Sonntag, 11. Oktober 2020 15.04 – 17.00 Uhr

Ludwig van Beethoven Eine Sendereihe von Eleonore Büning

41. Folge: „Frei ist die Tonkunst geboren“

„Frei ist die Tonkunst geboren, und frei zu werden ihre Bestimmung!“ Willkommen zu einer neuen Folge der Beethovenreihe, ich grüße Sie! Dieses zukunftstrunkene Zitat von der Freiheit der Musik ist heute das Motto mei- ner Sendung, in der es, vor allem, um die hohe Kunst der Transkription gehen soll. Geprägt hat diesen Satz , der große Pianist, Komponist und Arran- geur. Er veröffentlichte im Jahr 1907 seinen „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“, ein Buch, das die Musikwelt erschütterte. Busoni stellt darin das Dur- Moll-Tonsystem in Frage, er nennt es: „einen Fall von Zurückgebliebenheit“. Er träumt von der Erweiterung des Tonmaterials durch Drittel- und Sechzehnteltöne, er entwirft neue Skalen – lange vor Arnold Schönberg, mit dem er übrigens befreun- det war. Und doch greift Busonis neue Ästhetik der Tonkunst auch zurück in die Vergangenheit, sie beruft sich auf Beethoven, den „romantischen Revolutionsmen- schen“ mit seiner unbändigen „Befreiungslust“. (schreibt Busoni) habe, „in einzelnen Augenblicken“ die Zukunft der Musik vorausgesehen. Hier ist so ein utopischer „Augenblick“:

Amadeo/Decc Musik 1): Ludwig van Beethoven: Sonate B-Dur op. ca. a 4768768 106 („Hammerklavier“). Daraus: 4.Satz, Ein- 2:30 leitung „Largo“ LC 00107 Friedrich Gulda (Klavier) CD 8 (1968/2005) Track <7> AUSSCHNITT. Von 0:00 bis 2:26, dann langsam raus und evtl. unter dem folgenden Text wegblenden

Wie eine aus dem Augenblick entstandene Improvisation wirkt dieser Anfang des letzten Satzes von Beethovens Sonate B-Dur, op. 106. Es spielte: Friedrich Gulda. Für Ferruccio Busoni sind diese wenigen „Largo“-Takte, die als Einleitung die finale Fuge der Hammerklaviersonate vorbereiten, ein leuchtendes Beispiel dafür, dass die großen Komponisten der Vergangenheit – obgleich verankert in den Harmonie- und Formgesetzen ihrer Zeit – doch immer wieder versucht haben, den Boden der Tonalität zu verlassen und „frei aufzuatmen…“. Spürbar, so Busoni, sei dies vor al- lem „…in den Vorspielen und Übergängen“, und: „Neben Beethoven ist Bach dieser ‚Ur-Musik‘ am verwandtesten…“

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Busoni war, zu dem Zeitpunkt, als er dies schrieb, längst eine Berühmtheit, vor al- lem als Pianist und Virtuose. Als Komponist hatte er sich zunächst vor allem der Wiederaufbereitung der Musik der Vergangenheit verschrieben. Seine Transkriptio- nen und komponierten Interpretationen riefen massive Kritik auf den Plan. Seine Verleger vermarkteten ihn bereits seit 1894 unter dem Schlagwort: „Bach-Busoni“. Auch einen „Liszt-Busoni“ gibt es, auch einen „Brahms-Busoni“ oder „Chopin- Busoni“. Aber einen „Beethoven-Busoni“, den gibt es nicht. Beethovens Klaviersonaten spielte Busoni stets werktreu nach dem Originaltext. Nur zweimal hat er ein Beethovensches Werk „für den Konzertvortrag eingerich- tet“, wie es so schön heißt; gemeint ist: „verändert“. Eines davon hören wir jetzt – und zwar gleich zweimal nacheinander, zum Vergleich. Einmal spielt Ferruccio Busoni selbst, in einer historischen Aufnahme aus dem Jahr 1922. Zuvor jedoch gibt es Beethovens sechs Ecossaisen Es-Dur in einer modernen Aufnahme zu hören, mit dem Pianisten Holger Groschopp.

Capriccio Musik 2): Ludwig van Beethoven/Ferruccio Busoni 10896 (arr): Sechs Ecossaisen Es-Dur WoO 83 2:30

LC 08748 Holger Groschopp (Klavier) (2000/2001) Track <9>

Soweit die Ecossaisen Es-Dur, WoO 83 von Ludwig van Beethoven, bearbeitet von Ferruccio Busoni, gespielt von Holger Groschopp. Eine „Ecossaise“ ist ein schottischer Hüpf-Tanz. Komponiert hat Beethoven diese sechs blitzkurzen Tänze im Zweivierteltakt um 1807. Wozu, weiß man nicht. Lange Zeit nahm man an, dass sie ursprünglich für Orchester gedacht gewesen sein könn- ten, für eine Redoute oder einen Ball. Das ist inzwischen widerlegt worden. Und hier nun die Aufnahme von 1922 mit Ferruccio Busoni. Er spielt das Stück, anders als Groschopp, mit einer Wiederholung des ersten Tanzes, ist aber trotzdem um gut eine halbe Minute schneller. Busonis Vortrag ist ungleich kontrastreicher, pointier- ter, lebendiger. Das hört man, trotz der Patina dieser historischen Aufnahme.

Naxos Musik 3): Ludwig van Beethoven/Ferruccio Busoni 8.110777 (arr): Sechs Ecossaisen Es-Dur WoO 83 1:59 LC 05537 Ferruccio Busoni (Klavier) Track <3> (1922/ 2004) Als WAF-Datei auf dem Stick

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Ferruccio Busoni spielte die Ecossaisen Es-Dur von Ludwig van Beethoven, eine Aufnahme aus dem Jahr 1922, mit entsprechend hohem Rauschfaktor. Was aber doch deutlich zu hören war: Busoni hat diese Tänze „orchestriert“, quasi vollgriffig in den Ballsaal zurückverlegt, mit pianistisch-dynamischen Glanzlichtern. Das Ritornell kurz vor Schluss hat er in den Diskant verlegt, wodurch der Stretta- Effekt verstärkt wird. Man begreift plötzlich, warum er diese Unterhaltungsmusik, die eigentlich nur noch als Klavierunterrichtsfutter oder als Zugaben-Schmankerl überlebt hatte, überhaupt einer Bearbeitung für wert hielt: Er hat das leichte Stück ernst genommen. Eine Vorgehensweise, die an eine der „Übungsregeln für Klavier- spieler“ erinnert, die er sie selbst einmal formulierte hatte: „Studiere Alles und Je- des, als ob es das Schwerste wäre“.

Es gibt noch etliche andere Busonische Merksätze für den Unterricht, die er auch selbst beherzigte. Er hat sie, in Anlehnung an die musikalischen Hausregeln Robert Schumanns, sämtlich in Imperativ-Formeln gefasst. Da heißt es, zum Beispiel: „Ver- binde stets das technische Üben mit dem Studium des Vortrags“. Oder: „Bach ist der Grund des Klavierspiels, Liszt die Spitze. Die(se) beiden werden dir Beethoven ermöglichen.“ Von Bach über zu Beethoven – so ein Umweg kann wohl auch nur einem professionellen Klavierspieler einfallen! Busoni bezieht sich dabei auf die zahlrei- chen Lisztschen Klavierparaphrasen von Bachschen und von Beethovenschen Wer- ken, die ihm selbst auch zum Vorbild wurden. Mehr dazu gleich. Hier zunächst eine Beethovenbearbeitung von Franz Liszt, gespielt von Ferruccio Busoni: Wieder geht es um ein vernachlässigtes, sogenanntes Gelegenheitswerk, wiederum in einer his- torischen Aufnahme – aber diesmal ohne Knistern und Rauschen. Beethovens Schauspielmusik zu „Die Ruinen von Athen“ hatte Franz Liszt mehrfach beschäftigt, zuerst 1846, dann 1852. Er komponierte gleich drei verschiedene Versi- onen einer „Fantasie“ über die „Ruinen“, die er sämtlich Nikolai Rubinstein wid- mete: für Klavier und Orchester, für Klavier vierhändig und für Solo-Klavier. Warum dreifach? Weil er dieses vergessene Stück wieder unter die Leute bringen wollte. Es fängt trügerisch harmlos an, halblaut, mit einer einstimmigen Melodie. Recht eigentlich pianistisch geht es erst nach einer langen Weile zu, wenn Trilleror- gien ins lustvolle Präludieren übergehen, was den Tanz der Derwische ankündigt. Ferruccio Busoni hat diese „Fantasie über Beethovens ‚Ruinen von Athen‘“ einge- spielt auf einem Welte-Mignon-Reproduktionsklavier:

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Intercord Musik 4): Franz Liszt: Fantasie über Beethovens „Rui- INT 860.856 nen von Athen“ R 126 14:01

LC 05537 Ferruccio Busoni (Welte-Mignon-Klavier) (1907/1988) Track <1>

Ferruccio Busoni spielte die „Fantasie über Beethovens ‚Ruinen von Athen’“ von Franz Liszt, aufgezeichnet am 16. März 1907 auf einem Reproduktionsklavier der Firma Welte-Mignon. Welte-Mignon-Aufnahmen sind wie musikalische Zombies. Auch wenn wir wissen, dass Ferruccio Busoni persönlich vor hundertdreizehn Jahren an diesem Flügel-Au- tomat saß und die Lochstreifen bespielte: Es klingt nicht danach. Jenseits von Ton- dauer und Lautstärke kann dieses mechanische Aufzeichnungs- und Wiedergabe- verfahren nur einen schwachen Abglanz der Interpretation spiegeln. Wesentliche Parameter des Klavierspiels, wie die Intensität der Akzentuierung, Pedalisierung, Nachhall, Phrasierung, Farbvaleurs – also fast alle Nuancen der Gestaltung – gehen verloren. Und trotzdem ist diese Aufnahme ein interessantes Dokument, als Bear- beitung einer Bearbeitung: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts überformt ein Klavier- automat die Interpretation des Pianisten! Bereits um die Mitte des 19. Jahrhundert hatte das Klavier, als es in den Grand Pia- nos der Firmen Erard und Pleyel seine nahezu perfekte Ausbildung erfuhr, eine zweite Karriere als Orchester-Ersatz begonnen. „L’Orchestre, c’est moi“, diese Pa- role legte der ironische Hector Berlioz seinem Freund Franz Liszt in den Mund, als der begann, sich immer größere Freiheiten herauszunehmen in seinem Umgang mit Werken anderer. Liszt wird zu einem frühen Pionier der Kunst der komponierten In- terpretation. Seine Paraphrasen gehen teils weit hinaus über das, was man bis dato „Bearbeitung“ genannt hatte, er machte die „Transcription“, wie er es nannte, zu einer neuen Kunstform. Ferruccio Busoni schreibt dazu in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“: „Jede Notation ist schon Transcription eines abs- trakten Einfalls. Mit dem Augenblick, da die Feder sich seiner bemächtigt, verliert der Gedanke seine Originalgestalt.(…) Auch der Vortrag eines Werkes ist eine Transcription, und auch dieser kann – er mag noch so frei sich gebärden, niemals das Original aus der Welt schaffen. Denn: Das musikalische Kunstwerk steht, vor seinem Ertönen und nachdem es vorübergeklungen, ganz und unversehrt da.“ So- weit Busoni. Das nennt man: Idealismus. Auch das folgende Beethovensche Werk hat Franz Liszt gleich dreimal bearbeitet. Gespielt wird die dritte und letzte Fassung, und zwar von Egon Petri, dem Freund und Meisterschüler Busonis, der dem legatoreichen, farbsatten Stil seines Lehrers vermutlich näher sein wird, als ein Automat. Den Titel des Werks möchte ich noch nicht verraten, nur so viel: Es handelt sich um

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ein Lied. Das Klavier muss also singen. Es nimmt sich aber auch die Freiheit heraus, für ein paar Takte zwischendurch pianistische Virtuosen-Pirouetten zu drehen, die in Beethovens Original nicht drinstehen.

DG 477 9527 Musik 5): Ludwig van Beethoven/Franz Liszt (arr.): „Adelaide“ op.46 (S.466) 8:33 LC 0173 CD 9 Egon Petri (Klavier) (1956/2011) Track <3>

Beethovens „Adelaide – für das Pianoforte übertragen“ von Franz Liszt, gespielt von Egon Petri; eine Studioaufnahme von 1956 aus New York, wohin dieser famose Pianist vor den Nationalsozialisten in den Dreißigern hatte flüchten müssen und wo er nie richtig angekommen ist. Egon Petris glanzvoll in Europa begonnene Laufbahn war damit geknickt und vorbei. Heute kennen ihn nur noch einige wenige Klavierafi- cionados. Dies nur nebenbei gesagt, in memoriam, zur Erinnerung. Und damit zu- rück zur Beethovenrezeption der Klavierlegende Busoni und seinem Idol und Vor- bild: Franz Liszt. Ferrucio Busoni schreibt 1907, in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Ton- kunst“: „Transcription: (ist) gegenwärtig ein recht missverstandener, fast schimpfli- cher Begriff!“ Damit trifft er ins Schwarze. Nicht nur, dass das Kopieren, Instrumen- tieren und Verändern fremder Werke – zur Beethovenzeit noch, wie schon zu Bachs Zeiten, eine Selbstverständlichkeit – in Verruf geraten war. Auch Virtuosen hatten eine schlechte Presse. Das Publikum liebte zwar die artistischen Tonzaubereien von Liszt, Kalkbrenner, Paganini oder Chopin nach wie vor; doch die romantische, deut- sche Musikerzunft und mit ihr die Kritiker hatten ein ambivalentes Verhältnis dazu entwickelt, sie warfen den Virtuosen ungermanische Inhaltslosigkeit vor. Franz Liszt war es dann gewesen, der 1830, inmitten dieser vormärzlichen Gemengelage, den Begriff „Transkription“ erfand, um zu differenzieren: „zwischen einer mehr oder minder strengen Bearbeitung und einer freien Fantasie“. „Transkription“ ist weder das eine, noch das andere, sie bedeutet, dem Lisztschen Wortverständnis nach: „Nachschöpfung“. Es geht nicht um einen Auszug, sondern um Geist und Struktur des Ganzen. 1837 wagt sich Liszt erstmals daran, drei kom- plette Beethovensche Symphonien zu überführen in eine solche „Partition de Pi- ano“ – zu Deutsch: eine „Klavier-Partitur“: die Fünfte, die Sechste und die Siebte. Er beginnt mit der tonmalerischen Pastoralsymphonie. Schließlich: Donnern und Blit- zen, das kann sein Grand auch.

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Sony SMK Musik 6): Ludwig van Beethoven/Franz Liszt (arr.): 522637 Symphonie Nr.6 F-Dur op.68 („Pastorale“). 3:48 Daraus: 4.Satz „Gewitter, Sturm, Allegro“ LC 06868 Glenn Gould (Klavier) Track <4> (1968/1993)

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Glenn Gould spielte den vierten Satz „Gewitter, Sturm, Allegro“ aus der Symphonie Nr. 6 F-Dur op. 68, der „Pastorale“, von Ludwig van Beethoven, in einer Bearbei- tung von Franz Liszt. „Der Name Beethovens ist heilig in der Kunst“. Mit diesem Satz beginnt das Vor- wort zur Gesamtausgabe aller Beethoven-Symphonien, transkribiert für Klavier, die Franz Liszt 1865 herausbringt. Fast dreißig Jahre hat es gedauert, bis er endlich alle Symphonien, auch die Erste, Zweite, Dritte, Achte und sogar die Neunte in einer pianistischen Nachschöpfung erarbeitet und erfasst hat. Einige transkribiert er mehrfach. Und weiter heißt es in diesem Vorwort, mit typisch Lisztscher Beschei- denheit: „Ich werde zufrieden sein, wenn ich die Aufgabe eines geschickten Kupfer- stechers, eines gewissenhaften Übersetzers erfüllt habe, die den Geist des Werkes auffassen und so dazu beitragen, die Erkenntnis der Meister und das Empfinden für das Schöne zu verbreiten.“ Liszt war freilich nicht der erste, der diese Symphonien in einen anderen musikali- schen Aggregatzustand überführte. Beethovens Symphonien wurden, wie auch die Symphonien anderen Komponisten, gleich nach der Entstehung vielfältig bearbei- tet, aus Marketinggründen, im Auftrag der Verleger. Liszt selbst spricht das an: Es gehe um die „Erkenntnis der Meister“ dabei, auch um die Verbreitung der Werke. Orchester gab es nur in größeren Städten, Orchesterkonzerte waren (noch) eine Seltenheit. Gedruckt wurden üblicherweise nur die Stimmen für eine eventuelle Aufführung. Aber alsbald veröffentlichten die Verleger Klavierauszüge nebst Bear- beitungen für den häuslichen Gebrauch. Beethovens zweite Symphonie, D-Dur, op. 36, kam 1805 heraus in Stimmen sowie kurz darauf als Streichquintett arrangiert von Beethovens Schüler Ferdinand Ries, alsdann als Quartett arrangiert von Hum- mel, als Nonett von Ebers und vieles andere mehr.

Sowie: als Klaviertrio „in der Übertragung vom Komponisten“. Aus dieser Transkrip- tion erster Hand spielt jetzt das Beethoven Trio Bonn den dritten Satz „Scherzo.Al- legro“:

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Ludwig van Beethoven -41. Folge Seite 7 von 12

Cavi Music 42 Musik 7): Ludwig van Beethoven: Symphonie Nr.2 D- 3:37 600 855 Dur op.36. Daraus: 3.Satz („Scherzo. Alle- 31110 gro“), arrangiert für Klaviertrio LC 15089

Track <7> Beethoven Trio Bonn Als WAV-Datei (2019/2020) auf dem Stick

Sie hören rbbKultur, die Beethovenreihe, am Mikrophon: Eleonore Büning.

In dieser Folge geht es um das Beethovenbild von zwei Meistern der komponierten Interpretation: um die Pianisten, Komponisten und Arrangeure Franz Liszt und Fer- ruccio Busoni. Fast ausschließlich steht heute also Klaviermusik auf der Playlist. Erste Ausnahme: dieses Klaviertrio. Das Beethoven Trio Bonn spielte den dritten Satz, „Scherzo Allegro“, aus der Sym- phonie Nr. 2 D-Dur op. 36 von Ludwig van Beethoven, eingerichtet für Klaviertrio „par l’Auteur même“, wie es in dem Erstdruck von 1805 heißt: von Beethoven selbst. Mithin: eine Originalkomposition. Das war schon die zweite Ausnahme. Der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung war diese Beethovensche Eigen- bearbeitung eine eigene Besprechung wert. Der Kritiker outet sich als Kenner. Er ist kein Freund von Bearbeitungen, räumt jedoch ein, dass sie notwendig seien für die- jenigen, die das „sehr schwierige Werk nicht vollständig hören oder, unter der Menge künstlich verflochtener Gedanken (…) es nicht genug verstehen können.“ Er erklärt: „Man erhält in der That ein nicht unwürdiges und möglichst vollständiges Bild vom Ganzen.“ Nur im „schönen Andante“ und im „originellen Scherzo“ ver- misst er die „meisterhafte Vertheilung an die verschiedenen, besonders die Entge- gensetzung der Saiten- und Blasinstrumente“ – wie das wohl nicht anders möglich sei bei der Reduktion auf nur drei Instrumente. Franz Liszt trat den Beweis an, dass es doch möglich ist, dass nur ein Instrument, nur ein Instrument, nur 88 schwarze und weiße Tasten, ein vollständiges Bild vom Ganzen geben können. Cyprien Katsa- ris spielt:

Teldec 2564 Musik 8): Ludwig van Beethoven/Franz Liszt (arr.): 60865-2 Symphonie Nr.2 D-Dur op.36. Daraus: 3.Satz 3:37 LC 06019 („Scherzo.Allegro“) CD 1 Cyprien Katsaris (Klavier) Track <7> (2003/2003)

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Cyprien Katsaris spielte das Scherzo aus der zweiten Symphonie von Ludwig van Beethoven, in der Bearbeitung für Klavier von Franz Liszt. Es ist keineswegs so, dass die Orchesterfassung durch diese virtuose Klavierfas- sung überflüssig wird. Aber man kann schon sagen: Man vermisst eigentlich nichts. Die Klaviertranskription funktioniert auch als ein eigenständiges Werk. Wie Franz Liszt dies gemacht hat, das lässt sich in der Entwicklung seiner frühen Sympho- nietranskriptionen von 1837 bis zu den späten 1865 gut verfolgen: Er verdichtet den Satz. Die pianistische Virtuosität wird sublimiert, die Stimmführung herauspräpa- riert, die Strukturen werden transparent gemacht, das Klangbild ist gelichtet. Die Bearbeitung der Zweiten ist eine späte Bearbeitung, anders als die der Pastoral- symphonie, die zu den ersten Entwürfen Liszts gehört hatte – und der Unterschied ist evident, selbst wenn man das tonmalerische Element abzieht. Dabei sind durch- aus nicht alle Orchesterstimmen abgebildet. Als Cyprien Katsaris, der übrigens der erste Pianist war, der eine Gesamtaufnahme dieser Lisztschen Beethoventranskrip- tionen vorlegte, bemerkte, dass in einigen Stellen in der Pastoralsymphonie Instru- mente ausgelassen wurden, hat er sie ergänzt: eine Bearbeitung der Bearbeitung, als ein „work in progress“. Die letzte Beethovensymphonie, die sich Liszt vornahm, war das Monstrum der Neunten. Auch diese Arbeit lässt sich beschreiben als ein Prozess der schrittweisen Revision und Vervollkommnung. Zunächst wollte er dieses komplexe Werk ganz auslassen, dann plante er, auf das Drängen seines Verlegers hin, die ersten drei Sätze zu transkribieren. 1851 komponierte er schließlich eine Duo-Fassung für zwei Klaviere, in der fast jede Note des Beethovenschen Originals untergebracht und je- weils auch die Originalinstrumente mit einbeschrieben sind, damit die Pianisten es wissen und ihren Fingern mitteilen können: Hier stelle man sich eine Flöte vor, dort ein Violoncello. Die Solofassung – zuerst noch ohne den Finalsatz, folgte dreizehn Jahre später. Und dann, schlussendlich, im Jahr 1865: Das Finale. Es ist klar, dass nicht die Vielfalt aller Stimmen abgebildet werden kann, mit nur zwei Händen. Diese Klavierfassung des Chorfinales bleibt ein „abstract“. Aber die vielen Klangfarben des historischen Blüthnerflügels von 1867, den Yury Martynov in seiner Aufnahme benutzt hat, entfalten doch ein eigentümliches Eigenleben und, im Legatospiel der Variationen, eine fast intime Poesie. Doch zunächst wird gedon- nert. So geht das los:

Alpha 598 Musik 9): Ludwig van Beethoven/Franz Liszt (arr.): Symphonie Nr.9 d-moll, op.125. Daraus: 10:22 LC 00516 („Finale: Presto“) CD 12 Yury Martynow (Hammerflügel) Track <4> (2014/2020) AUSSCHNITT: Von 0:00 bis 10:22, rasch ausblenden

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Ludwig van Beethoven -41. Folge Seite 9 von 12

„Blüthnerflügel können wirklich singen, das Schönste, was man von einem Instru- ment sagen kann“. Dies schrieb Wilhelm Furtwängler einst der Leipziger Klavierbau- erfamilie ins Stammbuch. Der Pianist Yury Martynow benutzte soeben ein solches Instrument: einen Blüthner-Flügel, Baujahr 1867, wie ihn auch Franz Liszt geliebt und gespielt hat. Wir haben uns vorübergehend ausgeblendet an dieser Stelle des Finalsatzes aus Beethovens Neunter Symphonie, in der Klavierfassung von Franz Liszt, just bei der Generalpause, kurz bevor der Tenorheld die Agora betritt, um seine marschmäßig rhythmisierte Variante der Freudenode zum Besten zu geben: „Froh wie seine Sonnen fliegen“. Er ist ein Kriegsheld. In diesem „Alla Marcia“ kom- men zusätzliche Schlaginstrumente zum Einsatz, die zur sogenannten türkischen Musik gehören – Triangel, Becken und große Trommel –, und die zugleich, zusam- men mit den Bläsern, eine politische Implikation mitliefern: die kollektive Erinne- rung an die französische Revolutionsmusik. Für diesen öffentlichen Aufruf emp- fiehlt sich die frühe Lisztsche Fassung für zwei Klaviere, in der alle Stimmen betei- ligt sind und keine Note fehlt. Eine Aufnahme aus dem Jahr 2007, mit den Pianisten Leon McCawley und Ashley Wass:

Naxos Musik 10): Ludwig van Beethoven/Franz Liszt (arr.): 8.570466 Symphonie Nr.9 d-moll, op.125. Daraus: 13:28 („Finale: Presto“) LC 05537 Leon McCawley (Klavier) Track <4> Ashley Wass (Klavier) (2007/2008) AUSSCHNITT: einblenden bei 8:23 bis Trackende

Leon McCawley und Ashley Wass spielten den Finalsatz aus der Neunten Sympho- nie in der Transkription für zwei Klaviere. Diese Bearbeitung von Franz Liszt ist ei- nerseits eine Hommage an Beethoven, dessen Werke Liszt „heilig“ nennt. Zugleich ist sie komponierte Interpretation und grenzt, in ihrem Bekenntnis zur Virtuosität des Instrumentes, an eine produktive Dekonstruktion. Im September 1837, auf dem Lande, als er den Plan fasste, alle Beethovensympho- nien seinem besten Freund, dem Flügel einzuverleiben, schrieb Franz Liszt einen Brief, in dem er sich dafür rechtfertigte. Nachzulesen ist das in seinen „Reisebriefen eines Baccalaureus der Tonkunst.“ Liszt schreibt: „Das Clavier nimmt meiner An- sicht nach die erste Stelle in der Hierarchie der Instrumente ein. Es wird am meis- ten gepflegt und ist am weitesten verbreitet. Diese Wichtigkeit und Popularität ver- dankt es der harmonischen Macht, welche es fast ausschließlich besitzt und infolge deren es auch die Fähigkeit hat, die ganze Tonkunst in sich zusammenzufassen und

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zu konzentrieren. Im Umfang seiner sieben Octaven umschließt es den ganzen Um- fang eines Orchesters, und die zehn Finger eines Menschen genügen, um die Har- monien wiederzugeben, welche durch den Verein von Hunderten von Musicirenden hervorgebracht werden. (…) Es ist so nach der Orchestercomposition das, was der Stahlstich der Malerei ist, welche er vervielfältigt und vermittelt. Und entbehrt es auch gleich der Farbe, so ist es doch im Stande, Licht und Schatten wiederzuge- ben.“ Soweit Franz Liszt. Ferruccio Busoni, der zwei Generationen später die inzwischen vergessenen Liszt- schen Transkriptionen wiederaufführte und propagierte, hielt dagegen. Beethovens Hauptwerke sind, seiner Ansicht nach, vollkommen und unantastbar. Er schreibt, ebenfalls in einem Brief, anno 1916: „Aber einen Beethoven selbst in seiner bewuß- testen und sorgfältigsten Arbeitsperiode modifizieren zu wollen, ist ein Vorgehen, das begründet werden muss.“ Busoni hat Beethoven nicht transkribieren wollen (er hat es dann doch zweimal ge- tan). Aber er schrieb sich die Beethovenschen Freiheitsmaximen auf die Fahnen und er ließ sich inspirieren von Beethovenschen Grenzüberschreitungen. Am 10. No- vember 1904 stellte Busoni gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern ein neues Klavierkonzert vor: einen großen Wurf, eines seiner emphatischen, hochvirtuosen Jugendwerke. Der Pianist Robert Stevenson nennt es: ein „Monument seiner phä- nomenalen Klaviertechnik“, der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt spricht von einem „Über-Konzert“, mit einem Hang zum „Over-Statement“. Dieses Stück schließt sich formal sowohl an die Neunte Symphonie wie auch an die Chorphanta- sie Beethovens an. Es kam zu lautstarken Protesten bei der Uraufführung, zu einem entsetzlichen Tumult, ähnlich dem, der beim Schönbergschen Watschenkonzert entstanden war. Die „Tägliche Rundschau“ pestete anschließend: „Fünf Sätze hin- durch wurden wir mit einer Flut von Kakophonie überschwemmt. (…) Schließlich zeigte uns der ‚Cantico‘ zu unserem Entsetzen, dass ein Komponist den sonderba- ren Humor einer Männerchorvereinigung ernst nehmen kann. Es war schrecklich.“ Dieser Chor im Finalsatz des Busoni-Konzertes bleibt unsichtbar. Er beginnt tas- tend, harmonisch unsicher, er nähert sich der Tonart e-Moll. Er singt eine mystische Hymne des dänischen Dichters Adam Gottlob Oehlenschläger: „Hebt zu der ewigen Kraft Eure Herzen“.

Myrios Clas- Musik 11): Ferruccio Busoni: Klavierkonzert C-Dur sics op. 39. Daraus: 5.Satz („Cantico: Largamen- 11:48 MYR 024 te“) Kirill Gerstein (Klavier) LC 19355 Boston Symphony Orchestra Tanglewood Festival Chorus Track <5> Sakari Oramo (Leitung) (2017/2019)

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Ludwig van Beethoven -41. Folge Seite 11 von 12

Aus dem Klavierkonzert C-Dur op. 39 von Ferruccio Busoni hörten wir den fünften und letzten Satz, das Chorfinale: „Cantico Largamente“. Eine Aufnahme vom Tanglewood Festival 2017, mit dem Tanglewood Festival Chorus, dem Pianisten Ki- rill Gerstein sowie dem Boston Symphony Orchestra unter Leitung von Sakari Oramo.

„Von Beethoven habe ich mich seit einiger Zeit entfernt“, schreibt Ferruccio Busoni im Herbst 1919 an einen alten Freund, ein Jahr nach Ende des ersten Weltkriegs, nachdem er aus seinem Zürcher Exil nach zurückgekehrt ist. Und weiter: „Es war ein schmerzhafter Kampf, den ich mit mir selber ausfocht – nun aber bin ich klarer u. davon gesundet. (…) Fünf Jahre Entfernung von deutscher Musik-Polizei- Atmosphäre gaben mir Raum und Freiheit zu eigenem Betrachten“. Soweit Busoni. Ein Jahr später verfasst er noch einmal ein aufsehenerregendes Pamphlet. Es heißt: „Was gab uns Beethoven?“ Diese Frage ist rhetorisch gemeint. Busonis Ant- wort lautet: „Aufrichtigkeit“. Seine Aufzählung dessen, was die Beethovenverehrung bis dato an Unheil angerich- tet hat im deutschen Kulturleben, wurde so verstanden, als habe er Beethovens Mu- sik kritisieren wollen. Das ist nicht der Fall. Es handelt sich bei dieser Schrift keines- wegs um eine Zurücknahme dessen, was Busoni einst als junger Mann in seinem „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ formuliert hatte. Nach wie vor ist er „einer der imponierendsten Interpreten des späten Beethoven“, nach wie vor gilt ihm die Hammerklaviersonate als „das mächtigste Klavierstück aller Zeiten“. Busoni antwortet mit diesem Aufsatz auf die romantisierend-französische Beethovenschrift von Romain Rolland. Er formuliert eine der schärfsten und hell- sichtigsten Zurückweisungen des deutschen Beethovenmythos in der Geschichte der Beethovenrezeption. Beethoven, schreibt Busoni, werde „bewacht von einer militanten Priesterschaft“, die sich, „anders als bei Wagner, ohne Verabredung organisiert hat (…) Nach Beethoven mußte alles gewaltig sein. (…) Die Freude, die Beethoven aus Sehnsucht nach der Abwesenden – fanatisch besingt, hat sich verborgen. Früher begrüßte der Zuhörer die Veranstaltungen zu einer Musikaufführung mit dem Lächeln der ange- nehmen Erwartung. Jetzt setzt man sich mit geschlossenen Augen und hoffnungs- losem Ernste zum Lauschen hin. Ein Stück, das heiter und kurz geraten ist, mag es noch so schön und meisterlich sein, wird als Werk zweiter Ordnung betrachtet. (…) Um die Menschheit zu leiden, ist höchst ‚menschlich‘, ehrfurchtsgebietend, dan- kens- und liebenswert; anbetungswürdig aber ist das Göttliche, welches keine Zwei- fel kennt noch weckt, und alle Leiden vergessen macht.“

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Ludwig van Beethoven -41. Folge Seite 12 von 12

Hyperion Musik 12): Ludwig van Beethoven/Ferruccio Busoni: CDA 68044 „Benedictus“ aus der Missa Solemnis op. 8:47 LC 07533 123, bearbeitet für Violine und Orchester.

Track <4> Tanja Becker-Bender (Violine) BBC Scottish Symphony Orchestra Garry Walker (Leitung) (2013/2014)

Mit dem „Benedictus“ aus der „Missa Solemnis“ op. 123 von Ludwig van Beethoven – in einer Bearbeitung von Ferruccio Busoni – geht die 41. Folge der Beethovenreihe auf rbbKultur zu Ende. Es spielten: Tanja Becker-Bender (Violine) und das BBC Scot- tish Symphony Orchestra unter der Leitung von Garry Walker.

Das Manuskript zur Sendung finden Sie auf rbbkultur.de, da steht sie ab sofort zum nochmal Anhören online parat, für die ganze nächste Woche und als Podcast sogar noch länger. Mein Name ist Eleonore Büning, ich sage: Adieu und auf Wiederhören, hoffentlich, am nächsten Sonntag. Dann heißt das Motto „Musik über Musik“ – es geht um die „Diabelli-Variationen“.

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