dann das fragliche Material ein:

„Damit ist jedoch nicht jedes Zusammenarbeiten Rembrandt’s mit seinen Schülern ausgeschlossen. In dem (...) Inventar seiner ganzen Habe kommt eine nicht unbeträchtliche Zahl von Bildern vor, die als ‘overgeschildert’ oder ‘geretuckeert van Rembrandt’ bezeichnet sind.“ (Bode 1881, 191)

Die zu diskutierenden Bilder stellen so bereits zu Anfang des Textes Ausnahmen dar, Bei- spiele dafür, daß Rembrandts Atelierpraxis „nicht jedes Zusammenarbeiten“ mit seinen

203 Zu Bodes Karriere vgl. Otto 1995. 218 Schülern ausschließt. Einige dieser Werke erklärt Bode zu Übungsstücken aus Schülerhand, die der Meister zum Zwecke didaktischer Demonstration verbessert habe. Problematischer ist die Einstufung der verbleibenden Arbeiten:

„Bei einigen anderen derartigen Bildern des Inventars scheinen aber Kopien der Schüler nach Kompositionen des Meisters von diesem - vielleicht auf besondere Bestellung - übertragen worden zu sein.“ (Bode 1881, 191)

Wie die Verwendung des im Kunstdiskurs negativ belasteten Begriffs ‘Kopie‘ signalisiert, befinden wir uns nun im Zentrum des Themas. Auffallend ist, daß Bode der Einführung dieser problematischen Kategorie sogleich einen Erklärungsversuch folgen läßt, der zudem einen zweiten negativ konnotierten Begriff aufruft: Die angedeutete Praxis sei „vielleicht“ nicht auf Rembrandt selbst, sondern auf die „besondere Bestellung“ einzelner Auftraggeber zurückzu- führen. Der Anlaß zur Ausführung der Kopie käme damit von außen, der Künstler wäre von der Verantwortung für das Entstehen derart reproduktiver Werke wenigstens zum Teil entla- stet. Mit der ‘Auftragsarbeit‘ und der ‘Kopie‘ werden zwei problematische Phänomene ver- koppelt; sie können so überzeugender aus dem Kernbereich der Originalität des Künstlersub- jekts wie seines Werkes ausgegrenzt werden.204

Bode kommt nun auf konkrete Beispiele zu sprechen. In der Opferung Isaaks, die sich in der alten Pinakothek München befindet, macht er eine Atelierkopie Ferdinand Bols nach Rem- brandts ‘Original‘ aus (Petersburg, Eremitage). Vermutlich auf Wunsch eines interessierten Kunden sei diese Kopie von Rembrandt überarbeitet worden und hätte schließlich die Signa- tur „verandert en geretuckeert door Rembrandt 1636“ erhalten. Dieses Vorgehen Rembrandts grenzt Bode klar vom didaktisch motivierten Korrigieren einer Schülerarbeit ab:

„Hier aber hat sich der Meister nicht damit begnügt, in einigen wenigen großen Zügen den Hauptfiguren mehr Charakter und dadurch dem Ganzen mehr Haltung zu geben: er hat vielmehr die Schülerarbeit vollständig und zwar prima mit fettem Pinsel übermalt. Freilich in der hastigen, etwas handwerksmäßigen Weise, wie dies geschehen ist, unterscheidet sich die Kopie wesentlich vom Originale und zeigt sich die geringe Freude, mit der der Künstler an eine derartige Arbeit ging. Dass solche Wiederholungen nicht seine Gewohnheit waren, ja dass sie vielmehr gegen seine Künstlerehre verstießen, scheint aus der ausdrücklichen Bemerkung ‘verandert’ in der oben er- wähnten Inschrift (obgleich diese Veränderungen nur geringfügig sind) hervorzugehen.“ (Bode 1881, 192)

204 Vgl. den Abschnitt 2.1.1 im zweiten Teil dieser Arbeit. 219 Die Überarbeitung des Schülerwerks wird als „vollständig“ beschrieben und so aus dem Be- reich der demonstrativen Korrektur eines Schülers durch den Meister ausgegrenzt. In der Art und Weise dieser vollständigen Übermalung findet der Autor dann die Zeichen für eine be- stimmte Haltung, die der Künstler diesem ‘mutmaßlichen’ Auftrag gegenüber eingenommen habe. Ein relativierendes „freilich“ kündigt bereits an, daß Bode diese Haltung als eine distan- zierte versteht. Er bemerkt eine „hastige[n], etwas handwerksmäßige[n]“ Arbeitsweise, und läßt damit beiläufig die Dichotomie ‘Handwerker vs. Künstler‘ anklingen. Dann ist von der „geringe[n] Freude“ die Rede, mit der der Künstler diese nicht seiner „Gewohnheit“ entspre- chende Arbeit ausgeführt habe. Schließlich wird die geringfügige Veränderung gegenüber dem Petersburger Bild als Versuch zur Wahrung der „Künstlerehre“ interpretiert, die sich nicht mit der Anfertigung von „Wiederholungen“ vereinbaren ließe.

Die kommentierende Signatur, die das Problem der Retusche erst ausgelöst hatte, fügt sich nun hilfreich in die Originalitätsdiskussion ein. Zum Zwecke der Demonstration sei auf die Probleme verwiesen, die ihr Fehlen auslösen würde. Das Bild könnte nur schwerlich als ei- genhändiges Werk Rembrandts betrachtet werden, denn damit hätte der Künstler, von den geringen Abweichungen abgesehen, eine veritable Kopie des Petersburger Bildes erstellt. Die Funktion eines solchen Bildes könnte allein in der Wiederholung oder im Verkauf gesehen werden, zwei in der Perspektive des autonomen Schöpfersubjekts inakzeptable Alternativen, die dem Kunsthistoriker wenig Argumentationsspielraum gegeben hätten.205 Die vorliegende Erklärung schreibt der ‘Kopie‘ dagegen eine prinzipielle Funktion zu: Als Übungsstück eines Schülers ist sie Bestandteil der didaktischen Atelierpraxis und somit in ihrer Existenz legiti- miert. Tritt dann der seltene Fall ein, daß sie in einem zweiten Schritt in die autonomiefeindli- chen Strukturen des Marktes gerät, so ist der retuschierende Meister auch hier nicht voll ver- antwortlich, da ihn die ökonomischen Zwänge teilweise entlasten.

Im Anschluß an die Beispiele retuschierter Gemälde verweist Wilhelm Bode noch auf eine Anzahl übermalter Zeichnungen, bevor er seinen Text mit einer Formulierung beendet, die das Zuschreibungsproblem und die Frage nach der Urheberschaft derartiger Arbeiten in prä- gnanten Worten löst:

205 Es sei die Spekulation gestattet, daß im Falle des Fehlens dieser erläuternden Signatur eines der Werke als Schülerarbeit bezeichnet worden wäre. Wären beide mit ‘Rembrandt‘ signiert, würde vermutlich eine der Si- gnaturen angezweifelt. Bis heute ruft das Vorhandensein zweier nahezu identischer Bilder das kunsthistorische Ordnungsschema ‘Original vs. Kopie‘ auf den Plan. Als Beispiel sei auf die Neuzuschreibung des Den Haager und des Nürnberger ‘Selbstbildnisses‘ im Frühjahr 1999 verwiesen (White/Buvelot 1999, 112 ff.). 220 „An der Hand dieser Zeichnungen und der oben genannten beiden Gemälde werden sich wohl mit der Zeit eine grössere Zahl ähnlicher Werke, in denen Rembrandt Arbeiten der Schüler durch seine meisterhaften Korrecturen gewissermassen zu seinem Eigenthum umgeschaffen hat, nachweisen lassen.“ (Bode 1881, 192)

Diese Schlußworte Bodes eignen sich besonders zur Illustration der These Plumpes, derzu- folge die Begrifflichkeit der ‘Eigentümlichkeit‘ im Kunstdiskurs als Echo des juristischen Eigentumsbegriffs verstanden werden kann. Bode verwendet hier nicht das im Verlauf der Begriffsgeschichte assimilierte Vokabular (so hätte er zum Beispiel schreiben können: ‘Rem- brandts Korrekturen lassen die ihm eigentümliche künstlerische Art erkennen’). Von Eigen- tum spricht er vielmehr mit dezidiertem Verweis auf die juristische Herkunft dieser Vokabel. Das Adverb „gewissermaßen“ verdeutlicht dabei die metaphorische Verwendung. Die ‘Ei- gentümlichkeit’ der Rembrandtschen Werke bleibt nicht auf die ästhetische Erscheinung der überarbeiteten Bilder begrenzt, sie wird ins Juristisch-Materielle ausgeweitet. Durch die Kor- rekturen werden die Arbeiten der Schüler „gewissermassen zu seinem Eigenthum umgeschaf- fen“. Sie gehören nun Rembrandt. Für den Marktwert wie für den musealen Kultwert der Bil- der bedeutet Bodes argumentative Lösung des Problems eine spürbare Wertsteigerung. An diesem Beispiel kann gezeigt werden, daß die ‘kennerschaftliche‘ Kunstgeschichte, die wissenschaftlich legitimierte Gutachten erstellt, nicht allein im Bezug auf das Kunstsystem, sondern wesentlich im Hinblick auf ihre Leistung für das Wirtschaftssystem verstanden wer- den muß. Mit dem Hinweis auf diesen Zusammenhang verändert sich die Perspektive auf ei- nen zentralen Zweig kunsthistorischer Praxis.

2.3.7 Zuschreibungspraxis: Von der Authentizität der Werke zur Autorität des Künstlers

Die Authentizitätsthematik bildet seit Ende des 19. Jahrhunderts einen zentralen Bestandteil der Rembrandtliteratur. Wie bei kaum einem anderen Künstler haben spektakuläre Abschrei- bungen und Zuschreibungen das Interesse der Öffentlichkeit auf sich gezogen, so daß die Diskussion um Werke Rembrandts insgesamt zum Inbegriff kunstgeschichtlicher Echtheitsde- batten avanciert ist. Zu dieser Position hat sicherlich auch die Quantität der Variationen bei- getragen: Der Korpus eigenhändiger Gemälde, der um 1850 auf etwa 300 geschätzt wurde, wuchs mit Bodes Katalog von 1879-1905 auf 595, mit Hofstede de Groots Verzeichnis (1915) sogar auf 988 Werke an. Seither setzte ein kontinuierlicher Prozeß von Abschreibungen ein, der das Volumen über 609 (Bredius 1935), 562 (Bauch 1966), 419 (Gerson 1968) und 349

221 (Schwartz 1984) auf ca. 300 Stück reduziert hat - wobei es sich freilich nicht um die selben 300 Gemälde handelt wie 150 Jahre zuvor.206 Zuschreibungsstreitigkeiten um die Gemälde Rembrandts gewinnen erst im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts an Bedeutung, sie sind also als Parallelphänomene zur Popularisierung des Künstlers, zu seiner Stilisierung zum Prototyp autonomen Künstlertums und zur Etablierung des kunstgeschichtlichen Fachdiskurses anzusehen.207 Eine wichtige Rolle spielen dabei die wachsende Konkurrenz unter Sammlern und der steigende Marktwert der Bilder. Diese Be- hauptung kann durch die Beobachtung gestützt werden, daß in den vorangehenden Jahrhun- derten weniger die Gemälde als die Radierungen Rembrandts Gegenstand von Echtheitsde- batten gewesen sind.208 Neue Zuschreibungsdebatten nehmen ihren Ausgang entweder von der Anzweiflung einzelner Gemälde oder von den Versuchen der Festschreibung des Gesamtkorpus in Werkkatalogen. Auch deshalb wird die Thematik um 1900, mit Bodes Gesamtverzeichnis, virulent und stellt von diesem Moment an einen wesentlichen Streitpunkt der konkurrierenden Experten dar. Die

206 Zu den Zahlen vgl. Bruin 1995, 184. Die jüngste Stückzahl ist geschätzt und bezieht sich auf die bisherigen Publikationen des Rembrandt Research Projects. Schwartz hat darauf hingewiesen, daß der Kern der Werke stets gleich geblieben sei und damit auch diejenigen Werke, denen zentrale Bedeutung für das Verständnis der Künstlerpersönlichkeit Rembrandts zukäme, kaum umstritten gewesen wären (Schwartz 1978). Dies trifft aller- dings nur bedingt zu. Denn mit dem Mann mit dem Goldhelm (Berlin) oder dem frühen Selbstbildnis mit Barett (Den Haag) wurden auch vormalige Hauptwerke abgeschrieben. Zudem ist die Frage der bloßen Quantität des Gesamtwerkes nicht ohne Belang für das Bild vom Künstler gewesen, wird sie doch als Beweis für seine Tu- gendhaftigkeit herangezogen: „Der hervorstechendste Zug im Wesen Rembrandts war eine unverwüstliche Ar- beitslust; sein ganzes Leben hindurch, in guten und in bösen Tagen, hat er mit unermüdlichem Fleiß gearbeitet. So ist es möglich geworden, daß er mehr als fünfhundert Gemälde hinterlassen hat (...).“ (Knackfuß 141921, 16). 207 Der Zusammenhang zwischen den Authentizitätsdebatten und der Entwicklung einer fachwissenschaftlichen Kompetenz läßt sich gut am Beispiel des Holbein-Streits von 1872 nachvollziehen ( dazu Dilly 1979, 161 ff.; Beyrodt 1982, 347 ff.). 208 Vor der Erfindung moderner Reproduktionstechniken nahm die Reproduktionsgraphik in Sammlerkreisen einen hohen Stellenwert ein, zumal sich hier aufgrund der Zahl der Originale ein breiterer und lebendigerer Markt etablieren konnte. In den älteren Verzeichnissen der Graphiken Rembrandts, die ja selbst von Sammlern und für den Gebrauch durch Sammler publiziert wurden, finden sich hinreichend Beispiele für diese Echtheits- diskussion. Schon bei Gersaint (1751) gibt es eine Abteilung der „Pieces douteuses, ou faussement attribuées à Rembrandt“. Tomas Wilson druckt in seinem descriptive catalogue of the prints of Rembrandt (1836) eine Ta- belle ab, die 30 Graphiken abschreibt. Wilson führt ihre Katalognummern bei Gersaint, D’Yver, Bartsch und De Claussin an und versieht sie mit Kommentaren wie: „Does not exist“, „By Ferdinand Bol“, „A repetition“ oder „Not by Rembrandt“. Karl Woermann weist 1911 auf die Schwankungen zwischen den Radierungs-Katalogen hin: „Bartsch zählt 375, Legros höchstens 113, Singer höchstens 236, Michel und Seidlitz (...) an 270 Blätter.“ (Woermann 1911, 382). Vgl. auch Nagler 1843, 9; Springer 1886, 181; Singer 1906. 222 Vorstellung von Kennerschaft in Sachen Rembrandt bleibt dabei bis heute an das Problem der Kompetenz in Zuschreibungsfragen gebunden.209 Über weite Strecken des 19. Jahrhunderts erfüllten im Bereich der Gemälde die Signaturen die Funktion von Authentizitätsbelegen (Boomgaard 1995, 66 f.). Eben diese Vorstellung geht im Übergang zur Zuschreibungsdiskussion verloren. An ihre Stelle tritt eine Anzahl von Kri- terien, die ich nun im Rückgriff auf Michel Foucaults theoretische Reflexionen über die Ge- nese von Autorfiguren systematisch aufschlüsseln möchte.

Foucault hat in seinem Aufsatz Was ist ein Autor? (zuerst 1969) die Regeln der ‘Autor-Kon- struktion‘ in der literaturwissenschaftlichen Praxis nachzuzeichnen versucht. Dabei beschrieb er die über verschiedene Epochen hinweg etablierten Verfahren, mittels derer „die Form Au- tor“ aus den Werken herauspräpariert wurde, als Fortführung der Art und Weise, in der „die christliche Tradition Texte beglaubigte (oder verwarf), über die sie verfügte“:

„(...) um den Autor im Werk „aufzufinden“, verwendet die moderne Kritik Schemata, die der christlichen Exegese sehr nahe stehen, wenn diese den Wert eines Textes durch die Heiligkeit des Autors beweisen wollte.“ (Foucault 1993, 20)

Foucault illustriert diese These, indem er die Methoden vorstellt, die der heilige Hieronymus in De Viris illustribus zur Identifikation der Autoren unterschiedlicher Werke formuliert. Hieronymus beschäftigt die Frage, wie man der Unsicherheit überlieferter Autornamen entge- gentreten und Gewißheit über die Identität eines Autors gewinnen könne, die ja, in der christ- lichen Konzeption der ‘Autorität‘ (der ‘auctoritas‘)210 des ‘Autors‘, die Grundlage für die ka- nonische Gültigkeit der im Text getroffenen Aussagen bildet. Um die Zugehörigkeit eines Textes zum Werk-Korpus eines Autors bestimmen zu können, führt der heilige Hieronymus vier Kriterien an:

„Wenn unter mehreren Büchern, die man einem Autor zuschreibt, eines schlechter als die anderen ist, so muß man es aus dem Katalog seiner Werke streichen (der Autor wird demnach als be- stimmtes konstantes Wertniveau definiert), auch wenn bestimmte Texte der Meinung der anderen Werke eines Autors widersprechen (dann wird der Autor als Feld eines begrifflichen und theoreti- schen Zusammenhangs definiert); auch die Werke müssen ausgeschlossen werden, die in einem anderen Stil geschrieben sind, mit Worten und Wendungen, die man gewöhnlich nicht bei diesem Autor findet (das ist der Autor als stilistische Einheit), schließlich müssen die Texte als falsch an- gesehen werden, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen, die erst nach dem Tod des Autors

209 Vgl. hierzu die kritischen Überlegungen Bruins (1995). 210 Zur Begriffsgeschichte vgl. Werber/Stöckmann 1997, 235. 223 kommen (dann ist der Autor ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer Reihe von Ereignissen).“ (Foucault 1993, 21)

Wir können diese „vier Authentizitätskriterien des heiligen Hieronymus“ mit einigen Modifi- kationen auch auf unser Problem übertragen, auf die Regeln, nach denen das Gesamtwerk eines Künstler-Autors bestimmt wird und auf die Anforderungen, denen ein einzelnes Werk genügen muß, um diesem Werkkorpus angehören zu können. In diesem Sinne umformuliert betreffen diese Kriterien die Einheitlichkeit (1) der Qualität (Konstantes Wertniveau), (2) der Bedeutungen (Inhalt, Semantik), (3) der Ausführung (Stil, Syntax) und (4) des Zeitpunktes der Werkentstehung. Der Rahmen dieser vier Kriterien ist durchaus geeignet, die Zuschreibungspraxis zu umrei- ßen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine zentrale Position im Fachdiskurs akademischer und musealer Kunstgeschichte einnimmt. Bei der Aufzählung der entsprechen- den kunstgeschichtlichen Verfahrensweisen erscheint es jedoch sinnvoll, die Reihenfolge des heiligen Hieronymus umzukehren, denn in dieser Richtung ließe sich die Staffelung der Krite- rien als eine qualitative Abstufung beschreiben, die von formalen zu inhaltlichen Fragen fort- schreitet. Zudem ist festzustellen, daß sich trotz prinzipieller Übereinstimmung der von Foucault dargelegten Regeln mit der Praxis kunstgeschichtlicher Urheberbestimmung einige Unterschiede ergeben, die im wesentlichen aus der medialen Differenz der behandelten Arte- fakte resultieren. Eine ausführlichere Darlegung mag auch diese Unterschiede, sie betreffen das zweite und dritte Kriterium, veranschaulichen.

Wie also stellt sich die Anwendung dieser Authentizitätskriterien in der kunstgeschichtlichen Debatte um die Bestimmung des Werkkorpus eines Künstlers dar? (1) Die Datierung der fraglichen Einzelwerke bildet wohl das gröbste, grundlegende Aus- schlußkriterium bei der Eingrenzung eines solchen Korpus. Sie kann mit dem vierten Krite- rium des Hieronymus, der Begrenzung durch einen historischen Augenblick, gleichgesetzt werden. Die Datierung erfolgt durch die Beachtung entsprechender Signaturen,211 durch Werkvergleich, durch das Studium sekundärer Quellen (Aufträge, Rechnungen, Briefe etc.) sowie durch die Erforschung einer Provenienz, die sich im Idealfall bis in die Zeit (und an den Ort) des Künstlers zurückverfolgen lassen sollte.212 Diese Verfahren sind im Laufe des 20.

211 Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts galten Signaturen noch als nahezu sakrosankte Belege der Au- thentizität. Dieser Glaube macht um 1900 der Stilkritik, der Analyse des Pinselstrichs sowie der Verwendung fotografischer Untersuchungsmethoden Platz. Boomgaard vergleicht diese Entwicklung mit gleichzeitigen Ver- änderungen in der kriminalistischen Täteridentifikation (Fotoporträt, Fingerabdruck; Boomgaard 1995, 121). 212 Hier werden Namen der Vorbesitzer eines Bildes, Orte seiner Aufbewahrung und Ausstellung, Kaufverträge, Schenkungen bzw. das Auftreten der Werke im Kunsthandel, etwa in den Katalogen von Auktionen, vermerkt 224 Jahrhunderts durch naturwissenschaftliche Untersuchungen ergänzt worden, die etwa das Al- ter des Holzes bestimmen oder über einen Vergleich der Leinwandstruktur des fraglichen Gemäldes mit jener eines möglichst zweifelsfrei datierten anderen Gemäldes ein entsprechen- des Indiz zu gewinnen versuchen. Ein Beispiel für die Argumentation mit diesem Kriterium bietet die Debatte um das Selbst- bildnis mit Barett (RS 76), das kurz nach seinem überraschenden Auftauchen aus einer Privat- sammlung im Jahr 1961 durch die Staatsgalerie Stuttgart angekauft wurde. Dieses Bild war das erste des Rembrandt-Umfeldes, bei dem der Verdacht, es handle sich um eine spätere Nachahmung, durch technische Untersuchungen ausgeräumt wurde. Der vierte Band des Ver- zeichnisses der Gemälde, erstellt vom Rembrandt Research Project (RRP), wird es, unter Vorbehalt, als Selbstbildnis Rembrandts bewerten.213 Kopien oder Fälschungen des 18. oder des 19. Jahrhunderts haben in der Rembrandtliteratur wenig Schlagzeilen gemacht. Im Zentrum der Zuschreibungsdiskussion steht hier vielmehr die Händescheidung zwischen dem Meister und seiner Werkstatt,214 die zum Beispiel auch den Hauptgegenstand des Rembrandt Research Projects bilden. Nicht die Abgrenzung der ‘Fälschungen‘ von den ‘Originalen‘ wird hier also praktiziert, sondern die Grenzziehung in- nerhalb eines Feldes von ‘Originalen‘. Die dabei gewonnenen Bereiche werden dann, mittels mehr oder weniger schlüssiger Argumentationen, mit Namen aus dem Umfeld Rembrandts, seiner Schüler und Kollegen, identifiziert. Bereits um 1900, als der Umfang des Rembrandt zugeschriebenen Werkkorpus sprunghaft anstieg,215 betrafen die Neuzuschreibungen übrigens nur selten völlig unbekannte Gemälde, die gleichsam aus dem Nichts auftauchten. Die Regel war vielmehr das vermeintliche Schülerwerk oder das Werk eines Unbekannten, das dann unter den Augen eines international renommierten Kenners wie Bode, Bredius oder Hofstede de Groot zum ‘Rembrandt‘ avancierte (Schwartz 1978, 103). Wir sehen also, daß in der Zu- schreibungsdebatte um Rembrandt mit der ‘gesicherten Datierung‘ eines Werkes ins 17. Jahr- hundert die eigentlichen Probleme erst beginnen.

(als Beispiel für diese geläufige Praxis vgl. De Vries/Tóth-Ubbens/Froentjes 1978). 213 Vgl. White/Buvelot 1999, 207. In ähnlicher Weise ist das Selbstbildnis mit Barett aus Aix-en-Provence erneut in den Korpus der eigenhändigen Originale eingetreten. Gerson hatte es 1969 als eine spätere Nachahmung ab- gelehnt. Die technische Untersuchung des Holzgrundes legte jedoch eine Datierung ins 17. Jahrhundert nahe. Dies war der erste Schritt zur Wiederzuschreibung (vgl. White/Buvelot 1999, 206). 214 Dieser Titel der letzten großen Rembrandt-Ausstellung (Amsterdam/Berlin/London 1991) zeigt seinerseits die bleibende Orientierung der Rembrandtforschung auf die Abgrenzung des Meisters von seiner Werkstatt an. Es ließen sich andere, nur wenig variierte Titel denken (z.B. Die Werkstatt des Meisters), in denen diese Tendenz zur Individualisierung eines Meisters über die Eingrenzung seines Werkes zurückgenommen worden wäre. 215 Vgl. die tabellarische Übersicht bei Bruin (1995, 184), vgl. auch Schwartz 1978. 225 (2) Der nächste Schritt zur Eingrenzung der Identität eines Künstler-Autors über die Fest- schreibung seines Gesamtwerks ist der Versuch, ihn als eine Summe technischer Verfahrens- weisen zu bestimmen. Hier läßt sich ein Vergleich mit dem dritten Kriterium des Hieronymus herstellen, welches, bezogen auf die Untersuchung von Texten, Fragen der Syntax bzw. der sprachlichen Stilistik betrifft. Die kunstgeschichtliche Technik-Diskussion richtet sich auf alle materiellen Aspekte des Aufbaus eines Gemäldes beziehungsweise der Ausführung einer gra- phischen Arbeit. Ein Künstler wird dabei mit einer Art der Grundierung, des Schichtenauf- baus, der Vorzeichnung, der Farbmischung, des Farbauftrags etc. identifiziert, wobei diese Kennzeichen im Laufe des jeweiligen Künstlerlebens Veränderungen unterworfen sein kön- nen. Auch in diesem Bereich konnte sich die Analytik seit der Jahrhundertwende durch tech- nische Verfahren (z.B. Röntgen- und Infrarotuntersuchung) den Anschein einer Qualitätsstei- gerung geben und so den Eindruck einer Präzisierung und Objektivierung der Urteile über Zuschreibungsfragen vermitteln. Greifen wir als Beispiel erneut auf die Selbstbildnisse zurück, diesmal auf eine langanhal- tende Debatte über ‘Original‘ und ‘Kopie‘ zweier Werke von großer Ähnlichkeit: der frühen Bildnisse Rembrandts mit Halsberge, die sich in Den Haag und in Nürnberg befinden. Seit Beginn des 20. Jahrhundert bestand weitgehende Übereinstimmung in der Ansicht, das Den Haager Bildnis sei als eigenhändige Arbeit Rembrandts anzusehen, während man in dem Nürnberger Bild eine Schülerkopie zu sehen habe. Diese Einschätzung gründete auf einem Qualitätsurteil (s.u.). Die zuerst von Claus Grimm (1991) vorgetragene Umkehrung dieser Zuschreibungen wurde durch die Ausrichter der Den Haager Rembrandt-Ausstellung (1999) bestätigt. Die Argumentation stützt sich dabei ausschließlich auf das Kriterium der Identifika- tion des Künstlers mit einer Summe technischer ‘Eigentümlichkeiten‘, die man in den letzten Jahrzehnten aus der Analyse als gesichert geltender Gemälde herausgefiltert hat und nunmehr als Ausschlußkriterium für Zuschreibungen einsetzt. So hat z.B. eine Untersuchung mittels Infrarotreflektographie (IRR) beim Den Haager Gemälde eine Vorzeichnung sichtbar ge- macht, die als Indiz zur Abschreibung dieses Bildes herangezogen wird:

„Eine ähnliche vorbereitende Skizze, ausgeführt auf der Grundierung, bevor mit dem Malen be- gonnen wurde, ist bislang in noch keinem einzigen Werk Rembrandts angetroffen worden (...).“ (Buijsen 1999, 112)

Zur Sicherung der Zuschreibung des Nürnberger Porträts kommen dann die Beschreibungen des Farbauftrags und des Pinselstrichs zum Zuge, die mit der Ausführung unbestrittener Bil- der verglichen werden:

„Auf der Nürnberger Tafel ist das Gesicht mit zügigen und pastosen Pinselstrichen in verschiede- nen Richtungen gemalt worden. Vor allem in den hellen Partien kann man gut sehen, wie der Maler

226 den Pinsel gedreht hat, als ob er Mühe hatte, die Farbe herauszubekommen. Eine vergleichbare Ar- beitsweise trifft man in Rembrandts Selbstbildnissen in Amsterdam und München an.“ (Buijsen 1999, 113)

Die technische Ausführung beider Gemälde wird so, unter Angabe zahlreicher Details, in der Absicht beschrieben, eine Unterscheidung zu treffen, eine Grenze zu ziehen zwischen jenen Praktiken, die man dann mit dem Namen Rembrandt verbindet und solchen, die man von die- sem Namen distanziert. Es ist bezeichnend, daß es in derartigen Bildanalysen in der Regel zunächst um die Frage ‘Rembrandt/Nicht-Rembrandt‘ geht und erst in einem zweiten Schritt mögliche Namen für eine Neuzuschreibung diskutiert werden. Diese erste Grenze ist elemen- tar. Jedes weitere Bild aus dem Umfeld Rembrandts, das nach diesem Verfahren beurteilt wird, bringt eine Wiederholung, Schärfung und gegebenenfalls eine kritische Überprüfung der Abgrenzungskriterien und trägt somit nicht nur zur jeweiligen Ab- oder Zuschreibung bei, sondern läßt die imaginäre Vorstellung von ‘Rembrandt‘ vor dem Horizont von ‘Nicht-Rem- brandt‘ deutlicher hervortreten.216

(3) Während dieses Urteilskriterium sich auf Details der materiellen Ausführung konzentriert, richtet sich ein weiteres auf die ästhetische Erscheinung des Einzelwerkes oder seiner Teilbe- reiche. Es ist dabei also nicht mehr von der technischen Durchführung, sondern von den ver- schiedenen Wirkungs- und Bedeutungsebenen des Werkes die Rede. Hier tut sich ein breites Feld kunsthistorischer Werkbeschreibung auf. So können unter anderem das Bildmotiv und dessen Auffassung, die Komposition und die Farbpalette, die Lichtbehandlung, die Charakte- ristik der Figuren oder die Raumauffassung behandelt werden. Anders formuliert: In diesem Schritt wird beschrieben (a) was auf den jeweiligen Einzelwerken dargestellt ist, (b) mit wel- chen ästhetischen Mitteln es dargestellt ist, (c) wie die Darstellung auf den Betrachter wirkt und (d) wie der jeweilige Interpret den geistigen Gehalt, den über die formalen Beschreibung hinausgehenden ‘Inhalt‘ dieser Darstellung bewertet. Ich setzte dieses facettenreiche Krite- rium an die Stelle des zweiten Kriteriums des Hieronymus, das Foucault auf die Herstellung eines inhaltlichen („begrifflichen und theoretischen“) Zusammenhangs zugespitzt hat. Dies erscheint mir gerechtfertigt, da in beiden Fällen die Vorstellung vom Künstler-Autor als einer semantischen Einheit ausschlaggebend ist.

216 Diese Darstellungen sollten nicht als Beiträge zur Zuschreibungsdiskussion mißverstanden werden. Es interessiert hier weder die Anzweiflung in der Literatur gefällter noch die Abgabe eigener Urteile. Vielmehr geht es ausschließlich um die Beschreibung der Kriterien, mittels derer ein Korpus der Werke eines Künstlers bestimmt und damit auch die entscheidende Quelle zur Persönlichkeit dieses ‘Autors‘ festgeschrieben wird. Weniger einzelne Zuschreibungen als der unverändert große Stellenwert der Urheberfrage und damit die fortgesetzte Individualisierung ‘Rembrandts‘ bilden für mich das Kuriosum dieser Debatte. 227 Wie im vorausgegangenen Kriterium (Der Künstler als technische Einheit) wird auch in die- sem Fall der Vergleich eines zu befragenden Einzelwerkes mit jenem unbestrittenen Werk- korpus durchgeführt, dessen einzelne Bestandteile als Beispiele für den ‘typischen Rem- brandt‘ geltend gemacht werden. Der Grad der Verwandtschaft mit diesen kanonischen Bil- dern und den aus ihnen entwickelten relativen Gesetzmäßigkeiten Rembrandtscher Kunst be- stimmt die Chancen einer Zu- oder Abschreibung. Überzeugt von der kanonischen Richtigkeit seines Rembrandtbildes zeigte sich zum Beispiel Alfred von Wurzbach, als er 1876 in der Zeitschrift für bildende Kunst den Neuzuschreibun- gen seines jungen Kollegen Wilhelm Bode entgegentrat. Bode hatte zwei Bildnisse, in Kassel und Gotha beheimatet, als frühe ‘Studienköpfe Rembrandts nach sich selbst‘ bezeichnet. Mit dreifach spitzfindigem Hinweis auf die Jugend Bodes, die fraglichen ‘Jugendwerke‘ Rem- brandts und den dominierenden Farbton dieser Bilder, glaubte Wurzbach die Zuschreibung mit dem Kommentar ablehnen zu können, hier handle es sich um die „grünen Rembrandt‘s des Dr. Bode“ (Wurzbach 1876). Wilhelm Bode hatte seinerseits drei Argumente für seine Zuschreibung angeführt: die Ähnlichkeit des Dargestellten mit anderen Selbstbildnissen Rembrandts, die Signatur des Meisters und die Verwandtschaft des hier behandelten ‘Pro- blems‘ mit den typischen Werken des älteren Rembrandt. 1870 schrieb er zu den beiden Bild- nissen:

„Sie stellen offenbar den jugendlichen Künstler selbst vor, - Köpfe in kleinem Format, ausschließ- lich zum Zwecke des Studiums angefertigt. Roh in der Zeichnung, grell im Licht und schwarz in den Schatten, machen sie einen wenig erfreulichen Eindruck, aber um so interessanter sind sie uns dadurch, daß sie uns den Meister bereits lebhaft mit dem Problem einer einheitlichen Beleuchtung beschäftigt zeigen (...).“ (Bode 1870, 175)

Bode konstatiert eine gewisse Unfertigkeit, sieht in den Bildern jedoch bereits die Affinität zu den anerkannten Stilmerkmalen Rembrandts. Seine Bewertung, die ihre Plausibilität nicht zuletzt durch eine stilistische Unterscheidung von Früh-, Haupt- und Spätwerk entwickelt, setzte sich durch. Als er 1883 die Kollegenschelte zurückgab, konnte er gleichzeitig die Er- weiterung des bisherigen Kanons ‘augenscheinlicher‘ Charakteristik Rembrandtscher Werke feststellen:

„(...) auch ein Specialforscher der neuesten Zeit ist diesen Werken gegenüber so eingenommen ge- wesen, daß er mich persönlich zu verspotten meinte, indem er eine Anzahl solcher Werke, die ich gelegentlich zusammengestellt hatte, als ‘die grünen Rembrandt’s des Dr. Bode‘ bezeichnete und wider Willen damit eine zwar banale, aber äußerlich sehr in die Augen fallende Charakteristik der- selben gab.“ (Bode 1883, 361)

228 (4) Spielt in diesem Kriterium die Auslegung des Artefakts durch einen Interpreten bereits eine bedeutende Rolle, so gewinnt diese im letzten der möglichen Verfahrensschritte eine absolute Macht. Es ist das Kriterium, das den Autor-Künstler als ein konstantes Qualitätsni- veau bestimmt. Die ideale Formel dafür kann aus Alfred von Wurzbachs summarischem Ur- teil über Rembrandts Werk zitiert werden :

„Aber was immer Rembrandt geschaffen hat, ist ausserordentlich in seiner Art. Er hat nichts Mit- telmässiges produziert, weil sein auf das Höchste ausgebildeter künstlerischer Sinn, jede ungenü- gende Leistung, wenn sein unvergleichliches Darstellungsvermögen wirklich eine solche hervorge- bracht hätte, sofort wieder vernichtet haben würde. Ein schlechter Strich, eine unwahre Farbe, wa- ren für ihn, was ein Misston für ein musikalisches Ohr ist, etwas unerträgliches und unmögliches.“ (Wurzbach 1886, 15)

Wie aber wird ermittelt, ob ein Einzelwerk die Ansprüche dieses Qualitätsniveaus erfüllt. Ra- tionale Momente sind hier nicht mehr angebbar. Das Qualitätskriterium ist kein Kriterium der Vernunft und der Analysen, sondern eines der Emotionen und der Beschwörungen. Qualität wird nicht diskutiert, sie gilt nicht als schrittweise erschließbar, sie wird vielmehr schlagartig und unmittelbar erlebt und dementsprechend auch in den Texten nicht mühsam hergeleitet, sondern ‘verkündet‘. Als Inbegriff dieses Qualitätsurteils kann die sogenannte ‘Kennerschaft‘ gelten, die primär im 19. Jahrhundert den Kunstgelehrten zugesprochen wurde. Der Begriff zeigt an, daß die Beglaubigung hier nicht länger aus dem Werk und den daran anschließbaren Erläuterungen hervorgeht, sondern aus der Autorität des Urteilenden selbst. Je anerkannter der Gelehrte, um so höher die Legitimität seines Urteils. In seinen Reisebriefen aus Madrid hat Carl Justi eine treffende Beschreibung kennerschaftli- cher Urteilspraxis im Hinblick auf Zuschreibungsfragen hinterlassen. Sie bezieht sich auf Wilhelm Bode, den Justi 1881 in Madrid kennenlernte und über den er seiner Schwester schrieb:

„Sein Ehrgeiz ist, bei jedem Bild, vor das er tritt augenblicklich, - wie das Niesen auf die Prise folgt, - den Namen des Autors zu nennen.“ (zit. nach Otto 1995, 31)217

Der Blick des Kenners mag hier und da durch Detailbetrachtungen gestützt und ergänzt wer- den, aber er zielt doch zuletzt aufs Ganze. Als Kenner gilt, wer Reichtum an Seh-Erfahrungen

217 Bei der Beobachtung von Museumsbesuchern, nicht zuletzt auch in der Selbstbeobachtung, läßt sich immer wieder feststellen, daß ähnliche Vorgänge zu den alltäglichen Übungen im Umgang mit Kunstwerken zählen. Ob als Spiel getarnt, als Prahlerei kultiviert oder als Beruf ausgeübt - auch dieses Zuschreibungsritual gilt zuletzt der Individualisierung des ästhetischen Feldes und führt somit die diskursiven Praxen fort, die Gegenstand meiner Beschreibung sind. 229 mit einem geschärften Unterscheidungsvermögens zu paaren weiß.218 Der Akt des kenner- schaftlichen Urteils erfüllt sich darin, das aus diesen beiden Komponenten gebildete Raster auf das aktuell betrachtete Bild zur Anwendung zu bringen. Die Präzision, die dabei ange- strebt wird, geht aus Justis Vergleich mit dem Niesen nach der Prise hervor. Die spezifische Qualität des Bildes, in der die Eigentümlichkeit des Urhebers hervortritt, zwingt den Kenner unweigerlich, den Namen des Autors zu nennen. Zuschreibung durch derart unmittelbares Qualitätsurteil geht allerdings ein hohes Risiko ein, denn besonders die rationalistisch ausgerichteten Kriterien der Zeit und der Technik (1 und 2) bilden wirkungsvolle Gegenspieler. Ein Beispiel dafür liefert Jeroen Boomgaard in seinem Buch zur Geschichte der niederländischen Kunstgeschichtsschreibung (Boomgaard 1995). Dort sind auf den Seiten 130-133 einige Gemälde abgebildet, die zum Ende des 19. Jahrhun- derts im Zuge der großen Zuschreibungswelle vorübergehend als ‘Rembrandts‘ galten. In den Untertiteln entfaltet Boomgaard eine ungewohnt ironische Sprache und unterstützt so den Eindruck, diese Bilder könnten keinesfalls von Rembrandts Hand stammen, ein Eindruck, der seine Evidenz aus einer augenscheinlichen ‘Qualitätsdifferenz‘ zur Norm der gesicherten Gemälden bezieht. Wie problematisch dieses Verfahren ist, zeigt sich an einem Selbstporträt, das Boomgaard in dieses höhnische ‘Schreckenskabinett‘ eingereiht hat. Das in Aix-en-Pro- vence beheimatete Selbstbildnis mit Barett (RS 75), seit 1969 durch Gerson abgelehnt und in der Folgezeit zumeist abgeschrieben, wird durch die jüngsten Untersuchungen des Rembrandt Research Projects wieder als eigenhändiges, allerdings unvollendetes Werk Rembrandt be- wertet (White 1999a, 206). Wer auf das Qualitätsurteil setzt, gegen den richtet sich leicht der dichotomische Stachel des Kunstdiskurses der nur zwei Modi kennt: die Bewunderung oder das Gelächter.

218 Zur Bedeutung der Erfahrungen vgl. den Stellenwert eines langen und intensiven Umgangs mit dem Werk in der hermeneutischen Methodik Diltheys und anderer (vgl. Abschnitt 2.1.4 im zweiten Teil dieser Arbeit). 230 3 Ergebnisse des zweiten Teils

3.1 Zusammenfassung

Carl Neumann hat in seiner Rembrandt-Monographie von 1902 eine programmatische Be- schreibung der Vorstellung vom Subjekt und seinem Verhältnis zur Gesellschaft formuliert. Eine Auseinandersetzung mit dieser Passage ist dazu geeignet, in die Zusammenfassung der Beobachtungen und Ergebnisse dieses zweiten Teils einzuführen:

„Man mag die Macht äußerer Einwirkungen über Bildung und Entfaltung menschlichen Wesens, man mag gegenüber dem Angeborenen das Gewicht des Erfahrenen und von außen Gekommenen noch so hoch anschlagen, in den Tiefen menschlicher Natur ist ein Ort, wo diese Eindrücke wie in einer Sackgasse sich festrennen und auf einen Felsen von Widerstand stoßen. Unbekümmert wie hinter der Wallmauer einer uneinnehmbaren Zitadelle lebt das Persönlichste, dessen dumpfe Kraft um so größer ist, je weniger es von ihr weiß. Hier bildet das Ich seine eigene Welt. Je reizbarer - und dies ist der Fall des Genius - die Organe für die Sensationen der Außenwelt sind, um so leb- hafter ist ihr Reagieren, ein anhaltendes Paktieren, was den Zugang finden kann und was nicht. (...) In einem Dauerzustand gereizter Auseinandersetzung steht der Genius der Welt gegenüber.“ (Neumann 1902, 333)

Im Hinblick auf die Frage, wieweit Denken und Handeln des einzelnen Menschen von sozia- len Faktoren beeinflußt werden, tritt Neumann hier für die Vorstellung von der prinzipiellen Eigenständigkeit und Eigentümlichkeit des Individuums ein. Im Zentrum dieser Konzeption steht das Bild des „menschlichen Wesens“ als einer uneinnehmbaren Festung, die durch eine natürliche Grenze von den Einflüssen der Außenwelt abgeschlossen ist und sowohl die Form als auch die Intensität aller Kontakte selbst kontrolliert. Neumann läßt keinen Zweifel daran, daß die Position des Einzelnen zur Gesellschaft eine Frontstellung ist, ein „Dauerzustand gereizter Auseinandersetzung“. In der Fortsetzung des Zitates veranschaulicht der Kunsthisto- riker seine abstrakten Überlegungen am Beispiel der Autonomisierung Rembrandts:

„Den ungeheuren Kampf, den Rembrandt um seine künstlerische Selbständigkeit geführt hat, kön- nen wir nur ahnen. (...) Mitten aus dem Schaffen der Kunstgenossen, aus dem Geschmack der Zeit und des Landes, aus dem Andrängen einer allenthalben siegreichen Weltkultur, aus der Verführung der italienischen Kunst, (...) ringt sich ein eigentümlicher Geist empor, den nach einer eigenen Sprache verlangt.“ (Neumann 1902, 333)

Der Prozeß der Subjektivierung Rembrandts, dessen Erfolg hier durch die Verwendung der Eigentumsbegrifflichkeit signalisiert wird, ist als ein Grenzkonflikt dargestellt: Aus dem „un- geheuren Kampf“ gegen seine Berufskollegen, gegen den zeitgenössischen „Geschmack“, gegen den „allenthalben siegreichen“ fremdländischen Einfluß, der neben den persönlichen

231 auch die nationalen Differenzen zu verwischen droht, geht das autonome Künstlersubjekt Rembrandt hervor. Was er in dieser Auseinandersetzung erworben hat, ist eine künstlerische Stilistik, die Neumann als des Künstlers Eigentum darzustellen bemüht ist:

„Wenn man ihn an die klassischen Vorbilder erinnert, sie ihm als Muster preist, die zur Normaler- ziehung jedes Künstlers gehören, lehnt er sie ab und erklärt, nur eine Lehrmeisterin anzuerken- nen, die Natur. (...) Rembrandt sagt Natur, und er meint nichts anderes als sein Recht, unabhängig von fremder oder naher Kunst eine eigene Sprache zu finden, die seine Organe allein verstehen, die sie zur Gestaltung bringen wollen, die sie als die einzige natürliche empfinden. Eine Kunstsprache, in Zeichnung und Komposition, in Licht und Farbe anders als eine schon dagewesene, (...) der Ausdruck einer gänzlich idealen, persönlichen, Rembrandtischen Welt.“ (Neumann 1902, 333 f.)

Der alte Topos, demzufolge Rembrandt allein die Natur als Lehrmeisterin gelten lasse, erfährt hier eine neuartige Auslegung. Neumann erklärt daraus die Eigentümlichkeit gleichsam zum ‘Naturrecht‘ des Künstlers. Die „eigene“ Kunstsprache wird zum sinnlich wahrnehmbaren Ausdruck einer „gänzlich“ „persönlichen“ Welt und damit zum nach außen gewandten Beleg für die Existenz dieser Welt, die letztlich die Innenwelt des „Ichs“ ist. In dieser Konzeption fungiert Kunst als Beweis für Existenz, Geschlossenheit, Eigenständigkeit und potentielle Größe des menschlichen Subjekts. Die Beherrschung der künstlerischen Techniken wird zum Mittel, das die Entwicklung der „eigenen Sprache“ und damit die Distinktion von der Umgebung ermöglicht. Und in dieser Fähigkeit zur Unterscheidung „von der übrigen Kunst- welt“ liegt die eigentliche Qualität des Künstlers:

„Je mächtiger und ausgebildeter von Jahr zu Jahr, je vollkommener seine Kunstsprache wird, um so souveräner gebärden sich die ihrer Treffsicherheit froh gewordenen technischen Ausdrucksmittel. Diese Kunst akzentuiert sich, unterscheidet sich von dem Nicht-Ich Rembrandts, von der übrigen Kunstwelt; sie wird auch dafür anerkannt und bewundert. Rembrandts Ruhm in seiner Zeit erreic ht seinen Gipfel. Er hat in diesen Jahren die Welt bezwungen. Es scheint eine Zauberkraft in ihm zu sein, die über Wirkungen gebietet, welche anderen verschlossen sind. Wie er nicht müde geworden ist, sich selbst zu staffieren, zu drapieren, in jede Verwandlung zu zwingen, so besitzt er einen Zauberstab, der auch die Dinge außer ihm wandelt. Er ist ein Magier, dessen kräftigen Formeln al- les sich fügen muß.“ (Neumann 1902, 334)

Aufgrund einer geheimnisvollen Kraft, die außerhalb rational erklärbarer Phänomene liegt und deren Ursprung im Inneren des Individuums ausgemacht wird, vermag der Künstler die Bedrohung durch die Außenwelt in ihr Gegenteil zu verkehren. Statt der „Macht äußerer Ein- wirkungen über Bildung und Entfaltung menschlichen Wesens“ zu unterliegen (ebd., 333), gelingt es diesem „Magier“ die Welt zu bezwingen und mit seinen „kräftigen Formeln“ alles, „auch die Dinge außer ihm“, zu wandeln. Aus seiner künstlerischen ‘Eigentümlichkeit‘ ge-

232 winnt er eine autonome und souveräne Stellung, unangefochten von den Vereinnahmungsten- denzen der Außenwelt.

Aus Neumanns Zitaten wird noch einmal deutlich, wie grundlegend die Vorstellung von einer Frontstellung des Einzelnen zur Gesellschaft für dieses moderne Konzept des Künstlers ist, wie entschieden dieses Subjekt aus den Verfahren zur Abgrenzung eines Bezirks hervorgeht, der als ihm ‘eigentümlich‘ beschrieben wird. Diese Strategien der Isolierung des Individuums von der Gesellschaft und seiner Aufladung mit Eigentümlichkeitswerten, die zusammenfas- send als Prozesse der ‘Subjektivierung‘ bezeichnet werden können, stehen meiner Ansicht nach im Zentrum des diskursiven Feldes, dem diese Analyse galt.

In den drei Kapiteln des zweiten Teils habe ich versucht, die Konturen der diskursiven Künstlerfigur Rembrandt in der deutschen Kunstliteratur zwischen 1890 und 1950 nachzu- zeichnen und dabei detailliert einzelne Topoi herauszuarbeiten, denen wichtige Positionen bei der Formierung der Vorstellung von Rembrandt als einem Prototyp modernen Künstlertums zukommt. Dabei war zu beobachten, daß die Vorstellung von jener Figur, die Gegenstand des Diskurses ist (mit meinem Begriff: die diskursive Künstlerfigur), auf Basis einer Summe sinnlich wahr- nehmbarer Objekte, dem Gesamtwerk, entwickelt wird. Autorität erhält sie durch die Identifi- kation mit einer historischen Figur, wobei die Dokumente dieser empirischen Existenz jedoch nur in selektierter und interpretierter Form zur Konstruktion der diskursiven Künstlerfigur herangezogen werden. Des weiteren ist die zentrale Bedeutung von vier Konzepten für diese diskursive Künstlerfigur festzuhalten: (1) die Geschlossenheit, (2) die Harmonie, (3) die Bedeutsamkeit, (4) die Ei- gentümlichkeit. (1) Auf verschiedenen Ebenen sind Verfahren der Abgrenzung zu beobachten, die der Vor- stellung vom Künstlersubjekt als einer nach außen geschlossenen und aus sich selbst heraus begründeten (autonomen) Figur zuarbeiten. Als wichtige Grundlage dient dabei die Polarisie- rung zwischen Individuum und Gesellschaft. Unter den Argumentationen, die der Veran- schaulichung dieses Sachverhalts dienen, kann jener von der Befreiung des Kunstschaffens aus der Abhängigkeit vom Auftraggeber eine besondere Rolle zugewiesen werden. (2) Innerhalb der Vorstellungen vom Leben und vom Charakter des Künstlers wird nur sol- chen Elementen Bedeutung zugesprochen, die sich harmonisch in ein sinnstiftendes Künstler- bild einbinden lassen. Brüche, Widersprüche oder offene Fragen, die sich aus Werken oder

233 Archivdokumenten ergeben, werden ausgeschlossen, nivelliert oder in ein leicht variiertes, in sich jedoch wiederum harmonisiertes Künstlerbild eingebunden.219 (3) Alle Bemühungen um die Vorstellung vom Künstler sind von dem Ziel gekennzeichnet, der historischen Bedeutung dieser Figur gerecht werden zu wollen. Das Vorhandensein dieser Bedeutung und damit die außergewöhnliche ‘Größe‘ dieses Individuums erscheint dabei als gesetzt und dient zugleich zur Legitimierung des Diskurses. All die normativen Aussagen über ideales Künstler- und Menschentum erfolgen unter dem Vorwand der Würdigung einer besonders bedeutsamen historischen Person. Der finanzielle Wert der Werke und die ‘Heilig- keit‘ des Künstlerlebens (Armut, Leiden, Verkennung) sind wichtige Elemente der Veran- schaulichung dieser Bedeutung. (4) Im Zentrum der verschiedenen Abgrenzungsrhetoriken, Harmonisierungsstrategien und Bedeutungszuschreibungen steht die These von der Eigentümlichkeit des Individuums. Ver- anschaulicht wird sie primär durch den Prozeß der Beschreibung eines authentischen Werk- korpus, der die ‘eigentümlichen‘ Merkmale dieses singulären Subjekts trägt. Gerade die Un- abgeschlossenheit dieses Prozesses ist meiner Ansicht nach ein Beleg für die These, daß die gesellschaftliche Funktion der diskursiven Künstlerfigur in ihrem demonstrativen Charakter zu suchen ist.

3.2 Hypothesen zur Funktion der diskursiven Künstlerfigur

Diese Untersuchung stellt sich nicht die Aufgabe, eine Erklärung für das Phänomen der dis- kursiven Figur des modernen, ‘autonomisierten‘ Künstlers zu liefern, sondern jene, dieses Phänomen am Beispiel der Rembrandtrezeption detailliert zu beschreiben. Dennoch sollen an dieser Stelle einige der möglichen Erklärungsmodelle vorgestellt werden, die im Anschluß an verschiedene Positionen geisteswissenschaftlicher Theoriebildung der letzten Jahrzehnte im Hinblick auf diese Problematik diskutiert werden müßten. Ich konzentriere mich dabei auf vier Modelle, die ich als (1) die sozialgeschichtliche, (2) die kompensatorische, (3) die ge- schlechterhegemoniale und (4) die subjektivitätskritische Konzeption bezeichnen möchte.220

219 In einem Aufsatz zur Rezeption des deutschen Regisseurs Detlef Sierck hat Gertrud Koch derartige Strategien als Bemühungen um eine „finalistische Figur“ bezeichnet (Koch 1988). 220 Weder in der Vollständigkeit der Modelle noch in der Komplexität ihrer Darstellung ist dieser kurze Abschnitt darauf angelegt, abschließende Aussagen zu liefern. Es erscheint mir lediglich unerläßlich, einige theoretische Kontexte anzudeuten, in welche die hier dargestellten Probleme eingeordnet werden könnten. Besonders zwei Positionen bleiben an dieser Stelle unberücksichtigt. Plumpes Vorschlag, in der Ei- gentümlichkeits-Begrifflichkeit ein Interferenzphänomen des juristischen Diskurses und seines modernen Be- griffs des Eigentums zu sehen, habe ich bereits zu Beginn des letzten Kapitels vorgestellt. Ich stimme dieser Beobachtung zu, ohne jedoch die Erscheinung des modernen Künstlers in ihrer Gesamtheit auf diese monokau- sale Erklärung zurückführen zu wollen. An dieser Stelle wäre auch ein Erklärungsmodell zu ergänzen, das an die systemtheoretische Gesellschaftstheorie Niklas Luhmanns anschließt. Interessante Ansätze für ein derartiges Verständnis des (künstlerischen) Autors finden sich bei Werber/Stöckmann 1997. 234

(1) Ein sozialgeschichtliches Erklärungsmodell sieht die entscheidende Ursache für die Sub- jektfixierung des modernen Künstlerdiskurses in den veränderten ökonomischen Bedingun- gen, denen Kunst als berufliche Praxis im Übergang von der feudalistischen zur bürgerlichen Gesellschaft ausgesetzt ist. Nach der weitgehenden Auflösung zünftischer und mäzenatischer Strukturen, die zuvor soziale Sicherheit und ästhetische Vorgaben miteinander verbunden hatten, stehen bildende Künstler demnach seit dem Ende des 18. Jahrhunderts verstärkt in einer Wettbewerbssituation, die nach einer individuellen Profilierung verlangt. Der in forma- len und inhaltlichen ‘Eigentümlichkeiten‘ erbrachte Verweis auf die eigene Originalität fun- giert demnach gleichsam als „Waffe im Konkurrenzkampf“.221 Diese theoretische Perspektive operiert mit einem eindimensionalen Kausalitätsmodell. So führt etwa Wolfgang Ruppert, der die sozialgeschichtliche Sichtweise seiner ausführlichen Studie Der moderne Künstler (1998) zugrunde legt, die ‘kulturelle Modernisierung‘ und die ‘Rationalisierung‘ der bürgerlichen Gesellschaft als Ursachen für die Entwicklung eines auf Subjektivität ausgerichteten ‘Künst- lerhabitus‘ an.

„Mit dem Modernisierungsschub der vom Tausch- und Geldverkehr geprägten bürgerlichen Gesell- schaft radikalisierte sich auch der Individualisierungsgestus im Künstlerhabitus.“ (Ruppert 1998, 263)

In diesem Modernisierungsschub ist der Künstler zur Selbstbehauptung auf einem weitgehend freien Kunstmarkt gezwungen. Er distanziert sich dabei von den technischen und organisato- rischen Produktionsformen, die diesen Modernisierungsschub in weiten Teilen der Wirtschaft kennzeichnen und setzt auf Individualität. Ruppert entwickelt aus diesem Modell eine affir- mative Definition des ‘modernen Künstlers‘:

„[Wir] definieren den modernen Künstler als ein Individuum, das seine gesteigerte subjektive Emp- findung sowie seine Wahrnehmungsfähigkeit in einer individualisierten und authentisch-originellen ästhetischen Sprachlichkeit auszudrücken versteht. Der moderne Künstler gewinnt seine Arbeitsfä- higkeit zur Herstellung von Artefakten sowohl aus einer intuitiven Phantasieproduktion als auch aus der distanznehmenden Abgrenzung zu der Sphäre der gesellschaftlichen Reproduktion des Le- bens und den rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft.“ (Ruppert 1998, 232 f.)

Der Sozialhistoriker sieht sich in der Lage, rückblickend die Gestalt des ‘modernen Künstlers‘ und die für diese Gestalt entscheidenden gesellschaftlich-historischen Faktoren zu rekonstru- ieren. Dabei reproduziert Ruppert, wie in dieser emphatischen Beschreibung der Leistung des künstlerischen Individuums deutlich wird, allerdings wesentliche Codes des Kunstdiskurses

221 Vgl. Plumpe (1990, 19), der auf die Verwendung diese Formel durch Arnold Hauser verweist. 235 der Jahrzehnte um 1900. Die „gesteigerte subjektive Empfindung“ wird hier dem Wesen der empirischen Künstlerindividuen zugeschrieben und nicht als ein Phänomen der Diskurse, der Vorstellungen vom subjektivierten Individuum, seiner Fähigkeiten und Eigenarten aufgefaßt. Die künstlerische Praxis und die „rationalen Arbeitsweisen der bürgerlichen Gesellschaft“ werden nicht als parallel entwickelte Konzepte begriffen, die erst durch die Abgrenzung von- einander Gestalt annehmen können. Dafür bezieht der Wissenschaftler eindeutig Position für das ‘autonome Subjekt‘, in dessen Verhalten er einen subversiven Akt der Befreiung von den Zwängen der Vergesellschaftung erblickt. Zitate von AutorInnen wie Carl Neumann oder Lu Märten werden von Ruppert nicht als zeitgenössische Bestandteile des entsprechenden Künstlerbildes analysiert, sondern als Vordenker der sozialgeschichtlichen Analyse aufgebo- ten (ebd., 245 ff.). Schließlich bleibt damit auch der Code zwischen hoher und niedriger künstlerischer (beziehungsweise ‘kunstgewerblicher‘) Produktion intakt, der ja einen Baustein in der Topik des heroisch-autonomen, also nicht von Markt, Geld und Aufträgen zu beein- flussenden Künstlers bildet:

„Nicht wenige Maler spezialisierten sich ausschließlich auf Bildwerke mit gut verkäuflichen Bild- sujets, die konventionellen Bildvorstellungen genügten. (...) Diese Form eines weitgehenden Ver- zichts auf die Originalität des Einzelwerkes hatte fließende Übergänge zum Kunstgewerbe. Hie r wurden ästhetische Objekte in seriellen Arbeitsformen mit rationeller Zeitökonomie für den Markt hergestellt.“ (Ruppert 1998, 107)

Die Bezeichnung ‘Künstler‘ spricht Ruppert nicht jedem Produzenten „ästhetische[r] Ob- jekte“ zu. In der Tradition der bürgerlichen Kunsthistoriker der von ihm untersuchten Epoche schließt er jene Maler, die sich einer breiten Nachfrage anpassen, von dieser Kategorie aus. Damit platziert er sie in einem Bereich des ’Kunstgewerblichen’, den er qualitativ unterhalb des Refugiums der ’Hochkunst’ verortet. ’Künstler’ kann demnach nur genannt werden, wer als Maler die Demonstration seiner Subjektivität zum Programm seiner Kunstpraxis erhebt. In ähnlicher Weise erfährt hier auch der Begriff der ‘Kunst‘ eine Nobilitierung, die dem traditio- nellen bürgerlichen Wertekanon des 19. Jahrhunderts entspricht. Zu seiner Profilierung und zur Erhöhung seines Wertes werden dem Begriff ’Kunst’ abwertende Bezeichnungen für we- niger ’bedeutende’ Werke zur Seite gestellt, wie „Bildwerke“ und „ästhetische Objekte“. Die Prinzipien jener bürgerlichen Gesellschaft, die Ruppert zu beschreiben sucht, sind in seiner Beschreibung unvermindert intakt. Dabei wird meiner Ansicht nach auch deutlich, daß die Aufwertung des Malers zum Künstler nicht aus eigenständigen sozialen oder ästhetischen Kategorien hervorgeht, sondern daß es diskursive Vorgaben sind, die derartige wertende Un- terscheidungen erst ermöglichen.

236 Über diese konkrete Kritik an einem Beispiel jüngster Forschung hinaus möchte ich darauf hinweisen, daß sozialhistorische Darstellungen einem Modus folgen, der, kritisch beurteilt, eine Nähe zur Naturgeschichte aufweist. Sie nähern sich den historischen Phänomenen, hier: der modernen Kunst und dem modernen Künstler, als gälte es, eine historische Wahrheit aus den Dokumenten herauszupräparieren. Der Künstler wird als soziales Wesen in seinem Le- bensraum nachgezeichnet, Textquellen werden wie Fährten gelesen, Fußspuren, die unbe- wußte Lebewesen im Boden der Geschichte hinterlassen haben. Die daraus resultierenden Darstellungen vertreten Überzeugungen, die ich problematisch finde: Überzeugungen von der unanzweifelbaren Richtigkeit der zugrunde gelegten Kausalität (derzufolge das gesellschaftli- che Sein das Bewußtsein bestimmt), von der Möglichkeit einer Rekonstruktion historischer Welten, von der absoluten Leistungsfähigkeit des geschichtstheoretischen Ausgangsmodells und schließlich von der Neutralität des eigenen Standpunktes, der selbst nicht als ein histori- scher reflektiert wird.

(2) Das sozialgeschichtliche Modell erklärt die Rahmenbedingungen modernen Künstlertums und beschreibt die Existenzweise des Künstlers damit als eine quasi-natürliche, weil aus ihren historischen Voraussetzungen plausibel darstellbare. Auf dieser Basis, unabhängig davon ob sie nun einer marxistischen Geschichtsphilosophie folgt oder nicht, ruht ein weiteres Erklä- rungsmodell, das die Funktion des Künstlers in der modernen Industriegesellschaft zu be- schreiben sucht. Dieses Modell sieht in der konkreten Ausformung des modernen Künstlers als eines autonomen Subjekts eine kompensatorische Gegenbewegung zur Vereinheitli- chungs- und Kollektivierungstendenz dieser Gesellschaft. Als Anwendungsbeispiel kann erneut Wolfgang Ruppert dienen, der den Grund für den ‘Kult der Individualität‘ im moder- nen Künstlertum wie folgt diskutiert:

„Weshalb wurde dieser ‘geheimnisvolle Boden alles künstlerischen Schaffens‘, die Individualität, Gegenstand eines Kultes in der bürgerlichen Gesellschaft? Auszugehen ist von einer These: Der Künstler avancierte in dem Maße zum „Priester“ der Subjektivität und der ungebändigten Phantasie des Individuums, in dem diese, in der Folge von Rationalisierung und Versachlichung der moder- nen Lebenswelt, auf spezifische mediale Formen in den Künsten verwiesen wurde.“ (Ruppert 1998, 254)

Ausgehend von einem Kausalitätsschema, in dem die historische Entwicklung der Gesell- schaft als Ursache und die jeweilige historische Erscheinung des Menschen als deren Folge vorzustellen ist, wird hier im modernen Künstler eine kompensatorische Figur gesehen. Sie entsteht als Reaktion auf die „Rationalisierung und Versachlichung der modernen Lebens- welt“ und dient als Gegenbild zum bürgerlichen Alltagsmenschen. Subjektivität erscheint dabei als natürlicher Zustand, als dem Menschen wesenseigene Charakteristik, die in einem 237 subjektivitätsfeindlichen modernen Alltag von starken gesellschaftlichen Kräften verdrängt werde und deshalb im Künstlertum ihren übersteigerten, exemplarischen Ausdruck finden müsse. Daß erst diese Moderne die ideengeschichtlichen Voraussetzungen für ein derartiges Subjektivitätskonzept hervorbrachte, daß es sich also dabei seinerseits um ein historisch be- dingtes Konzept und nicht um ein Naturgesetz handelt, daß sich die Vorstellung von der Subjektivität als einem elementaren, entwicklungs- und schutzbedürftigen ‘Eigentum‘ des Individuums erst gemeinsam mit den modernen Kollektivierungstendenzen entwickelte, bleibt in dieser Perspektive unberücksichtigt. Das Erklärungsmuster gewinnt seine Plausibilität wie- derum aus denselben Codes, die im Analysezeitraum (also in den Jahrzehnten um 1900) den Ausgangspunkt der Argumentationen bildeten: Einer ‘Mechanisierung‘ und ‘Rationalisie- rung‘ der Lebens- und Arbeitswelt wird ein organisches und irrationalistisches Menschenbild entgegengestellt, wobei ersteres als bedrohliche Veränderung eines harmonischen Vorzustan- des, letzteres aber als schützenswertes Refugium und als Ausdruck des wahren Seins verstan- den wird. Dieses Erklärungsmodell sieht im modernen Künstler als autonomem und singulärem Subjekt eine Kompensationsfigur. Die Gründe für deren Entstehung können dabei unterschiedlich angesetzt werden. Neben der bereits angesprochenen Reaktion auf Prozesse der wissenschaftlichen Rationalisierung sowie der wirtschaftlichen Kollektivierung kann die marxistische Entfremdungsthese stehen. Sie geht unter anderem von der Beobachtung der Arbeitsteilung im industriellen Produktionsprozeß aus, die den selbständigen Charakter der Handwerksarbeit auflöst und den einzelnen Arbeiter vom Gesamtprozeß der Werkherstellung sowie vom Werkstück selbst als eines Produktes seiner individuellen Tätigkeit entfremdet (hier steht erneut Mechanisierung/Zergliederung gegen Organik/Ganzheitlichkeit). Im Gegen- bild, dem Künstler, ist der Schaffensprozeß ungeteilt, und die Leistung wird ausdrücklich im Hinblick auf die im Werk erkennbare Subjektivität bewertet. Diese inhaltliche Füllung des Kompensationsmodells stützt sich also auf den explizit vorindustriellen Charakter der Pro- duktionsformen des bildenden Künstlers. Auch eine weitere Argumentation, die Ästhetisierungsthese, geht von Motiven des marxisti- schen Denkens aus. Zusätzlich zur sozialgeschichtlichen Perspektive basiert sie auf dem ge- schichtsphilosophischen Schema, das die bürgerliche Gesellschaft als Durchgangsstadium innerhalb einer determinierten historischen Entwicklung betrachtet.222 Um die herausragende

222 Auf gleicher theoretischer Basis wird noch eine weitere These entwickelt, derzufolge die elitäre Konzeption der Kunst und des Künstlers (als Personifikation ‘geistigen Adels‘) einen Schutzversuch des Bürgers vor dem bedrohlichen Anwachsen des Proletariats und seiner sozialen Forderungen darstellt. So schreibt etwa Helmut Scheuer, Historiker und Biographen habe im späten 19. Jahrhundert die Angst vor der „Verpöbelung der unteren Schichten“ (Droysen) befallen: „Die Abwehr des Proletariats erfolgt im Namen des Geistes und der Bildung. Hier behauptet der Bürger sein Recht und setzt dabei die alten bürgerlich-demokratischen Ideale ungeniert als Sozialbarrieren ein. ‘Geistesaristokratie‘ und ‘Adel der Seele‘ werden nicht als sozialrevolutionärer Anspruch gegenüber dem Adel erhoben, sondern nun als Mittel der Separierung vom Proletariat eingesetzt. Die traditio- 238 Rolle der Kunst im deutschen Bürgertum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu erklä- ren, werden hier drei historische Ereignisse und ihre Folgen als Ursachen interpretiert: die gescheiterte bürgerliche Revolution von 1848, die 1871 erfolgte Reichsgründung als Vereini- gung ‘von oben‘ sowie die hierarchische Struktur dieses ‘Deutschen Reichs‘, in der die An- hänger republikanischer Ideale wenig Befriedigung finden konnten. In mehreren Stufen, so verläuft diese Argumentation, wurde der Drang des Bürgertums nach einer Niederschlagung der aristokratischen Vormachtstellung und der Errichtung einer liberal-republikanischen Ord- nung unterdrückt. Aus diesen Mißerfolgen resultierte eine Frustration, die zu einer Umleitung ursprünglich politischer Impulse in den Bereich des Ästhetischen geführt habe. Die Kompen- sation der politischen Frustration in der Beschwörung einer ‘geistigen Welt‘ wird dabei zu- gleich als Mittel der Versöhnung mit der unbefriedigenden Situation beschrieben. Auf die hier versammelten Argumentationen stützt zum Beispiel Helmut Scheuer seine Erklä- rung der Konjunktur der literarischen Gattung der Biographie und deren spezifischer Ausfor- mung während des Kaiserreichs - ein Phänomen, das mit seiner Monumentalisierung des In- dividuums enge Verwandtschaft zu unserem Untersuchungsmaterial aufweist. Scheuer sieht in den Biographien den Versuch der „Harmonisierung“ zwischen den ursprünglichen politi- schen Interessen des Bürgertums und der machtpolitischen und sozialen Lage der „realen Welt“; er spricht vom „Tagtraum vom nicht-entfremdeten Leben und der damit verbundenen Harmonie, den sich das Bildungsbürgertum in der Welt des schönen Scheins imaginierte“ (Scheuer 1979, 106 f.). Die „historische Figur“ der Biographien - eine Kategorie, der auch die ‘diskursive Künstlerfigur‘ Rembrandt zugezählt werden kann - wird bei Scheuer zum Vehikel der kompensatorischen ‘Ästhetisierung des Politischen‘. Während „in der realen Welt des 19. Jahrhunderts (...) die sozial-ökonomische Entwicklung mit Arbeitsteilung, Entfremdung und Selbstentfremdung auch die soziale Aufsplitterung des Bürgertums voran[trieb]“ hatte Kunst „demnach die Funktion zu übernehmen, den Schleier zu weben, den das Bildungsbürgertum über die Realwelt legt“. „Der Überdruß an der Welt erfährt seine Kompensation durch die Erzeugung einer Welt des schönen Scheins“ (ebd.). Dabei ziele die Imagination historischer Figuren mit ihrem demonstrativen Charakter idealer Subjektivität auf eine „Versöhnung mit dem aristokratisch geprägten Staat“ (ebd., 107).

Diese Interpretation fördert eine Vielzahl interessanter Zusammenhänge zutage, denen ich auch weiterhin Relevanz zuspreche. Widersprechen möchte ich dagegen der Bewertungsten- denz, die diesen Darstellungen unterlegt wird. Sie stützt sich auf eine als zwangsläufig und folgerichtig vorausgesetzte Entwicklungslinie der Gesellschaftsformen, ein geschichtsphilo- nelle Behauptung der ‘Größe‘ des Künstlers und des Wis senschaftlers, mit der das Bürgertum (...) Front gegen den Adel (...) gemacht hat, wird ihres revolutionären Gehaltes beraubt und in eine sozial-regressive Funktion überführt.“ (Scheuer 1979, 104). 239 sophischer Standpunkt, den ich nicht teile. Die mitunter massive ideologische Vorstrukturie- rung des Beobachtungsrasters führt zudem, neben dem unvermeidbaren ‘blinden Fleck‘ in Bezug auf den eigenen Betrachtungsstandpunkt, zum Ausschluß verschiedener historischer Phänomene, die für unseren Zusammenhang nicht vernachlässigt werden sollten.

(3) Ein solches Phänomen wird vom geschlechterhegemonialen Erklärungsmodell angespro- chen, wie es zum Beispiel Irit Rogoff in ihrem Aufsatz Er selbst - Konfigurationen von Männlichkeit und Autorität in der Deutschen Moderne entwickelt.223 Ein theoretischer Bezugspunkt ist hier Foucaults These von der Konstruktion von Autorschaft als einer mit Autorität besetzten Diskursposition. Am Beispiel einiger Selbstbildnisse der klassischen Moderne (Böcklin, Liebermann, Corinth) und der Avantgarde (Kirchner, Immendorff) macht Rogoff den teils gesellschaftlich zugewiesenen, teils durch Selbstverortung eingenommenen Standort männlichen Künstlertums aus. Ein spezifisches Kennzeichen dieses Standortes sieht sie in der „komplexen Dialektik zwischen Marginalität und Zentralität“: Mit der Marginalisierung des Künstlers, die aus den sozialen Bedingungen seiner Existenz hervorgeht oder durch das Verhalten des Künstlers selbst offensiv eingefordert wird, ist der Anspruch auf die Produktion kulturell bedeutender Artefakte (Kunstwerke) verbunden, so daß der Außenseiter zugleich eine Kernfigur der Gesellschaft darstellt.224 Irit Rogoff führt hier den Nachweis einer „stillschweigenden Verbündung“, in der sich „Männlichkeit und Kultur (...) gegenseitig als Autorität“ konstruieren (Rogoff 1989, 21). In der Figur des modernen Künstlers macht Rogoff eine gesellschaftlich privilegierte und exklu- siv für Männer reservierte Rolle aus. Neben den ökonomischen Vorzügen, die männlichen Künstlern durch eine Orientierung an dieser Rolle zufallen, sieht sie in der demonstrativen und zugleich paradoxen Marginalisie- rung der Künstlerfigur ein Mittel zur Erhaltung der patriarchalen Vormachtstellung. Denn diese exemplarische Marginalisierung verdecke andere Formen sozialer Ausgrenzung, mit denen keine vergleichbare Privilegierung verbunden sei. Der diskursiven Marginalisierung der männlichen Künstler, die diese letztlich nicht ausschließe, sondern ihnen vielmehr eine zentrale Stellung im „Unternehmen Kultur“ zuweise, stehe die reale Marginalisierung jener

223 Rogoffs Text ist nur eines der Beispiele neuerer Analysen zum Verhältnis von Autorschaft, Macht und sozialer Geschlechterdifferenz. Vgl. Hoffmann-Curtius/Wenk 1997, Nochlin 1996 [1971], Pollock 1996, Salomon 1993, Solomon-Godeau 1991. 224 Im Bezug auf den Künstlertypus des „Bohémien“ entwickeln bereits Kris und Kurz in ihrer affirmativen Be- schreibung unterschiedlicher „sozialer Typen“ des bildenden Künstlers ein reizvolles Bild für diese ambivalente ‘topographische‘ Stellung: „Das akademische Schulhaupt steht neben dem revolutionären Neuerer, der Künstler als Universalgenie oder als Edelmann neben dem Einsamen und Verkannten, und diese Vielfalt sozialer Bildung geht in das Künstlervolk des 19. Jahrhunderts ein, dem der gefeierte Liebling von Fürst und Land ebenso zuge- hört wie der Bohémien mit dem Schlapphut, der in Montmartre, Schwabing oder Greenwich Village, an den Toren der Gemeinschaft, seiner Vorstellung vom Genie nachlebt (...).“ (Kris/Kurz 1934, 16; Hervorh. M.H.). 240 Gruppen entgegen, die nicht der dominanten Norm heterosexuell-männlicher Identität ent- sprächen.225 Der männliche Künstler, so ließe sich diese These zuspitzen, besetzt innerhalb des gesellschaftlich sanktionierten Rollenspektrums das Feld der Marginalisierung. In dieser Rolle ist der Künstlers wesentlich daran beteiligt, die Problematik tatsächlich marginalisierter Gruppen zu verbergen und zudem, durch die Behauptung einer dialektischen Verbindung von Marginalität und Zentralität, das Phänomen der gesellschaftlichen Marginalisierung an sich zu verharmlosen.

„In dieser Lesart wird deutlich, daß die Moderne das Konstrukt Marginalität geschlechtsspezifisch differenziert. Gesellschaftliche Marginalität ist für den männlichen Künstler der Avantgarde eine heroische, kulturell privilegierte Form des Daseins, während die Marginalität des weiblichen Künstlers oder des Modells, mit allen besonderen historischen Implikationen für Geschlecht und Sozialität, einen Ausschluß bedeutet aus der großen Unternehmung Kultur.“ (Rogoff 1989, 37)

Mit Blick auf mein Untersuchungsmaterial ließe sich im Anschluß an Rogoff von einem Mu- ster des ‘heroischen Konflikts‘ sprechen, in dem der Künstler einer dialektischen Spannung ausgesetzt wird: Seiner geistigen Potenz, die im Werk ihren Ausdruck findet, kommt (aus der Sicht seiner Selbst, aus der Sicht einer späteren Zeit oder aus der Sicht einer Gruppe von Zeit- genossen des Künstlers, die sich mit elitärem Gestus vom gesellschaftlichen Umfeld aus- und an den Künstler anschließt) eine zentrale Position für die Kultur seiner Gegenwart und eine richtungsweisende Bedeutung für die Zukunft zu. Allerdings vermag er diese Potenz nur ver- schlüsselt zum Ausdruck bringen und ist (durch sein eigenes Verhalten oder durch die Aus- grenzungsbestrebungen der Majorität seiner Zeitgenossen) auf eine Rolle als Randexistenz verwiesen. Wie die vorangegangene Analyse gezeigt hat, ist dieses Muster von zentraler Bedeutung für das Rembrandtbild des Untersuchungszeitraums.

(4) Die Perspektive, die Rogoffs Modell zugrunde liegt, unterscheidet sich von der eines kom- pensatorischen Ansatzes wesentlich durch ihre Positivität. Die Figur des Künstlers wird hier nicht allein als Folge gesellschaftlicher Entwicklungen dargestellt, sondern ausdrücklich als ein produktives Element verstanden, das in diese Entwicklungen integriert ist und seinerseits

225 Als machtstrategischer Hintergrund fungiert dabei die Vorstellung, daß heterosexuelle Männlichkeit (‘Männ- lichkeit‘ wird hier ausdrücklich als sozial konstruierte und differenzierte Kategorie verstanden, nicht etwa als biologisch determiniert) als dominantes Identitätskonzept der bürgerlich-modernen Gesellschaft stetig darum bemüht ist, ihre zentrale Position in der Kultur zu behaupten. Eine der wichtigsten Erfolgsstrategien dieses Iden- titätskonzeptes besteht darin, selbst „nicht Gegenstand des Diskurses zu werden“: „Heterosexuelle Männlichkeit hat sich in die Vorstellung geflüchtet, daß ihre sexuelle Identität absolut sei. Ihre Dominanz und die Ideologien, die sie tragen, indem sie andere Erfahrungen zum Schweigen bringen, die Machtstrukturen und Privilegien, die sie verschleiert, die alltägliche aktive Unterordnung aller Formen des ‘Anderen‘ - Frauen, Schwule, sexuelle Abweichungen und Manierismen, der offene Rassismus kolonialen Erbes - all das wird aufrechterhalten durch die Fähigkeit, selbst außer Frage zu bleiben (...).“ (Rogoff 1989, 21). 241 eine aktive Position in den Prozessen der Verteilung und Bewahrung von Macht einnimmt. Mit der Beschreibung dieser Funktion der Figur des autonomen Künstlersubjekts als eines Faktors männlicher Machtbehauptung ist zudem eine Prämisse in Frage gestellt, die einem sozialgeschichtlich-kompensatorischen Konzept zumeist unausgesprochen vorangeht: die affirmative Haltung gegenüber der modernen Idee von Subjektivität als gleichsam natürlicher Ausführung eines im menschlichen Individuum angelegten Programms. In seiner komplexen Beschreibung der Machtstrukturen moderner Gesellschaften hat Michel Foucault die Funktion des Subjektivitätskonzeptes analysiert. Foucault stellt es selbst als einen wesentlichen Inhalt seiner Arbeit dar, „eine Geschichte der verschiedenen Verfahren zu entwerfen, durch die in unserer Kultur Menschen zu Subjekten gemacht werden“. Einen Schwerpunkt der damit ver- bundenen Untersuchungen bilden die sogenannten „Selbsttechniken“, „die Art und Weise, in der ein Mensch sich selber in ein Subjekt verwandelt“ (Foucault 1994, 243).

„Der Begriff der Technologien des Selbst rückt das Verhältnis des Individuums zu sich selbst in den Mittelpunkt. Diese Akzentuierung impliziert jedoch keine Neuauflage der Subjektphilosophie, sondern geht in eine andere Richtung. Sie eröffnet einen völlig neuen Raum von Geschichtlichkeit, der die Philosophie des Subjekts durch die Geschichte der Subjektivitäten ersetzt.“ (Lemke 1997, 262)

Diese Aussage Thomas Lemkes verweist auf die elementare Umkehrung, die Foucaults Per- spektive auf das moderne Konzept des Subjekts kennzeichnet. Im Gegensatz zur Vorstellung vom selbstbewußten Subjekt als einer im menschlichen Individuum angelegten Essenz, die seit Descartes‘ „Ich denke, also bin ich“ ihre Erfüllung gefunden habe, beschreibt Foucault moderne Subjektivität nicht als Umsetzung einer anthropologischen Anlage, sondern als ein historisch gebundenes Schema des Selbstverständnisses. Was der Subjektphilosophie seit Descartes als Selbsterkenntnis, als Prozeß der Befreiung des Individuums erschien, versteht Foucault lediglich als eine veränderte Form der Unterwerfung, in welcher sich die Einflüsse der Macht im Individuum selbst ansiedeln und zu einer „Selbstregulierung“ in Gestalt der Subjektivität führen.226

„Diese Form von Macht wird im unmittelbaren Alltagsleben spürbar, welches das Individuum in Kategorien einteilt, ihm seine Individualität aufprägt, es an seine Identität fesselt, ihm ein Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muß und das andere in ihm anerkennen müssen. Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht.“ (Foucault 1994, 246)

226 Peter Bürger und andere haben darauf hingewiesen, daß Foucault das Prinzip der Umkehrung sowie weitere Aspekte seiner kritischen Subjekttheorie im Anschluß an Nietzsche formuliert (Bürger 2000, 58). 242 Einen Ausgangspunkt für diese Konzeption bildet für Foucault der Hinweis auf die Doppel- deutigkeit des Begriffs „Subjekt“:

„Das Wort Subjekt hat einen zweifachen Sinn: vermittels Kontrolle und Abhängigkeit jemandem unterworfen sein und durch Bewußtsein und Selbsterkenntnis seiner eigenen Identität verhaftet sein. Beide Bedeutungen unterstellen eine Form von Macht, die einen unterwirft und zu jemandes Subjekt macht.“ (Foucault 1994, 246 f.)

Die Subjektivierung als Form der Selbstregulierung hat elementaren Anteil am Funktionieren des modernen Staates, dessen Charakteristikum Foucault darin sieht, daß er „eine zugleich individualisierende und totalisierende Form der Macht“ darstellt (ebd., 248). „Die ‘Freiheit‘ der Subjekte und die ‘Macht‘ des Staates sind einander nicht äußerlich, sondern konstitutiv aufeinander bezogen“ (Lemke 1997, 152). In seinen historischen Studien zur „Geschichte der Sexualität“ macht Foucault als entscheidende Stufe der „Genealogie des modernen Subjekts“ die Entwicklung der Pastoralmacht aus. Diese spezifische Form der Regierung von Indivi- duen, die im Übergang von der antiken zur christlichen Gesellschaft erstmals in Erscheinung tritt, ist nach Foucault auch im modernen, säkularisierten Staat weiterhin wirksam.227 Im Ge- gensatz zu früheren Regierungskonzeptionen, ist das christliche Pastorat nicht auf die Len- kung eines Gemeinwesens ausgerichtet, sondern auf die Lenkung von Menschen. Dies kommt in der Hirtenmetapher zum Ausdruck. „Die Macht des Hirten wird nicht über ein Gebiet oder eine Stadt, sondern über eine Herde (...) ausgeübt“ (Lemke 1997, 154). Die Aufgabe des christlichen Hirten-Gottes ist dabei die Errettung der Herde. Dazu ist jedoch eine „dauernde, individualisierte und zielgerichtete Hut notwendig, eine umfassende Aufsicht über die Ge- samtheit der Herde und über jedes einzelne Schaf“ (ebd.). Die Steuerung durch das christliche Pastorat löst sich dabei vom „konkreten Handeln der Individuen, um in deren Vorfeld auf ihre Gedanken, Willen, Wünsche, Begierden etc. Einfluß zu nehmen, sie zu korrigieren und zu steuern“ (ebd., 155):

„Die Besonderheit dieser Macht ist es, dass sie nicht nur die Individuen zwingt, in einer bestimm- ten Weise zu handeln, sondern ihnen darüber hinaus Wahrheitsakte abverlangt, d.h. sie dazu bringt, sich zu (er-)kennen, zu entdecken und die Beziehungen zu sich selbst zu strukturieren. Diese Zwangsbeziehung zu sich selbst in Begriffen der Wahrheit ist das fundamentale Charakteristikum der Pastoralmacht und definiert eine Regierungstechnologie, die Subjekte mittels der Wahrheit ‘führt‘.“ (Lemke 1997, 294)

227 „Foucaults Regierungsanalyse liegt die Annahme zugrunde, dass die pastoralen Führungstechniken Subjekti- vierungsformen ausarbeiten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft historisch aufbau- ten“ (Lemke 1997, 157). 243 Vermittelt durch die Herrschaftspraxis des Pastorats werden so die Instanzen der Kontrolle und der Steuerung der Individuen in diese selbst hinein verlagert. Selbstbefragung und Selbst- erkenntnis werden damit nicht mehr als Wege zur Befreiung des Subjekts aus der Repression durch eine ihm äußerliche Macht verstanden, sondern als dezentralisierte Operationen dieser Macht, durch deren Ausübung sich die Individuen selbst regulieren. Subjektivität wird „nicht als eine abstrakt-natürliche Konstante, sondern als eine konkret- historische Konstruktion aufgefasst“ (ebd., 266). Das Subjekt ist damit als eine „historische Form und das Produkt einer spezifischen Organisation von Subjektivität“ verstanden (ebd., 267).

„[Die] Historisierung der Subjektivierungsprozesse erlaubt es Foucault, mit jeder Vorstellung einer souveränen und konstitutiven Subjektivität zu brechen, indem er nicht ein Subjekt-Wesen unter- stellt, sondern Subjektivität im Sinne einer Subjekt-Werdung betrachtet. (...) Das Subjekt ist weder die einzige Form menschlicher Existenz noch die Quelle jeglicher Erfahrung: es gibt ‘keine univer- selle Form des Subjekts, die man überall wieder finden könnte‘, weil das Subjekt eine Form und keine Substanz ist.“ (Lemke 1997, 266; Binnenzitat Foucault 1984, 137)

Foucault demonstriert die Konsequenzen dieser theoretischen Position am Beispiel einer Re- vision der Geschichte der Sexualität. In diesem thematischen Bereich ist eine Repressionshy- pothese sehr verbreitet, die in den Diskursen um die Sexualität, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft seit dem viktorianischen Zeitalter zirkulieren, Strategien der Unterdrückung ei- ner natürlichen Sexualität am Werk sieht. Die Befreiung der Sexualität aus diesen Zwängen wird demnach zu einer politischen Aufgabe, die als Akt der Befreiung des Subjekts aus ihm äußerlichen Reglementierungen und somit als Schritt des Subjekts auf dem Weg zu sich selbst zu verstehen wäre. Foucault beschreibt dagegen die Historizität der Vorstellung von einer natürlichen Sexualität und stellt diese als Element jenes breiten Diskurses um die Sexualität dar, gegen den sich die Repressionshypothese richtet. Er versteht die Identifikation moderner Individuen über ihre Sexualität nicht als Verfahren der Ablösung von den Einflüssen der Macht, sondern sieht darin vielmehr eine komplexe Variante der Ausübung von Pastoral- macht. Indem sich das Subjekt selbst befragt, indem es sich selbst zu erkennen versucht, in- dem es selbst ein Wissen über seine Sexualität konzipiert, bindet es sich an neue Regeln und reguliert sich so selbst.

An diese Überlegungen läßt sich die Frage nach der Funktion der diskursiven Künstlerfigur in der Moderne anschließen. Ausgehend von der These, daß mit dieser Figur ein Modell zur Veranschaulichung der Vorstellungen von moderner Subjektivität entwickelt wird, erscheint mir ein Punkt als besonders interessant:

244 Die Literatur zur modernen Künstlerfigur kreist um das Problem der Stellung des Individu- ums zur Gesellschaft, speziell der Abgrenzung von seiner Umgebung. Zentral ist dabei die Vorstellung, im praktizierten Künstlertum finde die singuläre Subjektivität des Individuums ihren Ausdruck. Ähnlich dem Prozeß der Befreiung einer ‘ursprünglichen Sexualität‘ wird auch dieser Vorgang als eine Ablegung äußerlicher Zwänge verstanden. Ähnlich wie dort wird auch hier das zu Erreichende als Erfüllung eines Determinismus verstanden. Das Sub- jekt, hier als eine vorgängige Urgestalt, die ihrer Entdeckung unter den äußeren Formen gesellschaftlichen Scheins harrt, wird durch die künstlerische Praxis bloßgelegt. Der ver- meintliche Akt der Befreiung stellt sich als Zwang zur Subjektivierung dar. Im Anschluß an Foucault ließe sich die diskursive Figur des modernen Künstlers somit als ein Demonstrationsobjekt verstehen, das modernen Individuen ein Verständnis für die Prozesse der Subjektivierung vermittelt und ihnen so Orientierungspunkte zur Konzeption einer Iden- tität bereitstellt, die ihnen ein erfolgreiches und regelgerechtes Agieren in der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht.

3.3 Autonomes Kunstschaffen und Hermeneutik als Arbeit am Subjekt

Die Entwicklung der modernen Hermeneutik und die Entstehung des ästhetischen Diskurses im 19. Jahrhundert können in einen direkten Zusammenhang gebracht werden. Für die litera- turgeschichtlichen Phänomene, die sich weitgehend analog zu unserem Material verhalten, hat Christa Karpenstein-Eßbach dies beschrieben. In beiden Fällen, Literatur wie bildender Kunst, ist um 1800 ein historischer Wandel der Prämissen der Produktion und Rezeption auszuma- chen. So tritt in der literarischen Praxis „die Rhetorik, deren Regeln zum Auffinden und Dar- stellen von Wahrheit gelehrt und gelernt werden konnten, hinter der Individualisierung des Schreibens zurück. Die Verbindung von Gedanken und Ideen ist keine Sache mehr der Ein- haltung poetischer oder rhetorischer Regeln, sie wird vielmehr zu einer je persönlichen An- gelegenheit, die die Unterscheidung zwischen dem eigenen und dem fremden Gedanken er- möglicht“ (Karpenstein-Eßbach 1985, 171).228 Die Aufgabe der Kunst verändert sich. An die Stelle der Repräsentation einer Weltordnung, deren Gültigkeit und Bedeutsamkeit durch eine göttliche Instanz gewährleistet wird, tritt der Ausdruck der künstlerischen Subjektivität.229 Aus dem allgemein verfügbaren Material der Natur (bzw. der Sprache) gestaltet der

228 In der Kunstgeschichte ist der Übergang zu einer Individualisierung der Kunstproduktion mehrfach am Bei- spiel des Künstlers Asmus Jacob Carstens geschildert worden (vgl. Busch 1982, 13 ff.; Bätschmann 1997, 58 ff.; vgl. auch Busch 1993). 229 Michel Foucault hat diese Phase der Ablösung der klassischen Repräsentation in Die Ordnung der Dinge aus- führlich beschrieben (Foucault 1974). Leider hat sich die kunstgeschichtliche Rezeption dieses Buches bisher auf die Lektüre seiner Einleitung, einer elaborierten Beschreibung von Velasquez' Die Hoffräulein, konzentriert und weniger auf die Konsequenzen der von Foucault beschriebenen historischen Veränderungen der Episteme des Wissens auf die modernen Konzepte der Kunstgeschichtsschreibung. 245 künstlerisch-literarische Urheber nun ein Werk, dessen Eigentumsrechte er beanspruchen kann und das zugleich einen Beleg für seine Autonomie als schöpferisches Subjekt liefert. Mit der Unterscheidung zwischen ‘eigenem‘ und ‘fremdem‘ Gedankengut tritt dabei auch das Problem des ‘Originals‘ auf den Plan. Und eine weitere Praxis wird angesichts des individuellen Ausdrucks in der Kunst zur Notwendigkeit: die hermeneutische Interpretation. Wo sich die Subjektivität des schöpferischen Individuums in einer jeweils eigenen Sprache ausdrückt, reicht es nicht länger aus, überindividuelle Regeln der Poetik und Rhetorik zu kennen, um zu ‘verstehen‘. Künstlerischer Praxis bieten sich auf dieser veränderten Basis zwei Möglichkeiten: Entweder will sich das Subjekt in seiner inneren Sphäre verbergen, oder es unternimmt den Versuch, diese innere Sphäre durch die Gestaltung einer textuellen Oberfläche zu artikulieren, was je- doch niemals in adäquater Weise, sondern bestenfalls in verschlüsselter Form gelingen kann (Gumbrecht 1997, 422). Beide Fälle verlangen nach der Interpretation, deren Bemühen es ist, die Wahrheit über die innere Sphäre des Künstlers aus den Ergebnissen dieser Strategien des Verbergens oder des Enthüllens herauszufiltern.

„Mit der Möglichkeit, daß nicht verstanden werden kann, beginnt nun das Bemühen um das Ver- stehen.“ (Karpenstein-Eßbach 1985, 172)

Für unser Problem der Gestalt und Funktion autonomer Künstlersubjekte der Moderne sind diese Zusammenhänge elementar. Denn als diskursive Figur tritt der moderne Autor (Ur- heber/Künstler) erst in der methodischen Praxis der Interpretation in Erscheinung, „erst dort, wo eine individuelle Gedankenverbindung eines Autors als geheime Wahrheit des Textes un- terstellt wird, um in der verstehenden Rekonstruktion und der kommentierenden Interpretation aufgedeckt zu werden“, erst dort erhält das Werk seinen Herrn (ebd.). In dieser Darstellung der historischen Entstehungszusammenhänge von autonomem Kunst- schaffen, Hermeneutik und modernem Urheberrecht wird nochmals deutlich, daß die Vor- stellung vom Autor als sekundäres Phänomen aus der Beschreibung und Deutung des Werks hervorgeht. Das diskursive Erscheinen des Autors führt über das Verständnis von Artefakten als ‘Werken‘, das heißt als Entäußerungen, die einem Individuum eigentümlich angehören, die auf dessen Existenz und authentische Charakteristik verweisen und die in einem konge- nialen Deutungsprozeß verstanden werden können.

Die Verbindungen innerhalb dieses Feldes, das die Basis für das Auftreten der diskursiven Figur des modernen Künstlersubjekts (u.a. in der Gestalt Rembrandts) bildet, können nun, soweit erkennbar, noch einmal nachgezeichnet werden. In der Neuformulierung des ästheti- schen Diskurses im Kontext der Romantik (um 1800) kommt der Vorstellung von einer ‘ei- gentümlichen‘ Gestalt künstlerischer Werke und der darin zum Ausdruck gebrachten Subjek- 246 tivität ihrer Urheber eine zentrale Position zu.230 Zur gleichen Zeit kann die Entwicklung einer juristischen Formel der Eigentümlichkeit geistiger und bildkünstlerischer Güter auf Basis des Naturrechtsprinzips beobachtet werden. Dabei wird der Eigentumsanspruch des ‘Autors‘ durch die Vorstellung legitimiert, daß dieser das ‘Werk‘ mit Hilfe seiner Subjektivität, einer ihm allein zugehörigen inneren Strukturiertheit, in eine unnachahmliche und deshalb auch juristisch ‘eigentümliche‘ Form brächte. Um dieses Konzepts von Eigentümlichkeit entfaltet sich, zum Teil sicher zu dessen Plausibili- sierung, ein Diskurs des ‘Verstehens‘ der fraglichen Artefakte. Eine Funktion dieses Diskur- ses kann in einer fortwährenden Thematisierung von Grenzziehungen gesehen werden: Die Grenze zwischen dem Individuum und seiner Umwelt entspricht dabei einem konstitutiven Code der bürgerlichen Gesellschaft, ‘öffentlich vs. privat‘, die Grenzziehung zwischen den einzelnen Individuen stabilisiert die Vorstellung von der Subjektivität jedes einzelnen Bür- gers. Künstler und Autoren, die Subjekte des ästhetischen Diskurses, werden im Zuge herme- neutischer Praxis als diskursive Figuren aus einem nach bestimmten Kriterien selektierten Korpus von Artefakten herauspräpariert. Ihre Legitimität beziehen diese diskursiven Figuren aus ihrer Identifikation mit historisch-empirischen Personen; ihre Autorität erhalten sie aus der ihrerseits in einem diskursiven Prozeß entwickelten Bedeutung des fraglichen Werkkor- pus. Letztlich ‘ist‘ dieses Gesamtwerk der diskursive Künstler, wird es doch als sinnlich er- fahrbarer und sinnvoll deutbarer Ausdruck von dessen spezifischer Subjektivität verstanden. Das Werk ist materieller Beleg seiner Existenz. Dank der Produktivität der Hermeneutik des Subjekts, unter anderem in der kunstwissenschaftlichen Literatur, werden Kunstwerke zu Objekten, die im Rahmen ritualisierter Betrachtungsprozesse den Individuen der bürgerlichen Gesellschaft die Vorstellung von ihrer jeweils eigenen Existenz als autonome Subjekte bestä- tigen helfen.

230 Im Hinblick auf die Ursachen dieses Phänomens konkurrieren verschiedene Modelle. So wird der Impuls zu den Entwicklungen u.a. in den sozialen Veränderungen in Folge der sich konstituierenden bürgerlichen Indu- striegesellschaft, in der juristischen Notwendigkeiten neuer Regelungen zwischen Autor und Verleger (bzw. Bildkünstler, Fotografen und Reproduktionsdrucker) oder in der Notwendigkeit einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft in mehrere autopoietische Systeme zwecks der Bewältigung einer stetig wachsenden Komplexität gesehen. Für die Beschreibung meines Phänomenzusammenhangs erscheint eine einseitige Lösung dieser Kau- salitätsfrage als verzichtbar, weshalb ich der Pragmatik halber von einem polykausalen Hintergrund sprechen möchte. 247 248

Dritter Teil

Rezeptionsgeschichtliche Fallstudien

249 250

Als ein Ergebnis der bisherigen Untersuchung kann festgehalten werden, daß die Vorstellung von der Künstlerfigur ihren Ausgang bei den Werken nimmt, die diesem Künstler zugeschrie- ben werden. Vergleicht man die einzelnen Bestandteile des Gesamtwerks hinsichtlich ihrer diskursiven Relevanz, so sind allerdings starke Unterschiede auszumachen. Analog zur Ver- änderung des Künstlerbildes rücken in verschiedenen Phasen der Rezeptionsgeschichte auch andere Werke in den Blickpunkt, oder es verändern sich die Gesichtspunkte, unter denen diese Werke betrachtet werden. Um die Frage nach der Künstlerfigur zu vertiefen, erscheint es deshalb als sinnvoll, sich mit der Rezeption jener Werke zu befassen, denen in einer be- stimmten Zeit eine zentrale Bedeutung für das Verständnis des Künstlers zugesprochen wurde. Die abschließenden beiden Kapiteln dieser Untersuchung konzentrieren sich deshalb auf die Nachtwache und auf Rembrandts Selbstbildnisse, ein einzelnes Gemälde und eine Gruppe bildnerischer Arbeiten, die in der zweiten Phase der modernen Rembrandtrezeption als Schlüsselwerke verstanden wurden.1 Es ist zu fragen, wann diese Werke in diese Position aufrückten und welche Ursachen dafür ausgemacht werden können. Dabei wird sich noch einmal die methodische Perspektive der Untersuchung verändern. Die Aufmerksamkeit soll in gleicher Weise Fragen der Topik, Fragen der Chronologie und Fragen der Unterscheidung von Diskursebenen gelten. Entsprechend können auch drei Ziele dieses dritten Teils ausge- macht werden. Zunächst ist es mir wichtig, wesentliche Beobachtungen des zweiten Teils noch einmal aus einer anderen Richtung darzustellen und gleichsam zu bündeln. Dann soll die Entwicklungskomponente, die bisher vor allem im ersten Teil und in der ‘Passage‘ (Zweiter Teil, Abschnitt 1.4) zur Geltung kam, wieder aufgegriffen und dadurch im Verhältnis zur syn- chronen Perspektive des vorangegangenen Teils aufgewertet werden. Schließlich möchte ich weitere Belege für die enge Verflechtung von solchen Texten präsentieren, die in einer konventionellen Methodik durch strenge Diskursgrenzen voneinander getrennt und so von einer vergleichenden Analyse ausgeschlossen würden. Die Auswahl der beiden Themen für diese Fallstudien hat sich im Verlauf der Materialsich- tung gleichsam ohne mein Zutun eingestellt. Die folgenden Seiten werden zeigen, daß die

1 Aufgrund der quantitativen Präsenz, die sie in der modernen Rembrandtrezeption einnehmen, wären auch die religiösen Historien (Hundertguldenblatt, Ecce Homo, Opfer Manoahs, Christus in Emmaus, Der barmherzige Samariter etc.) als Werkgruppe für eine Fallstudie in Frage gekommen. Es gibt verschiedene Gründe, warum auf eine Beschäftigung mit dieser Werkgruppe hier verzichtet wird. Zunächst läßt sich an dieser Thematik kaum eine markante Differenz zwischen moderner und vormoderner Rezeption aufzeigen. Es wäre hier also eher auf Konti- nuitäten hinzuweisen gewesen, die mit der Konstanz eines religiösen Zweiges der Rembrandtrezeption verbun- den sind. Daneben steht mit der Vielzahl der Einzelwerke, deren literarisches Echo hier diskutiert werden müßte, ein pragmatisches Problem. Ausschlaggebend ist jedoch die Beobachtung, daß den religiösen Historien keine hinreichende Funktion für die Vorstellung vom ‘modernen Rembrandt‘ zukommt, der mein besonderes Interesse gilt. 251 moderne Vorstellung von Rembrandt als einem Vorläufer autonomen Künstlertums in der Auseinandersetzung mit der Nachtwache und den Selbstbildnissen beispielhaft beobachtet werden kann. Die Reihenfolge der Fallstudien folgt der Chronologie, in der diese Werke ihre zentrale Stellung erreichten: Die relevanten Veränderungen in der Beurteilung der Nachtwa- che sind zwischen 1875 und 1890 zu beobachten, während sich die Umwertung der Selbst- bildnisse erst nach 1890 vollzieht. Mittels der ausgewählten Beispiele werden somit zugleich zwei Teilabschnitte der modernen Rembrandtrezeption beschrieben.

1 Die Ablehnung der Nachtwache als Ursprungsmythos der künstlerischen Autonomie

1.1 Rezeptionsgeschichtlicher Stellenwert der Nachtwache

Die Bekanntheit des Bildes, sein Ruf als Hauptwerk Rembrandts, kann schon zu Beginn der modernen Rezeption vorausgesetzt werden. Das vorliegende Material gestattet die Verallge- meinerung, daß, sofern sich ältere Autoren überhaupt zu einzelnen Gemälden äußerten,2 die Nachtwache eine zentrale Stellung einnahm und daß dieses Bild in der Regel als höchster Ausdruck von Rembrandts Kunst oder zumindest als radikalste Umsetzung seiner ästheti- schen Ideale dargestellt wurde. Als Beispiel sei aus C. J. Nieuwenhuys‘ Review of the lives and works of some of the most eminent painters (London 1834) zitiert, ein Buch, das trotz seines universalistischen Titels auf niederländische Maler spezialisiert ist und als erste englischsprachige Publikation die Quellen zum Bankrott Rembrandts veröffentlichte. Dort heißt es über die Nachtwache:

„Aber die berühmteste aller Arbeiten Rembrandts ist sein großes Bild, beendet 1642, bekannt unter dem Namen La garde de Nuit oder La Bourgeoisie Armée d’Amsterdam.“ (Nieuwenhuys 1834, 8)3

Auch Gustave Planche, dessen Urteile des Jahres 1853 in vielen Teilen noch von klassizisti- schen Überlieferungen und akademischen Kriterien ausgehen, läßt über die Wertschätzung des Bildes keinen Zweifel:

„Die Nachtwache, aufbewahrt im Museum von Amsterdam, ist nach einstimmigem Urteil aller Künstler, nach dem Urteil selbst jener, die weit davon entfernt sind, die Lehrmeinungen Rem-

2 Das malerische Werk bildet erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das unangefochtene Zen- trum der Publikationen. Zuvor ist der Bezug auf die Radierungen häufig, was sich durch deren originale Greif- barkeit an mehreren Orten und durch das Interesse der Sammler erklärt, die als wesentliche Adressaten der Werkkataloge Gersaints und Anderer zu betrachten sind. 3 „But the most renowned of all Rembrandt’s works is his grand picture, finished in 1642, known by the name of La Garde de Nuit, or La Bourgeoisie Armée d’Amsterdam.“ (Nieuwenhuys 1834, 8). 252 brandts zu teilen, ein Wunder der Durchführung. Vielleic ht ist die Magie der Farbe niemals weiter vorangetrieben worden.“ (Planche 1853, 264)4

In seiner mit zwei Stichen äußerst spärlich bebilderten Rembrandt-Monographie stellt Carel Vosmaers fest, dieses Bild sei so berühmt, daß es uns allen vor Augen stünde (Vosmaer 1868, 151). Wenn also in späteren Texten Wertungen wie „Wunderwerk“ (Seeck 1898, 55), „fieb- rigste[r], (...) phänomenalste[r] aller Malerträume“ (Veth 1906, 95)5 oder „gewaltigste Äuße- rung von Rembrandts großartiger Malkunst“ (Israels 1910, 128) an das Bild gerichtet werden, haben wir es hier einmal nicht mit umgekehrten Vorzeichen zu tun - obwohl natürlich die ältere Literatur die Berühmtheit und spektakuläre Wirkung des Bildes nicht mit dessen bedin- gungsloser Vorbildlichkeit gleichsetzte. Im Zuge der Neubewertung der niederländischen Malerei durch die französischen Autoren der Jahrhundertmitte werden zwar unterschiedlichste Bildgattungen berücksichtigt, der Schwer- punkt der Betrachtungen liegt jedoch auf Gruppendarstellungen, auf großformatigen, mehrfi- gurigen Gemälden.6 Als Schlüsselgattung zum Verständnis der holländischen Malerei werden die Gruppenporträts nachdrücklich bei Théophile Thoré (1858/1860) dargestellt, eine Ein- schätzung, die wir auch in den deutschsprachigen Texten der Jahrhundertwende wiederfinden (Lichtwark 1885, Riegl 1902). Ein Vergleich der einflußreichen Autoren Thoré und Fromentin ist in diesem Zusammenhang besonders interessant. Thoré sucht im Gruppenbildnis den selbstbewußten Bürger in Aktion für das öffentliche Wohl (Thoré 1858, 322f.), Fromentin befragt sie dagegen als Hauptwerke im klassischen Sinne, Werke, die zum Vergleich mit Rubens‘ Antwerpener Kreuzabnahme herangezogen werden können (1876).7 Was bei Fromentin deutlich wird, gilt durchaus auch für Thoré: Der Blick dieser Betrachter ist noch von einer Schulung geprägt, gegen die sie teil- weise gezielt anschreiben, nämlich von der akademischen Hierarchie der Bildgattungen, die dem Historienbild den höchsten Rang einräumt. Gruppenbilder wie Rembrandts Anatomie des Dr. Tulp, die Nachtwache oder die Staalmeesters ähneln in Hinsicht auf ihr monumentales Format, die mehrfigurige Motivik und die Lebensgröße der Figuren der formalen Charakte-

4 „La Ronde de nuit, placée au musée d’Amsterdam, est, de l’aveu de tous les artistes, de l’aveu même de ceux qui sont loin de partager les doctrines de Rembrandt, un prodige d’exécution. Jamais peut-être la magie de la couleur n’a été pousée plus loin.“ (Planche 1853, 264). 5 „Het is het zwaar op ons aandruischende van een ontzachlijke verschijning, versmeltend in de tonen-rijkdom van een alle schakeeringen ontledende waarneming, verheerlijkt in de dichterlijke nevelen van den koortsachtig- sten, den fenomenaalsten aller schildersdroomen.“ (Veth 1906, 95). 6 Damit soll nicht bestritten werden, daß auch Porträts, Stilleben, Landschaften und religiöse Historien das Inter- esse von Künstlern und Kunstkritikern weckten (vgl. Chu 1974). 7 Diese These läßt sich bereits in der Gesamtanlage seines Buches Les maîtres d’autrefois belegen, die Rubens und Rembrandt als Leitfiguren zweier künstlerischer Schulen auffaßt und, im Gegensatz zu Thoré, keine Be- wertung mit Bezug auf politische Implikationen vornimmt. In der Betrachtung beider Künstler nehmen die mo - numentalen Gemälde zentrale Positionen ein. Den Historienbildern von Rubens werden somit Nachtwache und Staalmeesters als Hauptwerke der holländischen Schule gegenübergestellt. 253 ristik des Historienbildes, sei es nun christlicher, mythologischer oder historischer Thematik.8 Ich schlage deshalb vor, das zentrale Interesse an der Nachtwache zumindest partiell als Folge der traditionellen Nobilitierung des Historienbildes anzusehen.9 Es ließe sich dabei von einer ‘historischen Blickprägung‘ sprechen. Diese Einschätzung wird durch die Beobachtung ge- stützt, daß die untersuchten Autoren auch die weniger monumentale Anatomie des Dr. Tulp und schließlich die Staalmeesters mit besonderer Aufmerksamkeit bedenken. Die drei ge- nannten Bildnisse dienen den modernen Künstlerbiographen in der Regel als Markierungen, als Kulminationspunkte, an denen sich die Werkeinteilung nach dem trinitären Ordnungs- muster von Früh-, Haupt- und Spätwerk exemplifizieren läßt.10 Als topisches Element der Auseinandersetzung mit den Gruppenbildnissen kann auch deren Einstufung als ‘typisch holländische‘ Bildgattung gelten. Als solche können sie in akademi- scher Perspektive als Gegenpol zu den klassischen Gattungen der Renaissancekunst fungie- ren, aus republikanischer Sicht können sie Nationalstolz und Selbstbewußtsein der Bürger Hollands verkörpern oder später, etwa bei Lichtwark (1885) oder Riegl (1902), dem nordi- schen, holländischen oder germanischen Nationalcharakter im Gegensatz zum südlich-italie- nisch-romanischen Ausdruck verleihen. Auch in diesen Argumentationen bleibt der monumentale Charakter der Bilder entscheidend, der sie dem akademischen Konzept des Historienbildes naherückt. Diese Verknüpfung wird im Diskurs selbst reflektiert.11 So schreibt Wilhelm Lübke (1877) zu den Staalmeesters:

„Nur ein ruhiges Beisammensein würdiger Männer zu geschäftlicher Berathung; aber eine Großar- tigkeit der Charakteristik, ein schlichter Ernst des Ausdrucks, daß man auf die wichtigsten Staats- verhandlungen schließen möchte (...). Vor solchen Werken erkennt man, daß dies die eigentlichen Historienbilder der holländischen Kunst sind.“ (Lübke 1877, 222)

Am repräsentativen Bild vom Zusammensein „würdiger Männer“ ist hier die Suche des an akademischen Maßstäben geschulten Kunstkenners nach würdigen ‘Hauptwerken‘ erfolg- reich. Lübke verwendet den Begriff „Historienbilder“ als eine Art Ehrentitel, er ehrt damit die hervorragende Bedeutung der Gruppenbildnisse und kennzeichnet sie als ‘Werke der wichtig-

8 Zu Begriff und Geschichte des Historienbildes vgl. Gaehtgens 1996. 9 Diese These soll zwei geläufige Erklärungsmodelle ergänzen. Ein wirkungspsychologisches Modell würde die hohe Wertschätzung eines Bildes aus dessen emotionalisierender Potenz erklären, aus seiner Wirkung auf die Betrachtenden. Das die Nachtwache eine derartigen ‘Effekt‘ auf ihr Publikum haben kann, machen zahlreiche Beschreibungen des Bildes deutlich. Im Anschluß daran ist als zweites Erklärungsmodell die auratisierende Aufladung zu bedenken, die ein solches Bild durch seine fortgesetzte Stilisierung zum historischen Meisterwerk und nicht zuletzt durch seine popularisierende Reproduktion erfährt. 10 Die Irritationen zwischen einem Verständnis als Historienbild und als Gruppenporträt wird bei Haverkamp - Begemann (1982) durch das Konzept des Rollenporträts aufgehoben. 11 Zur Diskussion um die Kategorisierung holländischer Schützenstücke als Gruppenporträts oder als Historien- bilder vgl. auch Imdahl 1966. 254 sten Gattung‘. Demselben Gemälde hat auch Anton Springer (1886) die Stellung eines Histo- rienbildes zugesprochen. Als fiktiven Titel der Staalmeesters schlägt er vor:

„Freunde des Großpensionärs de Witt, Vertreter der oligarchischen Generalstaaten suchen den Auf- ruhr der im Volke mächtigen Partei des Statthalters zu bändigen.“ (Springer 1886, 190)

Wäre uns dieser Titel überliefert, so würde laut Springer niemand daran Anstoß nehmen, weil das Bild durchaus in der Lage sei, eine derart dramatische und politisch bedeutende Situation zu repräsentieren, ebenso wie die Sitzung der Tuchmachergilde, die es tatsächlich zeige.12 Nicht weniger als die Staalmeesters rief auch die Nachtwache den Rangvergleich mit dem Hi- storienbild auf den Plan. Wilhelm Bode beschreibt 1883 die Wirkung des Schützenbildes un- ter Verweis auf „(...) die märchenhafte Beleuchtung und die belebte Situation, welche den Beschauer so bestricken, daß er die Darstellung eines weltgeschichtlichen Ereignisses vor sich zu sehen glaubt (...)“ (Bode 1883, 473). 17 Jahre später führt er nochmals aus, welches Ge- staltungsmittel für die Wirkung der Nachtwache von entscheidender Bedeutung ist:

„(...) Rembrandt’s ganz eigenthümliches Licht, sein Helldunkel. Gerade dadurch hat der Künst- ler den nüchternen Vorgang des Alltagslebens zu einer lebendigen Scene von dramatischer Kraft umgestaltet, welche diesen Schützenauszug wie eine Episode aus der grossen Zeit Hollands, wie einen Ausmarsch zum Kampf gegen die Spanier erscheinen lässt. Sollen wir den Künstler darüber schulmeistern?“ (Bode 1900, 19)

Mit der rhetorischen Frage am Schluß dieses Zitats spielt Bode auf Kritikpunkte an, die klas- sizistische Autoren weniger an der Nachtwache selbst, als an Rembrandts Gestaltungsmitteln entwickelt haben.13 Neben einer ‘Phantastik‘ der Darstellung, die in Kostüm und Lichtführung ausgemacht wurde, zählte die Mißachtung der Gattungsgrenzen zu den Kritikpunkten. Darauf weist 1902 auch Carl Neumann hin, wenn er die „Einzelvorbehalte“ verschiedener Autoren zur Nachtwache anführt. Diese hätten unter anderem kritisiert, „daß ein alltäglicher und tri- vialer Vorgang wie der Auszug einer Schützenkompagnie übertreibend in einen Allarmauf- bruch verwandelt worden ist, der an irgend einen Hannibal ante portas denken läßt“ (Neu- mann 1902, 331).

12 Wie sehr die Integration der Betrachtenden ins Bild im Falle Staalmeesters die Phantasie der Rezensenten angeregt hat, wurde zuletzt durch Daniela Hammer-Tugendhat (1998, 167 f.) bemerkt . Weitere Literatur ebd. 13 Als Beispiel für diese klassizistische Kritik wird häufig auf Samuel van Hoogstraten (1678) verwiesen, der die Gestaltungsmittel Rembrandts mit Bezug auf das Schützenbild kritisch diskutiert, dem Bild aber dennoch den höchsten Rang unter den Gruppenbildnissen einräumt. Vosmaer verwendet diese Passage als Beleg für das Un- verständnis der Zeitgenossen (1868, 149 f.), Bode schließt sich dieser Behandlung der Quelle an (1900, 17). Bei Michel gilt van Hoogstraten als Ursprung verfälschender Aussagen zu Rembrandts Leben. Hoogstratens Passage zur Nachtwache erwies sich allerdings als ambivalent deutbar. Mit Verhaeren (1912, 86) und, im Anschluß an diesen, Hausenstein (1926, 191) bedienen sich zwei vehemente Vertreter der Ablehnungslegende dieses Textes als einer Quelle für die frühe Hochachtung des Bildes. 255 Neben der fortgesetzten Präsenz der Gattungsirritation, der Neigung dazu, den Eindruck von der Bedeutsamkeit dieser Porträtstücke durch deren Verbindung mit historischen Themen zu legitimieren, sind diese Zitate auch im Hinblick auf Phänomene der modernen Kunst interes- sant. Die Überschreitung etablierter Gattungsgrenzen wurde im 19. Jahrhundert zu einem we- sentlichen Aspekt der Kunstentwicklung. In diesem Prozeß spielen unterschiedliche Formen der Profanisierung des Historienbildes eine wichtige Rolle,14 zu deren Entwicklung auch die Rezeption holländischer Malerei beitrug (Chu 1974). Wenn Neumann, Bode und andere hier die Gestaltung der Staalmeesters oder der Nachtwache als Auffassung eines Gruppenporträts im Sinne des Historienbildes beschreiben, stehen sie demnach in einer breiten Tradition der modernen Rezeption dieser holländischen Bildgattung. Fassen wir an dieser Stelle die Potentiale zusammen, die der Nachtwache eine zentrale Posi- tion in der modernen Rembrandtrezeption sichern. Erstens ist sie schon ein berühmtes Bild, als man dazu kommt, Rembrandt als eine Leitfigur der künstlerischen und gesellschaftlichen Moderne wahrzunehmen.15 Zweitens bringt sie den Bürger in der Rolle des gesellschaftlich verantwortlichen Individuums als Bildmotiv eines repräsentativen Gemäldetypus zur Geltung. Besonders für die republikanisch gesinnten Autoren der Jahrhundertmitte wird sie damit zum Beispiel einer Bildgattung, die sich der feudalistischen Repräsentationskunst auch in puncto Monumentalität entgegenstellen läßt, was nicht zuletzt im Verständnis dieser Gattung als der „eigentlichen Historienbilder der holländischen Kunst“ formuliert wird. Damit verwandt ist, drittens, ihre Stellung als ‘typisch holländisch‘, mit der sich sowohl republikanische als auch nationalistische Argumentationen verknüpfen lassen. Neben diesen drei Aspekten entfaltet der Diskurs um die Nachtwache gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein weiteres Potential, indem dieses Werk innerhalb der Ablehnungslegende zum Schicksalswerk stilisiert wird und ihm so die Stellung eines Initiationsereignisses im Prozeß der Autonomisierung des Menschen und des Künstlers Rembrandt beigemessen wird. Diese Perspektive auf die Nachtwache kann als symptomatisches Phänomen für den Zeitraum der Untersuchung gelten und soll deshalb in diesem Abschnitt Gegenstand einer chronologi- schen Fallstudie werden. Dabei wird auch zu beobachten sein, daß die Stellung der Nachtwache in der Rembrandtre- zeption, speziell die Einschätzung ihrer Bedeutung für den Ruf Rembrandts bei seinen Zeit- genossen, nicht nur als inhaltlicher Schwerpunkt des Diskurses interessant ist. Es lassen sich an diesem Beispiel auch die Grenzlinien des diskursiven Feldes der Untersuchung thematisie-

14 Beispiele wie Goyas Erschießung der Aufständischen, Delacroix‘ Die Freiheit führt das Volk an, Courbets Begräbnis von Ornans oder Manets Hinrichtung Kaisers Maximilians sind in dieser Hinsicht ausführlich disku- tiert worden. Für einen Überblick siehe Busch 1993. 15 Diese Berühmtheit, auch das sei nicht unterschlagen, beruht zweifellos auf ihrer künstlerischen ‘Qualität‘, die in der emotionalisierenden Bildwirkung einen Ausdruck findet. 256 ren. Dies gilt zunächst hinsichtlich der chronologischen Abgrenzung dieses Themas, die mit meiner Eingrenzung des engeren Feldes der Untersuchung übereinstimmt: Von einer dezidier- ten ‘Ablehnung‘ der Nachtwache ist erst im Verlauf der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts die Rede, die Auswirkungen dieser Legende sind noch zur Mitte des 20. Jahrhunderts nachweis- bar. Zudem bietet sich dieses Beispiel aufgrund seiner dramaturgischen Bedeutung in den Rembrandtbiographien an, um die Binnenstruktur des diskursiven Feldes zu thematisieren. Dazu soll zuerst die Entwicklung der Ablehnungslegende in jenen Texten verfolgt werden, die sich selbst als fachspezifisch verstehen. Im Anschluß daran werden Beispiele einer im enge- ren Sinne literarischen Auseinandersetzung mit diesem Thema diskutiert. Vorausgeschickt sei jedoch ein Exkurs zum Topos der Problematisierung des Bildtitels.

1.2 Exkurs: Die ‘sogenannte Nachtwache‘

„Il est assez connu qu’il ne s’agit ici ni de ronde ni de nuit.“ (Vosmaer 1877, 219)16

Wie die Bildästhetik Rembrandts im akademischen und im romantischen Verständnis als „Phantastik“ galt (vgl. Boomgaard 1995, 27), so haftete der Nachtwache vor der Neubewer- tung des Künstlers und seiner Werke der Ruf des Mysteriösen an. Welche Art von Fragen das Bild aufwarf, wie grundsätzlich seine Gestaltung noch in der Mitte des 19. Jahrhunderts den Erwartungen zu widersprechen vermochte, die Sehgewohnheiten irritierte und damit die De- kodierung des Dargestellten erschwerte, zeigt ein Zitat aus Gustave Planches Aufsatz in der Revue des deux mondes (1853):

„Dies ist übrigens ein Werk der Phantasie, wenn es jemals eines gab, denn der Titel unter dem das Gemälde bekannt ist, ist weit davon entfernt klar auszudrücken, was das Auge hier entdeckt. Man sagt es sei eine Nachtwache; doch wie erklärt sich dann der Trommler, der der Truppe vorangeht? Was bedeutet das junge Mädchen, dessen verstörter Blick um Hilfe zu flehen scheint? Was bedeu- tet die am Hut des Anführers angebrachte Feder, wie am Tag einer Parade? Welche Rolle spielt der Bürgermeister in der Szene? In welcher Welt sind wir? Ist dies eine Erinnerung, ist es ein Traum, den der Maler darstellen wollte?“ (Planche 1853, 264)17

16 „Es ist hinreichend bekannt, daß es sich hier weder um eine ‘Wache‘ noch um ‘Nacht‘ handelt.“ (Vosmaer 1877, 219). 17 „C’est d’ailleurs une œuvre de fantaisie s’il en fut jamais, car le titre sous lequel ce tableau est connu est loin d’exprimer nettement ce que l‘œil y découvre. On dit que c’est une ronde de nuit; mais alors comment expliquer le tambour qui précède la troupe? Que signifie cette jeune fille dont le regard effaré semble implorer secours? Que signifie la plume attachée au chapeau du chef de ronde comme en un jour de parade? Quel rôle joue dans la scène le bourgmestre? Dans quel monde sommes-nous? Est-ce un souvenir, est-ce un rêve que le peintre a voulu représenter? Je laisse à de plus habiles le soin de décider cette question.“ (Planche 1853, 264). 257 Als Gegenbeispiel zu Planche kann wiederum Eduard Kolloff (1854) angeführt werden, der sich des Porträtcharakters der Nachtwache bewußt ist. Er spricht weder von Phantastik, noch sieht er in dem Bild eine verwirrende Feder oder einen Bürgermeister; dafür zitiert er mit Verweis auf das Wappenschild die Namen der Abgebildeten (Kolloff 1854, 452).18 Überein- stimmung herrscht zwischen beiden Autoren in ihrer Auseinandersetzung mit dem Titel:

„Man sieht, wie unrichtig die Benennung ist, unter welcher dieses Meisterstück in der ganzen Welt bekannt ist. Es stellt keine Nachtwache vor, sondern eine Abtheilung von einer Compagnie Bür- germiliz (...).“ (Kolloff 1854, 452)19

Diese Beispiele zeigen, daß die Reflexion des irreführenden Charakters der Bildbezeichnung bereits Tradition hat, als Carel Vosmaer 1868 einen ernsthaften Versuch unternimmt, die fal- sche Bezeichnung aus der Welt zu schaffen. Der Autor der ersten umfassenden Rembrandt- Monographie bringt diesen Fehler mit der Verkennung von Künstler und Werk im 18. Jahr- hundert in Verbindung:20

„Der derzeitige Name, äußert unzutreffend, kommt ihm von französischen Autoren des 18. Jahr- hunderts zu, die ihm den Namen Guet [Hinterhalt, M.H.] oder Patrouille de nuit [Nachtpatrouille, M.H.] geben; auch Reynolds nennt es the Nightwatch. Und schließlich begannen die Holländer, diesen Titel blindlings akzeptierend, ebenfalls von der Nachtwacht zu sprechen.“ (Vosmaer 1868, 148)21

Vosmaer hat den Ehrgeiz, diesen Gewohnheitstitel zu korrigieren, ist sich jedoch des Um- fangs einer solchen Aufgabe bewußt:

„Es ist an der Zeit, diese fehlerhafte Bezeichnung zu ändern, die erst seit 80 Jahren besteht. Legen wir also einen besseren Titel fest, und in einem halben Jahrhundert wird der andere abgesetzt sein.“ (Vosmaer 1868, 219)22

Vosmaer schlägt als korrekteren Titel „Der Auszug der Kompagnie des Frans Banning Cock“ vor, und tatsächlich wird die offizielle Beschilderung des Bildes 50 Jahre nach Vosmaer in

18 Eine Reise Kolloffs nach Amsterdam ist nicht überliefert. Die fragliche Textpassage läßt eine Paraphrasierung Scheltemas (1866, 31 zuerst 1852) annehmen. 19 In ähnlicher Weise spricht Wilhelm Lübke (1877) von der „wunderlichen, völlig unpassenden Benennung, welche an diesem Werke haftet“ und erklärt: „In Wahrheit handelt es sich keineswegs um eine Nachtwache, sondern um den einfachen Auszug einer Schützengesellschaft“ (Lübke 1877, 214). 20 Auf gleiche Art argumentiert z.B. Bode (1900, 98). 21 „Le nom actuel, fort impropre, lui vient des auteurs français du 18e siècle, qui lui donnent le nom de Guet, de Patrouille de nuit; Reynolds aussi le nomme the Nightwatch. Et alors les Hollandais, acceptant aveuglement ce titre, se mirent eux aussi à parler du Nachtwacht.“ (Vosmaer 1868, 148). 22 „Il est temps de changer cette fausse dénomination, qui n’existe que depuis quatre-vingts ans. Fixons un meil- leur titre, et dans un demi-siècle l’autre sera destitué.“ (Vosmaer 1868, 219). 258 der Regel so oder ähnlich lauten.23 Insgesamt genommen hatte diese korrigierte Bezeichnung gegenüber dem international tradierten Titel Nachtwache jedoch keine Chance. Louis Viardot, ein Zeitgenosse Vosmaers, der sich im Rahmen einer kursorischen Beschreibung der Wunder der Malerei (Les merveilles de la peinture) mit dem Bild beschäftigt, schätzt dieses Problem realistischer ein. Viardot verweist ebenfalls darauf, daß der Titel fehlerhaft sei. Dann stellt er jedoch fest, es sei besser, ihm „diesen üblichen Namen zu lassen“ (Viardot 31877, 192).24 Die literarische Nachwelt wird sich dieser Haltung in breiter Strömung anschließen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen zählt zum Topos nicht allein der Hinweis auf den fehlerhaften Titel, sondern dessen gleichzeitige Weiterverwendung. Diese Praxis bleibt im Diskurs selbst nicht unbemerkt, die Auseinandersetzung mit ihr ist vielmehr als Teil der geläufigen Widerlegungs- formeln anzusehen, so etwa bei Adolf Rosenberg (1904):

„Als man im achtzehnten Jahrhundert die ursprüngliche Bestimmung und Bedeutung des Bildes ebenso vergessen, wie man das Verständnis für Rembrandts Helldunkel verloren hatte, erhielt es den Namen die Nachtwache, und diesen Namen hat es behalten, obwohl inzwischen längst wieder die Geschichte des Bildes aufgeklärt worden ist.“ (Rosenberg 1904, XXVI)

In ähnlicher Weise äußert sich Carl Voll zu dieser Frage, als er 1906 in seinem Jubiläumsar- tikel für die populäre Zeitschrift Gartenlaube auf eines der „größten Meisterwerke der ge- samten Malerei“25 zu sprechen kommt:

„Dieses Riesenwerk stellt trotz des nun einmal nicht mehr aus der Welt zu schaffenden Titels einen Zug von Schützen dar, die im goldenen, reichen Licht der späten Sonne in geschlossener Kolonne (...) auf die Straße treten.“ (Voll 1906a, 594)

Der Verweis auf den unkorrekten Titel geschieht nicht, wie bei Vosmaer, in der Absicht, die- sen Titel durch einen zutreffenden zu ersetzen. Die Autoren willigen vielmehr in den Um- stand ein, daß dieses Bild „unter der irrthümlichen Benennung Die Nachtwache“ (Bode 1900, 98) bekannt sei. Dieses Phänomen läßt sich mit Hilfe der Unterscheidung zwischen einem Bildtitel und einem Eigennamen genauer beschreiben, denn als letzterer wird die Bezeichnung Nachtwache im Verlauf der Rezeption behandelt. Im Gegensatz zu einem Bildtitel kann der Eigenname aber inhaltlich falsche Implikationen transportieren, ohne deshalb selbst ‘falsch‘ zu sein, bedarf doch ein Name keiner Legitimierung nach dem Muster richtig/falsch. Nicht die Abwehr eines Titels, sondern die Einwilligung in einen Namen unter Verweis auf dessen in-

23 Als derzeit international gültig kann die vom Rembrandt Research Project gewählte Bezeichnung gelten: „The ‘Nightwatch‘, or Officers and men of the company of Captain Frans Banning Cocq and Lieutenant Willem van Ruytenburgh“ (Bruyn u.a. 1989, 430). 24 „On le nomme la Garde ou la Ronde de nuit. Et ce nom est défectueux, car c’est une ronde faite en plein jour. (...) La Ronde de nuit (il faut bien lui laisser ce nom consacré)“ (Viardot 31877, 192). 25 Voll 1906a, 594. 259 haltliche Unrichtigkeit wird hier also zum Topos. Als gebräuchlichste Formel ist dabei von der ‘sogenannten Nachtwache‘ die Rede.26 Heinrich Wölfflin hat 1909 in seiner Variation des Topos den Versuch unternommen, die Etablierung der Fehlbezeichnung zu erklären:

„Der Name Nachtwache ist bekanntlich falsch. Es ist nur der Auszug eines Schützenvereins darge- stellt, nicht ein nächtlicher Alarm, aber das Stück hat einen so gewaltigen Zug und die Bewe- gungsillusion ist so groß, daß der Beschauer immer wieder zu einem möglichst bedeutungsvollen Namen zu greifen versucht ist.“ (Wölfflin 1946 [1909], 134)

Sein Verweis auf den „Beschauer“ scheint das breite Publikum für die Kontinuität der Be- zeichnung verantwortlich zu machen. Die Einwilligung der zitierten Autoren läßt andere Ur- sachen vermuten. Eine Hypothese dazu kann aus Wilhelm Hausensteins gezielter Beibehal- tung des Namen abgeleitet werden:

„Lassen wir nur auch den Namen ‘Nachtwache‘, der falsch ist: es ist gut, wenn ein irrender, beir- render Titel die inneren Verschiebungen bezeichnet, mit denen das Bild aus den Gleisen geschoben wird.“ (Hausenstein 1926, 188)

Wie wir noch sehen werden, bricht für Hausenstein mit der Nachtwache der offene Konflikt zwischen Künstler und Gesellschaft aus. Durch seine gestalterischen Innovationen schiebt Rembrandt die Gattung des Gruppenporträts in diesem Bild „aus den Gleisen“. Hausenstein willigt demnach bewußt in den irritierenden Titel ein, da dieser die Spannungen zum Aus- druck bringe, die mit dem Bild verbunden seien und deren letzte Ursache im Autonomiestre- ben des Künstlers liege. Ohne Hausensteins Interpretation konkret auf andere Autoren zu übertragen, kann doch in der implizierten Zwiespältigkeit des Titels die besondere Qualität gesehen werden, die dessen Beibehaltung zugrunde liegt. In der Formel von der ‘sogenannten Nachtwache‘ wird das Dementi zum Bestandteil des Titels, und damit nisten sich der geheim- nisvolle Charakter des Bildes und dessen herausragende Bedeutung bereits in dessen Be- zeichnung ein. Das Spiel mit dem fehlerhaften Titel kann als eine mythisierende Miniatur verstanden werden, als ein Auftakt, der auf die Sonderstellung des Bildes einstimmt. Wie das Beispiel Hausensteins zugleich gezeigt hat, kann die Diskussion um den Titel nicht vom zentralen Problem der Ablehnungslegende getrennt werden, zu der ich nun übergehen möchte.

26 Beispiele dafür sind Kugler 1847, 427; Bode 1870, 243; Neumann 1922, 240; Kaschnitz 1948, 31. 260 1.3 Zur Entstehung der Ablehnungslegende: Vosmaer, Fromentin, Michel

Erst seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich Autoren mit der Frage, wie die Zeitgenossen Rembrandts auf die Nachtwache reagiert haben. Dabei tritt erstmals die Vermutung auf, das Bild sei seinerzeit ungünstig aufgenommen worden.27 In der deutschspra- chigen Rezeption begegnen wir bei drei anerkannten und einflußreichen Kunsthistorikern, die sich zwischen 1877 und 1883 unabhängig voneinander dazu äußerten, einer auffällig ähnli- chen Behandlung dieses Themas. Es steht dabei allerdings weder im Mittelpunkt der Darstel- lungen, noch wird es ausführlich diskutiert. Als Beispiel zitiere ich Wilhelm Lübkes Reisebe- richt zu Rembrandt, der im Oktober 1877 in der „deutschen Monatsschrift“ Nord und Süd veröffentlicht wurde:

„Eine höhere Verklärung des rein Stofflichen der Farbe läßt sich nicht denken. - Wohl aber kann man sich vorstellen, daß den wackeren Bürgerschützen Hollands es weit weniger auf solche künst- lerische Eigenschaften ankam, als auf möglichst klare und möglichst gleichbedeutsame Darstellung jedes einzelnen Bürgerwehrmannes. Diese Tendenz fand in solchen Bildern, wie dem berühmten Schützenmahl van der Helsts von 1648, das der Nachtwache Rembrandts in demselben Raume ge- genüberhängt, eine ganz unvergleichliche Erfüllung. Kein Wunder, daß beinahe zwanzig Jahre ver- gingen, ehe Rembrandt mit einer ähnlichen Aufgabe betraut wurde.“ (Lübke 1877, 215 f.)

Jacob Burckhardt verwendete in seinem Rembrandtvortrag vom November 1877 eine ähnli- che Formulierung,28 und auch Wilhelm Bode hat 1883 erklärt, es sei „begreiflich, daß die Schützen Amsterdam’s sich nicht noch ein zweites Mal mit einem ähnlichen Auftrage an den Meister wandten“.29 Aus dem Fehlen weiterer Aufträge dieser Art schließen die Autoren auf eine Unzufriedenheit der Besteller der Nachtwache. Die Ursache dafür sehen sie in einem Konflikt zwischen dem Wunsch der Auftraggeber nach gleichwertiger individueller Repräsentation und dem Interesse Rembrandts an der Gesamterscheinung des Bildes.30

27 Die aktuelle Forschung geht davon aus, daß das Bild in seiner Zeit sehr geschätzt wurde. Vgl. Bruyn u.a. 1989, 449; Boomgaard 1995, 220. 28 „Es hatte aber seine Gründe, daß Rembrandt hierauf keine Schützengilde mehr zu malen bekam; von den gegen 30 Mitgliedern, welche dafür bezahlt hatten auf dem Bilde verewigt zu werden, sind nur wenige bis zur Kenntlichkeit durchgeführt, weit die meisten aber nur so weit, als es der Ge samtlichteffekt zuließ.“ (Burckhardt 1919 [1877], 19). 29 „(...) die märchenhafte Beleuchtung und die belebte Situation, welche den Beschauer so bestricken, daß er die Darstellung eines weltgeschichtlichen Ereignisses vor sich zu sehen glaubt, machen sich theilweise auf Kosten der Individualität des Einzelnen geltend, welche den gleichen Porträtstücken eines Hals oder van der Helst das Haupterfordernis war. Es ist daher begreiflich, daß die Schützen Amsterdam’s sich nicht noch ein zweites Mal mit einem ähnlichen Auftrage an den Meister wandten“ (Bode 1883, 473). 30 Jacob Burckhardt nutzt diese Gelegenheit, um die Nichteignung der gestalterischen Mittel Rembrandts für die Ausführung einer Mehrfigurendarstellung zu konstatieren: „Es ist gut, daß Rembrandt einmal in seinem Leben eine Aufgabe von 30 lebensgroßen bewegten Figuren bekam und dabei endgültig bewies, wie sich exklusive Lichtmalerei zu einer solchen Aufgabe verhält.“ (Burckhardt 1919 [1877], 19 f.). Für das folgende ist interes- sant, daß Burckhardts Kritik hier mit der Position Fromentins übereinstimmt (Fromentin 1972, 207 ff.). Ob 261 Eine Erklärung für die Ähnlichkeit der Behandlung des Problems durch Lübke, Burckhardt und Bode liefert ein Blick in die französischsprachige Literatur. In Carel Vosmaers Rem- brandt-Monographie (1868) sind die fraglichen Passagen weitgehend vorweggenommen:31

„Er wird bezahlt, um Porträts zu machen, und ein jeder wünscht für das seine einen gleichwertigen Anteil an Licht. So gingen die anderen Maler vor (...). Und Rembrandt, statt es ebenso zu machen, opfert sie dem Spiel des Helldunkel und macht ein Bild anstelle einer Leinwand mit 20 Porträts. So machte er es auch mit seiner Anatomie des Dr. Tulp. Und darin liegt zweifellos auch der Grund, weshalb er für diese Art von Gemälden nicht sehr gefragt war.“ (Vosmaer 1868, 150)32

Vosmaer schließt von einer postulierten Seltenheit an Gruppenaufträgen auf ein Mißfallen der Nachtwache, dessen Ursache er in einem Widerspruch zwischen deren Gestaltung und den Ansprüchen der Auftraggeber sieht:

„Ich habe dort 29 Personen gezählt, von denen einige nichts zeigen als den Kopf, den Helm oder die Augen. Jene waren sicherlich unzufrieden.“ (Vosmaer 1868, 152)33

In den Überlegungen Vosmaers und der zitierten deutschsprachigen Autoren zur zeitgenössi- schen Rezeption der Nachtwache sind einige Mosaiksteine der kommenden Ablehnungsle- gende zu finden. Die Grundlage bildet der Widerspruch zwischen Künstler und Öffentlichkeit, der hier am Beispiel eines Konfliktes zwischen Rembrandt und seinen Auftraggebern veran- schaulicht wird.34 In der kausalen Verknüpfung von der unbefriedigenden Nachtwache und den ausbleibenden Folgeaufträgen für Gruppenbilder ist dabei zugleich die Basis für eine Nar- ration gelegt. Weiter geht die Legendarisierung in dieser frühen Phase jedoch noch bei kei- nem der Autoren. Lübke, der das Gemälde begeistert beschreibt, sieht zwar im Jahr 1642 „ei-

Burckhardt Fromentins Maîtres d’autrefois bereits 1877 kannte ist allerdings nicht direkt nachweisbar. Dies ist erst für den späten Text Erinnerungen an Rubens (1898) möglich (vgl. Noll 1997, 461). 31 Bode bespricht Vosmaers Buch in seinem Vorwort (1883), bei Lübke werden keine Literaturverweise ausge- führt, zu Burckhardt siehe die vorige Anmerkung. 32 „Il est payé pour faire des portraits et chacun désire pour le sien une égale portion de lumière. C’est ainsi que procédaient les autres peintres (...) Et Rembrandt, au lieu de faire ainsi, les sacrifie au jeu du clair-obscur et fait un tableau au lieu d’une pièce à vingt portrait. Voilà ce qu’il avait fait aussi avec sa leçon d’anatomie. Voilà encore assurément la raison de ce qu‘il ne fut pas très recherché pour ces sortes de toiles.“ (Vosmaer 1868, 150). 33 "J’y ai compté vingt-neuf personnages, dont quelques-uns ne montrent que la tête, le casque ou les yeux. Ceux-là certes ont été mécontents.“ (Vosmaer 1868, 152). Die Zahl der Porträtierten wird hier von einigen Auto- ren noch mit der Zahl der Abgebildeten gleichgesetzt, dagegen sah bereits Kolloff (1854, 452) in dem Bild le- diglich „meistens Porträts“ abgebildet. Auch nachdem in Folge der Quellenfunde der 80er Jahre als erwiesen gelten konnte, daß nur gut die Hälfte der Dargestellten als bezahlte Porträts einzustufen seien, also die einzelnen Augen und Hüte auch keinen Grund zur Unzufriedenheit hatten, behielt das Argument von der ‘Kritik der Por- trätierten‘ seine Position und Wirkung in der Ablehnungslegende. 34 Vosmaer spricht diese Konfliktstellung mehrfach direkt aus: „Rembrandt eut toujours tort aux yeux de ses contemporains.“ (Vosmaer 1868, 150); „Rembrandt a partagé à cet ègard le sort de presque tous les génies. Il a été aimé, admiré et suivi par ceux que l’amitié ou le talent avait rendus clairvoyants. Mais il a eu beaucoup de détracteurs, et certes peu de ses contemporains ont entrevu la place élevée à laquelle il pouvait prétendre.“ (ebd., 322). 262 nen scharfen Einschnitt im äußern wie im innern Leben des Meisters“ (Lübke 1877, 216), führt aber allein Saskias Tod als Grund dafür an. Bode (1883) verwendet auf die Nachtwache kaum mehr Raum als auf andere Bilder. Den Rückgang der Anzahl von Porträtaufträgen, den er für die 40er Jahre ausmacht, bringt er nicht mit dem Schützenbild und dessen öffentlicher Aufnahme in Verbindung.

1.3.1 Fromentins zwiespältiges Urteil über die Nachtwache

Einen weiteren Schritt in Richtung der Ablehnungslegende finden wir dagegen bei Eugène Fromentin, dessen kritische Auseinandersetzung mit dem Bild jedoch auch jenseits dieses Punktes von Bedeutung für die nachfolgende Literatur ist. Sie soll deshalb etwas ausgeführt werden. Die Begegnung mit der Nachtwache wird in Fromentins kunstliterarischem Reisebe- richt Les Maîtres d’autrefois (1876) über mehrere Seiten hinweg vorbereitet und dabei bereits als problematisch angekündigt. Einen Grund dafür sieht Fromentin in der Fallhöhe des Bildes, welches ihm aus zahlreichen vollmundigen Lobreden bekannt gewesen sei:

„Ich brauche nicht zu verhehlen: dieses Werk, das berühmteste, das Holland besitzt, eins der be- rühmtesten der ganzen Welt, bedeutet die Sorge meiner Reise. Es lockt mich unwiderstehlich und flösst mir doch starke Zweifel ein. Ich kenne kein Bild, über das man mehr diskutiert, mehr nach- gedacht und natürlich auch mehr Unsinn geredet hat.“ (Fromentin, zit. nach der Übersetzung von Schellenberg 21919, 258)35

Sei es durch ihren Ruhm, sei es durch ihre „bizarrerie“, die Nachtwache habe jedermann, zu- mindest unter den Kunstschriftstellern, die Klarheit der Vernunft getrübt („troublé le clair bon sens“, Fromentin 1972 [1876], 201). Fromentin erblickt in dem Bild einen radikalen Versuch Rembrandts, das Thema der Gruppendarstellung mit seiner Auffassung des Helldunkels zu verknüpfen, ein großartiger Versuch, der jedoch gescheitert sei. Mit Formeln, die an akademi- sche Regeln erinnern, kritisiert Fromentin die Proportionen des Bildes, die Haltung und Klei- dung der Figuren und ihre Physiognomien. Zugleich würdigt er jedoch mit einer ausführli- chen, technisch und ästhetisch gleichermaßen detaillierten Beschreibung die Leistung des Koloristen Rembrandt, der in diesem Werk der Malerei Neuland erobert habe. Die elementare Bedeutung des Helldunkels, die sich in dem Bild offenbare, führt Fromentin schließlich zur Einführung einer neuen Kategorie. Rembrandt sei nicht mehr Kolorist, sondern „Luminarist“ zu nennen:

35 „Je n’ai point à le cacher, cette œuvre, la plus fameuse qu’il y ait en Hollande, une des plus célèbres qu’il y ait au monde, est le souci de mon voyage. Elle m’inspire un grand attrait et de grands doutes. Je ne connais pas de tableau sur lequel on ait plus discuté, plus raisonné et naturellement plus déraisonné.“ (Fromentin 1972 [1876], 201). 263 „Ein ‘Luminarist‘ wäre, wenn ich mich nicht täusche, ein Mann, der das Licht ausserhalb der all- gemein befolgten Gesetze begreift, der ihm einen aussergewöhnlichen Sinn beilegt und ihm grosse Opfer bringt.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg 21919, 293)36

Es sei Rembrandts Eigenart, sich des Lichtes zu bedienen, um auszusagen, was niemand au- ßer ihm auszusagen vermöge. Deshalb sei er mit dem Begriff „Luminarist“ zugleich definiert und an diesem auch zu messen, denn nun könne man die Qualität seiner Bilder danach be- werten, ob die luminaristische Umsetzung gelungen sei und ob sie darüber hinaus dem jewei- ligen Sujet angemessen sei. Einmal benannt, spitzt Fromentin Rembrandts gesamtes Werk auf diesen Aspekt zu:

„Rembrandts ganze Entwicklung kreist also um dieses rastlos verfolgte Ziel: nur mit Hilfe des Lichtes zu malen und zu zeichnen.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg 21919, 293)37

Aus dieser Perspektive erscheinen Fromentin auch die Schwächen der Nachtwache erklärlich, sei doch ihr kühnes Hauptziel:

„(...) einen wahren Vorgang mit einem unwahren Lichte zu erhellen, das heisst: einem tatsächli- chen Ereignis den idealen Charakter einer Vision zu verleihen.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg, 294)38

Der bewunderungswürdigen Radikalität dieser künstlerischen Zielsetzung, im Kern die Syn- these von Realismus und Idealismus, stehe das Scheitern gegenüber, das Fromentin nicht in den von ihm aufgezählten kompositorischen Mängeln (Perspektive, Proportionen etc.) aus- macht, sondern in der Unangemessenheit eines solchen Versuches angesichts eines Sujets das Repräsentation verlange. Die Grundstruktur dieser Darstellung greift auf bereits bestehende Einschätzungen zurück - gemeint ist die Vermischung von Bewunderung des phantastischen Effektes der Nachtwache und Irritation ob ihrer Funktion als Porträtstück in der älteren Litera- tur, zuerst wohl bei Samuel van Hoogstraaten (1678, vgl. Vosmaer 1868, 220). In dieser zwie- spältigen Charakterisierung liegt die entscheidende Potenz, die die Nachtwache auch in der folgenden Rezeptionsphase zum Schlüsselwerk werden läßt. Denn an dieser Aufspaltung zwi- schen dem Triumph ‘rein künstlerischer‘ Qualität und dem Scheitern des Bildes als Auftrags- werk konnte in idealer Weise der Ursprungsmythos von der Autonomisierung Rembrandts verankert werden.

36 „Un luminariste serai, si je ne me trompe, un homme qui concevrait la lumière, en dehors des lois suivies, y attacherait un sens extraordinaire, et lui ferait de grands sacrifices.“ (Fromentin 1972 [1876], 228). 37 „Toute la carrière de Rembrandt toure donc autour de cette objectif obsédant: ne peindre qu’avec l’aide de la lumière, ne dessiner que par la lumière.“ (Fromentin 1972 [1876], 228). 38 „(...) éclairer une scène vraie par une lumière qui ne le fût pas, c’est-à-dire donner à un fait le caractère idéal d’une vision.“ (Fromentin 1972 [1876], 229). 264 1.3.2 Exkurs: Fromentins Kritik an Rembrandt und am Impressionismus

Bevor wir weiter der Bedeutung nachspüren, die Fromentin der Nachtwache innerhalb der Darstellung Rembrandts als autonomem Künstler zuschreibt, verspricht eine andere Kontex- tualisierung Aufschluß über Position und Absichten dieses Autors. In der Art, wie der Kunst- literat und erfolgreiche Maler die Würdigung der koloristischen Qualität Rembrandts mit ei- ner von akademischen Maßstäben inspirierten Kritik kombiniert, ist nämlich zu erkennen, daß Fromentin hier die Gelegenheit sieht, seine skeptische Haltung gegenüber den Impressionisten an einem historischen Beispiel aufzugreifen.39 Dieses Verständnis bestätigt Fromentin selber, wenn er sich, mitten in seiner Abhandlung über die Werke der ‘Meister von Einst‘, direkt mit dem Einfluß der Niederländer auf die zeitgenössische französische Kunst beschäftigt: Im zweiten Teil seines Buches wechselt er den Schauplatz und berichtet für die Dauer eines Ka- pitels aus der Pariser Kunstszene seiner Gegenwart (Teil II, Kap. IX). Dabei stellt Fromentin zunächst fest, daß es in seinem Jahrhundert zwei Phasen der erfreulichen Erneuerung der Landschaftsmalerei gegeben habe: zunächst die romantische, zu Beginn des Jahrhunderts, und dann die naturalistische, in der er zwei Maler, Corot und Rousseau, hervorhebt. Während er- sterer jedoch nicht als Nachfolger der Holländer gelten könne, führe letzterer mit Entschie- denheit und bewunderungswürdigen Resultaten den Ansatz der niederländischen Malerei fort, ja er gehe dank seiner erstaunlichen Vielfalt noch weit über sie hinaus. Nach einer kurzen, dem Gebot der rhetorischen Tradition folgend sehr zurückhaltenden Anmerkung über die mo- dischen Erfolge des Orientalismus, in dem Fromentin selbst wesentliche Akzente setzte (vgl. Thompson/Wright 1987), attackiert er elegant und ohne Namen zu nennen jenen Malstil, der erst kurz vor Erscheinen seines Buches mit der Bezeichnung ‘Impressionismus‘ versehen worden war:

„Das ‘plein air‘, das zerstreute Licht, das ‘wahre Sonnenlicht‘ haben heute in der Malerei (...) eine Wichtigkeit, die man ihnen niemals zugestanden hatte, und die sie, offen gesagt, gar nicht verdie - nen.“ (Fromentin, Übers. unter Verwendung von Schellenberg 21919, 232)40

Im Anschluß daran schreibt er der mechanischen Reproduktionsfähigkeit der Fotografie einen wesentlichen Anteil an dieser unangemessenen Entwicklung zu. Die Malerei habe sich durch

39 Sein Urteil, Rembrandt respektiere nicht die festgelegte Aufgabe der Bildgattung, ließe sich etwa mit der Kri- tik an Manets modernem Historienbild der Hinrichtung Kaiser Maximilians vergleichen. Wie Carl Neumann bereits 1902 festgestellt hat, wird Fromentin, sowohl als Maler als auch als Kunstkritiker, „gegen seinen Instinkt zu den Klassikern“ zurückgetrieben, da ihm „das Auswachsen der zeitgenössischen Kunst Angst macht“ (Neu- mann 1902, 15). Als Maler sei Fromentin „bei den Schilderungen arabischen Lebens, die das Gros seiner Bilder ausmachen, in der Art, die Farben zu gruppieren, immer Feinschmecker und Kenner geblieben“ (ebd., 16). Zur Kritik der Impressionisten bei Fromentin vgl. die Anmerkungen von Moisy, in: Fromentin 1972, 432; vgl. auch Ritter 1998, 20. 40 „Le plein air, la lumière diffuse, le vrai soleil, prennent aujourd’hui, dans la peinture (...) une importance qu’on ne leur avait jamais reconnu, et que, disons-le frachement, ils ne méritent point d’avoir.“ (Fromentin 1972 [1876], 181). 265 die Orientierung an einem technischen Sehen selbst der Kunstfertigkeiten beraubt, sie richte eine unpersönlichen Blick auf die Dinge („une manière impersonelle de voir des choses et de les traiter“, Fromentin 1972 [1876], 182), sie habe der absoluten und wörtlichen Wahrheit die Vorherrschaft über die Phantasie eingeräumt und sei auf den bloßen optischen Effekt aus:

„Wenn man sich ein wenig über die Neuigkeiten (...) auf dem laufenden hält, so bemerkt man, dass die jüngste Malerei das Ziel verfolgt, die Augen in Erstaunen zu setzen durch merkwürdige, wört- lich richtige, in ihrer Wahrheit leicht wiederzuerkennende Bilder, die alle Künstelei verschmähen, und dass sie uns genau die Empfindungen dessen geben will, was wir auf der Strasse sehen kön- nen.“ (Fromentin, Übers. Schellenberg 21919, 233)41

Fromentin sieht in der heutigen Tendenz zum flüchtigen Wandel der Stile und damit zur Oberflächlichkeit zwar einerseits eine Erweiterung der Möglichkeiten, hauptsächlich jedoch eine übergroße Verausgabung. So prognostiziert er schließlich eine Rückkehr von der Natur zur Malerei:

„Unsere Schule weiss vieles, sie erschöpft sich durch ihr Umherschwärmen; ihre grundlegenden Studien sind bedeutend; sie ist sogar so reich, dass sie sich aussschließlich darin gefällt und verliert (...). Alles hat seine Zeit, und an dem Tage, wo Maler und Leute von Geschmack sich überzeugen lassen werden, dass die besten Skizzen der Welt nicht soviel wert sind, wie ein gutes Bild, wird die öf- fentliche Meinung noch einmal den Weg zu sich selbst zurückgefunden haben, - das sicherste Mit- tel, um Fortschritte zu machen.“ (Fromentin, Übers. unter Verwendung von Schellenberg 21919, 236)42

Vor dem Hintergrund dieser kritischen Haltung Fromentins zum Impressionismus liest sich seine ambivalente Beurteilung der Nachtwache, die Würdigung der technischen Bewältigung des Helldunkels bei gleichzeitiger Kritik an der Mißachtung der Bildaufgabe, in einem ande- ren Licht. Der ‘luminaristische‘ Rembrandt dieses Schützenbildes ist hinsichtlich seiner Bildlösungen nicht der vorbildliche Maler, den Fromentin der Gegenwart anempfehlen möchte. Er wird den Rembrandt der harmonischeren Staalmeesters bevorzugen, für bewegte Figurendarstellungen wird er auf Rubens und für Landschaften auf Ruisdael verweisen (vgl. Ritter 1998). Die zeitgenössische Perspektive, die hier durchscheint, ließe sich von hier aus

41 „La peinture la plus récente a pour but de frapper les yeux par des images saillantes, textuelle, aisément recon- naissable en leur vérité, dénuées d’artifices, et de nous donner exactement les sensations de ce que nous pouvons voir dans la rue.“ (Fromentin 1972 [1876], 182). 42 „Notre école sait beaucoup, elle s’épuise à vagabonder; son fonds d’études est considérable; il est même si riche qu’elle s’y complaît, s’y oublie (...). Il y a temps pour tout, et le jour où peintres et gens de goût se persua- deront que les meilleures études du monde ne valent pas un bon tableau, l’esprit public aura fait encore une fois un retour sur lui-même, ce qui est le plus sûr moyen de faire un progrès.“ (Fromentin 1972 [1876], 184). 266 auch in der Ablehnungslegende ausmachen. So mag man etwa an einen Salonskandal im Paris der 70er Jahre denken, wenn Fromentin die Reaktion des holländischen Publikums auf die öffentliche Präsentation der Nachtwache schildert:

„Man weiss, wie man über die Wirkung zu denken hat, welche die ‘Nachtwache‘ bei ihrem Er- scheinen im Jahre 1642 hervorrief. Dieser denkwürdige Versuch wurde weder verstanden noch ge- billigt. Er hat viel Lärm um Rembrandts Ruhm verursacht, erhöhte ihn in den Augen seiner ge- treuen Bewunderer, setzte ihn in den Augen derer herab, die ihm nur mit einiger Anstrengung ge- folgt waren und auf diesen entscheidenden Schritt gewartet hatten. Es brachte ihn in den Ruf eines fremdartigen Malers, eines minder ausgemachten Meisters. Es erregte die Gemüter und teilte die Leute von Geschmack in zwei Lager je nach der Hitze ihres Blutes oder der Kühle ihrer Vernunft. Kurz, man betrachtete es als ein durchaus neues, aber missliches Wagnis, das ihm Beifall und auch viel Missbilligung eintrug, und das im Grunde niemanden überzeugte.“ (Fromentin, zit. nach der Übersetzung von Schellenberg 21919, 276)43

Fromentin erweitert die bisherige Darstellung Vosmaers deutlich. Statt einer latenten Unzu- friedenheit, die sich erst mittelfristig im Ausbleiben von Folgeaufträgen offenbart, führt das Bild hier direkt zu einem ‘éclat‘. Es verursacht Lärm, es erhitzt und spaltet die Gemüter, aber es ‘erleuchtet‘ auch - der Effekt des Bildes ist klärend. Was bereits seit längerem im Verbor- genen schwellte, der Konflikt des Künstlers mit der Mehrzahl seiner Zeitgenossen, tritt nun offen hervor.

1.3.3 Emile Michel baut Fromentins Schilderung zur Ablehnungslegende aus

Woher Fromentin plötzlich „weiß“, welche Reaktion „die Nachtwache bei ihrem Erscheinen“ hervorrief, ist eine offene Frage (vgl. Boomgaard 1995, 220). Weder das damalige noch das heutige Quellenmaterial, keine Gerichtsakte aber auch keine klassizistische Anekdote läßt sich als Anregung für diese Behauptung ausmachen. Außer Frage steht dagegen die Frucht- barkeit des damit entworfenen Konzeptes, das darin besteht, die Nachtwache, also das be- rühmteste Bild Rembrandts, zum Schlüsselbild seiner menschlichen und künstlerischen Ent- wicklung und zum Symbol der in Rembrandt personifizierten Idee vom Künstler zu stilisie- ren. In dieser Weise wurde die Ablehnungslegende im folgenden zum zentralen Bestandteil

43 „On sait à quoi s’en tenir sur l’effet que produisit la Ronde de nuit, lorsqu’elle parut en 1642. Cette tentative mémorable ne fut ni compromise ni goûtée. Elle ajouta du bruit à la gloire de Rembrandt, le grandit aux yeux de ses admirateur fidèles, le compromit aux yeux de ceux qui ne l’avaient suivi qu’avec quelque effort et l’attendaient à ce pas décisif. Elle fit de lui un peintre plus étrange, un maître moins sûr. Elle passionna, divisa les gens de goût suivant la chaleur de leur sang ou la roideur de leur raison. Bref, on la considéra comme une aventure absolument nouvelle, mais scabreuse, qui le fit applaudir, pas mal blâmer, et qui au fond ne rassura personne.“ (Fromentin 1972 [1876], 215). 267 der Verkennungsdramaturgie, deren mythisches Muster der „Verkennung als Anerkennung“ (Boomgaard) Fromentin selbst jedoch noch nicht vollständig ausformuliert hat. Wo dieser Schritt vollzogen wird, hat zuerst Jan Emmens herausgestellt:

„[Bei Michel] finden wir den vollständigen Verkennungsmythos, rund um die Nachtwache grup- piert und motiviert durch einen Verweis auf den phantastischen Einschla g dieses Gemäldes, wo- durch es für die Zeitgenossen als Porträtgruppe mißglückt gewesen sei, aber für das 19. Jahrhundert das verkannte Meisterwerk par excellence vergegenwärtigte.“ (Emmens 1968, 21)44

Der französische Autor Émile Michel ist in mehreren Publikationen, zuerst 1886,45 als Rem- brandtkenner hervorgetreten und verkörpert um die Jahrhundertwende als Autor wie in Zu- schreibungsfragen neben dem Deutschen Bode und den Niederländern Bredius und Hofstede de Groot die französische Autorität in Sachen Rembrandt.46 Seine inhaltlich wie materiell umfangreiche Monographie über den Künstler hat der 20 Jahre älteren Monographie von Vosmaer nicht nur die Einarbeitung der neuesten Archivfunde voraus, sie setzt auch durch eine komplexe Einbindung Rembrandts in die politischen und kulturgeschichtlichen Bedin- gungen seiner Zeit einen neuen Maßstab.47

Wenn wir bei Michel vom ‘vollständigen Verkennungsmythos‘ sprechen können, so hängt das entscheidend mit dem Bestreben dieses Autors um historische Kontextualisierung und um ein geschlossenes Bild der Person, der Kunst und der Zeit Rembrandts zusammen. Die einzel- nen Daten, die in den Archivquellen aufgefunden und aus den Rembrandt zugeschriebenen

44 „[Bij Michel] vinden wij de miskenningsmythe compleet, gegroepeerd rondom de Nachtwacht en gemotiveerd met een verwijzing naar de fantastische inslag van dit schilderij, waardoor het voor de tijdgenoten een misluk- king als portretgroep zou zijn geweest, maar voor de 19de eeuwers het miskende meesterwerk par excellence vertegenwoordigde.“ (Emmens 1968, 21). 45 In der Reihe Les artistes celebres (Paris: Librairie de l'art) erschien 1886 die erste umfassende Publikation Michels zu Rembrandt (126 Seiten). Als Hauptwerk kann jedoch die Monographie gelten, die 1893 publiziert wurde und aus einem (reich bebilderten) Textband sowie einem eigenen Bildband besteht. 46 Vgl. Boomgaard 1995, 107. 47 Zudem kann sie, dank der jüngsten Entwicklung fotografischer Reproduktionstechnik, erstmalig mit einer umfassenden Bebilderung aufwarten. Den Text band illustrieren über 300 Abbildungen, vorwiegend Radierungen und Zeichnungen, zusätzlich vermittelt ein Bildband einen Eindruck des malerischen Werkes. Stolz und eupho- risch begrüßt Émile Michel im Vorwort die Fortschritte der Heliogravure, durch die „ohne Hilfe jeder anderen Vermittlungsinstanz als der Sonne“ Rembrandt selbst der Illustrator dieses Bandes sei: „Nur das Licht allein haben wir darum gebeten, die Werke des Malers des Lichts zu übertragen.“ („Par une rare fortune, sans le se- cours d’aucun autre intermédiaire que le soleil, Rembrandt est l’illustrateur de ce volume où je me propose de raconter sa vie et d’apprécier son talent. C’est à la lumière seule que nous avons demandé de traduire les œuvres du peintre de la lumière.“ Michel 1893, X f.). Damit hatte Vosmaers Buch die längste Zeit den Rang der umfas- sendsten Informationsquelle über den holländischen Künstler bekleidet. Über die Bekanntheit und den Einfluß der Michelschen Monographie in Fachkreisen kann auch die Tatsache nicht hinwegtäuschen, daß Carl Neumann, der als erster deutschsprachiger Autor dem Maßstab Michels nachzufolgen versuchte, in seiner Literaturdiskus- sion die fraglos vorbildliche Schrift seines französischen Kollegen nur ganz beiläufig erwähnt (Neumann 1902, 12; vgl. Boomgaard 1995, 107). 268 Werken abgelesen werden, überführt Michel dabei durch Kausalverknüpfungen, Interpretatio- nen und Psychologisierungen in eine homogene Erzählung. Am Beispiel der Legende von der Ablehnung der Nachtwache läßt sich die praktische Aus- wirkung dieser Narrativierung illustrieren. Denn wo bei Vosmaer ausschließlich der engere Kreis der betroffenen Zeitgenossen Unzufriedenheit mit dem Bild signalisiert und sich bei Fromentin die künstlerische Wertschätzung Rembrandts auch im weiteren Publikum in zwei Lager spaltet, da bindet Michel dieses Ereignis mit letzter Konsequenz in einen linearen Ent- wurf des Lebenslaufes ein. Es ist die Kopplung zweier Ereignisse, des Todes Saskias und der Ablehnung der Nachtwache, an der dieses narrative Verfahren besonders augenfällig wird. Émile Michel stellt eine wirkungsvolle Verknüpfung jener ‘Schicksalsschläge‘ her, die Rem- brandt dieser Darstellung zufolge in den beiden vom Diskurs unterschiedenen Sektoren des Öffentlichen wie des Privaten im Frühjahr 1642 zu erleiden hatte. Nachdem er sich in Kapitel 13 mit dem Auftrag und der ästhetischen Umsetzung der Nachtwache beschäftigt hatte, be- ginnt er das folgende Kapitel zunächst mit der Erzählung über Saskias Krankheit, ihren Tod und ihr Testament, bevor er unter dem Seitentitel „L‘Effet produit par la Ronde de nuit“ zur Nachtwache zurückkehrt.

„Um auf die grausamste Weise empfunden zu werden, war die Trauer über den Verlust einer zärt- lich geliebten Gattin nicht das einzige, das Rembrandt nun zu ertragen hatte. Er konnte sich keine Illusionen darüber machen: die öffentliche Gunst begann, sich von ihm abzuwenden. Nachdem er ganz und gar in Mode gekommen war und die herausragende Position unter allen Amsterdamer Künstlern eingenommen hatte, sah er sich nun ein wenig zurückgestellt. Sein launisches Verhalten gegenüber der gehobenen Gesellschaft, deren bestallter Künstler er innerhalb kurzer Zeit geworden war, hatte viele Leute abgeschreckt. Die Nachtwache fügte seinem Ruf einen fatalen Schlag zu und verstärkte seine Isolation zusätzlich.“ (Michel 1893, 296)48

Der privaten Katastrophe schließt sich also direkt die berufliche an; nach dem Verlust der engsten Vertrauten wird die Isolation durch die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Nacht- wache zusätzlich verstärkt. Dieses Kernelement der Dramatisierung wird unten wieder aufzu- greifen sein. Folgen wir aber zunächst Michels Argumentation, die jetzt die Tendenz zeigt, die Begründungen für die Ablehnung des Bildes, wie sie bei Vosmaer, Bode oder Burckhardt angedeutet wurden, umfassend darzulegen und die Reichweite des Ereignisses zu vergrößern:

48 „Pour être la plus cruellement ressentie, la tristesse que lui causait la perte d’une épouse tendrement aimée n’était pas la seule que Rembrandt dût éprouver alors. Il ne pouvait se le dissimuler, la faveur publique com- mençait à se détourner de lui. Après avoir été tout à fait à la mode et le plus en vue de tous les artistes d’Amsterdam, il se voyait maintenant un peu délaissé. Ses procédés fantasques vis -à-vis de la haute société, dont il était en peu de temps devenu le peintre attitré, avaient rebuté bien des gens. La Ronde de nuit allait porter un coup fatal à sa réputation et accroître encore son isolement.“ (Michel 1893, 296). 269 „Man kann sich ihre verheerende Wirkung leicht erklären. (...) für die Holländer jener Zeit, nüch- terne Menschen von besonnenem Geist, Freunde der Klarheit in allen Dingen, war diese Auffas- sung des Lichtes gut geeignet, um sie zu irritieren. (...) Rembrandts Werk erschien ihnen als Ketze- rei, fast schon als eine Taktlosigkeit, die sich gegen sie richtete. In die Achtung gegenüber den Traditionen vertrauend, hatten sie bezahlt, um in ihrer Erscheinung gut sichtbar abgebildet zu wer- den, und nun schändete der Maler, an den sie sich gewandt hatten, offen die ungeschriebenen Ver- tragsbedingungen, die alle seine Vorgänger akzeptiert hatten.“ (Michel 1893, 296)49

Michel baut die Vorstellung vom geringen Kunstverstand der Auftraggeber aus, deren Wunsch allein in der repräsentativen Wiedergabe ihrer Porträts bestanden habe. Indem er Rembrandts ästhetische Umsetzung als Bruch eines ungeschriebenen Vertrages deutet, läßt er die vermeintliche Reaktion der Besteller als nachvollziehbar erscheinen. Und indem er die Argumente der Gegenseite ausschmückt, sich sogar entschuldigend für diese einsetzt, erhöht er die Plausibilität seiner Behauptung:

„Die zwei Anführer, gut pla tziert und hervorgehoben, konnten sich wirklich nicht beschweren (...). Doch abgesehen von vier oder fünf Mitgliedern der Korporation empfand sich der Rest der Truppe als schlecht verteilt; und wenn man den Standpunkt jener rechtschaffenden Leute einnimmt, hatten sie sicher allen Grund, die Verfahrensweise des Malers ihnen gegenüber als wenig korrekt zu er- achten. Die Gesichter in Schatten getaucht, hier und da von einem Lichtschein erleuchtet; andere kaum sichtbar, wieder andere in düsterer Weise ausgeführt und deshalb auch von mehr als zweifel- hafter Erscheinung; das war ganz sicher nicht was sie von ihm erwartet hatten.“ (Michel 1893, 296 f.)50

Im Stile einer Verteidigungsrede läßt uns Michel den „Standpunkt jener rechtschaffenden“ Gildemitglieder einnehmen und bringt uns so deren vermeintliche Wahrnehmung des Bildes nahe. Die Reaktion auf die enttäuschten Erwartungen wird verständlich, und der hypotheti- sche Charakter der Ablehnung verfestigt sich zur Gewißheit („assurément“). Im nächsten Schritt tritt der Autor wieder auf die Seite des Künstlers - er etabliert auf diese Weise rheto-

49 „On s’explique facilement l’effet désastreux qu’elle avait produit. (...) pour les Hollandais de ce temps, gens positifs et de sens rassis, ami de la clarté en toutes choses, cette façon de comprendre la lumière était bien faite pour les déconcerter. (...) L’œuvre de Rembrandt leur semblait une hérésie, presque une indélicatesse vis -à-vis d’eux-mêmes. Confiants dans des traditions respectées, ils avaient payé pour être représentés dans leur ressem- blance et posés bien en vue; et voici que le peintre auquel ils s’étaient adressés violait ouvertement les tremes du contrat tacite qu’avaient accepté tous ses prédécesseurs.“ (Michel 1893, 296). 50 „Les deux chefs, mis en belle place et tout à fait en évidence, ne pouvaient, il est vrai, se plaindre (...). Mais, sauf quatre ou cinq membres de la corporation, le reste de la troupe se trouvait assez mal partagé; et en se met- tant au point de vue de ces braves gens, il est certains qu’ils avaient lieu d’estimer peu correct le procédé du peintre à leur égard. Des visages noyés dans l’ombre, éclairés çà et là par quelque accroc de lumière; d’autres à peine visibles, d’autres enfin d’une exécution très sommaire et par consèquent d’une ressemblance plus que douteuse, ce n’était pas là assurément ce qu’ils avaient attendu de lui.“ (Michel 1893, 296 f.). 270 risch eine Grenzlinie zwischen dem Maler und der Öffentlichkeit, die wir im Akt der Lektüre nachvollziehen - und läßt nun die ‘gegensätzliche‘ Intention Rembrandts deutlich werden:

„Ohne sich die Bedingungen des Genres bewußt zu machen, so wie sie ihnen als festgelegt erschie - nen, hatte er sich recht wenig um ihre Gestalten gekümmert, vielmehr ausschließlich um die ästhe- tischen Notwendigkeiten seiner Komposition. Vor allem anderen hatte er ein Bild machen wollen. Nach seiner Stimmung zu schließen konnte man glauben, daß ihre Reklamationen ihn kaum beun- ruhigten und daß seine Art, diese entgegenzunehmen, sie endgültig gegen ihn verstimmte.“ (Michel 1893, 297)51

Isoliert man diese Passage, wird der normative Charakter deutlich. Der Künstler, so ließe sich paraphrasieren, ist nicht der Kunstvorstellung der Auftraggeber Rechenschaft schuldig, son- dern vor allem seiner Kunst. In ihr allein liegt die Motivation des Künstlers, ihren Regeln fol- gen seine Entscheidungen: „Vor allem anderen hatte er ein Bild machen wollen“.52 Es ist das Autonomiepostulat, das hier, mitten im Verlauf der Argumentation Michels, als ‘Normaus- sage‘ formuliert wird, als Beschreibung eines historischen Phänomens, die zugleich als allge- meine Vorschrift für künstlerisches Handeln gelesen werden kann. Rembrandt scheint daraus bereits hinreichend Selbstgewißheit bezogen zu haben, um den Irritationen seiner Auftragge- ber mißachtend entgegenzutreten und sie so „endgültig gegen ihn“ aufzubringen - was seiner ‘Befreiung‘ als Künstler gleichkommt. Michel bindet im Anschluß noch ein weiteres Versatzstück in diese Narration ein. Die Wap- penkartusche mit der Namensliste der Porträtierten, die im oberen Bildteil der Nachtwache am Torbogen zu sehen ist und die man zur Zeit Michels bereits als nachträgliche Hinzufügung ansah, sei demnach infolge der Unzufriedenheit der Auftraggeber angebracht worden:53

„Da sie ihn nicht zu einer Änderung seines Werkes bewegen konnten, verschafften sie sich die ein- zige Befriedigung, die ihnen zur Verfügung stand. In Ermangelung ihrer Ähnlichkeit wollten sie zum mindesten ihre Namen erhalten wissen, indem sie diese nachträglich in ein Wappenschild im oberen Teil der Leinwand eintragen ließen.“ (Michel 1893, 297)54

51 „Sans tenir compte des conditions du genre, telles qu’elles leur semblaient établies, il s’était préoccupé fort peut de leur personne et uniquement des nécessités esthétiques de sa composition. Avant tout, il avait voulu faire un tableau. De l’humeur dont il était, on peut croire qu’il ne s’inquiéta guère de leurs réclamations et que la façon dont il les accueillit acheva de les indisposer contre lui.“ (Michel 1893, 297). 52 Hier sei an zwei Zitate aus dem Abschnitt zur Unterscheidung zwischen Auftrag und Autonomie erinnert: „Nicht die Bestellung lockte ihn, sondern das Bild“ (Gurlitt 1902, 435); „Er verlangte ja nie nach Geld (...). Er wollte nur die Kunst.“ (Storck 1903, 510). 53 Fromentin hatte diese Kartusche noch Rembrandts ursprünglicher Ausführung zugeschrieben, desgleichen seine Zeitgenossen (z.B. Springer 1886,191). Die aktuelle Fachwissenschaft spricht von einer Hinzufügung „probably added shortly afterwards“ (Bruyn u.a. 1989, 432). 54 „Ne pouvant obtenir qu’il modifiât son œuvre, ils se donnèrent la seule satisfaction qui fùt à leur portée. A défaut de leur ressemblance, ils voulurent du moins conserver de leurs noms, en les faisant inscrire après coup sur un écusson peint vers le haut de la toile.“ (Michel 1893, 297). 271 So macht sich Michel ein Element des Bildes zunutze, um seiner Deutung des Urteils der Auftraggeber Nachdruck zu verleihen. In einer Anspielung auf die Theorie, die Nachtwache sei bei einem Umzug am linken und am oberen Bildrand beschnitten worden, da sie nicht durch die Tür gegangen sei,55 stellt er zudem eine Verbindung zwischen den zeitgenössischen und den postumen ‘Verkennern‘ des Künstlers her:

„Es hat sogar den Anschein, als würden die geringe Sorgfalt, mit der man das Bild im folgenden behandelte, und die Verstümmelungen, welche man ihm zufügte, die Beständigkeit jener Vorwürfe bestätigen, denen Rembrandt durch seine Zeitgenossen ausgesetzt war.“ (Michel 1893, 298)56

Und noch ein weiteres Element kann zur der Ablehnungslegende gezählt werden: die Anru- fung der Nachwelt, die erst Rembrandts wahre Bedeutung erkennen sollte. Michel führt in diesem Zusammenhang auch das bekannte Argument fehlender Folgeaufträge an und ver- knüpft es mit einer Unterscheidung zwischen autonomen Künstlern und folgsamen Ausfüh- rern von Auftragsarbeiten:

„Allein die Nachwelt sollte den Meister gegen die leidenschaftlichen Kritiken rächen, denen er ausgesetzt worden war; doch versteht man, daß die Schützen nach einer derart empfindlichen Ver- letzung ihres Selbstwertgefühls nicht mehr daran dachten, sich an ihn zu wenden. Sie wußten, daß sie unter den anderen Malern und selbst unter seinen Schülern folgsamere Künstler finden konnten, die mehr darauf eingestellt waren, sich ihren Wünschen zu fügen.“ (Michel 1893, 298)57

Der Argumentationsverlauf ist an seinem Endpunkt angekommen. Die Ursachen sind be- nannt, die Wirkungen dargelegt. Michel wird sie noch einmal in Form einer Schlußfolgerung resümieren und dabei den Schritt verdeutlichen, der ihn von Vosmaer oder Fromentin trennt. Er hat die Ablehnung der Nachtwache nicht nur als Tatsache dargestellt, sondern an zentraler Stelle in ein umfassendes Konzept der Verkennung Rembrandts durch dessen Zeitgenossen eingebunden. Die Vorgänge um das Schützenstück erscheinen bei Michel als entscheidender Wendepunkt der Lebensgeschichte, und das Bild selbst wird somit zum Symbol jenes janus-

55 Dieser Vorgang gilt heute als gesichert (Bruyn u.a. 1989, 430). Während des Untersuchungszeitraums wurde er kontrovers diskutiert. Überliefert ist er durch den Restaurator Van Dijk (1758), Vosmaer bestreitet dessen Aussage jedoch mit Verweis auf die Geschlossenheit der Komposition (1868, 148). Anderen Autoren gilt die Verstümmlung als Tatsache (Hofstede de Groot 1899, o.S., zu Nr. 12), die jedoch ein Artikel von Jan Veth (1902) erneut verunsicherte, so daß sich auch in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sowohl Gegner (Philippi o.J. [1901], o.S.) als auch Befürworter der Verstümmelungsthese finden (Schmidt-Degener 1928, 33; Hausen- stein 1926, 189). Die beiden Letztgenannten verknüpfen, wie schon Michel, die Verstümmelung des Bildes mit der Verkennung des Künstlers. 56 „Il semble même que le peu de soin que l’on prit ensuite du tableau et les mutilations dont il fut l’objet at- testent la persistance de ces griefs que les contemporains de Rembrandt avaient nourris contre lui.“ (Michel 1893, 298). 57 „La postérité seule devait venger le maître des critiques passionnées auxquelles il avait été en butte; mais on comprend qu’après un mécompte aussi sensible à leur amour-propre, les gardes civique ne songèrent plus à s’adresser à lui. Ils savaient que parmi les autres peintres et parmi ses disciples eux-mêmes ils pouvaient trouver des artistes plus dociles, plus disposés à se conformer à leurs désirs.“ (Michel 1893, 298). 272 köpfigen Prozesses, dessen eine Seite ‘Verkennung‘ und dessen andere ‘Autonomie‘ heißt. Diese Autonomie des Künstlers findet ihre Konsequenz in seiner Isolation, seinem späten Rückzug aus der Öffentlichkeit in die Kunst, die nun nicht länger als Handwerk zum Gelder- werb dient, sondern der höheren Aufgabe eines Mittels zum Ausdruck der unaussprechlichen Geheimnisse der Seele geweiht ist:

„Deshalb sind von jenem Moment an die Bestellungen immer weniger zahlreich geworden. Weit davon entfernt, sich zu mildern, wandelte sich das etwas unbeherrschte Gemüt Rembrandts zur Misanthropie. Er hatte zweifellos noch einige zuverlässige Freunde, Zeugen seines Schmerzes, die mitzufühlen wußten und ihn mit ihrer Zuneigung umgaben. Aber die Arbeit war, wie immer, seine beste Zuflucht. Ein für alle Male seinem Leiden ausgeliefert, erhob er sie zur Aufgabe seines ein- samen Lebens. Er liebte es nicht, sich in vergeblichen Worten zu ergehen, und allein in seiner Kunst konnte er eine schweigsame, aber vielsagende Entäußerung jener Gedanken finden, die seine Seele anfüllten.“ (Michel 1893, 298)58

Hatte sich im Umfeld Vosmaers und Fromentins lediglich bei einigen Autoren die Vermutung über die Unzufriedenheit einzelner Gildemitglieder etabliert, so wird diese bei Michel zu einer komplexen Narration ausgebaut, zur Ablehnungslegende der Nachtwache. Damit erhält das Bild eine Schlüsselstellung in der Erzählung von der Verkennung Rembrandts durch seine Zeitgenossen, was es zugleich zu einem heroischen Dokument der künstlerischen Autonomie erhebt, zu Rembrandts ‘Unabhängigkeitserklärung‘.

1.4 Die Ablehnungslegende in der deutschsprachigen Literatur

Wenn ich oben implizit behauptet habe, die Kurzformeln zur zeitgenössischen Kritik der Nachtwache bei Lübke, Burckhardt und Bode könnten als Paraphrasen über Vosmaer gelesen werden, so stellt sich nun natürlich die Frage, wie sich die weitere Behandlung dieses Themas in der deutschsprachigen Literatur zu den Erweiterungen dieser Formeln und ihrer Verfesti- gung zu einer Ablehnungslegende verhält, die wir bei Fromentin und Michel beobachten konnten. Zunächst einmal ist dabei festzustellen, daß die Bezugnahme auf die Nachtwache in den 80er Jahren selbst bei kurzen Texten selbstverständlich geworden ist.59 Äußerungen zu deren

58 „Aussi à partir de ce moment, les commandes étaient devenues de moins en moins nombreuses. Loin de s’adoucir, l’humeur un peu farouche de Rembrandt tournait à la misanthropie. Sans doute, il avait encore quel- ques amis sûrs qui, témoins de sa douleur, savaient y compatir et l’entouraient de leur affection. Mais le travail était, comme toujours, son meilleur refuge. Ècrasé un moment et tout entier à son chagrin, il lui avait bientôt demandé l’occupation de sa vie solitaire. Il n’aimait pas à se répandre en vaines paroles, et dans son art seul il pouvait trouver une traduction silencieuse, mais éloquente, des pensées qui remplissaient son àme.“ (Michel 1893, 298). 59 Auch die Omnipräsenz ihrer Reproduktionen belegt ihre fortgesetzte Einstufung als Schlüsselwerk. 273 skeptischer Aufnahme durch die Zeitgenossen werden im selben Zeitraum zum Topos, jedoch variieren sie hinsichtlich des Umfangs, und ihr inhaltliches Spektrum reicht vom Mißfallen der Abgebildeten über die allgemeine Ablehnung bis hin zur Stilisierung des Bildes zum An- laß einer umfassenden Verkennung Rembrandts. So bewertet etwa Cornelius Gurlitt in seiner Geschichte der Kunst (1902) die „Schaarwache“ als eigenwilligstes Bild des Künstlers, als „das Bild, in dem er am entschiedensten sich selbst Genüge thut“ (Gurlitt 1902, 435). Mit Selbstverständlichkeit sieht Gurlitt in dem Gemälde eine Vernachlässigung der Porträtaufgabe zugunsten der „Darstellung eines Vorganges“ (ebd.) und interpretiert diese Bildlösung als eine souveräne Entscheidung des Künstlers, der sich damit den Auftraggebern und den ‘unge- schriebenen Vertragsbedingungen‘ (Michel) widersetzt habe:

„Man hat seiner Zeit das Bild nicht mit Zustimmung aufgenommen. Jedes Mitglied der Gruppe hatte seinen Beitrag zu zahlen und die im Hintergrund stehenden murrten gegen diese Anordnung. Es dauerte lang, ehe Rembrandt den dritten ähnlichen Auftrag erhielt: Man konnte ihm nicht ver- zeihen, daß ihm die Menschen ein Stück des Bildes und nicht um ihrer selbst willen von höchster Bedeutung waren, daß in seinem Schaustück nicht jedem eine gute Rolle, sondern lediglich ein großer malerischer Gesamteindruck geschaffen war.“ (Gurlitt 1902, 435)

Diesem Motiv der Unterordnung des einzelnen „Bürgerschützen“ (ebd.) unter den „maleri- sche[n] Gesamteindruck“, das Gurlitt hier 1902 zur Ursache der Unzufriedenheit mit der Nachtwache erklärt, gilt auch in einer der disziplingeschichtlich bedeutsamsten Arbeiten jenes Jahres ein zentrales Interesse. Ihr Autor ist Alois Riegl, Professor für Kunstgeschichte in Wien; ihre Zielsetzung ist die erste systematische Untersuchung zu Entwicklungsgeschichte und Gestaltungsmerkmalen des holländischen Gruppenporträts. Im Zentrum dieser Arbeit stehen detaillierte Bildbetrachtungen, die besonders nach den Kommunikationsstrukturen der abgebildeten Personen untereinander fragen sowie nach deren Verhältnis zum Betrachter, wobei diese Strukturen als Unterordnung oder Überordnung („Subordination“ oder „Koordi- nation“) beschrieben werden. In seiner methodischen Konsequenz, in den Ansätzen zu einer gesellschaftspolitischen Begründung dieser weitgehend auf das bürgerliche Holland be- schränkten Bildgattung sowie in der intersubjektiven Perspektive seiner Entwicklungsge- schichte unterscheidet sich Riegls Auseinandersetzung mit der Kunst des 17. Jahrhunderts grundsätzlich von den biographisch orientierten Autoren, die das Bild der Rembrandtrezep- tion dominieren. Anatomie, Nachtwache und Staalmeesters sind hier zwar ebenfalls an die Person ihres künstlerischen Urhebers gebunden, stehen aber darüber hinaus als wichtige Ver- suche der Lösung eines bestimmten Bildproblems in einem systematischen Vergleich mit Werken von de Keyser, Hals oder van der Helst, wobei auf polarisierende Wertungen, etwa zwischen ‘Modemalern‘ und ‘künstlerischen Genies‘, verzichtet wird. Biographische Ver- weise spielen in diesem Argumentationszusammenhang keine Rolle. Deshalb ist es um so 274 auffälliger, wenn am Rande der Untersuchung doch einige beiläufige Bemerkungen zur Per- son Rembrandts und seinem Schicksal gemacht werden. So bildet Rembrandt auch bei Riegl das Beispiel eines Künstlers, dem besonders an der Autonomie seiner gestalterischen Aufga- ben und deren Lösung gelegen ist. In der Nachtwache sieht er das Bestreben zur „Subordina- tion“ der einzelnen Porträts unter eine Gesamtordnung, wodurch notwendigerweise ein unter- schiedlicher Grad an Aufmerksamkeit auf die Einzelbildnisse entfalle. Auch de Keyser habe schon einmal versucht, die „Subordination“ der „Koordination“ vorzuziehen, doch seine „Er- fahrungen mit den Amsterdamern“ hätten dazu geführt, daß er „alle Köpfe wieder gleichwer- tig zur Geltung kommen ließ“ (Riegl 1931 [1902], 195):

„Aber Rembrandt kannte diese Rücksicht nicht und verfolgte sein künstlerisches Ziel über eine Li- nie hinaus, über die ihm seine Zeitgenossen zu einem großen Teil nicht mehr zu folgen vermoch- ten. (...) Eine Auffassung, die anderthalb Dutzend Köpfe geflissentlich zurückdrängte und nivellierte, um bloß zwei Köpfe in voller Porträtlebendigkeit heraustreten zu lassen, bedeutet nahezu eine Ver- nichtung der Koordination und somit des Gruppenporträts überhaupt. Konnte von einem solchen überhaupt noch die Rede sein, dann war es eben ein Doppelporträt von Kapitän und Leutnant vor einem mit Figuren belebten Hintergrunde. Und dies war es auch, was die Mehrzahl der Porträtier- ten und mit ihnen zahlreiche Unbeteiligte aus dem Amsterdamer Publikum an dem Bilde sofort auszustellen hatten.“ (Riegl 1931 [1902], 195)

An die als extreme Lösung empfundene Gestaltung der Nachtwache wird also auch in diesem so formanalytisch orientierten Text ein Verweis auf den Konflikt des ‘autonomen Künstlers‘ mit der Gesellschaft angeschlossen. Rembrandt habe sich, so lautet der Topos im Vokabular Riegls, mit seinen Absichten „dem durchschnittlichen Kunstwollen seiner Landsleute so sehr entfremdet, daß sie ihm darin nicht mehr zu folgen vermochten“ (ebd., 198). Wie vor ihm be- reits Michel (1893, 297), äußert Riegl Verständnis dafür, daß die Zeitgenossen speziell mit der Nachtwache Probleme gehabt hätten:

„Man ist selbst heute ziemlich einig darüber, daß die Raisonnierenden dabei in gutem Rechte wa- ren, und macht ihnen bloß zum Vorwurfe, daß sie über die Verstimmung wegen Vernachlässigung der eigenen werten Person den Kunstwert des Bildes an und für sich ganz vergessen konnten.“ (Riegl 1931 [1902], 195 f.)

Die Publikumsreaktion im Amsterdam des Jahres 1642 erscheint hier nicht als fraglich. Wenn aus einer scheinbar neutralen Perspektive Verständnis für ein historisches Unverständnis ge- genüber der Nachtwache geäußert wird, so ist die Faktizität dieses Unverständnisses vielmehr vorausgesetzt. Auch in Riegls Entwicklungsgeschichte der Bildgattung, auch in seine Katego- rien der Subordination und der Koordination mit ihrer Problematisierung von Gleichrangig-

275 keit oder Hierarchie der Abgebildeten im Gruppenporträt wie in der Gesellschaft paßt die Idee der Unzufriedenheit mit Rembrandts einzigem Schützenstück hinein. In seinen Bildbeschrei- bungen und Bewertungen widerspricht der Wiener Kunsthistoriker mehrfach vehement sei- nem Heidelberger Kollegen Carl Neumann, der eben erst seine Rembrandt-Monographie vor- gelegt hatte.60 Es liegt jedoch offenbar nicht in Riegls Interesse, sich auch mit der Haltung Neumanns zur Ablehnungsthese auseinanderzusetzen. Denn Neumann hatte seinerseits den Darstellungen Vosmaers und Michels zur Ablehnung der Nachtwache widersprochen. Dabei scheint er den Topos zunächst in der mittlerweile gewohnten Weise zu behandeln:

„(...) wir wollen es gleich hier aussprechen, daß die Bestellung des Schützenbildes eine Art von künstlerischem Mißverständnis war, indem eben das, was die Auftraggeber wünschten, eine Anzahl Bildnisse, den Maler nicht interessierte, und er also die Aufgabe in der Richtung seiner augen- blicklichen Interessen umgestaltete und in seine eigenthümliche Ausdrucksweise übersetzte.“ (Neumann 1902, 224)

Dennoch sei es falsch, aus diesen unterschiedlichen Interessen auf eine Ablehnung der Nacht- wache zu schließen, als deren Folge Rembrandt bereits in den 40er Jahren zum gesellschaftli- chen Außenseiter geworden sei:

„Alles dies in Betracht gezogen, würde man doch sehr irren, wenn man sich Rembrandts Stellung erschüttert vorstellte. Hierüber laufen die größten Irrtümer um, und sie haften um so fester, als eine gewisse Selbstgefälligkeit der Nachwelt sich viel darauf zu gut thut, ein zu früh in die Welt ge- kommenes Genie zu entdecken und ihm auf den Thron zu helfen, wobei es geläufig ist, die Zeitge- nossen des Genius ob ihres geringen Verständnisses anzuklagen, ja eben diese Verkennung und Anfeindung zu einem der Merkmale zu machen, an denen als an indirekten Beweisen der Genius mit seinen Begleiterscheinungen zu kennen sei.“ (Neumann 1902, 404 f.)

Mit dieser Kritik bezieht sich Neumann konkret auf die Ablehnungslegende und spart dabei auch nicht mit persönlichen Schuldzuweisungen:

„Es ist fast eine stehende Wendung der Rembrandtbiographie geworden, den Mißerfolg der Nachtwache als den Stoß zu bezeichnen, der Rembrandts Ruf erschüttert habe; die Eigenmächtig- keit seiner malerischen Behandlung, die Rücksichtslosigkeit gegen die Besteller, die in diesem Bild eigentlich betrogen worden seien, habe allgemeine Unzufriedenheit erregt, und der damit erfolgte Bann, der auf Rembrandt seitdem lastete, habe ihn zum Menschenfeind gemacht und in seinen Sonderlingsneigungen bestärkt. (In die ser Art weit ausgesponnen bei Michel p. 296 ff.)“ (Neumann 1902, 405)

60 Riegl 1931, z.B. 188 (Fußnote 1) oder 194 (Fußnote 2). 276 Zur Entkräftung der „stehende[n] Wendung“ verweist Neumann, den Regeln der wissen- schaftlichen Beweisführung folgend, auf den Mangel an verläßlichen Quellen:

„Für solche und ähnliche Behauptungen fehlt indessen jeder ausdrückliche Anhaltspunkt in zuver- lässigen Berichten. Im Gegenteil beweisen die Zeugnisse, die des Bildes überhaupt gedenken, daß es als Kunstwerk großes Staunen erregte und seinen großen Eindruck zu machen fortfuhr. (...) Daß Rembrandt weiter keine Schützenstücke gemalt hat, beweist nicht, daß ihm keine bestellt worden seien; denn vielleicht wies er solche Aufgaben ab und wollte sich ihren ausdrücklichen Bedingun- gen nicht fügen.“ (Neumann 1902, 405)

Neumann entkräftet einen wichtigen Beleg der Ablehnungsthese, die geringe Zahl an Aufträ- gen für Gruppenporträts, durch eine kontrapunktische Deutung. Interessant ist dabei, daß sich beide Modelle, die das Fehlen an Aufträgen deuten, auf die Grundlage einer abwehrenden Haltung Rembrandts gegen Auftragsarbeiten stützen, also mit dessen Einschätzung als auto- nomem Künstler operieren. Und tatsächlich beschränkt sich Neumanns Widerspruch auf die Erhebung der Nachtwache zum Schlüsselwerk im Konflikt zwischen Künstler und Gesell- schaft. Die übergeordnete Vorstellung von Verkennung und Vereinsamung Rembrandts ist davon nicht betroffen, sie wird lediglich auf das Spätwerk verschoben:61

„Der Rückgang seines Ansehens fällt wohl erst in die allerletzten Jahre seines Lebens.“ (Neumann 1902, 408 f.)

Neumann richtet seine Kritik direkt an Émile Michel. Doch der Kreis der Autoren, die er da- mit unausgesprochen trifft, ist größer; die Ablehnungslegende hatte sich zu diesem Zeitpunkt bereits als Topos etabliert. Franz von Reber, Mitarbeiter der Alten Pinakothek in München, stellt die Ereignisse von 1642 in das Zentrum der Rembrandtpassage seines Handbuchs zur Geschichte der Malerei (1894):

„Allein das Jahr 1642 zertrümmerte sein ganzes Glück. Zunächst durch den Tod seiner Saskia. Dann aber durch den äusseren Misserfolg eines Werkes, das jetzt mit Recht als der Stolz der gan- zen holländischen Kunst gilt, damals aber die Besteller mit Unzufriedenheit erfüllte, und vom Pu- blikum mit allgemeinem Kopfschütteln aufgenommen wurde. Es war die sog. ‘Nachtwache’ (...). Damals war der äussere Erfolg der, dass die Bestellungen ausblieben. Nur mehr selten zu einem

61 In vergleichbarer Weise, wenn auch weniger ausführlich, relativiert von allen untersuchten Texten der Jahre 1893-1926 nur Wilhelm Valentiner die Ablehnung der Nachtwache. Auch er hält zugleich an der Isolation Rem- brandts in den letzten Jahren fest: „(...) die Wunderwerke aus Rembrandts Mannesalter sind zu allen Zeiten - das halbe Jahrhundert nach des Künstlers Tod, als sein Name nichts galt, vielleicht ausgenommen - gepriesen wor- den. Auch schon zur Zeit, als sie entstanden. Die Annahme, daß der Umschwung der Stimmung des Publikums durch die Nachtwache erfolgt sei, ist wahrscheinlich unrichtig. Der Ruhm des Künstlers blieb bis zum Ende der vierziger Jahre und darüber hinaus bestehen.“ (1906, 110). 277 Bildnis aufgefordert, radierte der Künstler in der stillen Einsamkeit seines Hauses und ersetzte den Mangel an Aufträgen durch unablässige Studien nach sich selbst.“ (Reber 1894, 338 f.)

Wenn Reber das Ausbleiben von Aufträgen als „Erfolg“ bezeichnet, mag er das ironisch mei- nen. Doch es ist erhellend, ihn wörtlich zu verstehen. Da die Marginalisierung durch die Zeit- genossen als Merkmal des modernen Künstlertums fungiert, ist Rembrandt mit dem Erreichen seiner künstlerischen Autonomie durch die ‘Befreiung‘ von den Aufträgen tatsächlich ein „Erfolg“ gelungen. Erst in der rezeptionsgeschichtlichen Phase, die in der Verkennung in diesem Sinne einen „Erfolg“ Rembrandts sah, erst in den 90er Jahren, wurde auch die Nachtwache als Vehikel dieser Entwicklung beschrieben. Die aufsehenerregende Rembrandt-Ausstellung von 1898 bot dafür einen besonderen Anlaß. Einerseits mögen hier zahlreiche Ausstellungstouristen erst- mals dem Schützenbild begegnet sein. Andererseits waren gerade die Kenner in höchstem Maße entzückt, das Werk wiederzusehen. Denn die Nachtwache hatte inzwischen zum wie- derholten Male ihren Standort gewechselt.62 Nachdem sie lange Zeit im altehrwürdigen Trip- penhuis, einem museal genutzten Amsterdamer Bürgerhaus, aufbewahrt worden war, folgte 1885 der Umzug in das neu errichtete Rijksmuseum. Aufgrund der ungünstigen Lichtverhält- nisse löste die dortige Präsentation eine Welle der Kritik aus. So sprach etwa Hofstede de Groot davon, das Bild sei „vom Schicksal verurtheilt, fortan in dem besser beabsichtigten als ausgeführten Rembrandtsaale des neuen Reichsmuseums ein trübtrauriges Dasein zu führen“ (Hofstede de Groot 1899, o.S.). In den Räumen der Rembrandt-Ausstellung im Stedelijk Mu- seum fand man dagegen „wieder ein lebendiges, strahlendes Bild“ vor (Bredius 1898, 7). Und so wird auch in Rezensionen dieser Ausstellung, etwa bei Otto Seeck, über die Nachtwache und ihre historische Rezeption diskutiert:

„Hier aber mußte es sich der Eine gefallen lassen, daß er im Dämmer des Halbdunkels beinahe ver- schwand, der Andere mußte gar einen Arm oder eine Schulter vor sich dulden, die ihm das halbe Gesicht verdeckte. Denen das passierte, waren ohne Zweifel häßliche Burschen, mit deren lang- weiligen Zügen Rembrandt sein Bild nicht verunstalten mochte; aber ob sie selbst diesen Grund gelten ließen, dürfte zum Mindesten zweifelhaft sein. Der Maler (...) mochte hoffen, daß die Groß- artigkeit des vollendeten Werkes auch die Gegner versöhnen werde. Es war eine idealistische Täu- schung. Fast zwanzig Jahre lang hat Keiner mehr ein Doelenstück bestellt (...).“ (Seeck 1898, 54)63

Die anschließende Aktualisierung verdeutlicht nochmals das dramatische Potential der Le- gende von der Ablehnung gerade dieses Werkes:

62 Vgl. Boomgaard (1995), wie Anmerkung 25. 63 In ähnlicher Weise äußert sich Heinrich Weizsäcker (1898, 508). 278 „Wenn man auf der Ausstellung die Menge der Besucher in staunendem Schweigen oder ehr- furchtsvollem Flüstern dem strahlenden Glanze der Nachtwache gegenüber sieht, empfindet man tiefe Wehmut bei dem Gedanken, daß eben dieses Wunderwerk es sein mußte, das den Beginn des Niederganges für seinen Schöpfer bezeichnete. Freilich nur in seinen äußeren Verhältnissen; in sei- ner Kunst steigt er desto höher, je weniger er sich um das Publicum bekümmert.“ (Seeck 1898, 55)

Zu den Fachkollegen, die Carl Neumann mit seinen kritischen Hinweisen auf die Irrtümer über den angeblichen Mißerfolg der Nachtwache trifft, ist schließlich auch Wilhelm Bode zu zählen. Er hält die Ablehnung der Nachtwache in seinem Text für den achtbändigen Werkka- talog (1900) für wahrscheinlich:

„[Das Schützenbild] war von allen Darstellungen ähnlicher Art, wie sie in Holland seit mehr als ei- nem Jahrhundert in grosser Zahl entstanden, so vollständig verschieden, dass seine Beurtheilung bei den Zeitgenossen begreiflicher Weise eine sehr verschiedenartige, beim grossen Publikum wohl vorwiegend eine abfällige gewesen sein wird. Doch das ist ja, gerade wie heute, nur ein Beweis, dass es über dem Niveau des Philisters steht, dass die Biedermänner, die darin dargestellt sind, durch die geniale Kunst des Meisters in eine besondere Welt, in die künstlerische Welt Rem- brandt’s gehoben wurden, die dem Publikum im Allgemeinen unzugänglich war.“ (Bode 1900, 17)

Auch Bode plausibilisiert die Ablehnungsthese durch den allgemeinen Verweis auf die Diffe- renz zwischen der „geniale[n] Kunst des Meisters“ und dem „Niveau des Philisters“, des ‘Bie- dermanns‘, respektive des „Publikum[s] im Allgemeinen“. Er folgt damit zugleich einer Vor- stellung, die die Kunst über den Alltag erhebt und den Künstler von den Banalitäten und Zwängen, aber auch von den Sicherungen des Bürgertums entbindet. Dabei beschreibt der Berliner Museumsdirektor indirekt selbst die symbolische Position, die der Ablehnung des Werks zur Veranschaulichung der ‘typischen‘ Spannung zwischen Künstler und Öffentlich- keit zukommt, und betont zudem die Aktualität dieses Konzeptes: In der Ablehnung durch die Zeitgenossen beweist sich die überzeitliche Relevanz des Künstlers, der Konflikt mit der (bürgerlich-modernen) Gesellschaft ist eine Funktion der Kunst. Bode verweist die Ereignisse des Jahres 1642 auf ihr Prinzip, und in dessen fortdauernder Wirksamkeit kann auch der Grund dafür gesehen werden, daß Neumanns Relativierungsversuch bis auf wenige Ausnah- men ohne Echo blieb, während die Ablehnungslegende in Texten unterschiedlicher Gattungen bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts zum topischen Bestand zählte. Statt einer Auseinandersetzung mit Carl Neumanns Analyse dieses Zusammenhangs brachten die folgenden Publikationen lediglich weitere Beispiele für das Prinzip, „Verkennung und Anfeindung zu einem der Merkmale zu machen, an denen als an indirekten Beweisen der Ge-

279 nius mit seinen Begleiterscheinungen zu kennen sei“ (Neumann). Der Kunstschriftsteller Adolf Rosenberg schreibt 1904: 64

„Dieses Gemälde, das wir heute als eine der höchsten Offenbarungen des malerischen Genies ver- ehren, ist von den Zeitgenossen seines Schöpfers, insbesondere aber von den Bestellern, bei weitem nicht in gleichem Maße gewürdigt worden. Es erregte im Gegenteil unter den zunächst Beteiligten eine so allgemeine Unzufriedenheit, daß Rembrandts ganze Malerei in Mißkredit kam und die Gunst des Amsterdamer Publikums sich ebenso schnell von ihm abwandte, wie sie ihm zehn Jahre früher zugeflogen war.“ (Rosenberg 1904, XXVII)

Die Legende von der Ablehnung der Nachtwache bietet sich als Schlüsselelement für die Tra- gödie von Aufstieg und Fall des genialen Künstlers Rembrandt van Rijn an, da sie die Ge- samterzählung en miniature nachzeichnet. In ihr tritt die Unvereinbarkeit zwischen Künstler und Umwelt unmißverständlich in Erscheinung, in ihr kann sich die Autonomisierung an- schaulich vollziehen. Kein anderes Gemälde als dieses, sein monumentalstes, durch den Nachruhm zum Hauptwerk erklärt, eignet sich besser für die Rolle des dramatischen Wende- punktes, dessen die Narration bedarf, zumal in diesem ‘Höhepunkt‘ seines Schaffens auch der Höhepunkt seines Kontaktes zur Öffentlichkeit gesehen werden kann, wie die Zahl der darin umgesetzten Porträts dokumentiert. Das ‘verkannte Meisterwerk‘ Nachtwache fungiert als Symbol für den verkannten Künstler. Es tut dies um so besser, als die biographischen Daten Rembrandts es ermöglichen, die Schicksalsschläge in Leben und Werk an diesem Punkt zu überblenden.

1.5 Die Nachtwachenlegende: Beispiele der populären Rezeption

„Die Nachtwache war nur der Vorwand, der Anlaß. Die wirkliche Ursache war Rembrandts Ge- nie.“ (Emile Verhaeren 1912, 12)

Der deutsche Spielfilm Rembrandt, 1942 unter der Regie von Hans Steinhoff entstanden, ent- faltet seine Handlung rund um die Nachtwache. Er beginnt mit der Auftragsvergabe, endet mit einer letzten Betrachtung des Bildes durch den altersgeschwächten Künstler und siedelt den entscheidenden Wendepunkt der Handlung ins Tragische in dem Moment der Ablehnung der Nachtwache durch Auftraggeber und Publikum an. Dieses Ereignis ist in einer Parallelmon- tage mit dem Sterben Saskias verknüpft; eingebettet in Szenen aus dem Sterbezimmer, wo

64 Vgl. den Artikel von Peter H. Feist in: Betthausen/Feist/Fork 1998, 329. 280 Rembrandt bei Saskias wacht, wird die öffentliche Präsentation des Schützenbildes zum Le- ben erweckt. Zunächst zeigt eine Totale in starker Aufsicht den Saal, in welchem das Bild aufgestellt ist. Als das Publikum in den Raum hineinströmt, folgt die Kamera dem Weg der Menge, die mit wildem Stimmengewirr vor das Bild tritt und auch dort - unruhig suchend - in Bewegung bleibt. In halbtotalen Einstellungen auf die Besuchermenge erkennen wir Mitglieder der Gilde, die uns aus dem bisherigen Handlungsverlauf des Films bereits bekannt sind. Fragende Bemerkungen wie „Da, nein da!“, „Bin ich das?“ oder „Ja wo bin ich denn?“ sind zu hören. Nach einer bildfüllenden Ansicht der Nachtwache wird uns das Gemälde in Details gezeigt, die immer wieder durch Einstellungen auf Gildemitglieder unterbrochen und durch deren skeptische Äußerungen kommentiert werden.

„‘Dieser unbedeutende junge Mensch soll ich sein? Na, ich muß mich doch sehr wundern.‘(...) ‘Von mir sind ja nur zwei Augen zu sehen.‘ ‘Sei froh. Von mir sieht man nur eins!‘ (...) ‘Und diese dicken Beine. Unglaublich! Man sagt, ich habe die schönsten Beine in Amsterdam.‘“ (Sequenz 3, Szene 16, Einstellung 11-22)

Frans Banning Cocq ruft die Menge zur Ruhe, erklärt er fände das Bild sehr schön und verläßt darauf gemessenen Schrittes den Saal. Durch seine Körperhaltung bei diesem Abgang, die mit seiner Pose im Gemälde übereinstimmt, wird die Zufriedenheit des Gildehauptmanns indirekt erklärt.65 Wie allen anderen, geht es auch ihm demnach um die Darstellung seiner Person, also nicht um das Bildganze, sondern um einen Teil. Die ablehnende Haltung der restlichen Por- trätierten wird mit der Nichtachtung ihrer narzißtischen Interessen begründet. Mit dem Abgang Banning Cocqs beginnt die letzte Phase dieser öffentlichen Bildpräsentation. In ein kurzes Schweigen mischt sich unterdrücktes Lachen, dann bricht die Menge in schal- lendes Gelächter aus, das sich über mehrere Einstellungen mit teils slapstickhaftem Inhalt hinzieht. Eine Figur namens „Ulricus Vischer“, die uns als Maler und Konkurrent Rembrandts vorgestellt wurde, schüttelt sich vor Lachen. Allein die Schüler Rembrandts, die der Szene beiwohnen, bleiben von der allgemeinen Heiterkeit unbeeinflußt. Während die Bildmontage uns wieder an Saskias Sterbebett führt, wird das Gelächter im Off langsam ausgeblendet. Diese Verknüpfung von beruflichem und privatem Schicksal wird noch weitergeführt. Wenn Rembrandt einige Szenen später sein Gemälde in einer enthusiastischen Rede an die Mitglie- der der Schützengilde verteidigt, wird er jäh unterbrochen. Seine Haushälterin stürmt in den Gildesaal: „Herr Rembrandt, sie müssen sofort nach Hause kommen! (...) Ihre Frau, sie fie-

65 In Szene 20 wird seine Zufriedenheit entsprechend gedeutet, wenn der Leutnant der Gilde gegenüber Banning Cocq behauptet: „Du bist ja auch der einzige, der auf dem sogenannten Gemälde zu erkennen ist“. 281 bert, ich glaube, sie stirbt!“. Mit dem lautem Ruf „Saskia! Saskia!“ eilt der Maler nach Hause, wo das Leben seiner Frau in einer dramatischen Nachtszene endet.66

Hendrik van Loon hat seinen Roman Der Überwirkliche. Zeitbild um Rembrandt van Rijn (1933)67 als fiktiven Lebensrückblick eines Arztes angelegt, den die Krankheit Saskias in das Haus des Malers führt. Auch hier sind Nachtwache und Tod miteinander verknüpft. Das achte Kapitel heißt „Rembrandt malt ein gewaltiges Bild, von dem er Ruhm erhofft“, der Titel des neunten lautet „Das Bild macht Rembrandt zum Gespött in Amsterdam“. Drei Seiten später wird Saskia elender und stirbt. Die Worte, mit denen van Loon die Bedeutung der Nachtwa- che für den Ruf des Künstlers beschreibt, unterscheiden sich wenig von denen, die sich bei Rosenberg oder Muther finden:

„Von diesem Augenblick an war das Urteil über Rembrandt gesprochen. (...) Er hatte sich erkühnt, tüchtiger als seine Mitbürger sein zu wollen. Auf solches Unterfangen paßte nur eine Antwort: Vernichtung und Vergessenheit.“ (van Loon 1933, 66)

In fünf Kapiteln entfaltet Emil Ludwig seine prosaische Schilderung von Rembrandts Schick- sal (1923).68 Die Erzählung beginnt mit dem „Sohn der Mühle“69 in Leiden. Sie führt über „Eroberungen“ in Amsterdam zum erfolgreichen Künstler als „Herr des Lebens“, dessen Kar- riere einen doppelten Schlag erleidet. So bleibt nur „Der heimliche König“, schließlich, am Ende des Weges, „Der Bettler“. Diese Fünfteilung folgt der Ordnung der Akte des klassischen Dramas, und wie dort plaziert auch Ludwig am Ende des dritten Aktes einen dramaturgischen Höhepunkt. Saskia, eine der „Eroberungen“, die Rembrandt zum „Herrn des Lebens“ mach- ten, liegt im Sterben:

„Da fällt in diese letzten Monate ihres Lebens ein großer Auftrag in das Malerhaus, der es beunru- higt, mit Ehre und Erwartung und vielen Menschen füllt. Der Hauptmann einer Schützenabteilung von Amsterdam ist zu Rembrandt gekommen, um ihm ein Schützenstück zu übertragen, ein Gil- denbild, wie jene Anatomie gewesen, nur weit größer und an Ruhm und Geld verheißender als je - nes.“ (Ludwig 1923, 59)

Rembrandt nimmt den Auftrag an, weil er Geld braucht. Aber er will die Aufgabe nicht bloß als Geschäft betrachten, er sucht nach einer Bildlösung, die seinen künstlerischen Ansprüchen genügt:

66 Sequenz 3, Szene 20 und 21. 67 Im Original niederländisch (1932), deutsche Übersetzung 1933. 68 Zur Stellung Ludwigs als Autor historischer Biographien vgl. Scheuer 1979, 151 ff. 69 Die folgenden Zitate übernehmen die Titel der fünf Kapitel Ludwigs. 282 „So geht er umher und denkt, wie dies zu machen, damit es ihn, nicht die Besteller fesselt, die er verachten mag. Wieder ein Trinktisch und einer, der den Humpen hebt? Oder einer trifft ins Schwarze und die andern rufen Bravo? Banal! Warum, zum Teufel! ist man berühmt, wenn man‘s nicht auf die eigene Weise machen und lösen dürfte! Tage vergehen, er rührt keinen Pinsel, er schließt die Augen, wartet, lauscht. Mit einem Male lösen sich aus einem dunklen, grottenhaften Raume Gestalten ab, bunte, bewegte. Jetzt kommen sie näher, es scheint, sie tragen Waffen. Eilen sie nicht vorbei? Wieviele sind es? 16?“ (Ludwig 1923, 59 f.)

Inspiriert von seinem inneren Bild, macht er sich an die Umsetzung des äußeren, ohne dabei die Pflichten des Auftrages zu bedenken:

„Dramatisches Nocturno, bunter Spuk, zwecklos, kühn, hinrauschend wie Kriegsmusik, aus der ein paar Flöten steigen. (...) an zwei Stellen fällt das Magierlicht von nirgendwo, geheimnisvoller, als er‘s je gewagt hat, auf Menschen, die es nicht verdienen.“ (Ludwig 1923, 60 f.)

Der Parallelmontage des Spielfilms greift Emil Ludwig mit literarischen Mitteln voraus:

„Rembrandt fiebert, wie er malt und träumt. Im Nebenraum fiebert und träumt Saskia dem Tode entgegen. - Wird sie genesen? denkt er, wenn er abends zu ihr tritt. Wer kommt früher am Ziele an, ich oder der Tod? (...) Schließlich wird es fertig, das Riesenbild, da ist es. Der Maler steht erschöpft, bleich, leidend wie seine Frau. Sprechen kann er kaum, und was sie sagen, ist ihm einerlei. Was sagen die Bestelle r?“ (Ludwig 1923, 62)

Die Besteller sind verstört, fragen nach Ähnlichkeit, korrekten Uniformen und würdevoller Darstellung. Und ihr Unverständnis zieht Kreise:

„Halb Amsterdam läuft vor dem Bilde zusammen, man staunt, man spottet, (...) die Bürger fühlen sich angeführt, und dies mit Recht. Der Geisterseher hatte 16 Bürger in rätselhafter Grotte mit sei- nem Licht und seiner Nacht vermählt. In jenes Mittelreich zwischen Demut und Wildheit, wie er’s in seiner Seele rasen fühlte, in dieses Zwischenreich von Glanz und Nacht hatte der Künstler 16 Schützen der Handels- und Hafenstadt Amsterdam gerückt und ihnen zugemutet, Phantome zu sein, obwohl ein jeder 100 Gulden zahlte. Dagegen mußte sich die Stadt erheben. Man nahm das Bild und hängte es bald an irgendeine halb vergessene Wand. Dorthin verbannte man zugleich den Ruf des Künstlers, der einst ein Liebling (...) der Stadt gewesen war. Rembrandt merkt es nicht, denn Saskia stirbt.“ (Ludwig 1923, 62 f.)

283 Wilhelm Hausensteins Rembrandtbuch von 1926 ist vom Autor selbst als Essay gekennzeich- net, der sich an historischen Tatsachen orientiert, ohne jedoch am kunstwissenschaftlichen Diskurs mitwirken zu wollen.70 Hausensteins Reanimation des Künstlerlebens basiert auf ei- ner vollkommenen Durchdringung von Leben und Werk,71 seine Verknüpfung der Ablehnung der Nachtwache mit Saskias Tod markiert einen extremen Punkt derartiger Darstellungen. Die sterbende Saskia ist hier nicht nur im Nebenzimmer oder in Rembrandts Gedanken präsent, in der viel diskutierten Gestalt des lichtumfluteten Mädchens in der linken Bildhälfte sieht Hau- senstein Saskia selbst ins Bild treten:

„Sie steht und geht im Bilde selbst, geht durch es hin. Denn nichts anderes ist das kleine weibliche Wesen zwischen den Schützen, das weißgoldene Mädchen, das weißgoldene, bläulichgoldene Frauenkind mit dem mysteriösen Hahn am Gurt, als eine Metamorphose der Saskia selbst in einen liliputanischen Dämon.“ (Hausenstein 1926, 228)72

Wie haben wir uns diese dämonische Erscheinung zu erklären? Hausenstein beschreibt die Entstehung der Lichtgestalt, einem beliebten Gegenstand kunsthistorischer Spekulation und ikonographischer Deutung, als Folge einer Vision, die den Maler heimgesucht habe. In Ge- danken bei der Sterbenden weilend, wird er zu dieser Bildlösung mehr verführt als inspiriert:

„Saskia steht auf vom Bett, auf dem sie schon krank liegt, zwinkert ihn an mit diesem friesisch grünen, seegrünen Auge (...); ihr Fleisch ist weißer, bläulicher, vielleicht vom nahen Tode, viel- leicht weil sie rätselhaften Wesens noch mehr ist als sonst. O nein, er solle gewiß nicht einfach ‘Gesellschaft‘ malen; dies sei zu wenig; dies müsse auch sie sagen, Saskia. Dies sagend wird sie ganz klein, noch zierlicher als sonst, und siehe da: verschwindet vor seinen Augen im Dunkel, um von hinten in das dunkelnde Bild zu treten und plötzlich, unversehens mit phosphoreszierender Weiße darin einherzugehen, niemandem sichtbar als ihm, dem Maler, ein Gespenst... Da ist He- xenwerk im Spiele - da wird gezaubert. Er läßt es bebend geschehen; er nimmt es zitternd hin; er

70 „(...) ich habe der ‘Kritik‘ nichts hinzugefügt; ich habe empfunden und habe versucht, Empfindungen aufzu- rühren; hier ist nichts als ein Buch der Gefühle; ich werde mich damit abfinden, wenn die im buchstäblichen Sinne erdrückende Mehrheit der offiziellen Kunsthistoriker, die für eine von ihr betriebene Hilfsdisziplin den tönenden und in sich unsinnigen Namen der ‘Kunstwissenschaft‘ in Anspruch nimmt, an diesem Buch ironisch vorübergeht; ich zöge es bei weitem vor, mich in gelehrten Einzelheiten geirrt zu haben (...), als von Berufenen etwa das Urteil hören zu müssen, dies Buch sei ohne Wärme des Herzens, ohne Ernst der Gedanken, ohne jegli- che Kunst verfaßt.“ (Hausenstein 1926, 550). Mit diesem Anspruch distanziert sich Hausenstein vom Fachdis - kurs. Er tut dies aber ausdrücklich und kann deswegen auch nicht in einer Gattungskategorie mit den Texten von Ludwig, van Loon und Steinhoff zusammengefaßt werden, die keiner derartigen Abgrenzung bedürfen und sich, ohne feindselige Distanzierung von der „Kunstwissenschaft“, im Bereich fiktionaler Texte positionieren. 71 Vgl. den Exkurs zur Hermeneutik in dieser Arbeit (Zweiter Teil, Abschnitt 2.1.4). 72 Einziger Vorläufer dieses Deutungsmodells ist A. v. Wurzbach: „Rembrandts bedeutendstes Werk, der Aus- zug der Compagnie des Capitäns Franz Banning Cock, welches in dem Todesjahr der Saskia 1642 vollendet wurde, zeigt ebenfalls ihr Porträt in der einen Mädchenfigur, welche wie ein leuchtender Schatten mitten durch die ausziehenden Schützen schlüpft.“ (Wurzbach 1886, 11). 284 folgt dem Vorgang mit ängstlicher Begeisterung. Ganz offenbar: Saskia stirbt; tritt sie ins Bild, so bezahlt sie diesen Übergang mit ihrem Leben.“ (Hausenstein 1926, 229)

Saskia wechselt aus dem Leben ins Bild. Hausenstein beschreibt sie dabei nicht als die treue Ehegattin und Gefährtin des Künstlers, sondern als gefährliches Mysterium, eine Sirene, eine Lorelei, die den unschuldigen Mann ins Verderben führt:

„(...) so tut sie, gleichsam scheidend, noch ein arges Letztes: sie zerstört ihm das Bild; sie macht, daß es weder das eine ist noch das andere, weder ein gesellschaftliches Bildnis noch ein Spuk der rembrandtischen Phantasie (...).“(Hausenstein 1926, 229)

Dieses Zerstörungswerk hat die Ablehnung des Bildes zur Folge. Hausenstein zählt geläufige Kritikpunkte auf, die man aber hingenommen hätte, wäre nicht dieses Moment noch hinzu- gekommen:

„Was will vollends das kleine Frauenzimmer, das wie ein böser kleiner Geist des Aberglaubens im hellsten, phosphoreszierend-weißen Irrlicht durch das Bild läuft? Sie fragen den Maler. Er weiß es selbst nicht. Nur seine Hand weiß es - doch die kann nicht sprechen; sie kann nicht sagen, was wahr wäre: dies ist die Seele der Saskia - die in ihr gefährliches Alterego rein verwandelte Saskia; Saskia - unliebsam der Welt, aus der sie kommt, unliebsam dem Rembrandt, den sie der Welt zu- trieb und den sie nunmehr von ihr wird geschieden haben, nämlich durch ihren gespenstischen Auftritt (...).“ (Hausenstein 1926, 190)73

So wird Saskia bei Hausenstein zur bösartigen Verführerin, die Rembrandt zunächst gegen dessen Willen der Gesellschaft zutreibt, um ihn dann durch ihr postumes Erscheinen in der Nachtwache von eben dieser Gesellschaft zu entfremden. Das Leben des Künstlers tritt in sein Werk, das Schicksal des Menschen wird identisch mit dem des Künstlers, weshalb es zugleich plausibel erscheint, im Werk den Menschen Rembrandt zu entdecken.

Fassen wir diese Beobachtungen zur Rezeptionsgeschichte der Nachtwache noch einmal zu- sammen. Die Vorstellung von Rembrandt wird seit dem Ende des 19. Jahrhundert wesentlich durch die Topik des verkannten Künstlergenies geprägt. Die Legende von der Ablehnung der Nachtwache ist eines der Schlüsselelemente, an denen sich dieses Konzept entfaltet. Die dezi- diert nicht-wissenschaftlichen Beispiele von Steinhoff, van Loon, Ludwig und Hausenstein verdeutlichen die dramaturgische Qualität, der sie diese zentrale Stellung verdankt. Diese

73 Diese Verwandlung der Frau in ein bildhaftes „gefährliches Alterego“ läßt an Honoré de Balzacs Erzählung Le chef-d’œuvre inconnu denken, auf welche Hausenstein hier möglicherweise anspielt. Die Verknüpfung von Tod, Libido und Malerei wäre, als verbreiteter Topos in der Literatur des 19. Jahrhunderts, eine weiterführende Unter- suchung wert. Als zweites bedeutendes Beispiel sei auf The picture of Dorian Gray von Oscar Wilde hingewie- sen. 285 Texte sind jedoch von Autoren vorgeprägt, die ihre Arbeit als nicht-fiktional begreifen. Die Entschlossenheit Rembrandts, die Nachtwache nach eigenem Ermessen zu gestalten, die Un- zufriedenheit der Auftraggeber, das Unverständnis der Zeitgenossen, der Rückgang der Auf- träge und Einnahmen, die Verknüpfung dieses Dilemmas mit dem privaten Unglück, die Ver- einsamung des Künstlers, den wir heute als größten aller Maler feiern - diese und andere Topoi haben fachwissenschaftliche Autoren in ihren Publikationen vorgezeichnet, bevor Lite- raten ohne institutionelle Bindung an Universitäten oder Museen sie aufgriffen, ausschmück- ten und in anderen Textformen wiederholten. Der direkte Vergleich ihrer Zitate läßt weniger die Differenzen als die Übereinstimmungen hervortreten. Der Unterschied zwischen einem Quellendokument, ob Bild oder Schriftstück, und seiner in einen Erzählzusammenhang eingebundenen Ausdeutung ist ein qualitativer. Im Vergleich dazu ist die Differenz zwischen den Texten von Neumann oder Bode und denen von van Loon oder Ludwig lediglich quantitativ. Die konzeptionelle Verwandtschaft zwi- schen diesen beiden Textgattungen, die nach institutionalistisch orientierten Kategorien als ‘wissenschaftlich’ und ‘literarisch‘ unterschieden werden müßten, wird zunächst dort offen- sichtlich, wo eine streng am historisch verifizierbaren Faktum orientierte Forschung kritischen Widerspruch erheben muß. Bedeutender erscheint jedoch die Verwandtschaft im Grundprin- zip der Narrativierung, das dem Interesse am Zusammenhang - am Entwurf einer linearen Gesamtgestalt von Mensch, Lebenslauf und Lebenswerk - nachfolgt. Gerade in diesem Wunsch nach Geschlossenheit erweist sich die hermeneutische Methodik der Kunstge- schichtsschreibung nicht als Gegenentwurf, sondern als verwandte Gattung zur historischen Erzählliteratur, die lediglich andere Legitimierungsformeln nutzt, um ihre Vision von ‘leben- diger Geschichte‘ zu rechtfertigen.

Die Legende von der Ablehnung der Nachtwache beweist ihren Stellenwert als Symbol für die Gesamterzählung vom verkannten Künstler und ihre Potenz als Dreh- und Angelpunkt der dramaturgisch aufbereiten Lebensgeschichte Rembrandts in unterschiedlich deklarierten Texten fortlaufend bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts. Der Tod Saskias bleibt dabei als ver- stärkenden Faktor des ‘Lebens‘ mit der Mißbilligung der Gesellschaft für das ‘Werk‘ ver- knüpft:

„Der entscheidende Zusammenstoß mit der Umwelt, den die Nachtwache auslösen sollte, wird uns vielleicht noch aussagekräftiger Erscheinen, wenn wir uns sagen, daß er im Todesjahre Saskias ge- schah.“ (Wilhelm Pinder 1943, 70)

Der Wille zur künstlerischen Autonomie bleibt die Ursache für diesen Konflikt:

286 „Bei der Nachtwache aber schieden sich die Wege von Rembrandts Künstlertum, das mehr und mehr nur dem eigenen Gesetze folgte, und vom Recht des Auftraggebers, der für sein gutes Geld einen Anspruch auf Erfüllung der von der Konvention vorgezeichneten ‘Pflichten‘ eines Malers geltend machte.“ (Eberhardt Hanfstaengl 1947, 61)

Und die Isolation des Künstlers als eines ‘Außenseiters der Gesellschaft‘ bleibt die Konse- quenz:

„Das Jahr 1642 ist das Jahr der Entstehung der sogenannten ‘Nachtwache‘, dieser selbstherrlich willkürlichen Gestaltung einer herkömmlichen Aufgabe, mit der Rembrandt das einengende und zugleich schützende Gehäuse seiner Zeit für immer verließ.“ (Marie Luise Kaschnitz 1948, 31)

2 Rembrandts Selbstbildnisse

2.1 Zum Stellenwert der Selbstbildnisse in der Geschichte der Rembrandtrezeption

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts stand die Wertschätzung der Selbstbildnisse Rembrandts im Schatten der monumentalen Gruppenporträts sowie der religiösen Historienbilder, denen stets große Aufmerksamkeit zukam. Das Vorhandensein einer vergleichsweise großen Zahl von Selbstbildnissen war allerdings auch in früheren Rezeptionsphasen durchaus bekannt. Doch noch in der ersten modernen Rezeptionsphase wurde dieser Bilderkorpus nur beiläufig erwähnt. Als Beispiel sei Alfred Dumesnil zitiert, der Rembrandt 1850 zur Idealfigur des ‘Neuen Glaubens in der Kunst‘ gemacht hatte. Sein Text behandelt den Niederländer als si- gnifikanten Stellvertreter des Künstlertums, in dem sich wiederum das Wesen des Menschen in besonderer Weise offenbare. Die Selbstbildnisse Rembrandts spielen dabei keine hervorge- hobene Rolle. Als der Autor dem Künstler einmal ‘von Angesicht zu Angesicht‘ entgegentritt, reflektiert er nicht über das Individuum Rembrandt, sondern über das Wesen des Künstler- tums und den Ursprung künstlerischen Schaffens:

"Ich fragte mich vor dem Portrait Rembrandts: Was für ein Mensch also ist der Künstler? Woher nimmt er sein Werk? Liegt es nicht, wie ich es bisher gedacht hatte, im Besten seiner selbst? Ver- mittelt er hier nicht seinen wahren Ausdruck, treulicher als in seinem Privatleben? Wenn ich Rembrandt sehe, so voller Ernst, mit einer so einfachen und ruhigen Kraft, so sehr Herr seiner Gedanken in dem Augenblick, in dem er sie umsetzt, dann kann ich nicht daran zweifeln, daß der Künstler der Mensch par excellence sei. Wie hätte er dem Christus in Emmaus jenen erha- benen Ausdruck der Aufrichtigkeit und der Menschlichkeit geben können, wenn er nicht eine voll-

287 kommene Übereinstimmung zwischen sich selbst und seiner Schöpfung empfunden hätte?" (Du- mesnil 1850, 22)74

Wie viele seiner schreibenden Zeitgenossen, nimmt Dumesnil in Rembrandt zunächst den Re- präsentanten der niederländischen Kunst des 17. Jahrhunderts wahr, den Stellvertreter eines emanzipierten Bürgertums. In dem Ernst, der Kraft und dem Selbstbewußtsein dieser Gestalt sieht er darüber hinaus den ‘Menschen an sich‘ versinnbildlicht - „l’homme par excellence“. Indem Dumesnil in dem anschließenden Satz übergangslos zur Darstellung Christi im Em- mausbild wechselt, läßt er die christologische Komponente in der Genese der modernen Künstlerfigur sichtbar werden. Durch das im Selbstbildnis entdeckte exemplarische Men- schentum Rembrandts gelangt der Autor zum christlichen ‘Menschen an sich‘ (vgl. auch Du- mesnils Interesse an Rembrandts Ecce homo), zu Christus als unhintergehbarem Schutzpatron einer moralisch-religiös eingebundenen Individualität. Dumesnil rückt das Künstlerselbstbild- nis in die Nähe der Christusidee, ohne den Künstler dabei vollständig an die Stelle des religiö- sen Idols zu setzen. Zuletzt bildet nicht das Selbstporträt Rembrandts, sondern dessen Bildnis Christi die Repräsentation des selbstbewußten Menschen par excellence, die höchste Versinn- bildlichung der menschlichen Individualität. Dieses Individualismuskonzept stellt die prinzi- pielle Gleichheit der Menschen in den Mittelpunkt und unterscheidet sich damit von vielen der späteren Texte, in denen es um die Distinktion und hierarchische Unterscheidung des ei- nen vom anderen geht. Folgerichtig sieht Dumesnil die Selbstbildnisse nicht als Dokumente der Isolation und Selbstsuche des Künstlers, sondern als Übungen, die der Schulung von Rembrandts Fähigkeiten zur Erfassung der Individualität anderer im Porträt dienten:

„In den Porträts beurteilt man besonders die Verständigkeit des Geistes, die Auffassungsgabe eines Künstlers. Darin liegt der Ursprung und das Ziel der Zeichenkunst. Rembrandt gelangte in seinen Werken zu der präzisen seelischen Aufzeichnung, zu diesem so tief menschlichen Ausdruck nur durch das geduldige Studium des menschlichen Antlitz‘. Er befragte es ohne Unterlaß, um die kleinsten Regungen festzuhalten, die flüchtigsten Reflexe zu erfassen in de- nen sich die unendliche Vielfalt der Nuancen des Charakters verbirgt. Er spürte, daß, wie ein be- wohnter Ort den Abdruck des Menschen birgt, das Gesicht, das fortwährend die Regungen durch- ziehen, von den Spuren des Geistes geprägt ist. Er malte und zeichnete sich deshalb so häufig

74 „Je me demandais en face du portrait de Rembrandt: Quel homme est-ce donc que l’artiste? Où prend-il son oeuvre? N’est-ce point, comme je l’ai cru jusqu’ici, dans le meilleur de lui-même? N’y donne-t-il pas sa vraie expression, plus fidèle que dans sa vie privée? Quand je vois Rembrandt si sérieux, d’une force si simple et si calme, si maître de sa pensée au moment où il va la réaliser, je ne puis douter que l’artiste ne soit l’homme par excellence. Comment aurait-il donné au Christ d’Emmaüs cette expression sublime de sincérité et d’humanité, s’il n’avait senti une parfaite identité entre lui-même et sa création?“ (Dumesnil 1850, 22). 288 selbst, um sich besser dasjenige bewußt zu machen, was er in der Gestalt der anderen Menschen sah.“ (Dumesnil 1850, 57 f.)75

Nicht aus Selbstsucht oder zur Selbstsuche widmete sich Rembrandt dem Selbstporträt, son- dern zur tieferen Einsicht in das Antlitz eines Jeden, der ihm Porträt saß. Für Dumesnil ist das Selbststudium Rembrandts ein Mittel zum Zweck. Der Autor fragt nicht nach dem besonderen Menschen, sondern nach dem Besonderen des Menschen. Aus dem individuellen Charakter des Einzelnen, sei es Rembrandt oder ein heute Namenloser, spricht für Dumesnil vor allem die allgemeine Charakteristik des Menschen in der Vielfalt ihrer Nuancierungen. Angesichts dieses zentralen Interesses, kommt er nahezu zwangsläufig auf die Porträts zu sprechen und greift dabei auf den Topos vom Gesicht als Spiegel der Seele zurück. Um den Unterschied zu späteren Positionen hervorzuheben, sei wiederholt: Individualität be- steht bei Dumesnil (wie auch bei Thoré, Coquerel u.a.) nicht in einer Abkehr vom ‘Anderen‘, sie ist nicht gleichbedeutend mit Separierung und Isolation, sie ist nicht trennendes, sondern verbindendes Element der Menschen. Entsprechend gilt die Selbstbetrachtung des Künstlers hier nicht ausschließlich oder vorzugsweise der Erkenntnis des Eigenen, sondern der Schu- lung einer Erkenntnis des ‘Anderen‘. Das in der großen Zahl der Selbstporträts dokumentierte Interesse am Selbst ist nicht Selbstzweck, sondern Etappenziel auf dem Weg zum Menschen an sich. Dumesnil stellt die Menschlichkeit der Kunst Rembrandts ins Zentrum, er betrachtet primär die Familiendarstellungen sowie religiöse und humanistisch interpretierbare Themen. Nur von dort aus fällt sein Blick vorübergehend auf die Selbstbildnisse.76 Insgesamt läßt sich sagen, daß die Individualismuskonzeption in den französischen Texten der Jahrhundertmitte, der es weniger um das isolierte, sich selbst befragende Subjekt, als um das gleichberechtigte Subjekt unter anderen seiner Art ging, zu einer zentralen Positionierung der Gruppenbildnisse führte. Die Fülle der Selbstporträts Rembrandts ist bekannt, doch werden diese, wie auch die sonstigen Einzelporträts, als Peripherie zu diesem Zentrum angeordnet.

Im deutschen Sprachraum findet sich etwa in Franz Kuglers einflußreichem kunsthistorischen Überblickswerk (1837; 21847) lediglich der Hinweis auf zwei der Selbstbildnisse, die jedoch

75 „C’est dans les portraits qu’on juge surtout de l’étendue d’esprit, de la réceptivité d’un artiste. C’est là le commencement et la fin des arts du dessin. Rembrandt n’est arrivé dans ses oeuvres à cette spécification morale, à cette expression si profondément humaine que par l’étude patiente de la figure de l’homme. Il l’interrogeait sans cesse pour fixer les moindres souffles, saisir les reflets si mobiles où se dépose la diversité infinie des nu- ances du caractère. Il sentait que comme un lieue habité garde l’empreinte de l’homme, le visage où afflue con- stamment le souffle, s’empreint des traces de l’esprit. Il ne s’est peint et dessiné si souvant lui-même, que pour se rendre mieux compte de ce qu’il voyait sur la figure des autres hommes (...).“ (Dumesnil 1850, 57 f.). 76 Auch Viardot (31877) verweist auf die „longue série de portraits autographes où Rembrandt s’est peint chaque année de sa vie“ (190). 289 in keiner Weise diskutiert werden. Bei einer Bewertung dieser Tatsache ist allerdings der ge- ringe Umfang zu bedenken, den einzelne Künstler in diesem Buch insgesamt einnehmen. Rembrandt sind bei Kugler zehn Seiten gewidmet. Im Vergleich zu den späteren Biographien mag dies wenig erscheinen. Kuglers Projekt war jedoch ein Handbuch der Geschichte der Malerei seit Constantin dem Grossen, und in diesem Rahmen zählt Rembrandt bereits zu den ausführlich behandelten Meistern.77 In dem 1862 von Gustav Friedrich Waagen vorgelegten Handbuch der Geschichte der Malerei, der Gattung wie dem Einfluß nach mit Kuglers Werk vergleichbar, nahm die Darstellung Rembrandts 15 Seiten ein. Ähnlich wie seine französi- schen Kollegen, spricht Waagen die Selbstbildnisse beiläufig als Spezialität Rembrandts an. Zwischen die Feststellung der hohen Qualität von Rembrandts Porträtkunst und die Beschrei- bung einiger Beispiele fügt er kurz ein:

„Kein anderer Künstler hat so häufig sein eignes Bildnis gemalt (...).“ (Waagen 1862, 100)

Kommentiert oder kontextualisiert wird dieser Umstand nicht. Statt dessen folgt eine Be- schreibung:

„Ein Bildniss im Louvre (…) vom Jahr 1633, welches ihn in seinen jungen Jahren frisch und le - bensmuthig darstellt, ist sehr geistreich in dem lichten Ton dieser frühen Zeit gemalt, in einem an- deren (…) vom Jahr 1669, welches mit der ausserordentlichen Sicherheit und Breite dieser späteren Epoche gemalt ist, sieht man dagegen den von schweren Lebensschicksalen gebeugten Künstler mit grauen Haaren und tief gefurchter Stirn.“ (Waagen 1862, 101)

Dann geht der Autor, nach der Erwähnung zweier Beispiele aus deutschen Galerien, zu den Auftragsporträts über. Schon Waagen liest die Selbstbildnisse also als Quellen zum Verständ- nis des privaten Entwicklungsgangs des Künstlers, der zwischen „volle[m] Lebensgenuss“ (ebd., 101) und „schweren Lebensschicksalen“ schwankt. Doch bilden solche Aussagen nicht das Zentrum seines Textes. Ähnliches kann noch für Wilhelm Lübkes Aufsatz aus dem Jahre 1877 geltend gemacht wer- den. Dieser Kunsthistoriker widmete sich in zwei Lieferungen der Monatsschrift Nord und Süd den beiden Hauptfiguren der holländischen und der flämischen Schule.78 Die große Zahl der Selbstbildnisse wird auch hier zunächst beiläufig erwähnt:

„(er hat sich nicht weniger als vierunddreißig Mal in Radirungen und wie oft in Oelbildern darge- stellt!)“ (Lübke 1877, 226).

77 In Parenthese sei auf das Phänomen der quantitativen Ausweitung des Diskurses über Kunst und Künstler in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwiesen. 78 Nicht nur in dieser Gegenüberstellung von Rembrandt und Rubens, auch in der Form des Reiseberichts weist Lübkes Text Parallelen zu Fromentins Maîtres d’autrefois von 1876 auf. 290 Daneben stehen Ansätze zu einer psychologischen Deutung der Selbstporträts. So stellt Lübke angesichts früher Bildnisse fest:

„Man sieht an all diesen Bildern, welche Freude der Künstler daran fand, sich und die geliebte Frau stets von Neuem darzustellen (...).“ (Lübke 1877, 210)

Intensiver wird diese Interpretationstendenz beim Spätwerk:

„Immer düstrer, so scheint’s, und einsamer werden die letzten Tage des Meisters. Wenn man seine Selbstporträts aus dieser Zeit (...) mit denen seiner früheren Jahre vergleicht, welche tiefe Furchen von Gram und Mühsal, welche düstere Schatten, welch trotziger, fast wilder Ausdruck spricht hier von den gewaltigen Veränderungen, welche die eiserne Faust des Schicksals auf diese Züge ge- drückt.“ (Lübke 1877, 218)

In den Formulierungen geht Lübke nicht wesentlich über die Wortwahl seines Vorläufers G. F. Waagen hinaus, der einen „von schweren Lebensschicksalen gebeugten Künstler mit grauen Haaren und tief gefurchter Stirn“ gesehen hatte. Insgesamt führt Lübke die Verknüp- fung von Leben und Werk zwar weiter, als dies in dem 15 Jahre älteren Text Waagens der Fall ist, doch zu wirklich zentraler Stellung gelangen die Selbstbildnisse auch hier noch nicht. Das Deutungspotential dieser Bilder, aus dem sich die breite Rezeption um die Jahrhundert- wende speisen sollte, wird bei Lübke bereits sichtbar. Die Ausdeutung von Rembrandts Le- bensschicksals, die sich der Selbstbildnisse als Quellen des ‘inneren Erlebens‘ bedient, steht jedoch noch bevor.

1877, im Jahr des Erscheinens von Lübkes Aufsatz, hielt Jacob Burckhardt seinen Rem- brandt-Vortrag. Dort behandelt Burckhardt die Quantität der Selbstbildnisse wiederum mit großer Selbstverständlichkeit:

„Freilich hatte Rembrandt zunächst sich selber zum Porträtieren vorrätig, und von jenem frühesten Porträt im Haager Museum bis zu den spätesten der National Galery und der Pinakothek, wo in die verquollenen Züge des Sechzigers noch eine so merkwürdige Macht hineingezaubert ist, gibt es in allen möglichen wirklichen und phantastischen Trachten eine Reihe von über dreißig sichern Bild- nissen dieser Art, welche noch aus den Radierungen um weitere zehn zu vermehren sein möchte.“ (Burckhardt 1919 [1877], 15)

Burckhardts Erwähnung der Selbstbildnisse liefert eine Erklärung für deren ungewöhnlich hohe Zahl: Rembrandt habe „zunächst sich selber zum Porträtieren vorrätig“ gehabt. Diesen ‘Verfügbarkeitstopos‘ schließt der Autor an seine kritischen Äußerungen über Rembrandts Mangel an klassischer Schulung an; direkt vor der bereits zitierten Passage hatte Burckhardt

291 die Frage nach dem Rückgang des Interesses der Auftraggeber an Rembrandt in den 1650er Jahren wie folgt behandelt:

„Fast scheint es, als hätte mit der Zeit niemand mehr Lust gehabt, als bloßes Substrat eines Licht- experimentes dem eigenwilligen Maler zu sitzen, während in nächster Nähe die größten Porträt- meister lebten, welche die Individualität eines Sterblichen unsterblich zu machen wußten.“ (Burck- hardt 1919 [1877], 15)

Bei Burckhardt reagiert Rembrandt mit seinen vielen Selbstbildnissen auf den Rückzug der Besteller, er malt sie als eine Art ‘Ersatzporträts‘. Indem er die Entstehung dieser Bilder einer von Rembrandt selbst zu verantwortenden Notsituation zuschreibt, gelingt es Burckhardt, das Phänomen der Selbstbildnisse Rembrandts ganz im Rahmen seines vom Ideal der Renais- sance geprägten Kunstverständnisses zu erklären. Rembrandts dominantes Interesse galt dem- nach eben nicht der Individualität des Porträtierten, sondern den Licht- und Schattenexperi- menten, denen der Kopf als „bloßes Substrat“ diente. Hier sind es gerade die malenden Zeit- genossen Rembrandts, die das Ideal der Porträtkunst zu erfüllen wußten, das auch für Burck- hardt darin besteht, „die Individualität eines Sterblichen unsterblich zu machen“. Wie bereits in anderen Beispielen deutlich wurde, so lassen sich auch in diesem Punkt die Wertkategorien des Akademismus zuletzt bei Burckhardt nachweisen. Um 1900 stünde eine derartige Position endgültig in diametralem Gegensatz zum Strom der Deutungen. Und erneut ist hier auch die Umkehrung der Vorzeichen aufzuzeigen, die für den Übergang von der kritischen zur eupho- rischen Rembrandtrezeption so signifikant ist. Der substitutive Hang zum Selbstbildnis, den Burckhardt konstatiert, wird auch in späteren Texten anderer Autoren topisch bleiben, ebenso der Rückgang der Aufträge, mit dem entscheidenden Unterschied, daß darin nun ein Vorzug Rembrandts gesehen wird, daß daraus Rembrandts Desinteresse an der Welt und am Auf- tragserfolg abgeleitet wird.

Mit Burckhardts These vom Mangel an Modellen, in dessen Folge Rembrandt auf sich selbst zum Porträtieren zurückgegriffen habe, sind wir im Bereich der Topoi angekommen, die in dieser Phase der beginnenden Problematisierung der Selbstbildnisse Verwendung fanden. Die Substitutionsthese Burckhardts basiert auf dem ‘Verfügbarkeitstopos‘, der zum Inventar der modernen Auseinandersetzung mit Rembrandts Selbstporträts zählt. So stellt Émile Michel (1893) diese Bildgattung neben die Bildnisse nach Familienmitgliedern, die Rembrandt eben- falls in Ermangelung anderer Modelle mit Begeisterung porträtiert habe (32). Auch E. Du- rand-Grévilles Artikel in der Grande Encyclopédie (o. J., ca. 1890) nimmt diese Formel auf:

292 „Sein Bildnis (1660) ist eine der schönsten unter seinen zahllosen Effigien, die er nach sich selbst malte, um seine Hand zu üben, wenn ihm andere Modelle fehlten.“ (Durand-Grévilles o. J., 379)79

Als sich etwas später die Vorstellung von Verkennung und Einsamkeit des alternden Rem- brandt etabliert, wird das Motiv der Verfügbarkeit auch auf die späten Selbstporträts übertra- gen. Und hier tritt der Rückzug der Auftraggeber, für den Burckhardt Verständnis signalisiert hatte, mit umgekehrten Vorzeichen erneut in Kraft:

„Die ‘heilige Not‘ des Künstlertums, die diesen Mann zu malen zwang, obwohl er weder Aufträge für Bilder, noch Abnehmer für seine freien Schöpfungen hatte und ihm sogar ein Raum mit geeig- netem Licht fehlte, verwies ihn wieder auf sich selbst als auf das billigste und willfährigste Mo- dell.“ (Storck 1920, 11)

In der Rückkehr des alternden Rembrandt zum einsamen Selbstbildnis als künstlerischer Gattung seiner Jugend, bindet Karl Storck den Lebensweg Rembrandts in die mythische Er- zählformel vom sich schließenden Kreis ein. Fassen wir an diesem Punkt kurz zusammen. Die Selbstbildnisse Rembrandts sind den Auto- ren des 19. Jahrhunderts hinreichend bekannt. Die Erwähnung ihrer großen Zahl ist üblich, während Überlegungen über die Ursachen dieses Phänomens selten angestellt werden. Hin- sichtlich ihrer Bedeutung im Gesamtwerk wird diese Bildgattung als zweitrangig behandelt, die primäre Aufmerksamkeit gilt Gruppenbildern und biblischen Themen. Ein Interesse an der psychologischen Ausdeutung dieser Bildnisse ist lediglich in Ansätzen anzutreffen. Zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte ein Prozeß ein, der die Gattung des Selbstbildnisses von der Peripherie in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit Rembrandt überführte. Dieser Prozeß soll nun nachgezeichnet werden. Dabei ist vor allem zu fragen, welche Inhalte mit den Selbstbildnissen verbunden wurden und welches Interesse an ihrer Fokussierung dar- aus erkennbar wird.

2.2 Vom Studienkopf zur Selbsterkenntnis

Einer der ersten Autoren, die sich ausführlicher mit Rembrandts Selbstbildnissen auseinander- setzen, ist einmal mehr Wilhelm Bode. In seinem voluminösen Aufsatz von 1883 erweitert er durch Titelvergaben und Zuschreibungen den Umfang der Selbstbildnisse und äußert sich auch zu deren Entstehungszusammenhang. Das folgende Zitat findet sich im Rahmen der Diskussion von vier Jugendbildnissen:

79 „Son portrait (1660) (...) est un des plus beaux parmi les innombrables effigies qu’il peignait d’après lui-même pour s’entretenir la main, quand d’autres modèles lui manquaient.“ (Durand-Grévilles o. J., 379). 293 „Es sind und wollen nicht eigentlich Bildnisse sein. Hier, wie so vielfach in seiner ganzen künstle - rischen Laufbahn, hat Rembrandt den eigenen Kopf als das bequemste und billigste Modell be- nutzt, um irgend ein Problem der Beleuchtung, eine Stellung, einen besonderen Ausdruck daran zu studiren. Sind uns doch allein an Gemälden nahezu fünfzig Selbstbildnisse des Meisters noch er- halten, von denen weitaus die größte Zahl seiner Jugend oder seinem Alter angehören - den Peri- oden seines Lebens, in denen er Muße hatte, für sich und nach sich zu studieren.“ (Bode 1883, 376)

Die drei interpretativen Aussagen dieser Passage sind uns in Ansätzen bereits bei Jacob Burckhardt und anderen Autoren begegnet, daß nämlich (1) Rembrandt sich selbst als billig- stes und stets verfügbares Modell verwendet habe, um (2) ein technisches oder physiognomi- sches Problem zu studieren, und daß er dies (3) bevorzugt in Jugend und Alter getan habe, als er dazu die Muße hatte. Bodes Interesse lag 1883 weniger in der Interpretation, als in der Festlegung von Zuschrei- bungen, Titeln und Datierungen. Wie er in der Einleitung seines Buches anmerkte, sei dieses grundlegende Feld in der Rembrandtforschung noch unzureichend gefestigt (ebd., VII). Die- sem Desiderat entsprechend, folgt sein Text Rembrandt’s künstlerischer Entwicklungsgang in seinen Gemälden dem Muster des Catalogue raisonné und beschränkt sich neben den Bildbe- schreibungen auf wenige Erläuterungen und Ausführungen zum Privatleben des Künstlers. Die Selbstbildnisse klassifiziert Bode hauptsächlich als Studienköpfe, in denen eine freie Be- handlung zugestanden werden müsse:

„Der Künstler suchte (...) durch die Anordnung: durch malerische Kostüme, schlagende Beleuch- tung und ausgebildetes Helldunkel seinen Formen einen höheren Reiz zu verleihen. Zuweilen nahm er es auch mit der Aehnlichkeit nicht besonders streng; dienten ihm doch diese Bildnisse in erster Reihe als Studien.“ (Bode 1883, 410)

Mit dieser Betonung des Studiencharakters wendet Bode die bei Burckhardt noch negativ polemisierend eingesetzte Idee vom Selbstbildnis aus Mangel an Porträtaufträgen und Mo- dellen ins Positive.80 Die nachfolgende Literatur wird diese Interpretation aufgreifen und aus- bauen. Die Zahl der in Frage kommenden Gemälde beziffert Bode mit „nahezu fünfzig“. Sechs Jahre früher hatte Burckhardt noch „von über dreißig sichern Bildnissen dieser Art“ (Burckhardt 1877, 16) gesprochen und Lübke eine größere, aber ungenaue Zahl angegeben (Lübke 1877, 226). Diese Schwankungen und Unsicherheiten zeugen davon, daß Bodes Klage über das Fehlen eines allgemein anerkannten Werkverzeichnisses nicht unbegründet war. In der ansteigenden Zahl der Zuschreibungen deutet sich zugleich jedoch das wachsende Inter-

80 Zwar standen der Baseler Professor und der Berliner Museumsdirektor auf dem Gebiet der Renaissancekunst in engem Austausch, hinsichtlich der Bewertung niederländischer Kunst wichen ihre Interessen und Positionen jedoch klar voneinander ab (vgl. Sigrid Otto 1995, 29). 294 esse an Rembrandt an. Bei Bode wird dieser Prozeß, der im folgenden Jahrzehnt noch an Dy- namik zunehmen sollte, zuerst sichtbar. Gerade mit diesem Interesse an Neuzuschreibungen, Zuschreibungssicherungen und Titelfin- dungen ist es zu erklären, daß Wilhelm Bode in bisher ungekannter Ausführlichkeit auch Echtheitsprobleme diskutiert. So finden wir bei ihm eine frühe Auseinandersetzung um die Frage des Ursprungs der äußerst ähnlichen Bildnisse aus Nürnberg und Den Haag,81 die er beide, unter Verwendung des bemerkenswerten Begriffs „Originalwiederholung“, Rembrandt zuschreibt:

„Das Bild im Haag steht künstlerisch entschieden höher und muß daher, obgleich es keinerlei Be- zeichnung trägt und fast ganz mit dem ebengenannten Bilde im Germanischen Museum überein- stimmt, als Originalwiederholung des Meisters betrachtet werden.“ (Bode 1883, 378)82

In der anwachsenden Rembrandtliteratur der Folgezeit bleibt der Verweis auf die zahlreichen Selbstbildnisse selbstverständlich, die inhaltliche Auseinandersetzung geht jedoch schon bald über die hier zitierten frühen Aussagen Bodes hinaus. Wir können die Anfänge dieser erwei- terten Interpretation wiederum bei Bode beobachten. In einem Aufsatz über Das Bildniss von Rembrandt’s Bruder Adriaen Harmensz van Rijn im Mauritshuis schrieb er 1891 in der nie- derländischen Fachzeitschrift Oud Holland:

„(...) kein anderer Meister ist so subjectiv wie Rembrandt, keiner hat so sehr seine Erlebnisse und seine Stimmungen in seinen Werken zum Ausdruck gebracht als grade er. Daher die zahlreichen Selbstbildnisse und die ebenso grosse Zahl von Bildnissen, in denen man meist von Alters her Verwandte und Bekannte des Künstlers vermuthet hat.“ (Bode 1891, 2)

Natürlich hatte Bode sich schon 1883 sehr um die Selbstbildnisse bemüht, aber er hatte sie ganz unpathetisch als „Studienköpfe“ bezeichnet. Die Erklärung ihrer Entstehung aus einem Interesse Rembrandts an der Auseinandersetzung mit „seine[n] Erlebnisse[n]“ und „Stimmun- gen“ ist für Bode hier - 1891 - ebenso neu wie die Hervorhebung der Subjektivität des Künst- lers. In der Rembrandtliteratur sind diese Deutungen jedoch nicht ganz neu. Sie finden sich bereits ein Jahr zuvor in Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher. Wilhelm Bode zählte zu den zahlreichen Rezensenten des 1890 publizierten Buches. Er sah darin eine zwar überspitzt argumentierende, aber anregende und häufig zutreffende Streitschrift (Bode 1890). In seiner

81 Vgl. die Neuzuschreibungen im Vorfeld der Ausstellung Rembrandt Zelf, London/Den Haag 1999 (Buve- lot/White 1999, 112 ff.). 82 Mangels eigener Abbildungen ist Bode genötigt, auf die Bekanntheit dieser Bilder durch einen „mangelhaften Holzschnitt“, bzw. durch die „Braun’sche Photographie“ zu verweisen (Bode 1883, 378). Damit bezieht sich Bode offenbar auf eine Abbildung, die Alfred von Wurzbach 1876 im Rahmen jenes Artikels publizierte, in dem er Bodes Neuzuschreibungen spöttisch als „die grünen Rembrandt’s des Dr. Bode“ anzweifelte (Wurzbach 1876). Somit verbirgt sich in dieser abfälligen Bemerkung Bodes ein zweiter Seitenhieb gegen Wurzbach (vgl. den Abschnitt zur Zuschreibungspraxis im zweiten Teil, 2.3.7). 295 Besprechung von Rembrandt als Erzieher führte Bode mehrere umfangreiche Zitate an. Dar- unter findet sich auch der folgende Abschnitt:

„Kein Maler hat so zahlreiche Selbstgebilde hinterlassen wie Rembrandt; keineswegs aus Selbstge- fälligkeit, vielmehr voller Unparteilichkeit, Sachlichkeit und Unscheinbarkeit. Er predigt ‘Erkenne Dich selbst’, er giebt sich selbst direkt, wie jeder Künstler in jedem seiner Werke sich selbst indi- rekt giebt.“ (Langbehn zit. nach Bode 1890, 307)

Wenn Bode ein Jahr nach seiner Rezension von Rembrandt als Erzieher erstmals das Inter- esse des Künstlers an Selbsterkenntnis als Entstehungsursache der Selbstbildnisse angibt, könnte ihm Langbehns also als Anregung gedient haben. Dies wird noch wahrscheinlicher, wenn wir uns die starke Individualismus-Emphase ins Gedächtnis rufen, die einen zentralen Aspekt von Langbehns Buch ausmacht:

„Wenn die Deutschen das vorzugsweise individuelle Volk sind, so kann auf künstlerischem Gebiet ihnen auch nur der individuellste ihrer Künstler als geistiger Wegführer dienen; denn ein solcher wird sie am ehesten auf sich selbst zurückweisen. Unter allen deutschen Künstlern aber ist der in- dividuellste - Rembrandt.“ (Langbehn 501922 [1890], 55)

Erst nach seiner Rezension des umstrittenen Langbehn-Buches hat auch Wilhelm Bode von der ‘Subjektivität‘ als Charakteristikum Rembrandts gesprochen. Bodes ältere Deutung der Selbstbildnisse als Studienköpfe wird von nun an um die psychologische Komponente der individuellen Selbstbefragung, des ‘Erkenne Dich selbst’ ergänzt. Die damit installierte Ver- bindung hat sich im Kontext der hermeneutisch orientierten Kunstgeschichtsschreibung um 1900 als äußerst erfolgreich und dauerhaft erwiesen. Der Beschreibung ihrer topischen Cha- rakteristik werde ich mich im übernächsten Abschnitt widmen.

2.3 Exkurs: Rembrandts Eitelkeit, Rembrandts Häßlichkeit

Zuvor soll jedoch ein Topos thematisiert werden, der im Kontext der Selbstporträts durch seine Häufigkeit wie durch seine Kontinuität auffällt, der Topos der Zurückweisung von Ei- telkeit als möglicher Motivation der Selbstbildnisse. Bleiben wir hier zunächst bei Langbehn, der schrieb:

„Kein Maler hat so zahlreiche Selbstgebilde hinterlassen wie Rembrandt; keineswegs aus Selbstge- fälligkeit, vielmehr voller Unparteilichkeit, Sachlichkeit und Unscheinbarkeit.“ (Langbehn 1890 zit. nach Bode 1890, 307)

Der ‘Rembrandtdeutsche‘ streut die Abwehr der „Selbstgefälligkeit“ beiläufig in seine sprunghafte Aussagenfolge ein und liefert weder eine Herleitung dieser Problematik noch eine

296 Begründung für seine diesbezügliche Position. Mit etwas nachhaltigerer Aufmerksamkeit widmet sich Cornelius Gurlitt, Professor für Kunstgeschichte an der Technischen Universität Berlin, dieser Frage. Im zweiten Band seiner Geschichte der Kunst (1902) vergleicht er die Stellung der Selbstbildnisse im Gesamtwerk Rembrandts mit der bei Dürer und stellt fest:

„Es ist also nicht Eitelkeit, die die beiden Künstler mit sich selbst beschäftigen ließ, sie immer wie - der vor den Spiegel zwang, sondern Selbstbetrachtung. Nicht um sich ihrer selbst zu freuen, son- dern um sich selbst zu ergründen, sahen sie sich so tief und fest ins Auge. Es mußte ihnen doch klar sein, daß das Selbstbildnis die mindest einträglichste Arbeit darstelle.“ (Gurlitt 1902, 433)

Zugunsten der besonderen Ernsthaftigkeit der Bildgattung, werden hier gleich zwei denkbare Motivationen, die ökonomische und die narzißtische, als ‘profan‘ abgelehnt. Ähnlich diskre- ditierend weist auch Wilhelm Valentiner (1906) die Eitelkeitsthese ab:

„Es gibt deren [der Selbstbildnisse, M. H.] so viele - gegen hundert - wie bei keinem anderen Künstler der Kunstgeschichte, sodaß Laien versucht sind, Rembrandt für eitel zu halten, und freundlichere Beurteiler zu der Erklärung griffen, Rembrandt habe sich selbst als billigstes Modell benutzt. Die Bequemlichkeit beim Abmalen des eigenen Kopfes kann mitsprechen; auch mag ihm wohl jene Würde im Auftreten, die man seinem Volke, jenes Selbstbewußtsein, das man großen Künstlern nachsagt, zu eigen gewesen sein, sodaß er, im Bewußtsein mehr zu sein als ein gewöhn- licher Mensch, auch mehr Interesse an der eigenen Erscheinung zu nehmen berechtigt war. Aber der wahre Grund wird tiefer liegen.“ (Valentiner 1906, 43 f.)

Nachdem er die Mutmaßung vom ‘eitlen Rembrandt‘ den Laien in den Mund gelegt und mit dem Verfügbarkeitstopos noch eine zweite geläufige Erklärung der Selbstbildnisse zurückge- wiesen hat, führt Valentiner über eine relativierende Formulierung die Eitelkeit im Gewande des ‘berechtigten Selbstbewußtseins eines außergewöhnlichen Menschen‘ wieder ein, doch nur, um von hieraus die Existenz eines ‘tieferen Grundes‘ anzudeuten. Die offenbar unangenehme Vorstellung, Rembrandt könne sich tatsächlich aus Narzißmus so häufig selbst dargestellt haben, hat Karl Storck (1920) mit einem anderen Argument abgewie- sen:

„Es war sicher niemals Eitelkeit, was Rembrandt zu seinen zahlreichen Selbstbildnissen veranlaßt hat. Denn er hatte auch als Jüngling keinen Anlaß, auf seine äußere Erscheinung stolz zu sein; als alter Mann vollends hatte er nur von Zusammenbruch zu künden.“ (Storck 1920, 6)

Eitelkeit wird hier als das lasterhaft übersteigerte Vergnügen an der Schönheit der eigenen Erscheinung verstanden; sie wird jedoch nur demjenigen zugestanden, der dazu im Hinblick auf ein ‘objektives‘ Schönheitsideal auch Anlaß habe. Rembrandt aber sei häßlich gewesen

297 und wäre somit, im Umkehrschluß, vom Vorwurf des Narzißmus freizusprechen. Bereits 1903 hatte Storck einer Eitelkeit Rembrandts mit rhetorischem Eifer widersprochen:

„Auch als Zwanzigjähriger war er nicht schön; und er war immer ehrlich gegen sich. Die breite Nase und die kleinen Augen verschönerte er nicht, er verschönerte nicht einmal die unreine Haut- farbe. Nur eines verschönerte er: das Kostüm. Aber war das wohl Eitelkeit, wenn er sich im glän- zenden Offizierskleid darstellte, wohl gar mit einer Sturmhaube, oder in prunkend reichem Ge- wand? Sicherlich nicht. Dann hätte sich die Eitelkeit doch auch auf die Darstellung des eigenen Körpers selbst erstreckt. Hier war es eitel Freude an der Pracht der Farbe, am Spielen des Lichts in den Metallteilen.“ (Storck 1903, 509)

Adolf Rosenberg sieht sich in der Einleitung zum Rembrandt-Band der Klassiker der Kunst (1904) ebenfalls zu einer Beschreibung von Rembrandts Äußerem veranlaßt, die sich ästheti- scher Werturteile bedient. Dabei gesteht er dem Künstler einen begrenzten Persönlichkeitskult zu:

„Selbstbildnisse nehmen überhaupt einen breiten Raum in Rembrandts Schaffen ein. Wir können den Wechsel in seiner äußeren Erscheinung fast von Jahr zu Jahr verfolgen. Wenn in der Blüte sei- ner männlichen Kraft vielleicht auch die Eitelkeit, die Freude an phantastischem, malerischen Auf- putz ihn zu diesem etwas ausgiebigen Kultus seiner Persönlichkeit getrieben haben mögen, so fällt dieses Motiv sowohl bei dem jungen wie bei dem alternden Künstler fort. Der junge Rembrandt war nichts weniger als schön oder auch nur interessant. Auf dieses gewöhnliche Gesicht mit der ziemlic h knolligen Nase und den wulstigen Lippen konnte sein Besitzer jedenfalls nicht eitel sein. Aber es war ihm das nächste und bequemste Modell, um daran seine Studien zu machen (...).“ (Ro- senberg 1904, XII f.)

Um Eitelkeit als möglichen Ursprung künstlerischen Schaffens abzuwehren, greifen diese Autoren mit der ‘Häßlichkeit Rembrandts‘ auf einen älteren Topos zurück. Einige Beispiele für dessen Vorgeschichte führt Carl Neumann 1902 an:

„Das Gesicht Rembrandts nannte schon Baldinucci ‘faccia brutta e plebea‘. Bartsch spricht von ‘physionomie commune, air grossier et malpropre‘. Jacob Burckhardt hat vom Selbstporträt des Palastes Pitti (das den dreißiger Jahren zugehört) geurteilt, es sei ein ‘gemeines‘ Gesicht [Fußnote: „In der ersten Ausgabe des Cicerone S. 1021. Komischer Weise ist ihm dieses Urteil in den späte- ren, von anderer Hand besorgten Ausgaben des Cicerone konfisziert worden, als läge darin etwas Despektierliches.“ M.H.] und Charles Blanc tröstet, dieses Gesicht sei schön, wie Rembrandts Werke schön seien, durch den Ausdruck. Die Nase ist in der That von einer Vulgarität, wie sie dem Schönheitssinn der Alten als Zeichen befangensten ‘Barbarentums‘ erschienen wäre. Der junge Rembrandt bringt sie nicht ohne Witz zur Geltung, besonders wenn er sich den kecken, herausfor-

298 dernden und draufgängerischen Ausdruck giebt. Die Stirn ist breit und leicht gewölbt, die Augen klein und lebhaft, der Mund sehr bestimmt, das Kinn sinnlich, aber nicht sehr energisch vorge- baut.“ (Neumann 1902, II, 486)

Bevor er selbst eine Beschreibung der Erscheinung Rembrandts liefert, stellt Neumann einige ältere Positionen aus dem topischen Feld der ‘Häßlichkeit Rembrandts‘ vor, die von Bal- dinucci (1686) bis Blanc (1859) reichen. Besondere Aufmerksamkeit sei dem Hinweis auf Burckhardts Cicerone gewidmet. Dessen genaue Formulierung lautete, Rembrandt gäbe in dem Bildnis des Palazzo Pitti „sein eigenes gemeines Gesicht“ wieder (zuerst 1855). Dem damaligen Verständnis des Ausdrucks ‘gemein‘ entsprächen heute wohl die Begriffe ‘ge- wöhnlich‘, ‘alltäglich‘ oder ‘unbedeutend‘; es wird damit also primär der Mangel an idealer Schönheit, beziehungsweise die Neigung zum Realismus kritisch zum Ausdruck gebracht. Die Delikatesse, mit der Neumann in der hier mitgelieferten Fußnote auf die spätere ‘Konfis- zierung‘ des vermeintlich ‘despektierlichen‘ Ausdrucks ‘gemein‘ in Burckhardts Cicerone verweist, erklärt sich, wenn man der fraglichen Passage in den verschiedenen Auflagen dieser erfolgreichen „Anleitung zum Genuss der Kunstwerke Italiens“ nachgeht. Im Übergang von der dritten zur vierten Auflage enthüllt sich dabei eine Pointe. Erst in dieser letztgenannten Umarbeitung des Buches fällt das abwertende Adjektiv nämlich ersatzlos fort.83 Der Autor, der im Auftrag Burckhardts die Überarbeitung für diese 1879 erschienene Auflage unternahm, war jedoch kein anderer als Wilhelm Bode. Für Kenner dieses Zusammenhangs birgt Neu- manns Kommentar also eine ironische Spitze in Richtung des selbstbewußten Berliner Muse- umsdirektors. Zugleich illustriert die von Bode vorgenommene ‘Entschärfung‘ eines Burck- hardtschen Urtextes treffend den unterschiedlichen Stellenwert, der Rembrandt im Urteil die- ser beiden Autoren zukam. Zwei Jahre zuvor hatte Jacob Burckhardt in seinem Rembrandt- Vortrag seine Charakterisierung der Gesichtszüge des Künstlers noch einmal dargelegt:

„Ein frühes, höchst fleißig ausgeführtes Bild in Kassel stellt den Künstler sogar im Helm und brau- nen Mantel auf komisch abenteuerliche Weise vor, aller übrigen maskierten Selbstporträts mit To- quen, Brustharnisch und anderm nicht zu gedenken. Seine originellen und höchst derb-kräftigen Züge waren (...) durchaus nicht sonderlich soldatisch.“ (Burckhardt 1877, 12 f.)

Diese Beschreibung weitet Burckhardt direkt im Anschluß auch auf die Gattin des Künstlers aus, um daran seine Einschätzung der Zusammenhänge von menschlicher Physiognomie, ge- sellschaftlichem Rang und angemessener Kleidung darzulegen:

83 3. Auflage 1874, bearbeitet von A. von Zahn, Band II, 1134; 4. Auflage 1879 bearbeitet von W. Bode, II. Theil, 780. 299 „Auch seine Saskia lernen wir vielleicht nur in dem höchst liebenswürdigen Dresdner Porträt mit der Nelke so gekleidet kennen, wie sie wirklich einherging; schon das andere (...) Dresdner Porträt (...) zeigt uns eine maskierte Saskia, und so vollends das berühmte Kasseler Porträtbild, wo sie mit einem höchst geschmacklos gewählten Putz vom Anfang des 16. Jahrhunderts beladen ist. Nun hatte aber Saskia von Hause aus nur eine bürgerlich angenehme Physiognomie; von ihr wie von mehrern andern Persönlichkeiten, welche Rembrandt malte, kann man nur sagen: Mit je mehr Schmuck er sie behing, desto fataler wirkt der Kontrast zwischen Kostüm und Zügen. Wie anders Rubens, wenn er seine Helena Fourment fürstlich kostümiert! Hier sitzt Schmuck und Prachtge- wand, als wäre sie darin aufgewachsen.“ (Burckhardt 1877, 12/13)

Physiognomie erscheint hier als standesbedingt. Eine Bürgersfrau kann in adligem Schmuck nur grotesk wirken, der fürstlichen Dame fügt er sich dagegen als organisches, angemessenes Element an, „als wäre sie darin aufgewachsen“. Derartige Verknüpfungen von Physiognomie, gesellschaftlichem Stand und Idealschönheit verloren im Verlauf des 19. Jahrhunderts an Be- deutung. Dagegen entwickelte sich nun jedoch die psychologisierende Lesart des Gesichts, die in der Rembrandtliteratur zu einem Grundpfeiler der hermeneutischen Argumentationen wurde.

Wenn ‘Rembrandts Häßlichkeit‘ als Topos an Präsenz einbüßte, so gilt dies jedoch nicht für die damit verbundene Ablehnung von Eitelkeit als Antriebskraft der Selbstbildnisse. Um die Kontinuität dieses Topos zu belegen, seien noch einmal zwei Beispiele angeführt, die mehr als ein Jahrhundert trennt. Zunächst Heinrich Weizsäcker, der 1898 in seiner Besprechung der epochalen Amsterdamer Rembrandt-Ausstellung schrieb:

„Wollte man in aller Kürze eine Darstellung von Rembrandts künstlerischer Entwicklung geben, man könnte sie an der Hand der Bildnisse geben, die er auf allen Altersstufen, zu seinem privaten Studium jedenfalls mehr als aus Selbstgefälligkeit, von seiner eigenen Person gemalt hat.“ (Weiz- säcker 1898, 512)

Für das abschließende Zitat zeichnet der „Netherlands Board of Tourism“ verantwortlich. Es wurde ebenfalls im Kontext einer Rembrandt-Ausstellung publiziert - der Präsentation der Selbstbildnisse von 1999:

„Often, he chose to paint himself for lack of funds to get models. It was not vanity that made him depict himself.“84

84 URL: www.visitrembrandt.com. Die Internetseite wurde anläßlich der Ausstellung Rembrandt Zelf (Den Haag 1999) eingerichtet. Copyright: Netherlands Board of Tourism. 300 Das Auftreten dieses Topos möchte ich mit Hilfe eines zweiteiligen Modells erklären. So läßt sich darin (1) eine Reaktion auf die Anekdotentradition erkennen, die Rembrandt als einen Exzentriker darstellte, der seine eigenwilligen Entscheidungen gegebenenfalls auch mit dem nötigen Selbstbewußtsein gegen Widerspruch durchzusetzen vermochte.85 Dieses Vorgehen ist jedoch (2) nur deshalb notwendig, weil diese tradierte Charakterisierung aus der zeitgenös- sischen Sicht als eine negative verstanden wurde. Während die klassizistische Biographik in dem Künstler und seinen Eigenheiten einen Typus beschrieb, der weniger über oder unter anderen als neben diesen stand, galt es nun, in ihm ein Idealbild zu formulieren; nach der Gleichung ‘Großer Künstler = Großer Mensch‘ galt es, die Vollkommenheit, die man dem Maler Rembrandt im metaphysisch aufgeladenen Reich der ‘Kunst‘ zuschrieb, auch in der moralischen Integrität des Privatmenschen Rembrandt zu spiegeln. Die Künstlerkonzeption dieser Zeit verlangte eine Übereinstimmung von Leben und Werk. Wie an anderer Stelle be- reits dargestellt, entstanden dadurch Probleme, die aktenkundig gewordenen Laster des Men- schen und die aus direkter Anschauung der Werke erfahrene Tugendhaftigkeit des Meisters in einer Person zusammenzuführen. Die wie selbstverständlich mitgeführte Formel, daß Eitelkeit nicht der Antrieb zur Erstellung der Selbstbildnisse gewesen sei, ist somit im wesentlichen aus der moralischen Einstufung von Eitelkeit, Selbstverliebtheit oder Narzißmus als ‘laster- haft‘ und deren Unvereinbarkeit mit dem bürgerlich-modernen Künstlerbild der Jahrzehnte um 1900 zu erklären.

Aus dieser Perspektive verwundert es nicht, daß sich die vielleicht einzige positive Äußerung zu Rembrandts Eitelkeit in der nach-akademischen Rezeptionsphase bei einem Autor findet, der den niederländischen Künstler zum Helden eines anti-bürgerlichen Anarchismus stilisiert: bei Emil Verhaeren (1912 [1905], 38). Der primäre Antrieb zur Anfertigung der Selbstbild- nisse liegt nach Verhaeren in der Selbstliebe Rembrandts, die jedoch nicht als moralisches Defizit, sondern als ein wesentlicher und notwendiger Charakterzug des Genies anzusehen sei. Hierin drücke sich die Überlegenheit und die vorbildliche Individualität aus, mit der es der bürgerlichen Gesellschaft entgegenzutreten gälte. Diese Ausnahme von der Regel ist also einem revolutionären Gestus geschuldet, der auch Rembrandts Vorbildfunktion konträr zu den geläufigen Positionen ausfüllt.

85 Daß Rembrandts Selbstbewußtsein dabei eine Tendenz zur Überheblichkeit eingeschrieben wurde, zeigt unter anderem die Anekdote, in der Rembrandt das skurrile Sammelsurium an ‘alten Waffen und allerlei Gerät‘ als ‘seine Antiken‘ bezeichnet. Eitelkeit wurde dem Maler außerdem im Anschluß an die phantastischen und pracht- vollen Kostümierungen nachgesagt, in denen er sich selbst und, was in früheren Perioden noch stärker rezipiert wurde, seine Frau Saskia abzubilden pflegte. Mit dem Hinweis ‘Es war nicht Eitelkeit‘ wandelte die jüngere Rezeption also eine bereits etablierte Topik ab. 301 2.4 Authentische Quellen: Die Selbstporträts als ‘Selbstbiographie‘

„Es ist, als hätte er seine eigne Persönlichkeit gesucht, die ihm selbst ein Rätsel war.“ (Muther 1906, 12)

Erst nach der Jahrhundertwende rücken die Selbstbildnisse nachweislich ins Zentrum der Rembrandtrezeption, wo sie von nun an gleichwertig neben den Gruppenbildnissen und den religiösen Themen rangieren, ja diesen beiden Gattungen teilweise noch übergeordnet wer- den. In der deutschsprachigen Rezeption läßt sich die erste akademisch legitimierte Rem- brandt-Monographie Carl Neumanns (1902) als ein Markstein auf diesem Weg ausmachen. Der Umfang, den diese Bilder im Buch des Heidelberger Professors einnehmen, ist nur ge- ring, doch kennzeichnet Neumann ihren Stellenwert für die aktuelle Beschäftigung mit Rem- brandt in einer programmatischen Weise:

„Die Selbstbildnisse Rembrandts sind durch ihre Zahl einzig in der gesamten Malerei. Aneinander- gereiht bilden sie eine Art Selbstbiographie, die man mit den merkwürdigsten Erscheinungen dieser Gattung, wie sie in der Litteratur von Augustin bis zu Rousseau und Goethe begegnen, vergleichen könnte. Bei der rein künstlerischen Gesinnung, in der Rembrandt sich selbst malte, haben sie den Wert unbefangenster Zeugnisse; indem sie zeitlich getrennt und vereinzelt nebeneinander stehen, werden sie als Dokumente jenen litterarischen Werken teilweise überlegen (...).“ (Neumann 1902, 485 f.)

Die Selbstporträts werden hier nicht nach ihrer gattungsgeschichtlichen Position, ihrer techni- schen Durchführung oder ihrer Ikonographie befragt. Sie werden vielmehr als ‘Dokumente‘ verstanden, das heißt als eine eigene Kategorie von Quellen, deren Aussagepotentiale über die spröden amtlichen Fakten hinaus eine einzigartige Annäherung an die menschliche Seite Rembrandts, seinen Charakter, sein Wesen ermöglichen. Neumann vergleicht die Bilder die- ser Gattung mit autobiographischen Texten der Literaturgeschichte, spricht ihnen Authentizi- tät („den Wert unbefangenster Zeugnisse“) zu und bezeichnet sie als „eine Art Selbstbiogra- phie“. Kennzeichnend für die zeitgenössische Perspektive auf die Selbstporträts, wird dieser Ausdruck im folgenden zu einem Schlüsselbegriff. In den amtlichen Dokumenten, die nach intensiven Archivrecherchen zu Beginn des Jahrhun- derts mit ihrer Vielzahl zum Teil unerfreulicher Details vorlagen, konnten wesentliche Kom- munikationsinhalte der an Rembrandt interessierten Autoren keine Anknüpfungspunkte fin- den. Während diese Form der Annäherung an den Künstler über seine Spuren als öffentliche Person eher unbefriedigend verlief, eigneten sich die Selbstbildnisse als hochwertiger ‘Ersatz‘ für fehlende Schriftquellen zum privaten Rembrandt. Stellvertretend für das Dilemma von akademischen wie nicht-akademischen Enthusiasten läßt sich Karl Pfisters Unzufriedenheit mit der literarischen Quellenlage lesen:

302 „(...) was kann man an seelischer Erregung diesen Berichten der Tatsächlichkeiten entnehmen? Das Wichtigste fehlt fast ganz: Äußerungen des Mannes selbst (...) und Belege, wie die Geschehnisse des Lebens auf ihn wirkten. In diese Lücke treten die Selbstbildnisse ein.“ (Pfister 1919, 23)

An dieser Stelle soll auch der zweite Teil eines Zitates von Wilhelm Valentiner (1906) nach- gereicht werden. Valentiner hatte den „Laien“ die Mutmaßungen über Rembrandts Eitelkeit unterstellt und dieser unangemessenen Sichtweise das berechtigte Selbstbewußtseins des Künstlers entgegengehalten (Valentiner 1906, 43). Doch damit, so Valentiner, sei das We- sentliche noch nicht gesagt:

„(...) der wahre Grund wird tiefer liegen. Die Selbstbildnisse beweisen, wie die Studienköpfe, des Künstlers außergewöhnliche Neigung, das menschliche Antlitz mit allem Reichtum seiner Bildung und aller Mannigfaltigkeit des Ausdruckes an einer und derselben Form zu ergründen. Und zum anderen sind es vielfach nicht mehr als flüchtige Gedanken über Erfahrungen und über Stimmun- gen, gleichsam Notizen aus einer Selbstbiographie, wie sie der lyrische Dichter in jedem Gedicht mit gleicher Offenheit gibt, ohne daß jemand Anstoß nehme. Sie spiegeln bald Leid, bald Freude und sind reine Erinnerungen an Stunden einsamer Selbstbetrachtung.“ (Valentiner 1906, 44)

Als authentische Selbstaussagen des Künstlers werden diese Bilder den literarischen Quellen der Autobiographie, des Tagebuchs oder der privaten Briefe gleichgesetzt oder, wie bei Neu- mann, sogar teilweise übergeordnet. Dieses Verständnis bezieht seine Legitimation aus der zumeist a priori postulierten Produktionsformel des ‘Erkenne Dich Selbst‘, den „Stunden ein- samer Selbstbetrachtung“, wie sie auch in Wilhelm Hausensteins Beschreibung des Malaktes charakterisiert werden:

„Die Augen (...) beobachten mit der Sachlichkeit eines gewissen trüben Mißtrauens - beobachten im Spiegel zumal sich selbst: wer seid ihr - wem gehört ihr - was für einer ist der, dem ihr gehört - wie ging und geht es ihm in dieser Welt und wie wird es ihm gehen?“ (Hausenstein 1926, 16)

Da der Ursprung dieser Bilder in Rembrandts Bedürfnis nach Selbsterforschung gesehen wird, da der Künstler gleichsam seine Persönlichkeit in sie hineingelegt hat, kann diese in einer Rezeption, die sich als Umkehrung des Produktionsprozesses versteht, ebendort aufge- funden werden. Mit den Worten Karl Schefflers:

„In den Selbstbildnissen besitzen wir eine fast vollständige Biographie des Künstlers; die innere Art dieses großen Menschen läßt sich aus ihrer Gesamtheit ablesen.“ (Scheffler 1906, 30)

303 In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominiert dieses Interesse an der „innere[n] Art die- ses großen Menschen“ die Beschäftigung mit Rembrandts Selbstbildnissen.86 Die Selbstbild- nisse werden nun zum alleinigen Gegenstand von Aufsätzen und von Monographien. Über ihren Anschlußwert für Aussagen zur Person Rembrandts hinaus werden sie für die Beschrei- bung des Schöpferischen, der Individualität und verwandter abstrakter anthropologischer Ka- tegorien nutzbar gemacht. Ein besonders weitreichendes Beispiel dafür ist Georg Simmels lebensphilosophisch orientiertes Buch von 1916. Aber auch Hausenstein (1926) und Pinder (1943) führen ihre Leser von den Selbstbildnissen Rembrandts aus in quasi-philosophische oder weltanschauliche Regionen. Gerade bei Pinder steht, vierzig Jahre nach Neumann, der Begriff ‘Selbstbiographie‘ zentral, wie bereits der Eröffnungssatz seines Buches zeigt:

„Die Selbstbildnisse Rembrandts - mit diesen Worten ist etwas genannt, das auf der ganzen Welt nur ein einziges Mal sich ereignet hat. Es bedeutet nicht nur Krönung und höchsten Fall einer Bild- gattung, sondern auch noch etwas, wovon es überhaupt nur diesen einen Fall gibt: die vollständige Selbstbiographie in sichtbar gestalteter Form, die einzige der Menschheit.“ (Pinder 1943, 3)

In den deutschsprachigen Monographien der 20er Jahre erscheint diese Position als konsens- fähig. Wilhelm Hausenstein (1926) steigt mit dem Titel „Selbstbildnis“ in sein Rembrandt- Buch ein, und auch Werner Weisbach (1926) verwendet auf diese Gattung ein eigenes Kapitel namens „Selbstporträts als Selbstzeugnisse“.

2.5 Die Selbstbildnisse als Dokumente der Persönlichkeitsentwicklung

Was liegt näher, als diese ‘gemalte Selbstbiographie‘ zum Sprechen zu bringen? In der Tat wird die Nacherzählung eines vom privaten Geschehen geprägten ‘seelischen Lebensweges‘ zu einem der häufigsten Deutungsansätze, die sich in jenen Jahren im Hinblick auf die Selbst- porträts ausbilden. Der geläufigste Zuschnitt dieser Narration soll nun unter Rückgriff auf unterschiedlichste Quellentexte skizziert werden. Er orientiert sich an dem kunsthistorischen Ordnungsmodell der drei Werkphasen (Früh-, Haupt- und Spätwerk). Dabei wird der junge Rembrandt als neugieriger, weltoffener ‘Stürmer und Dränger‘ vorgestellt, dessen Aufmerk- samkeit für alles Sichtbare und dessen Freude am Experiment, aber auch dessen Unreife aus den Selbstbildnissen dieser Zeit spricht. Ferdinand Avenarius erweckt im Kunstwart (1906) den neugierigen Jüngling zum Leben:

„Aber der junge Rembrandt mochte nicht weg. Er fand reichlich genug rundum zu sehen an den Lumpen der Bettler und an den Prachtstücken aus Indien, an den Helmen und Halsbergen bei den Schützen und an den Röcken und Mützen der Juden, an den durchsonnten Stuben und Kirchen, an

86 Für Beispiele zum Fortleben dieser Perspektive vgl. auch van de Wetering 1999. 304 den Menschen mit ihren Gesichtern, an seinem eigenen, das er wie ein Schauspieler vor dem Spie - gel so und so verzog, begierig, wie nun der Ausdruck sich wandle und mit Stift und Pinsel sich fangen lasse.“ (Avenarius 1906, 330)

Theodor Hetzer hat den Entwicklungsgedanken im Visier, wenn er (1941) die ‘Unreife‘ des Dresdner ‘Doppelbildnis mit Saskia auf den Knien‘ von 1635 als Etappe eines weiterführen- den Weges darstellt:

„Ein an und für sich monumentaler und bedeutender Gedanke aus der Welt der großen Komposi- tion, die Pyramide, wird im Atelierübermut ins Lustige gewandt (...). Man denkt an Franz Hals und an die vielen holländischen Darstellung[en] der Trinker, der Soldaten mit ihren Mädchen. Daß diese ganze Welt uns bei Rembrandt nicht recht überzeugt, daß er darin nicht zu Hause ist und daß es schon damals auch ganz andere Bezirke für ihn gab, dieses freilich müssen wir wohl beachten; und auch die vielen kostümlichen Verwandlungen des jungen Rembrandt sind Vorstufen des späte- ren reinen und hohen Künstlertums; nur aus dem Suchen der frühen Zeit wurde die seelische Größe der späteren möglich.“ (Hetzer 1984 [1941], 323)87

Auch bei Richard Hamann (1906) wird deutlich, daß der junge Rembrandt zu Höherem beru- fen ist. Die frühen Selbstporträts werden als Experimente gekennzeichnet, denen eine Span- nung innewohnt, die zu lösen erst die Zeit mit sich bringen wird:

„In jungen Jahren stellte sich Rembrandt vor den Spiegel, um zu sehen, wie man lacht. Man spürt, wie krampfhaft er das Gesicht verziehen muss, um es doch nur bis zum unnatürlichen Grinsen zu bringen. Er stellt sich zornig, aber erscheint erst recht gutmütig dabei und wird komisch. Und auch das Erschrecken mit weit aufgerissenen Augen glaubt man ihm nicht. Wir verstehen: die Energie dieses wuchtigen Körpers vermag das äusserste zu leisten im Ertragen und Übersichergehenlassen, die aggressiven Tugenden, das Aussichherausgehen liegt ihm nicht. Leben heisst bei ihm Nerv und Gehirn, die Muskeln bleiben unbeteiligt.“ (Hamann 1906, 18 ff.)

Und auch Marie Luise Kaschnitz (1948) sieht in dem Jüngling nicht allein die verspielte Neu- gierde des Heranwachsenden, sondern bereits die Anlagen zu verantwortungsvollem Handeln. In ihrem Text, der 1948 im Weihnachtsheft der Zeitschrift Das Kunstwerk erschien, geschieht dies, sicher nicht zufällig, sondern im doppelten Sinne zeittypisch, in tröstender Absicht. Mit einem „geheime[n] Bruderschaftsgefühl“ reiht sich Rembrandt „in die Schar der Besitzlosen und Heimatlosen“ ein:

„[Wir sehen] den Neugierigen der Ausdrucksstudien, der am eigenen, zu immer neuen Fratzen ver- zerrten Gesicht darstellen wollte, was Furcht und Schrecken ist, tierisches Lauern und irres Ge-

87 Vgl. Hanfstaengl 1939, 8. 305 lächter, jede Hingegebenheit an die dunkeln Triebkräfte der menschlichen Natur. Neben solcher er- kenntnishungrigen Seelenverkleidung stand die Vortäuschung eines anderen Schicksals, die Dar- stellung im Bettlergewand, die Einreihung in die Schar der Besitzlosen und Heimatlosen, zu denen Rembrandt gewiß mehr ein geheimes Bruderschaftsgefühl als ein soziales Mitleid zog.“ (Kaschnitz 1948, 25)

Der junge Rembrandt, so stellt es sich in diesen Zitaten dar, ist vielgestaltig. In seiner Wild- heit, Neugierde und Experimentierfreude klingen zugleich, noch unbewußt, bereits Verspre- chungen auf Späteres durch. In der zweiten Phase seiner Persönlichkeitsentwicklung werden diese Versprechungen jedoch zunächst nur technisch eingelöst. Die Bildnisse des Rembrandt der mittleren Jahre werden zumeist in zwei Abschnitte unterteilt, ohne jedoch das umfassende Dreier-Schema zu sprengen. In seiner Zeit als selbstbewußter Bürger Amsterdams spricht aus den Selbstporträts zunächst der Stolz des erfolgreichen Malers und des glücklichen Eheman- nes. In diesen Bildnissen erkennen die InterpretInnen einen Hang zur Äußerlichkeit, bei aller handwerklichen Brillanz entferne sich Rembrandt von sich selbst. Die Versuchung des Erfol- ges zeige ihre Wirkung. Theodor Hetzer (1926) charakterisiert dies mit knappen Worten:

„Es kommt der Weg in die Welt, eine kurze Zeit äußeren Erfolges, ein lärmendes, derbes, renom- mistisches Glück.“ (Hetzer 1984 [1926], 314)

Es ist diese Phase, für die Adolf Rosenberg (1904) eine begrenzte Selbstgefälligkeit des Künstlers zuläßt:

„Wenn in der Blüte seiner männlichen Kraft vielleicht auch die Eitelkeit, die Freude an phantasti- schem, malerischen Aufputz ihn zu diesem etwas ausgiebigen Kultus seiner Persönlichkeit getrie - ben haben mögen, so fällt dieses Motiv sowohl bei dem jungen wie bei dem alternden Künstler fort.“ (Rosenberg 1904, XII)

Und für Eberhard Hanfstaengl (1939) ist das Dresdner Doppelbildnis mit Saskia, das er im Gegensatz zu Hetzer zur zweiten Phase zählt, der Ausdruck dieses oberflächlichen Erfolgs:

„(...) das Doppelbildnis in Dresden, aus übermütiger Laune entstanden und von einer fast derben Enthülltheit, kennzeichnet diese Zeit der Lebensfreude, der ein Unterton von barockem Lärm und Bombast beigemischt ist. Rembrandt fühlt sich als Edelmann in seinem Metier, er kleidet sich ge- sucht und betont vornehm, auf Saskia häuft er den Schmuck einer Fürstin, ein goldener Glanz liegt auf allen Erscheinungen. Die eigenen Bildnisse zeigen Würde und Selbstbewußtsein, und Rem- brandt weiß in seinem Gesicht alle Züge zu bannen oder zu mildern, die seine Herkunft verraten könnten. Haltung und Tracht verstärken noch die Tendenz nach Repräsentation und Ansehen.“ (Hanfstaengl 1939, 8)

306 Die Werke dieser Phase bereiten zahlreichen Interpreten ernsthafte Probleme. Der Grund da- für ist in der beabsichtigten Idealisierung Rembrandts zum ‘Maler der Seele‘ zu suchen, die den Niederländer innerhalb der dichotomischen Unterscheidung von ‘Oberfläche und Tiefe‘ entschieden dem letzteren dieser Pole zuordnet. Ein harmonisches Verhältnis des Künstlers zur zeitgenössischen Gesellschaft gilt in dieser Sichtweise jedoch als Beleg für dessen Ober- flächlichkeit, was sich bei Hanfstaengl anschaulich in der Formel vom „goldene[n] Glanz (...) auf allen Erscheinungen“ ausdrückt - insofern wir Glanz als Oberflächenphänomen auffassen können.88 In den Selbstbildnissen der „kurze[n] Zeit äußeren Erfolges“ wird eine Neigung Rembrandts zu materiellen Genüssen gesehen. Dies wirft einerseits ein Problem auf, da Rem- brandt von derartigen Strömungen nicht ernsthaft berührt sein darf, liefert jedoch andererseits die Möglichkeit, die ständige Gefährdung des Genies durch die Welt aufzuzeigen. Gerade durch diese - vorübergehende - Verflachung gewinnt die Authentizität des späten Rembrandt zusätzlich an Intensität. Einer menschlichen Schwäche folgend, gibt sich Rembrandt demnach der Versuchung der glänzenden Welt gesellschaftlichen Scheins hin. Erst im Scheitern dieses oberflächlichen Genusses gelangt er zur Erkenntnis des wahren (außergesellschaftlichen, in- nerlichen) Seins. Trotz dieser dramaturgischen Zweckmäßigkeit bleibt eine angemessene Einordnung dieser Phase in die lineare Erzählung von Rembrandts ‘Entwicklungsgang‘ problematisch. Beson- ders deutlich wird das bei Wilhelm Pinder. Dieser Autor kann die fraglichen Bilder nicht flüchtig übergehen, da die Selbstbildnisse sein einziger Gegenstand und ihre chronologische Besprechung seine Methode sind. Zudem tritt bei Pinder erschwerend eine fast paradoxe Mi- schung aus wissenschaftlichem Ethos und Heroisierungsinteresse hinzu. So schwankt seine Darstellung der Erfolgsphase zwischen Kritik, Verständnis und harmonisierenden Erklä- rungsversuchen. Rembrandts Gesichtsausdruck mildere sich in diesen ersten Amsterdamer Jahren:

„Jetzt beginnt er sich wohlzufühlen, das ist ein ganz neuer Ton in seiner Selbstbiographie. (...) er wird nüchterner, glücklicher und zugleich mehr dem Außen des öffentlichen Lebens zugewandt.“ (Pinder 1943, 33)

Mehrfach verwendet Pinder in diesem Abschnitt seines Textes den Begriff ‘Kunstmaler‘, den er in Anführungszeichen setzt, um ‘diesen‘ Rembrandt als einen populären Maler zu kenn- zeichnen und ihn von dem späteren ‘Künstler‘ begrifflich zu unterscheiden. An die vorsich- tige Abwertung dieser Phase wird sogleich eine Rechtfertigungsformel angeschlossen:

„Rembrandt ist - in der nicht unbedenklichen Sprache des Alltags ausgedrückt - eine Zeitlang we- niger ‘interessant’. Weniger Stürme und weniger Perlen der Seele; aber ohne die Pause wäre die

88 Vgl. Gumbrecht 1997, 102 ff. 307 Kraft für mächtigere Stürme und kostbarere Perlen nicht mehr dagewesen. Das Genie kann nicht davon leben, ‘genialisch’ zu sein.“ (Pinder 1943, 35)

Indem Pinder in Parenthese die Begriffswahl seiner Kritik der Alltagssprache zuschreibt, kann er den geringeren Reiz ‘dieses‘ Rembrandt ausdrücken, ohne selbst seine wissenschaftliche Distanz aufzugeben. Denn der Kunsthistoriker Pinder kennt natürlich keinen ‘weniger interes- santen‘ Rembrandt. Alle Phasen dieses Künstlers, alle seine Zeiten gehören in ein Gesamtbild, das an sich ‘interessant’ ist. Aus der Perspektive des Laien, die Pinder hier kurz simuliert, mag also ‘dieser Rembrandt weniger interessant’ erscheinen. Indem er das Werturteil aus ei- ner veränderten Sprecherposition heraus fällt, umgeht er die wissenschaftliche Pflicht, es als ein ernsthaftes Problem behandeln zu müssen. Problematisch wird dank dieser rhetorischen Wendung nicht, daß dieser Rembrandt weniger interessant ist, sondern sofort, daß ein All- tagsverständnis es so auszudrücken geneigt sein mag. Der Wissende kann statt dessen auf die ‘Notwendigkeit’ verweisen, also den Topos der ‘folgerichtigen Entwicklung des Künstlers‘ ins Spiel bringen, was in unserem Fall in Form der Notwendigkeit der „Pause“ geschieht. Nach der Turbulenz der Jugendjahre erholt sich der Künstler also:

„(...) so beruhigt bei aller Bewegung, so einverstanden mit der Welt sehen wir Rem- brandt kaum jemals wieder, so sahen wir ihn auch früher kaum.“ (Pinder 1943, 46)

Selbstbildnisse sind in dieser Zeit der Selbstzufriedenheit ein gefährlicher Gegenstand:

„Wo er damals von sich ausging, da konnte er leicht verflachen.“ (Pinder 1943, 53)

Wo ihm diese Oberflächlichkeit zu weit geht, fährt Pinder gar das Geschütz des Echtheits- zweifels auf, nicht ohne die fragwürdige wissenschaftliche Relevanz seiner Aussage zu re- flektieren:

„Eine Enttäuschung bietet das oval gerahmte Bild im Glasgower Museum. Sollen wir diesen süßli- chen flachen Rembrandt wirklich glauben? Eine Verwerfung auch als Werk des Künstlers darf hier nicht gewagt, es darf höchstens gehofft werden, daß sie mit guten Gründen einmal geschieht.“ (Pinder 1943, 59)89

In Pinders Begründung seines Zweifels läßt sich nochmals die Ambivalenz seiner Position und die Schwierigkeit erkennen, die ihm die Vorstellung eines gesellschaftlich gut situierten Künstlergenies namens Rembrandt bereitet. Nur als flüchtige Phase eines wesenhaft gänzlich anders Disponierten kann er sie dulden:

89 Daß der deutsche Kunsthistoriker Pinder, Mitglied der NSDAP, mit diesem Echtheitszweifel 1943 ein Objekt diskreditiert, das als kulturelles Besitztum Großbritanniens angesehen werden kann, sei hier nur am Rande er- wähnt. 308 „Was aber entscheidend fehlt, das ist die Rembrandtische Intensität. Sie ist wichtiger als Ähn- lichkeit des Dargestellten, selbst des Stiles. (...) Nur eines muß doch noch gesagt werden: wenn wir schon wirklich das Glasgower Bild als echte Urkunde Rembrandtischer Selbstdarstellung hin- nehmen müßten, so käme allerdings die Mitte und die zweite Hälfte der 1630er Jahre als einzige Zeit in Betracht. Es war diejenige, die Äußerlichkeit und Selbstverflachung als einzige erlaubte. Es ist natürlich die Selbstverflachung eines tiefen Menschen. Nur der Tiefe kann vorübergehend verflachen, nur an ihm ist ‘Verflachung’ überhaupt wahrzunehmen. Für geborene Flachköpfe liegt kein Grund zur Überhebung vor.“ (Pinder 1943, 60)

Der Übergang zum zweiten Abschnitt der mittleren Lebensphase Rembrandts wird im allge- meinen als ein Schock dargestellt. Im Jahr 1642 brächen mit der ‘Ablehnung der Nachtwache‘ und mit Saskias Tod zwei Katastrophen auf ihn ein, zudem verschärften sich die finanziellen Probleme. Dieser Schock bringe schon bald die Rückkehr zu sich selbst, die zugleich eine Abkehr vom Äußerlichen sei. Die Frontstellung zur Gesellschaft, deren Höhepunkt sich im aktenkundigen Konkurs offenbare, zeichne sein Gesicht mit Spuren des Leidens. Rembrandt sei jedoch nicht ‚gebrochen‘ - im Gegenteil. Die Zeitschrift Hochland (1906) erläutert zu einem auf 1654 datierten Selbstbildnis:

„Das Jahr, aus dem das Bildnis stammt, ist für den Menschen Rembrandt zwar ein Unglücksjahr. Im Juli desselben wurde er wegen seiner ‘Gewissensehe’ mit Hendrickje Stoffels viel angefeindet. Gleichzeitig machten sich die ersten Vorboten seines finanziellen Ruins bemerkbar, (...) so daß 1656 die Katastrophe über ihn hereinbrach. Es ist gewiß, daß die Gesichtszüge aus jener schweren Zeit düstere und herbe Falten aufweisen; aber es ist ebenso gewiß, daß aus den Augen des Mannes eine große seelische Ruhe, ja sogar etwas wie sieghafte Heiterkeit spricht, welche äußeren Schick- salsschlägen keine Gewalt einräumt über die innere Welt.“ (o. A. [verm. Karl Voll], Hochland, 3. Jg, 10. Heft, Juli 1906, 511 f.)

Eine verwandte Mischung erkennt Jan Veth 1906 in der Radierung Selbstbildnis am Fenster, zeichnend (RS 62) von 1648:

„Sein schmerzlich gespanntes Gesicht zeigt die Spuren von viel Streit und viel Leid, aber die schwer durchfurchten Züge sprechen auch von einer ungebrochenen, ja noch gestählten Hartnäc- kigkeit und von einer fest entschlossenen Einkehr zu tieferem Lebensschatz.“ (Veth 1906, 109)90

90 „Zijn smartelijk gespannen gelaat vertoont de sporen van veel strijd en veel leed, maar die zwaargegroefde trekken spreken ook van een ongebroken, ja nog gestaalde hardnekkigheid en van een vastbesloten inkeer tot dieper levens-schat.“ (Veth 1906, 109). 309 Und zum gleichen Bildbeispiel zieht Carl Neumann (1902) noch einmal den Vergleich mit dem bürgerlich-erfolgreichen Rembrandt der ersten Amsterdamer Jahre:

„(...) dieser Rembrandt ist auch schöner und vorteilhafter als der Geputzte mit seinem frisierten Bärtchen und seinen Toiletteschmeicheleien; die hundemäßig breite Nase fällt vor der geistigen Energie kaum mehr auf, die sich in der Unerbittlichkeit durchdringender Forschung und Diagnose ausspricht. Die ganze Umgebung, Tisch und Wand, alles scheint den Atem anzuhalten; es giebt keine Reize und Witze des undulierenden Tonspiels; nichts als vollkommende Ruhe und erwar- tende Stille.“ (Neumann 1902, 487)

Diese ‘Erwartung‘ findet schließlich ihre Erfüllung im Bild des alten Rembrandt, der die Welt überwunden habe. Er zeige sich ruhiger als der junge und stärker als der mittlere Rembrandt. In seinen Bildnissen wird die Souveränität eines Mannes ausgemacht, der durch Freud und Leid, durch die Prüfungen des Lebens, zu einer erhabenen inneren Größe emporgewachsen sei. Die späten Selbstporträts geraten in dieser Erzählung zur Apotheose des Künstlers wie des Menschen. Richard Hamann stellt 1906 über die Auswirkungen der erlittenen Katastro- phen auf den Künstler fest:

„Diese Schicksale prägen sich im Äusseren Rembrandts immer mehr aus. Er verwahrlost immer mehr. Wie er sie innerlich durchlebte, können wir nur ahnen. Eine unendliche Vertiefung - die Er- ziehung durch das Leiden - kündet sich in jedem Werke dieser Zeit an.“ (Hamann 1906, 17)

Dann beschreibt Hamann das Florentiner Selbstbildnis (datiert auf 1669):

„Der Mund ist fest verschlossen, in den Winkeln herabhängend. Die Augen liegen tief in er- schlaffter Umgebung, scheinen leicht getrübt. Ein Gran von Bitterkeit drückt sich in Mund und Augen aus, eines Ungebeugten, aber ohne heftige Anklage und auch nicht mit der Miene eines er- zürnten Siegers - wie jemand, der sich und seine Kunst aus Schiffbrüchen gerettet hat.“ (Hamann 1906, 17 f.)

Heinrich Wölfflin äußert sich 1909, nachdem er die herausragende Stellung der Selbstbild- nisse als Quellen zur persönlichen wie künstlerischen Entwicklung Rembrandts gewürdigt hat, zu den späten Beispielen:

“Und wenn auch später gelegentlich ein düstrer Ton nicht ausbleibt (...) so ist der Charakter der Altersporträts im allgemeinen doch ein sieghafter: der Mann, der sich von der Welt frei gemacht hat. Und das einfache weiße Tuch, das er sich jetzt statt der alten Maskenkostüme um den Kopf zu schlingen pflegt, wirkt wie eine Gloriole.“ (Wölfflin 1949 [1909], 131)

310 Auch Marie Luise Kaschnitz (1948) schließt sich dieser Vorstellung an. Die Passion des ge- nialen Künstlers, seine Außenseiterposition, der sich schließende Kreis und die Apotheose sind die Muster, die Kaschnitz angesichts der späten Selbstporträts verwendet:

„Auf den (...) Bildern erscheint die Persönlichkeit Rembrandts durch das Leiden und die äußere Einengung erhöht, durch das Ausgestoßensein aus der patrizischen Gesellschaft gefestigt und ver- tieft. Das Zurückfinden zu sich selbst ist eine neue Begegnung mit dem Menschen, mit einem Neuen nun, der weder der Bereicherung und Ehrung von außen, noch des sicheren Haltes einer bürgerliches Existenz bedarf.“ (Kaschnitz 19048, 34)

Und Karl Voll schließt seinen Jubiläumsartikel von 1906 mit den Worten:

„Er hat sich als alter Mann ganz von aller Gesellschaft der Menschen zurückgezogen, und doch sind es seine letzten Werke, die einen solch unerschöpflichen Fond von grundguter Liebe enthalten. Das darf uns entgegengesetzt der landläufigen Ansicht ein Trost sein. Arm mag Rembrandt gewor- den sein, aber unglücklich wurde er nicht, und wie seine letzten Selbstbildnisse zeigen, durfte er sich bis zum Schluß als stolzer Mann fühlen. So steht er wahrhaft groß da, als Sieger auch noch im Untergang.“ (Voll 1906, 449)

Am Ende dieser patchworkartigen Schilderung muß nochmals der Stellenwert des ‘Ganzen‘ betont werden. Die Apotheose Rembrandts, die in den späten Selbstbildnissen aufgefunden wird, bildet für die hier zitierten AutorInnen zwar den Höhepunkt seines Schaffens, sie erlangt jedoch ihrer Bedeutung zuletzt durch die Gesamtheit der Entwicklung, die „Kontinuität des Lebens“ (Simmel), die „Metamorphose“ (Hausenstein), die „Wandlung“ (Pinder). Als Bei- spiel für diese Einschätzung sei Karl Scheffler (1906) zitiert, der die Entwicklung Rem- brandts, wie sie aus den Selbstbildnissen ablesbar sei, zusammenfaßt - einen wechselvollen Weg, der durch Nacht zum Licht führt:

„(...) wir sehen den Bonvivant, den Bohème und den Patrizier, den Verbitterten und den Ueberwin- der; die Jugend wird vor unsern Augen zur Mannheit und diese zum Alter, und wie die reiche Laufbahn sich ihrem Ende zuneigt, verwandelt sich alle begehrliche Leidenschaft in eine Weisheit, der nichts Menschliches fremd ist; eine unendliche Hoheit leuchtet von der Stirn des Greises, aus den Augen strahlt ein Wissen um die letzten Dinge, eine Vertieftheit, wie sie Bismarcks Kopf in den letzten Jahren zeigte, als in diesem gewaltigen Charakter alle Willenskraft zur Betrachtung ge- worden war, und auf die Trümmer eines zerstörten Glücks sieht ein goethisches Adelshaupt mit löwenhafter Majestät hinab.“ (Scheffler 1906, 31)

Wie diese exemplarische Auswahl gezeigt hat, nehmen die Selbstbildnisse eine wichtige Po- sition in den Narrationen ein, die Leben und Charakter Rembrandts im wesentlichen aus ‘sei- nem‘ Werk generieren. Wie keine andere Werkgruppe lassen sie den Rückbezug einer künst-

311 lerischen Entwicklungslinie auf die persönliche Geschichte zu. Im Blick auf die Selbstporträts können die Erzählperspektiven auf Kunst und Leben in idealer Weise überblendet werden, da diese Werke nicht nur Transparenz für eine Vision vom Künstler bieten, sondern diese Vision - in Gestalt seiner persönlichen Erscheinung im Bild - direkt mit der Betrachtung des Bildes als eines Dokumentes künstlerischer Praxis verschmelzen kann.

2.6 Metaphorische ‘Zuschreibungen‘ an Rembrandt

In den folgenden beiden Abschnitten soll demonstriert werden, wie mittels metaphorisch an- gereicherter Bildbeschreibungen bestimmte, den Bereich ästhetischer und biographischer Fra- gen übersteigende Deutungs- oder Bedeutungsebenen Evidenz gewinnen können. Die Meta- pher wird hier als rhetorische Trope verstanden, deren Funktion zunächst in der Ersetzung von etwas bereits Gesagtem liegt. Diese Ersetzung kann die Aufgabe der bloßen sprachlichen Variation erfüllen oder in poetischer Absicht ausgeführt werden, sie wird jedoch in jedem Fall den bisherigen Aussagerahmen um ein oder mehrere semantische Aspekte erweitern. Die bei- den folgenden Beispiele der ‘topographischen Metaphorik‘ und der ‘Herrschaftsmetaphorik‘ nutzen diese Möglichkeit, um über die Betrachtung der Selbstbildnisse Rembrandts hinaus dessen Kunst wie dessen Person in den Bereich zuvor nicht thematisierter Bedeutungszu- sammenhänge zu rücken.

2.6.1 Das Gesicht als Landschaft

Zunächst behandle ich also einige Beispiele für die hier summarisch als ‘topographische Me- taphorik‘ bezeichneten Sprachbilder. Unter diesen Begriff fasse ich Bildbeschreibungen, die Rembrandts Gesicht mit einer Landschaft vergleichen bzw. die physiognomischen und ästhe- tischen Merkmale des gemalten Antlitzes als topographische oder meteorologische Phäno- mene schildern. Diese literarische Strategie mag zunächst ungewöhnlich klingen, doch ist ihr Gebrauch in den nach 1900 entstandenen Texte, die sich ausführlicher mit Selbstporträts Rembrandts befassen, keineswegs selten. Ihr Ausgangspunkt läßt sich im Topos vom ‘Gesicht als Spiegel der Seele‘ sowie im Sprachbild der ‘Seelenlandschaft‘ verorten.91 Wie die Präsenz des Seelenbegriffs bereits andeutet, zielt diese Metaphorik zuletzt auf eine metaphysische Kategorie. Wir haben es dabei erneut mit der Dichotomie von Oberfläche und Tiefe zu tun, wobei diese beiden Pole als Bereiche der Bedeutung (Tiefe) und ihres Ausdrucks (Oberflä- che) verstanden werden. Der Topos vom ‘Gesicht als Spiegel der Seele‘ begreift das Antlitz

91 Vgl. auch die umgekehrte Wendung, Landschaften als ‘Gesichter‘ einer Region zu beschreiben, z.B. in der Reiseliteratur. 312 als Ort der Expression eines an sich in den unsichtbaren Tiefen des menschlichen Innenlebens verborgenen Gehalts.92

Doch kommen wir zu den Beispielen. In Karl Schefflers Auseinandersetzung mit Rembrandts Selbstporträts (1906) werden die vier Begriffsfelder Landschaft, Wetter, Gesicht und Seele miteinander verschränkt und den Ebenen von Oberfläche und Tiefe zugeordnet:

„Wie die Landschaft in Stimmungsbildern das Wetter widerspiegelt, so das Gesicht das Wetter der Seele.“ (Scheffler 1906, 30)

Die emotionale Disposition des Menschen, metaphorisch gesprochen „das Wetter der Seele“, bildet sich demnach in der ‘Landschaft‘ des Gesichtes ab. Karl Scheffler verknüpft diese Be- schreibung mit Phänomenen der zeitgenössischen Kunst, indem er seinen Vergleich auf die Ästhetik des Impressionismus ausdehnt:

„(...) wie der Impressionist viele flüchtige Stimmungen derselben Landschaft festhält und doch ver- schiedene Bilder dadurch gewinnt, so hat der große Malerpsychologe die beweglichen Stimmungen der Gesichter festgehalten.“ (Scheffler 1906, 30)

Der Titel des „große[n] Malerpsychologe[n]“, der Rembrandt hier verliehen wird, bringt wie- derum, wie schon der Begriff ‘Seele‘, den psychologischen Verständniskontext ins Spiel. Sprachlich finden wir bei Scheffler eine Gleichzeitigkeit von Vergleich und Metapher. Das Gesicht ist bei ihm „wie“ eine Landschaft (Vergleich), und es spiegelt „das Wetter der Seele“ (Metapher). Während der Vergleich eine Ersetzung unter Erhalt der Grenze zwischen beiden Komponenten lediglich vorschlägt und damit den Akt der Substitution bewußt hält, löst sich in der metaphorischen Ersetzungspraxis diese Grenzziehung auf. Beide Optionen finden wir in Wilhelm Fraengers (1920) Beschreibung des Kasseler Selbstbildnis‘ (RS 5b) wieder, und auch hier bewegt sich der Text vom Vergleich zur Metapher:

„Über dem breiten, in Dreiviertelprofil gefaßten Kopf, ereignet sich - wie das atmosphärische Schauspiel aufeinanderprallender Wolken - ein harter Zusammenstoß von Hell und Dunkel. Von links her buchtet sich eine aufziehende Helligkeit weit hinein in die weichenden Massen dichter Schattentiefen. In lebhafter Dramatik gliedert Rembrandt den Prozeß der Schatteneroberung durch die Lichtmacht in verschiedene Etappen, womit er dem Betrachter den Eindruck einer allmählichen, fortschreiten- den Bewegung aufdrängt: Während sich über Lippen und Kinn hinweg schon die zunehmende Auflockerung und Zersetzung

92 Hier ist auf die romantische Tradition der Auffassung des Landschaftsbildes als ‘Seelenlandschaft‘ ihres Schöpfers hinzuweisen, für die es auch in der Rembrandtliteratur Beispiele gibt. 313 des Dunkels vollzieht, lagern quer über der rechten Wange die beiderseits noch unerschütterten Fronten der Hell- und Dunkelmassen einander als gleichstarke Mächte gegenüber. Doch der Auf- drang des Lichts gewinnt auch hier schon die Oberhand, indem es über dem aufgehellten Vor- sprung der Nase den in der rechten Augenhöhle tiefeingenisteten Schatten abriegelt.“ (Fraenger 1920, 39)

Rembrandt wird uns hier einerseits als aktiv agierender Maler vorgestellt („gliedert Rem- brandt“), die vom Autor dargelegten Wirkungen des Bildes auf den Betrachter werden direkt als intentionale Handlungen des Künstlers geschildert. Andererseits bildet das Antlitz Rem- brandts eine Erscheinung, deren konkrete ästhetische Umsetzung mittels meteorologischer Metaphern beschrieben wird. Die zugrundeliegende Idee des Gesichts als Landschaft der Seele wird dabei von der ästhetischen Kategorie des ‘Helldunkel‘ entscheidend gestützt. Die Wirkung der Lichtsetzung wird assoziativ mit Wettersituationen verglichen. Von hier aus öffnen sich mindestens vier thematische Felder. Es ließe sich (1) über die Dramatik dieser Ästhetik reden, über eine Spannung, die Ereignisse ankündigt oder die Anwesenheit einer dynamischen Potenz vermittelt;93 diese Dramatik könnte (2) als Konflikt oder Kräftemessen zweier konkurrierender Elemente beschrieben werden („Schatteneroberung durch die Licht- macht“), was durch die Nähe metaphorischer und militärischer Begrifflichkeiten gefördert wird; es ließe sich (3) die Kategorie des Naturereignisses oder Naturschauspiels ausbauen, indem z.B. Rembrandts Lebenslauf als Vollzug einer schicksalhaften Disposition geschildert würde, und es könnte schließlich (4) der Eindruck von Bewegung thematisiert werden, den zu erwecken dem statischen Bild durch die Wetter-Metaphorik zugeschrieben wird. Neben die- sen Potentialen unterstützt die Beschreibung mittels topographischer Metaphorik prinzipiell zwei Tendenzen: die der ‘Naturalisierung‘ und die der ‘Monumentalisierung‘ des Bildgegen- standes.

Wilhelm Hausenstein hat sein Rembrandt-Buch (1926) selbst von der Perspektive der Kunst- wissenschaft distanziert und als subjektive Annäherung an Rembrandt dargestellt:

„(...) ich habe empfunden und habe versucht, Empfindungen aufzurühren; hier ist nichts als ein Buch der Gefühle.“ (Hausenstein 1926, 550)

So verwundert es nicht, daß bei Hausenstein von Anfang an die Metapher zum Einsatz kommt, ohne durch einen Vergleich als Vorstufe eingeführt zu werden:

93 So z.B. bei Richard Schaukal, der in seinem als „Vision“ angekündigten Gedicht „Rembrandt der Künstler“ den Namen Rembrandts durch die Periphrase „Du, dem auf breiter Stirne Wolken kauern“ ersetzt (Rembrandt- Almanach 1906/1907, 61). 314 „Er [Rembrandt, M.H.] fängt an, sich vorzustellen - und schon ist er ganz und gar er selbst: viel eher häßlich als schön, doch schön wie das Bedeutende, Überzeugende, Gefährdete; gefährliche Gewitter stehen ihm auf der Stirn, über dem halben Gesicht, und auf der anderen Hälfte scheint die Sonne. Schon ist er die Einheit in der Zweiheit oder die Zwiefältigkeit in der Einheit (...).“ (Hau- senstein 1926, 13)

Offensiv treibt Hausenstein seine zentrale These vom ‘doppelten Rembrandt‘ voran. Ihre Evi- denz entwickelt er aus der Bildbeschreibung, in deren Zentrum eine metaphorisch dramati- sierte, fruchtbare Spannung von Hell und Dunkel steht:

„Das Kasseler Selbstbildnis (...) meldet auf solche Weise schon das durchaus Doppelte seines We- sens an. Zwei Drittel des Gesichts liegen im gewitterigen Schatten. Starkes Licht schlägt nur an die rechte Backe, an den Hals unter ihr, ans rechte Ohrläppchen; ein Tropfen Licht fällt, etwas rechts von der Mitte, an den breiten Gipfel der Nase; einiges dünne Licht bleibt im Gekraus der Haare hängen (...). Auf der anderen Seite dieses Antlitzes ist Dämmerung, Nacht, Wetter.“ (Hausenstein 1926, 13)

Hausenstein überträgt die zwischen hellen und dunklen Bereichen polarisierte Ausleuchtung des Gesichts auf einen zwischen zwei extremen Polen aufgespannten Charakter, sein Rem- brandt ist gewissermaßen das ‘personifizierte Helldunkel‘. Dies darf jedoch nicht als Spaltung mißverstanden werden. Wesentlich ist nicht die Zweiheit, sondern die „Einheit in der Zwei- heit“; es ist die synthetische Kraft der ‘Ganzheit‘, die Hausenstein aus dem dramatischen Antlitz herausliest:

„So muß, wenn dies wahrhaftig möglich ist, der Kopf des Rembrandt eine Welt sein? Denn nur eine planetarische Kugel kann halb in der Nacht und halb im Tag verweilen. Und also ist es. Die linke Wange hat Abend, die rechte Morgen; dieser Kopf ist der Erdball, und bloß die Vorgebirge werden vom Licht berührt, wenn ihre Wurzeln noch im Schatten verweilen. Der ganze Rembrandt hat begonnen.“ (Hausenstein 1926, 13)

Von der topographischen greift Hausenstein in eine kosmologische Metaphorik aus, die Rem- brandts Kopf nicht nur mit Gebirgszügen, sondern mit einem ganzen Planeten, mit der Erde gleichsetzt. Spätestens hier sollte deutlich geworden sein, warum weiter oben nicht nur von der ‘Naturalisierung‘, sondern auch von einer ‘Monumentalisierung‘ Rembrandts gesprochen wurde. Ein letztes Beispiel soll diesen Ausblick auf Rembrandt als ‘Naturschauspiel‘ vervollständi- gen. Es findet sich in der Beschreibung desselben Kasseler Bildnisses durch Wilhelm Pinder (1943), der zunächst dem Vorwurf der Eitelkeit entgegentritt, um dann die geographische Lage der Landschaft des Rembrandtschen Gesichts zu bestimmen:

315 „Licht und Schatten werden nicht so verteilt, daß das Körperliche günstig herausmodelliert, ge- schweige denn der Eindruck dieses Menschen ‘günstig’ sein soll. (...) wie die Wolkenschatten über die niederdeutsche Tiefebene jagen, mit landschaftlichem Ausdruck also, überfallen die dunklen Lagen das Antlitz.“ (Pinder 1943, 18)

Zuvor hatte Pinder das fragliche Selbstbildnis als ein „Bekenntnis“ über Rembrandts „und aller germanischen Kunst Verhältnis zur Welt“ bezeichnet (ebd., 18). Hausensteins kosmolo- gischer Ausweitung tritt hier die nationalistische Re-Territorialisierung der Physiognomie Rembrandts entgegen. Auch dies, die konkrete regionale Verortung, läßt sich an eine Land- schaftsmetapher anschließen. Hinsichtlich der synthetisierenden Potenz eines ambivalenten Rembrandt sind sich die beiden Autoren allerdings einig. War es bei Hausenstein „das durchaus Doppelte seines Wesens“, so spricht Pinder von einer „dialektische[n] Selbstergänzung“, die er allerdings weniger im ein- zelnen Selbstporträt als in der Folge mehrerer Bildnisse umgesetzt sieht. In diesem Sinne er- läutert der Berliner Professor für Kunstgeschichte (1935-1945) das in Aix-en-Provence aufbe- wahrte, unvollendet gebliebene Selbstporträt als ‘Richtigstellung‘ eines früheren Bildes:

„Eine Trotz-Stimmung muß ihn gepackt haben, vielleicht sogar eine grimmige Erinnerung an das Feuer der längst vergangenen Jugend, ein Einspruch gegen die milde Selbstbescheidung des Lon- doner Bildnisses, ein Einspruch womöglich gar gegen dieses eine Bild und sein Bekenntnis zur ei- genen Alterung, damit also abermals eine dialektische Selbstergänzung und Selbstberichtigung. Was dabei erscheint, ist natürlich erst recht ‘der Alte’! Die Augen liegen wie Raubtiere in ihren Höhlen, gleich zerklüfteten Bergen ist die Stirne aufgerissen, der Mund droht wie eine Felsspalte, und alles ist bewegt und dann doch aus quirlender Wogung wie durch jähen Zauberspruch erstarrt. Es ist der Zustand nach dem Ausbruch eines Vulkans.“ (Pinder 1943, 103)

Durch eine Beschreibung, die Rembrandts Selbstporträt mit einer bedrohlichen, von Urge- walten geformten Landschaft vergleicht, legitimiert der Autor seine Animation des Künstlers, die auf offensiv ausgerichtete, aggressive Emotionalität konzentriert ist. Da ‘packt‘ Rem- brandt „eine Trotz-Stimmung“, ‘Grimm‘ und ‘Feuer‘ erheben ‘Einspruch‘ gegen ‘Milde‘, ein ‘Vulkan‘ bricht aus. Diese Charakterstudie findet in den Selbstporträts Tugenden wie Ent- schlossenheit, Tatkraft, Standhaftigkeit und immer wieder die Bereitschaft, der vom Schicksal auferlegten Prüfung ohne Zagen ins Auge zu sehen. Hier zeigt sich „ein ganz großer Einzel- ner“ (ebd., 9), der durch das Leiden die Reinheit gewinnt, um Übermenschliches zu schaffen, um Leistungen von ewigem Wert zu erbringen:

„Er empfängt einen schweren Schlag, der ihn tief erschüttert und vorzeitig altert, aber eben der Schlag ruft kraftvolle Gegenwehr hervor. Das letzte Gold in den tiefsten Gründen erschließt erst der Blitz.“ (Pinder 1943, 14)

316 Die Naturgewalten, die Wilhelm Pinder angesichts der Selbstbildnisse wie auch zur Beschrei- bung des Lebensschicksals entfesselt, konfrontieren den Betrachter mit einem erhabenen Schauspiel, dessen Größe man nur ehrfürchtig staunend zur Kenntnis nehmen kann. Im Ver- fahren der Naturalisierung läßt sich dabei der Versuch erkennen, diese Imagination über- menschlicher Größe als ein Faktum der Realität plausibel zu machen. Naturalisierung stützt sich auf ein ontologisches Konzept, das die Natur als eine dem Men- schen historisch vorgängige und ihn seinem Wesen nach bestimmende Kategorie versteht. Darin liegt ein Prinzip der Normierung, in dem alle Modelle des historischen Werdens, der Entwicklungsfähigkeit und Veränderbarkeit einer als unveränderlich gesetzten Rahmenbedin- gung unterworfen werden. Spätestens bei Bezugnahme auf gesellschaftspolitische Fragen wird die konservative Haltung dieses Prinzips deutlich, das dazu geeignet ist, bestehende Machtverhältnisse zwischen Individuen, sozialen Klassen, ethnischen Gruppen, zwischen den Geschlechtern, oder, mit Blick auf Pinders Publikationsjahr, zwischen als Individuen begrif- fenen ‘Völkern‘ als ‘natürlich‘ zu legitimieren. Doch auch in einem weiteren identitätspoliti- schen Bereich wirkt sich dieses Muster aus. Indem es die Vorstellung von der vorbestimmten Größe eines zumeist als männlich imaginierten Individuums, von dessen körperlicher Ge- schlossenheit und seiner gleichsam ‘angeborenen‘ Vormachtstellung über andere veranschau- licht. Im Falle Pinders liegt eine Konkretisierung solcher Überlegungen im Hinblick auf die systemstabilisierende Wirkung der an Rembrandt demonstrierten natürlichen Souveränität als ‘Führerprinzip‘ ebenso nahe wie die Lektüre der heroischen Charakterschilderungen als mas- kierte Handlungsanweisungen für den ‘totalen Krieg‘.

Diesseits einer solchen historischen Engführung am Beispiel Pinders ist die Beschreibung der Selbstbildnisse mittels topographischer Metaphorik zusammenfassend zunächst als eine litera- rische Form der Überhöhung des Künstlers zu charakterisieren. In diese Aussagebereiche ge- raten vor allem jene Texte, die über den Künstler hinaus ins Metaphysische ausgreifen wollen. Die übermenschliche Größe des Genies offenbart sich ihnen nicht in technischen, rational faßbaren Werten seiner Werke, sondern in deren irrationalen Potentialen, von denen auf die seelische Tiefe ihres Urhebers geschlossen werden kann. Angesichts der Selbstbildnisse Rembrandts ist es möglich, die Intensität beider Ebenen, Werk und Künstler, in einem einzi- gen Beschreibungsakt zu erschließen. Die sprachliche Vermittlung des Bildes, der in den fraglichen Fällen zumeist dessen Aufladung mit Bedeutung entspricht, kann in dieser Gattung direkt mit der Charakterisierung seines Schöpfers zusammenfallen. In diesem Akt, der aus kritischer Perspektive als die Verwechslung des real sichtbaren Abbildes mit einem historisch imaginierten Urbild zu bezeichnen ist, erfährt die Verschmelzung von Leben und Werk ihre höchste mögliche Steigerung. Dabei wird aus einer ästhetisch orientierten Bildbeschreibung

317 über die polisemische Abkürzung der Metaphorik die Darstellung von Merkmalen der Per- sönlichkeit Rembrandts. Die pathetische Wirkung der hier untersuchten Metaphern des erha- benen Naturschauspiels erklärt sich aus dessen Zugehörigkeit zum Kanon anthropologischer Grunderfahrungen, zur Kategorie höherer Gewalten, sowie, was für die Genie-Typik beson- dere Bedeutung besitzt, aus ihrer Nähe zum Konzept einer göttlichen Schöpfung.94 Es ist diese Mischung, vor deren Hintergrund auch der Erfolg des ‘Erhabenen‘ als einer ästhetischen Strategie in der modernen Kunst betrachtet werden muß.

2.6.2 Löwe, Sieger, König

Das zweite Beispiel metaphorischer Aufladung betrifft die Verwendung von Beinamen, Antonomasien (Namens-Umschreibungen) oder Titeln. Den Einstieg dazu liefert ein oben bereits zitierter Abschnitt bei Karl Scheffler (1906), in dem die Erscheinung des Künstlers an dessen Lebensende wie folgt charakterisiert wurde:

„(...) eine unendliche Hoheit leuchtet von der Stirn des Greises, aus den Augen strahlt ein Wissen um die letzten Dinge, eine Vertieftheit, wie sie Bismarcks Kopf in den letzten Jahren zeigte, als in diesem gewaltigen Charakter alle Willenskraft zur Betrachtung geworden war, und auf die Trüm- mer eines zerstörten Glücks sieht ein goethisches Adelshaupt mit löwenhafter Majestät hinab.“ (Scheffler 1906, 31)

Das zu beschreibende metaphorische Feld wird von Scheffler in erstaunlicher Breite ge- nutzt.95 Die Nobilitierung Rembrandts erfolgt zum einen durch politische Herrschaftsmetaphorik (Hoheit, Adel, Majestät), zum anderen durch den Genievergleich (Goethe). Diese beiden Be- reiche werden in der Person Bismarcks überblendet und erfahren hier zugleich eine politische Aktualisierung.96 Neben diesem primär substantivischen Metapherngebrauch stehen metapho- risch eingesetzte Verben („leuchtet“ von der Stirn, „strahlt“ aus den Augen) sowie die zur Steigerung verwendeten Adjektive unendlich, gewaltig und löwenhaft.

94 Aus rhetorischer Perspektive liegt hier die (metaphorische) Ersetzung von etwas Unbewegtem (Bild) durch etwas Bewegtes (Natur, Wetter) vor, der schon Aristoteles eine besondere Wirksamkeit zuspricht (Göttert 1991, 48). 95 Wenn auch gerade dieses Zitat zur Differenzierung rhetorischer Tropen (Metonymie, Synekdoche, Hyperbel) reizt, soll aus Gründen der Übersichtlichkeit mit dem gebräuchlichen Oberbegriff ‘Metapher‘ operiert und des- sen Unschärfe in Kauf genommen werden. 96 In einem Artikel zum Ankauf des Mannes mit dem Goldhelm durch Wilhelm Bode hat Martin Warnke ver- sucht, Rembrandtkult und Bismarckkult zusammenzubringen, ein guter Ansatz, der jedoch einer komplexeren Herleitung bedürfte (Warnke 1985a). 318 Letzteres konfrontiert uns mit der Metapher des „Löwen“, die gerade angesichts der Selbst- porträts verschiedentlich zur Anwendung kommt. Jan Veth (1906) fühlt sich durch das Selbstbildnis mit den zwei Kreisen (RS 83) an die afrikanische Großkatze erinnert:

„Die große Pyramiden-Form, die die schwere Gestalt umschließt (...), verleiht der Erscheinung et- was von einem alten Löwen, in seine Mähne gehüllt.“ (Veth 1906, 69)97

Wilhelm Pinder verwendet die Metapher, als es darum geht, die ‘verdächtige Leichtlebigkeit‘ des Dresdner Doppelbildnis mit Saskia auf den Knien (RS 43) zu relativieren. Er stellt diesem Gemälde die Radierung Rembrandt mit Saskia (RS 46) gegenüber, zu der er schreibt:

„Der wirkliche Löwe, den der Künstler in dem Dresdener Bilde wie in einer Sektlaune - aber man mißverstehe nicht: nicht flüchtig beim Malen, sondern in harter, gesunder, großartiger Malarbeit -, doch gleichsam fortbanalisiert hatte, der Löwe Rembrandt blickt uns hier an. Für uns nachträgliche Betrachter könnte es fast aussehen, als grolle er dem Spiele, dem er sich gleichzeitig hingeben konnte. Es ist die Radierung, der damals das Tiefste anvertraut wird. (...) Die Pranke des Lö- wen, das ist der Arm mit der Hand, die den Griffel hält. Im Dresdener Doppelbilde war der schnell verrauschende Jubel, jetzt ist die Dauerkraft der Arbeit festgehalten.“ (Pinder 1943, 62)

Die metaphorische Funktion der bedeutungsverschiebenden Ersetzung wird hier geradezu mit didaktischem Nachdruck vorgeführt („Die Pranke des Löwen, das ist der Arm...“). Den „wirkliche[n] Löwen“ sieht Pinder dort, wo er auch Kraft und Tiefe sieht; aus dem Vergleich der Doppelbildnisse entwickelt er deren qualitative Unterscheidung im Hinblick auf die Aus- sagekraft als Quellen über den ‘wahren Rembrandt‘:

„(...) wenn man das Doppelbildnis der Radierung mit dem gemalten in Dresden vergleicht, so weiß man: in der Radierung ist der Eigentliche! Hier ist sein Gewissen.“ (Pinder 1943, 63)

Im Kontext einer physiognomisch inspirierten Deutung taucht der Löwen-Vergleich bei Eber- hard Hanfstaengl (1947) auf. Er spricht von „(...) diesem eher bäuerischen als durchgeistigten Antlitz mit seiner breiten Stirn, den etwas engstehenden, scharfblickenden Augen, der dicken Nase und diesem sinnlichen Mund, das ein wilder Haarschopf wie eine Löwenmähne umgab (... )“ (Hanfstaengl 1947, 24). Diese Bildbeschreibung macht die weitere Rede über das Ge- sicht Rembrandts für bestimmte Inhalte zugänglich. Die Begriffswahl führt über eine bloße formale Kennzeichnung der Gesichtszüge hinaus. Ganz im Sinne der physiognomischen Tra- dition werden Rembrandt Eigenschaften ‘ins Antlitz geschrieben‘: die niedrige Herkunft und der Arbeitseifer („bäuerischen“), Ernsthaftigkeit, Beobachtungsgabe und Hartnäckigkeit

97 „De groote piramide-vorm die de zware gestalte omsluit (...) geeft aan de verschijning iets als van een ouden leeuw, in zijn manen gehuld.“ (Veth 1906, 69). 319 („scharfblickenden Augen“), Leidenschaft („sinnlichen Mund“), Kraft, Mut und Energie („wilder Haarschopf“, „Löwenmähne“). Mit der Metapher des Löwen geht Hanfstaengl über die Deutung der Gesichtszüge als ‘Topographie des Charakters‘ hinaus, sie öffnet ein Feld voller Konnotationen. Die wichtigsten davon sind mit der Position des Löwen in der traditio- nellen Herrschaftsikonographie und in der Christussymbolik verbunden. Sie können auch auf andere Weise, auch durch andere Metaphern ins Spiel gebracht werden. Eine davon findet sich in Heinrich Wölfflins (1909) Persönlichkeitsdeutung der letzten Selbstporträts:

“Und wenn auch später gelegentlich ein düstrer Ton nicht ausbleibt (...), so ist der Charakter der Altersporträts im allgemeinen doch ein sieghafter: der Mann, der sich von der Welt frei gemacht hat. Und das einfache weiße Tuch, das er sich jetzt statt der alten Maskenkostüme um den Kopf zu schlingen pflegt, wirkt wie eine Gloriole.“ (Wölfflin 1946 [1909], 131)

Die Beschreibung Rembrandts als ‘Sieger‘, der der Welt entsagt habe, besonders aber die Lektüre des weißen Kopftuchs als Gloriole, rückt den Künstler in den Kreis christlicher Heili- ger und läßt damit die Gestalt Christi selbst in ihm aufscheinen - ohne daß Wölfflin die Po- tenz dieses Vergleichs direkt ausspricht. Das zu den Tugenden des späten Rembrandt auch die Bescheidenheit zählte, betont Carl Neumann (1902) am Schluß seines Kapitels zu den Selbstbildnissen:

„(...) sein immer noch wachsendes Können verführt ihn nicht mehr; er steht auf beherrschender Höhe. Einsam freilich und ohne Siegermiene. Es ist nicht so, daß eine Sinfonia eroica in diesen späten Selbstbildnissen erklänge; die das glauben, täuschen sich. Nichts von Triumphgefühl und Siegerpose. Bitter, aber im Vorgefühl und der Sicherheit seines Rechts sieht er uns wie ein ge- stürzter König an, vertrieben und einsam, aber hoheitsvoll und doch ein König.“ (Neumann 1902, 490)

Nicht den geistigen Herrscher Christus, sondern einen metaphorischen Vertreter weltlicher Herrschaft zitiert Neumann herbei. Doch ist es nur die Erscheinung Rembrandts, die königlich sei, seine faktische weltliche Macht hat er mit der Rolle eines Verstoßenen eingetauscht. Auch Neumanns König ist also ohne irdisches Reich und gleicht sich damit dem geistiger Herrscher Christus erneut an. In der Metapher des Königs wird hier die metaphysische Kraft zum Aus- druck gebracht, die Rembrandt, nach Neumanns Verständnis, im späten Selbstbildnis aus- strahlt. Ähnliche metaphorische Weihen verleiht auch Wilhelm Hausenstein (1926):

„Schreibet den Namen eines Kaisers unter dieses Bild, und man wird euch den Namen glauben. Mehr. Nicht der Name eines Kaisers genügt, die neue Weihe zu bezeichnen, die über dieser ge- malten Büste liegt. Die breite, schwere, ruhig atmende Würde dieses Bildes, im Leben des Rem-

320 brandt auf diese Weise nicht erhört, am wenigsten in jenen Tagen, da er mit Saskia um die Gesell- schaft buhlt, macht einen schon aus der Mode gekommenen Maler, welcher nun gar der Geliebte einer Dienstmagd geworden ist, zu einem olympischen Zeus. Jupiter Uranus - hier ist sein Name.“ (Hausenstein 1926, 34)

Vergleichbar mit der Titulierung durch Neumann wird auch hier ein bereits verliehener, welt- licher Herrschaftstitel in ‘entmaterialisierender‘ Absicht korrigiert. Rembrandts Aufstieg zur Verkörperung des „olympischen Zeus“ erfolgt dabei erneut um den Preis seines gesellschaft- lichen Abstieges, seiner Verkennung durch die Zeitgenossen. Nicht ganz so hoch führt der Weg bei Jan Veth (1906):

„So war der wesentliche, der olympisch geläuterte Rembrandt, als er sich sein Glück, sein Spiel- zeug, seine Ehre, seien Ruhm hatte abnehmen lassen, als er durch Mißgeschicke gehärtet, durch Enttäuschung noch heldenhafter geworden war, als er alles gesehen, alles gekannt, von allem ge- trunken hatte, und des Genießens satt sich erst recht als ein Gott fühlen konnte, er, der weise Dio- nysos!“ (Veth 1906, 170)98

Am abschließenden Beispiel soll nun ein Aspekt betont werden, den auch die letzten Autoren mitführten, die ‘hoheitsvolle‘ Ruhe des gealterten Künstlers, die sich in den Selbstbildnissen zeige. Sie nimmt in den Schlußworten von Wilhelm Pinder (1943) eine zentrale Stellung ein:

„Eine geheimnisvolle Schönheit machte das Antlitz zum Sinnbilde des Alls und zum Sinnbilde des eigenen Lebens am späten Abend. Wir fühlen in ihm die wogende Breite des Erntefeldes vor dem Schnitt. Zugleich war es sicherlich zur höchsten Ähnlichkeit erhoben. So muß Rembrandt wirklich in seiner letzten Zeit ausgesehen haben, voller Würde und Weisheit, voller Kraft und Güte, und zu- gleich ein leiblich schwer gealterter Mensch - ein großer Greis, der Abschied nimmt in ruhiger Gewißheit. Nichts Verhauchendes ist in diesem Schlußakkorde, es ist ein ruhiger, langgezogener, klarer Ausklang von strömender Breite; nicht Todesfeier, sondern Lebenssumme, nicht Requiem, sondern: Ecce homo! Im Letzten ruht das Ganze.“ (Pinder 1943, 110)

Eine Metapher muß sich eng genug an das bisher Gesagte anlehnen, um als dessen Ersetzung erscheinen zu können. Um verständlich zu erscheinen, muß sie außerdem einem hinreichend bekannten Begriffsfeld entstammen. Sind diese Aspekte gewährleistet, bietet die Metapher dem Autor die Möglichkeit, die Reichweite der bisherigen Inhalte ohne einen sprunghaften Themenwechsel zu überschreiten. In unserem Beispiel wird mit Hilfe metaphorischen Voka-

98 „Zoo was de wezenlijke, de Olympiesch gelouterde Rembrandt, toen hij zich zijn geluk, zijn speelgoed, zijn eer, zijn roem had laten afnemen, toen hij door onspoed gehard, door ontgoocheling nog heldhaftiger geworden was, toen hij alles gezien, alles gekend, van alles gedronken had, en genietens-zat zich eerst recht kon voelen als een god, hij de wijze Dionysos!“ (Veth 1906, 170). 321 bulars die Bedeutungsebene von ‘Herrschaft‘ für den Text erschlossen. Dank seiner Verwen- dung kann dieser Text, der sich eben noch mit malerischer Technik, Fragen einer Künstler- biographie oder Farbwirkungen beschäftigt hat, nun über Hierarchien reden, hegemoniale Ordnungen beschreiben oder Herrschaftskonzepte legitimieren. Hier findet sich eine Naht- stelle, von der aus unterschiedliche Kommunikationsinhalte angesteuert werden können. Die Metapher des ‘Löwen‘ erleichtert den Übergang in einen politischen Aussagebereich. Nicht nur die Person Rembrandts erfährt hier mithin eine Apotheose, auch der Diskurs wird in ein anderes, in der Regel höher eingestuftes Segment überführt. Dank dieser Erweiterung des Aussagenspektrums kann der Redner sich selbst, seinen Gegenstand und die von ihm vertre- tene Institution oder Disziplin nobilitieren. Der Kunstdiskurs, ob er sich nun im speziellen Fall selbst als literarisch, erzieherisch oder fachwissenschaftlich versteht, wird mittels einer derartigen Formel zusätzlich legitimiert. Doch ist darin lediglich eine Nebenwirkung jener zentralen Leistung des metaphorischen Sprachgebrauchs zu sehen, die darin besteht, die Übermittlung politischer Aussagen im Gewand des Kunstdiskurses zu erleichtern.99

2.7 Die Selbstbildnisse als Anreiz zur Psychologisierung

Angesichts der Darlegung der hermeneutischen Primärperspektive auf Rembrandts Selbst- bildnisse ist zu betonen, daß ich am Beispiel dieser Gattung lediglich eine Deutungsstrategie beschrieben habe, die auch im Umgang mit anderen Bildgattungen praktiziert wurde. Mit Werner Weisbach gesprochen handelt es sich um den Versuch, „das Werk und den Menschen als eine Einheit zu begreifen (...): das Werk aus dem Menschen und den Menschen aus dem Werke zu deuten“ (1926, 2 f.).100 Dieses Interesse findet im Selbstporträt seine exemplarische Gattung, da hier nicht nur ein eigenhändiges Dokument der Zielperson, sondern dessen ver- meintliche äußere Erscheinung zur Deutung bereitsteht. Der besondere Reiz liegt in der ‘dop- pelten Authentizität‘ des eigenhändig aufgeführten visuellen Abbildes. Im fraglichen Unter- suchungszeitraum können sich die Autoren diesem Reiz offenbar nicht entziehen. Carl Neu- mann demonstriert dieses Phänomen, wenn er sich und uns zum Ende seines Selbstbildnis- Kapitels fragt:

„Soll man nun auch eine Antwort auf die Fragen versuchen, die sich immer wieder vordrängen, obwohl keine litterarische oder urkundlich geschriebene Ueberlieferung uns darüber aufklären mag, die Fragen nach dem Menschen, seinen Empfindungen und Seelenzuständen, die Fragen nach dem Glück oder Leid eines Mannes, der, von Reichtum und bürgerlichem Ansehen verlassen, aus

99 Wie vorne bereits angesprochen, sehe ich den bleibenden Skandal an Langbehns Rembrandtbuch in der offen- siven Überschreitung dieser Diskursgrenze, ein Akt, gegen den (offenbar bis heute) opponiert werden muß, um die Möglichkeiten des ‘maskierten Grenzübertritts‘ zu erhalten. 100 Vgl. Boomgaard 1990, 125. Vgl. auch den Exkurs zur Hermeneutik in dieser Arbeit (Zweiter Teil, 2.1.4). 322 der Fülle seines inneren Lebens die Nachwelt mit einem wahrhaft unerschöpflichen Erbe tiefster Genüsse und Gesichte zu beglücken vermochte?“ (Neumann 1902, 489)

Alle Spekulationen über den rhetorischen Charakter dieser Frage macht Neumann sogleich zunichte, indem er seine, in ihrer Topik nunmehr hinlänglich bekannte Deutung des ‘Men- schen Rembrandt‘ anschließt:

„Rembrandt und die Welt haben sich nicht vertragen. Als Maler und Techniker ist er wohl fast bis zuletzt anerkannt und geschätzt worden; ob er als Künstler verstanden worden sei, ist eine davon nicht berührte Frage. (...) Rembrandt war nicht geboren, ein vorhandenes, von allen geahntes und gefordertes Ideal zu formen, das überall Gefühlte nur eben auszusprechen und zu verklären, son- dern eine neue Welt ans Licht zu gebären, einerlei ob jemand darnach Verlangen trug, sie verstand und nach ihr fragte, oder ob erst eine ferne Zukunft reif für ihn werden und die Riesenschritte sei- nes Ganges einholen sollte. Immer mehr zog sich Rembrandt auf sich selbst zurück. Etwas Miß - trauisches, fast feindlich Abwehrendes, nicht ohne einen Zusatz von Bitterkeit, prägt sich jetzt in den Zügen aus, und dies läßt ahnen, wie empfindlich weich die Seele des Mannes gewesen. Er ist in seinem Leben verwundet und geschlagen worden, aber nicht gebrochen. (...) Bitter, aber im Vor- gefühl und der Sicherheit seines Rechts sieht er uns wie ein gestürzter König an, vertrieben und einsam, aber hoheitsvoll und doch ein König.“ (Neumann 489 f.)

Die Anmutung der doppelten Authentizität von Handschrift und Selbstbildnis scheint wie eine Aufforderung zur Verwechslung von Bild und Abbild zu wirken. Dies kann als Beleg gelten für das primäre Interesse des Diskurses und seiner Aktanten an der Imagination eines ‘Künst- lers und Menschen‘ namens Rembrandt.

Für einen weiteren Autor, dem Rembrandts Selbstbildnisse zum Vehikel seiner Überlegungen wurden, muß diese Beurteilung eingeschränkt werden. Die Rede ist von Georg Simmel, dem „‘Gründervater‘ der modernen Soziologie“ (Lichtblau), der zugleich publizistisch und akade- misch als Deuter seiner Zeit und als „einer ihrer einflußreichsten Analytiker“ wirkte (Kölbl 1998, 14). Seinem 200 Seiten starken Rembrandt-Essay, 1916 erschienen, ging eine langjäh- rige Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik voraus, die in einer Folge von Aufsätzen dokumentiert sind und den Bau einer umfassenden Kunstphilosophie ersetzen müssen, die zu schreiben Simmel nicht mehr vergönnt war (ebd., 9). Die wesentliche Unterscheidung, mit der sich der „kulturphilosophische Versuch“ Simmels von der zeitgenössischen Rembrandtlitera- tur absetzt, erläutert er selbst gleich zu Beginn seines Vorwortes. Ausgehend vom Erlebnis der Kunst stünden den „wissenschaftlichen Versuchen, das Kunstwerk zu deuten und auszu- werten“, zwei Wegrichtungen zur Verfügung. Die „analytische Richtung“ gehe von hier aus „gleichsam abwärts“; sie suche nach den geschichtlichen Bedingungen oder nach den gestal-

323 terischen Wirkungsfaktoren des Kunstwerks, wolle dieses also „historisch, technisch oder ästhetisch aufklären“ (Simmel 1916, XXXVII bzw. XXXIX). Simmel folgt nun der anderen „Direktive der Betrachtung, die man die philosophische nennen mag“ und die sich der „seeli- schen Wirkung“ zuwende, „die das künstlerische Erlebnis als solches“ ausmache, eine Wir- kung, die von den skizzierten analytischen „Formen wissenschaftlichen Erkennens“ nicht be- rücksichtigt werde (ebd., XXXVIII):

„Sie setzt das Ganze des Kunstwerks, als Dasein und Erlebnis, voraus und sucht dieses nun in die ganze Weite der seelischen Bewegtheit, in die Höhe der Begrifflichkeit, in die Tiefe der weltge- schichtlichen Gegensätze einzustellen.“ (Simmel 1916, XXXVIII)

Simmels Text enthält sich denn auch konsequent aller biographischen oder künstlerisch-prak- tischen Aussagen, was wiederum seine Klassifikation als Sonderfall der Rezeption rechtferti- gen könnte. Doch in anderer Perspektive ist sein Vorgehen geradezu exemplarisch, dient ihm doch das Phänomen der Kunst Rembrandts als Anknüpfungsgegenstand zur Kommunikation einer (im weiteren Wortsinn) ‘weltanschaulichen‘ Idee - wie dies prinzipiell auch bei Autoren wie Thoré, Dumesnil, Langbehn oder Verhaeren der Fall ist. Simmels Rembrandt ist im we- sentlichen als eine Demonstration lebensphilosophischer Erkenntnisse zu lesen, wobei Rem- brandts Kunst die Schlüsselposition visueller Evidenzstiftung zukommt. Unabhängig von Brillanz und Reichtum der Gedankengänge nimmt deren Abhängigkeit von der Arbeit Henri Bergsons über weite Strecken einen fast schon epigonal zu nennenden Grad an. Wie Alois Kölbl feststellt, ist auch für Georg Simmel der Begriff „Seele“ ein zentraler Termi- nus in der Auseinandersetzung mit dem Porträt, speziell mit dem Rembrandts:

„Für Simmel ersteht die Seele des Porträts aus der optischen Einheit des Gesichts: dem Zusam- menwirken der Gesichtszüge, der gegenseitigen Bedingtheit eines durch den anderen.“ (Kölbl 1998, 44)

Diese nach bestimmbaren Gesetzmäßigkeiten zur Einheit geformte Erscheinung erwecke im Betrachter die Vorstellung einer Seele, wenn auch einer „‘fiktiven Seele‘, die nur ‘in‘ dem Kunstwerk, nicht ‘hinter‘ ihm als die ‘reale‘ Seele (...) des dargestellten Subjekts existiert“. Nach Simmel sei der Wunsch, „durch ein Porträt eine reale Seele sozusagen als gemalte Psy- chologie ausdrücken zu wollen“, ein gänzlich unkünstlerischer (ebd., 45).101 Wie Kölbl richtig bemerkt, wertet Simmel damit jenen „starken Strang der kunsthistorischen Rembrandt-Be- trachtung entschieden ab“ (ebd., Fußnote 89, 78), der den Versuch unternimmt, Rembrandts Persönlichkeitswandel aus seinen Selbstporträts herauszulesen. Ein solcher Ansatz „scheint durch Simmels kunstphilosophische Brille gesehen an dem, was das Porträt als Kunstwerk

101 Kölbl nimmt hier Bezug auf Simmels Text zur Ästhetik des Porträts von 1905. 324 vermitteln will, vorbeizugehen und als Kunst-Betrachtung zu kurz zu greifen“ (ebd.). Der projizierenden Verwechslung des Bilderlebens mit einer realen, zwischenmenschlichen Be- gegnung, dieser Perspektive, die der Reanimation einer historischen Figur anläßlich ihrer fik- tionalen Präsenz ‘in effigie‘ entspricht, tritt Simmel also entgegen. Doch verliert im breiten Strom seiner Darlegungen diese ontologisch bedeutsame Unterscheidung ihre Wirksamkeit, und es erscheint bald nicht mehr als wesentlich, daß hier nicht Rembrandt, sondern Rem- brandts Kunst als paradigmatisches Demonstrationsobjekt lebensphilosophischer Einsichten fungiert. Mag Simmel also die unüberbrückbare Distanz zum ‘realen Rembrandt‘ reflektieren und sich dadurch eine Sonderstellung unter den Rezipienten der Selbstbildnisse erwerben, so ist er mit seinen Begriffen der ‘Ganzheit‘, der ‘Intuition‘ oder des ‘Werdens‘ sowie mit sei- nem authentizistischen Begehren, in den Selbstbildnissen der Präsenz einer ‘lebendigen Seele‘ gegenüberstehen zu wollen, doch zugleich in diesem Segment des Diskurses verortet.

Als Gegenposition zu der psychologisierenden Perspektive des modernen Rembrandtdiskur- ses möchte ich kurz auf eine aktuelle Deutung eingehen. Im Katalog zur letzten Ausstellung der Selbstbildnisse Rembrandts (London/Den Haag 1999) beschreibt Ernst van de Wetering, langjähriges Mitglied des Rembrandt Research Projects, die Interpretation der Selbstbildnisse als ‘Suche nach sich selbst‘ als einen Anachronismus. Selbstbefragung und Selbstsuche, wie sie Rembrandt hier nachgesagt werde, setze eine Subjektkonzeption voraus, die erst durch die „wichtige Veränderung des Ich-Erlebens“ in der Romantik möglich geworden sei:

„Der ‚Gefühlsmensch‘ entstand, die eigene Individualität des Menschen wurde zum Orientierungs- punkt im Erleben des eigenen Bestehens und dem des anderen.“ (van de Wetering 1999, 18)

Es sei dieses unbewußt angewandte „romantische Menschenbild“, das die moderne Rezeption der Selbstbildnisse Rembrandts bestimme. Van de Wetering stellt heraus, daß der heutige Wissensstand über die Subjektwahrnehmung des 17. Jahrhunderts die Interessen der Selbster- kenntnis und der Identitätsbefragung als Produktionsmotive ausschließe.102 Zugleich äußert er jedoch Verständnis für dieses bis in die Gegenwart anhaltende Miß-Verständnis der Bilder.

„Die (...) höchst persönliche Form der Selbstreflexion wurde unter dem Einfluß der Literatur und später durch die aufkommende Psychologie so sehr zu einem Teil unseres Bildes vom Menschen im Allgemeinen, daß wir uns das Selbsterleben des Menschen aus der Zeit vor der Romantik kaum anders vorstellen können.“ (van de Wetering 1999, 18)

102 Hier ist anzumerken, daß mit Descartes‘ ‘Cogito‘ eine wichtige Voraussetzung für die romantische Konzep- tion des Subjekts gerade im 17. Jahrhundert geprägt wurde. 325 Die wesentliche Ursache für die Entstehung der Selbstbildnisse sieht van de Wetering in einer Nachfrage des Marktes. Damit formuliert er einen fundamentalen Widerspruch zu jenen auto- nomistischen Motivationsmodellen, die den Bildern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ihrem Ruf als Prototypen moderner Selbstreflexion des Künstler verholfen hatten. Bild- nisse bedeutender Künstler, so weist van de Wetering nach, waren im 17. Jahrhundert ein wichtiger Bestandteil der Kunstkabinette, und entsprechend groß war das Sammlerinteresse an solchen Porträts. Die Eigenhändigkeit dieser Bilder war dabei übrigens nicht so bedeutend, wie die moderne Sehnsucht nach dem Original dies vermuten lassen könnte.

2.8 Zusammenfassung

Mit dem Motto ‘Erkenne dich selbst‘ hatte Julius Langbehn 1890 das Deutungsmuster for- muliert, das über 50 Jahre lang das Verständnis der Selbstbildnisse Rembrandts prägen sollte. Langbehn ist dabei nicht als ‘Urheber‘ für dieses Diskurssegment zu betrachten, sondern als ‘Sprecher‘, bei dem ein neu aufkommendes Interesses an dieser Bildgattung vergleichsweise früh geäußert wird. Sofern von einem ‘Ursprung‘ dieses Interesses überhaupt die Rede sein kann, ist ein solcher wohl mehr in der Faszination durch das ‘Individuum‘ zu suchen, die Langbehn auch mit politisch vollkommen konträr positionierten Zeitgenossen teilt. Wie ge- zeigt werden sollte, erfolgte die Stilisierung Rembrandts zur symbolischen Personifikation des modernen Künstlers im Zeichen dieses Individualismus-Konzeptes, in dem Ideen der Transzendenz und der Ganzheit zu einem monumental-erhabenen Idol zusammenfließen. Angeregt durch das Phänomen der Rembrandtbegeisterung im Jubiläumsjahr 1906, hat Wil- helm Valentiner den besonderen Stellenwert der Selbstbildnisse in der moderne Rezeption Rembrandts bereits in vergleichbarer Weise zu erklären versucht:

„Hier liegt das stärkste Band, das uns mit Rembrandts Kunst verknüpft, daß Rembrandt die reiche Skala des Empfindungslebens, die der moderne Mensch verlangt, beherrscht. Er ist differenzierter in seinem Seelenleben, als irgend einer der alten Maler, er kennt alle Regungen der Seele, die See- lenruhe wie die Resignation, den Humor wie die Tragik. Was sind an Reichtum des Inhaltes die zahlreichen Bildnisse Philipps IV. von Velasquez mit aller Kunst ihrer Darstellung gegen die Folge von Selbstbildnissen Rembrandts? Und auch die Sehnsucht unserer Zeit nach einem ganzen und starken Menschen, dem die Schärfe psychologischen Erkennens nichts anhaben kann, ist in ihm er- füllt.“ (Valentiner 1906, 160)

Nach Valentiner erfüllt Rembrandt eine Anforderung, die erst „der moderne Mensch“ an die Kunst stellt. In den Porträts, besonders in den Selbstporträts, findet er „das stärkste Band, das uns mit Rembrandts Kunst verknüpft“, denn sie entsprechen dem Interesse des „modernen Menschen“ an einer „reiche[n] Skala des Empfindungslebens“. Die Psychologisierung als 326 eines der primären Programme in der gesellschaftlichen Kommunikation um 1900 kann an diesen Selbstbildnissen ausgeführt werden; zugleich aber hebt Valentiner hervor, daß Rem- brandt „die Sehnsucht unserer Zeit nach einem ganzen und starken Menschen“ erfülle, „dem die Schärfe psychologischen Erkennens nichts anhaben“ könne. Von der Psychologisierung Rembrandts kommt der Autor so zur Psychologisierung seiner Betrachter und zu deren Sehn- sucht, einem erhabenen Mann gegenüberstehen zu wollen. Der Stolz, der Rembrandt gerade angesichts seines Niedergangs, seiner menschlichen Schwächen und seiner Verkanntheit im- mer wieder zugesprochen wird, hat seinen Ursprung in dieser Sehnsucht nach dem Erhabe- nen, dem Übergroßen, dem entrückten Wesen, in dem sich die göttliche Gabe der Genialität mit der Strafe eines unmenschlichen Leidens verbindet. In dieser aus psychologischen Dispositionen der Betrachter und Autoren gespeisten Projek- tion liegt eine weitere Quelle der ‘Modernität‘ Rembrandts. Die erhabene Ästhetik dieses Künstlers und die enigmatische Qualität, die neben den Selbstbildnissen besonders der Nachtwache zugesprochen wird, liefern optimale Bedingungen für die Rezeptionshaltung, mit der man in jener Epoche der Entauratisierungen dem im Gegenzug auratisch überfrachteten ‘großen Kunstwerk‘ entgegentrat (vgl. Bennett 1995): schweigsam, weihevoll, untertänig, im Bewußtsein einen höherstehenden ‘Anwesenheit‘. Die Kunstrezeption war praktizierte Hier- archie, und Rembrandt war ein König.

Die Rezeption der Selbstbildnisse kann als symptomatisches Beispiel für die zweite Phase der modernen Rembrandtrezeption betrachten werden. Wo der Blick auf die Kunst zum Blick auf den Künstler wird, wo Kunstgeschichtsschreibung in Kunst und Künstler das ideale Men- schentum diskutieren und symbolisieren will - ein Menschentum des selbstbewußten, leidens- fähigen und sich über den Alltag erhebenden Individuums - da bietet Rembrandt nicht zuletzt aufgrund der von ihm überlieferten Selbstbildnisse geeigneten ‘Gesprächsstoff‘. Als einer der Gründe für die ‘Modernität‘ Rembrandts kann also der Umstand angeführt wer- den, daß es so viele Bilder gibt, die im modernen Vokabular als seine ‘Selbstbildnisse‘ be- zeichnet werden können. Angesichts dieser Bilder läßt sich anschaulich und übergangslos von der Kunstbetrachtung zur Frage nach dem Künstlersubjekt als einem zentralen Kommunika- tionsinhalt des modernen Kunstdiskurses hinüberwechseln. Nicht zufällig erhält, zeitgleich zum hier beschriebenen Diskursphänomen, das Selbstbildnis in der künstlerischen Praxis ei- nen neuen Stellenwert, wobei sich nicht wenige Künstler (Liebermann, Corinth, Slevogt)103 nachweislich am Vorbild Rembrandts orientieren.

103 Vgl. Stückelberger 1996. 327 328 Abschluß und Ausblick

Im Anschluß an eine Beobachtung Theodor Hetzers sollte in dieser Untersuchung der beson- deren Interessantheit Rembrandts nachgespürt werden, die als Phänomen in der Literatur des Kunstdiskurses (und darüber hinaus) seit der Mitte des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden kann. Die Ausgangsüberlegung lautete dabei, daß die ‘Modernität Rembrandts‘ nicht als die Leistung einer historischen Figur des 17. Jahrhunderts anzusehen sei, sondern als ein Produkt der modernen Rezeption. In den vergangenen Kapiteln habe ich die Ordnungsmuster, die Se- lektionsverfahren und die literarischen Topoi jener Texte untersucht, die aus künstlerischen Werken und Archivquellen eine ‘diskursive Künstlerfigur‘ entstehen lassen. Meine Absicht war es, die ‘Arbeit‘ der Interpreten am autonomen Künstlersubjekt ‘Rembrandt‘ zu zeigen und zu belegen, daß die Interessantheit dieses ‘Rembrandt‘ für seine modernen Rezipienten primär in seiner Anschlußfähigkeit für aktuelle Inhalte liegt. Angesichts des historischen Ma- terials, aus dem ‘Rembrandt‘ entwickelt wird, läßt sich über die Autonomie des Subjekts re- den, über seine Eigenständigkeit gegenüber ökonomischen Prozessen, über seine Unter- scheidbarkeit innerhalb der Masse seiner Zeitgenossen und über seine Fähigkeit, aufgrund seiner singularen Produktionsmittel ‘Eigentümliches‘ zu schaffen. Die Grundlage für diese Vorstellung vom menschlichen Individuum als einem einzigartigen und unabhängigen Sub- jekt liefert ein privatisiertes Verständnis des Kunstschaffens: Indem das ‘Werk‘ als authenti- sche und gänzlich eigenständige Artikulation des Subjekts verstanden wird, fungieren die sinnlich wahrnehmbaren Objekte als ‘Materialisierungen‘ des autonomen Subjekts. In der kultischen Rezeption der autonomen Kunst und ihrer Schöpfer, so könnte eine Konsequenz aus diesen Thesen lauten, reflektieren und stabilisieren die Mitglieder der bürgerlichen Ge- sellschaft ihre eigene Position als eigentumsfähige, für ihr Handeln rechtlich wie moralisch verantwortliche und sich selbst als einzigartig begreifende Individuen. Mit dieser Perspektive weise ich der Vorstellung vom autonomen Künstler eine wichtige Position innerhalb der Pro- zesse der Subjektivierung in modernen bürgerlichen Gesellschaften zu.

Die Topik der diskusiven Künstlerfigur in der Moderne ist nicht an eine bestimmte historische Person gebunden. Sie bildet einen Kanon von Beschreibungsformeln, die in ihrer Gruppie- rung und in ihren konkreten Ausformulierungen variieren können und dann unter den Namen Rembrandt, Goya, van Gogh oder Picasso, auftreten können, ja nicht einmal an den Bereich bildender Kunst gebunden sind. So sehr die Vorgaben der jeweiligen historischen Figuren im Verlauf der Diskursivierung auch umgewandelt werden, so wenig eignet sich dennoch jede Figur für jede Form der Stilisierung. Das Rembrandtbild ist in den Jahren 1890 bis 1950 fa- cettenreich und der Künstler kann als Ideal für unterschiedliche Ideologien auftreten. Danach ist jedoch die Verknüpfbarkeit dieser historischen Figur mit aktuellen Diskurssegmenten of-

329 fenbar verbraucht, obwohl der Ruhm der Werke erhalten bleibt. Die veränderten Ansprüche, denen die diskursive Künstlerfigur Rembrandt nicht mehr genügt, werden nun durch andere Namen erfüllt. Noch eine zweite Entwicklung läßt sich abschließend konstatieren. Während sich im Zeitraum meiner Untersuchung, besonders in den Jahrzehnten des wilhelminischen Kaiserreichs und der Weimarer Republik, eine weitgehende Konstanz des Künstlerbildes in den Texten unter- schiedlicher Diskursebenen auffinden läßt, würde eine Beobachtung der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts voraussichtlich zu einem anderen Ergebnis kommen. Die Ursache dafür sehe ich darin, daß die diskursive Figur des modernen Künstlers als ein sekundäres Phänomen, als eine ‘Funktion‘ der Gesellschaft betrachtet werden muß. In der Literatur um 1900 werden über diese Figur die Vorstellungen von der Autonomie, der inneren Harmonie, der Singulari- tät und der hohen Bedeutung des menschlichen Individuums zur Anschauung gebracht, die eine Grundlage der damaligen Gesellschaft bilden. Die Konturen dieser Künstlerfigur sind an die Subjektivitätskonzepte gebunden, die in dieser Gesellschaft zirkulieren, ihre Variationen stehen demnach im Zusammenhang mit Veränderungen der Position des Individuums in der Gesellschaft. So finden sich zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, analog zu einer Pluralität der Vorstellungen von Subjektivität, analog zu einer Ausdifferenzierung der Gesellschaft im Hinblick auf das Selbstverständnis der darin lebenden Individuen, in der gesellschaftlichen Kommunikation gleichzeitig unterschiedliche Konzepte von Künstlertum. Sie reichen vom Ideal des institutionell gebundenen Handwerkerkünstlers (etwa im kirchli- chen Auftrag oder im Kunstgewerbe) über das heroische Subjekt der Moderne (etwa in der anhaltenden Van-Gogh-Begeisterung) bis zu Versuchen der Auflösung subjektgebundener Kunstkonzepte (von Dada über die Nouveaux Realistes bis zur Internetkunst), wobei alle diese Entwürfe jeweils mit einem unterschiedlichen Kunstbegriff operieren. Indem wir es heute, im Gegensatz zur Zeit vor hundert Jahren, nicht mehr mit einem dominanten Bild vom Künstler, sondern mit einer wachsenden Zahl unterschiedlicher, einander widersprechender Vorstellungen von Kunst und Künstlertum zu tun haben, wird schließlich auch im Kunstdis- kurs erkennbar, daß nicht ‘der Mensch‘ sich auflöst, sondern daß sich mit der Gesellschaft auch die möglichen Konzeptionen von Subjektivität ausdifferenzieren.

330 Abkürzungen

RS: Katalognummern aus: Christopher White/Quentin Buvelot (Hg.) (1999) Rembrandts

Selbstbildnisse, Ausst. Kat. London/Den Haag.

Filmographische Angabe

Rembrandt

Deutschland 1942; Regie: Hans Steinhoff; Buch: Kurt Heuser und Hans Steinhoff, unter Mitbenutzung des Romans Zwischen Hell und Dunkel von Valerian Tornius (1934); Kamera: Richard Angst; Bauten: Walter Röhrig; Musik: Alois Melichar; DarstellerInnen: Ewald Balser, Hertha Feiler, Elisabeth Flickenschild, Gisela Uhlen, Theodor Loos; Produktion: Terra; 107 Min.

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348 Martin Hellmold, geboren im April 1966 in Gross Berkel, Niedersachsen, studierte ab 1990 Kunstgeschichte, Theater, Film- und Fernsehwissenschaft und mittelalterliche Geschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Magister Artium im Juli 1996 mit einer Arbeit zum Thema „Ewiger Rembrandt“. Der Künstlermythos und seine politische Instrumentalisierung am Beispiel des deutschen Spielfilms von 1942. (Gutachter: Prof. Dr. Beat Wyss, Prof. Dr. Katharina Sykora; Note: Sehr gut mit Auszeichnung). Promotionsstipendium der Wilhelm und Günther – Esser Stiftung, Bochum. Abgabe der Dissertationsschrift im Oktober 2000.

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