DIE LINKE IN EUROPA Sozialistische Parteien in der EU ROSA LUXEMBURG STIFTUNG NEW YORK OFFICE Von Dominic Heilig Inhaltsverzeichnis

Der Aufstieg der europäischen Linken 1

Die Linke in Europa

Sozialistische Parteien in der EU 2

Von Dominic Heilig

1. Die Linke in Europa: Geschichte und Diversität 2

2. und der europäische linke Frühling 10

3. Der schwarze Herbst der Linken in Europa: Die Linke in Spanien 17

4. DIE LINKE: Stabilitätsfaktor in der Europäischen Linken 27

5. Strategische Aufgaben für die Linke in Europa 34

Veröffentlicht von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro New York, April 2016

Herausgeber: Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Adresse: 275 Madison Avenue, Suite 2114, New York, NY 10016 E-Mail: [email protected]; Telefon: +1 (917) 409-1040

Gefördert mit Mitteln des Auswärtigen Amts

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist eine international tätige, progressive Non-Profit-Organisation für politische Bildung. In Zusammenarbeit mit vielen Organisationen rund um den Globus arbeitet sie für demokratische und soziale Partizipation, die Ermächtigung von benachteiligten Gruppen, Alternativen zur wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung und für friedliche Konfliktlösungen.

Das New Yorker Büro erfüllt zwei Hauptaufgaben: sich mit Themen der Vereinten Nationen zu befassen und mit nordamerikanischen Linken in Hochschulen, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen und der Politik zusammenzuarbeiten.

www.rosalux-nyc.org Der Aufstieg der europäischen Linken

Das europäische Parteiensystem befindet sich im Umbruch. In der Folge des neoliberalen Angriffs löst sich mit der Mittelschicht auch die jahrzehntelang stabile Bindung großer Wählergruppen an die Parteien der Mitte zunehmend auf. Von dieser Entwicklung profitieren nicht zuletzt die europäischen Rechtsparteien; in vielen Ländern haben rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien einen für die Nachkriegszeit beispiellosen Aufschwung erlebt, wie Thilo Janssens RLS-Studie über „Rechtsaußen- parteien in der Europäischen Union“ gezeigt hat.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums hat der Wahlsieg der griechischen „Koalition der radikalen Linken“, besser bekannt als SYRIZA, im Januar 2015 die europäische Linke aus ihrem oppo- sitionellen Schlaf gerüttelt. Man rieb sich die Augen und stellte fest, dass die Linke bei Wahlen nicht länger nur „respektable“ Plätze erobern, sondern selbst als führende Kraft in die Regierung gewählt werden konnte. Die europäische und internationale Linke war begeistert.

Der Wahlsieg alarmierte allerdings zugleich ihre Gegner, die, unter Führung der deutschen Bundesre- gierung, der griechischen Linksregierung das Leben schwer und mitunter zur Hölle machten. Die Aus- einandersetzung zwischen SYRIZA und der Troika (aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds) über die griechische Regierungspolitik beherrschte im Frühjahr und Sommer 2015 die Schlagzeilen. Im Zuge dieses Konflikts gelang es Merkel, Schäuble & Co, die Eckpfeiler ihres neoliberalen Austeritätsregimes gegen den Angriff aus Griechenland zu verteidigen und SYRIZA in Kernfragen zum Einlenken zu zwingen. Zugleich zeigte die Wiederwahl der Tsipras- Regierung im September 2015 aber auch, dass sie es nicht vermochten, die linken „Störenfriede“ aus dem Amt zu drängen.

Seitdem hat die Linke in Spanien und Portugal im Herbst/Winter 2015 Wahlerfolge erzielt. In Spanien verlor die konservative Volkspartei durch den Aufstieg von Podemos ihre Mehrheit; in Portugal konnte der konservative Ministerpräsident gar von einer Mitte-links-Regierung abgelöst werden. In Großbri- tannien wählte die sozialdemokratische Labour Party mit Jeremy Corbyn den wohl am weitesten links stehenden Vorsitzenden ihrer Geschichte, während in anderen europäischen Ländern, darunter auch in Deutschland, eine reorganisierte Linke sich zu stabilisieren vermochte.

Höchste Zeit also, die europäische Linke genauer in den Blick zu nehmen. Welche Parteien sind von besonderer Relevanz, und wofür stehen sie politisch? Wo überwiegen die programmatischen Paral- lelen und wo die Unterschiede zwischen den nationalen Formationen? Wie ist die Linke auf europäi- scher Ebene organisiert, und wohin geht die Reise?

In dieser Studie untersucht der Journalist Dominic Heilig die gegenwärtige Lage. Ausgehend von einem Überblick und einer Kategorisierung der verschiedenen europäischen Linksparteien verdichtet Heilig die Analyse am Beispiel von drei Parteien: SYRIZA, Podemos und DIE LINKE. In seiner spannenden Darstellung der jüngeren Entwicklung vermag er zu zeigen, was durch den Aufstieg der Linken bereits gewonnen, aber auch, was noch nicht erreicht worden ist. Fest steht, dass die Linke noch viel zu tun hat, will sie mit ihrer Politik Einfluss auf die Zukunft des europäischen Kontinents nehmen.

Stefanie Ehmsen und Albert Scharenberg Leiter des Büros New York, April 2016

1 Die Linke in Europa Sozialistische Parteien in der EU

Von Dominic Heilig

1. Die Linke in Europa: Geschichte und Diversität

Das Spektrum der Linken in Europa reicht von Beitrag nur Linksparteien betrachtet werden, sozialdemokratischen über linkslibertäre und die entweder über eine parlamentarische Ver- grün-alternative bis hin zu traditionellen kom- tretung im Europäischen Parlament verfügen munistischen Parteien. Nimmt man ihre Selbst- oder die – bei aller Kritik oder gar Ablehnung verortung als Linksparteien als Ausgangspunkt, der EU – die europäische Arena als politischen können allein für die Europäische Union (EU) Handlungsrahmen angenommen und sich der und ihre 28 Mitgliedstaaten bereits über 60 EL angeschlossen haben.2 Parteien dieses Spektrums identifiziert wer- den.1 Diese Selbstdefinitionen beruhen jedoch Diese Schwerpunktsetzung ist geboten, um auf unterschiedlichen historischen, strategi- Linksparteien in Europa überhaupt vergleichen schen und programmatischen Grundlagen. zu können. Allein in der EU sind wir in jedem Hinzu kommt, dass viele Parteien dieses Spek- der 28 Mitgliedstaaten mit 28 teilweise sehr trums zugleich einem ständigen Wandel durch spezifischen nationalen Rahmenbedingungen Abspaltungen, Neugründungen oder Samm- konfrontiert, das heißt mit unterschiedlichen lungsprozesse unterworfen sind. Wahlsystemen, Rechtsstellungen der Par- teien und historischen Voraussetzungen. Ein Bevor einige ausgewählte Beispiele – nämlich Beispiel: Während in Deutschland eine Partei Syriza (Griechenland), Vereinigte Linke und mindestens fünf Prozent der Stimmen bei nati- Podemos (Spanien) sowie DIE LINKE (Bundes- onalen Wahlen benötigt, um Sitze in Parlamen- republik) – im Rahmen dieser Studie näher ten einzunehmen, liegt diese Hürde in Portu- betrachtet werden, gilt es zunächst, zwei euro- gal und Griechenland bei nur drei Prozent; in päische Zusammenhänge, in denen Linkspar- Frankreich wiederum gilt das Mehrheits- und teien aktiv sind, zu analysieren. Da ist zum einen kein Verhältniswahlrecht. Auch die Möglichkeit, die 2004 gegründete Europäische Linkspartei Wahlbündnisse aus Parteien oder mit sozia- (EL), ein europaweiter Zusammenschluss nati- len Bewegungen für Wahlen zu bilden, wird onaler Linksparteien im Rahmen der EU. Zum äußerst unterschiedlich gehandhabt. Zugleich Zweiten werden Parteien, die Mitglieder der üben diese Faktoren großen Einfluss auf die Linksfraktion im Europäischen Parlament (GUE/ konkrete Gestalt der Linksparteien aus. NGL) sind, der linken Parteienfamilie zugeord- net. Daraus folgt, dass in dem vorliegenden In einigen EU-Staaten existieren – wie etwa in Portugal – mehrere relevante Linksparteien, die 1 Vgl. Birgit Daiber, Cornelia Hildebrandt und Anna Striet- horst (Hg.): Von Revolution bis Koalition. Linke Partei- en in Europa, Rosa-Luxemburg-Stiftung, Büro Brüssel, 2 Vgl. Jürgen Mittag und Janosch Steuwer: Politische Par- 2010, S. 7. teien in der EU, Wien 2010, S. 179.

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Tabelle 1: Mitgliedsparteien der GUE/NGL im Europäischen Parlament seit 2014

Abgeord- Partei Land nete AKEL Zypern 2 Bloco de Esquerda Portugal 1 DIE LINKE Deutschland 7 Euskal Herria Bildu Spanien (Baskenland) 1 Volksbewegung gegen die EU – Rotgrüne Einheitsliste Dänemark 1 Front de Gauche (PCF; Parti de Gauche, u. a.) Frankreich 3 Izquierda Plural (Izquierda Unida u. a.) Spanien 5 Kommunistische Partei Böhmens und Mährens (KSČM) Tschechische Republik 3 L’Altra Europa con Tsipras Italien 2 Kommunistische Partei Portugals (PCP) Portugal 3 Tierschutzpartei Niederlande 1 Podemos Spanien 4 Linke Volkseinheit Griechenland 1 Sinn Feín (SF) Irland/Nordirland (GB) 4 Sozialistische Partei (SP) Niederlande 2 Syriza Griechenland 4 Union pour les Outre-Mer Frankreich (Übersee) 1 Linkspartei (V) Schweden 1 Linksbund (VAS) Finnland 1 Unabhängige Deutschland, Irland, 4 Griechenland, Italien damit auch in Konkurrenz zueinander stehen. In Neugründungen und Sammlungsprozesse im den skandinavischen Ländern (mit Ausnahme linken Spektrum eine parlamentarische Ver- Dänemarks) ist die Linke nicht zersplittert und, tretung der Linken erreicht werden.3 Ein Kenn- wenn zuletzt auch auf niedrigem Niveau, beson- zeichen der Linksparteien in Europa ist folglich ders stabil. Hier existiert jeweils nur eine rele- ihre Heterogenität. vante Linkspartei, die in Finnland, Norwegen, Island und Schweden bis vor kurzem sogar Teil Alle Linksparteien in Europa sind klassische Mit- sozialdemokratisch geführter Regierungen war. gliederparteien. Auch Neugründungen wie die Parti de Gauche setzten weiterhin auf die Bin- In den meisten osteuropäischen Staaten ist dung von Mitgliedern; keine der Linksparteien die Linke dagegen nicht nur, wie im Südwes- ist ein personenorientierter Wahlverein. ten Europas, zersplittert, sondern auch völlig marginalisiert. Lediglich in Slowenien und Kro- 3 Vgl. Dominic Heilig: Ein weißer Fleck färbt sich rot, atien konnte in den letzten zwei Jahren durch 14.7.2014, www.die-linke.de.

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Europäische Linksparteien binden besonders Zur zweiten Zäsur kam es angesichts des Prager vier Wählergruppen an sich. Zum einen klas- Frühlings 1968. Die Spaltung klassischer kom- sische Arbeiter- und alternative Milieus, die in munistischer Parteien in Westeuropa erfolgte Protest zu den herrschenden Verhältnissen hier entlang der Bewertung des Führungs- stehen. Neue Wählergruppen, die die Linke anspruches der KPdSU. Parteien des „Dritten in ihrem Widerstand gegen Neoliberalismus Weges“ oder eurokommunistische Parteien lös- und Austeritätspolitik an sich binden konnte, ten sich von jenen, die weiterhin auf eine revo- sind Menschen mit Prekaritätserfahrung und lutionäre Gesellschaftsentwicklung, auf das vom Abrutschen ins Prekariat bedrohte Mit- innere Führungsprinzip des „demokratischen telschichten. Keiner Partei aber gelingt es, alle Zentralismus“, auf den Marxismus-Leninismus vier Wählergruppen gleichermaßen für sich zu als verbindliches ideologisches Fundament und gewinnen. Kommunistische Parteien wie die auf den Führungsanspruch der KPdSU beharr- portugiesische PCP etwa werden in erster Linie ten. Die Ablehnung alternativer Entwicklungs- von klassischen, in ihrem Bestand bedrohten, wege zum Sozialismus und alternativer, demo- Arbeitermilieus gewählt; DIE LINKE in Deutsch- kratischer Sozialismusvorstellungen ging ein- land hingegen wird vornehmlich von Prekari- her mit einem unversöhnlichen ideologischen sierten unterstützt. Gleichzeitig sind Arbeiter Kampf gegen jede Abweichung vom sowjeti- und Prekarisierte unter den Mitgliedern aller schen Modell. In Westeuropa lösten sich einige Linksparteien in der Minderheit. In den skandi- kommunistische Parteien sich von der ideolo- navischen und mitteleuropäischen EU-Staaten gischen und organisatorischen Bindung an die treten überwiegend Angestellte und Angehö- KPdSU, andere spalteten sich. In Osteuropa rige der höher gebildeten Mittelschichten lin- ordneten sich die Staatsparteien dem Großen ken Parteien bei.4 Bruder in Moskau weiter unter.

Die Entstehung und programmatische Veror- Ein Kennzeichen der Linksparteien in tung der Parteien links von der Sozialdemokratie Europa ist folglich ihre Heterogenität. sind stets auch Produkt gesellschaftlicher Ver- Der Konföderalen Fraktion der Vereinig- änderungen und Auseinandersetzungen inner- ten Europäischen Linken/Nordisch-Grüne halb der Linken gewesen. Diese Veränderungen Linke (GUE/NGL) gehören 52 Abgeordnete stellten für die Linke jeweils drastische Zäsuren von 19 Parteien oder Wahlbündnissen an. dar, die die Herausbildung unterschiedlichster Die Abgeordneten kommen aus 14 Mit- Formen von Linksparteien förderten. gliedstaaten der EU. Der Charakter der Fraktion ist, wie der Name bereits verrät, Die erste Zäsur, die zur Herausbildung von Links- konföderal, das heißt jede Partei behält parteien in Europa führte, war die Spaltung ihre Eigenständigkeit und entscheidet ent- der Sozialdemokratie in der Folge von Erstem sprechend innerhalb des weiten Rahmens Weltkrieg, Oktoberrevolution und Gründung der Fraktion individuell. der Sowjetunion. Auch wenn es bereits zuvor vereinzelt Parteien links der Sozialdemokratie gegeben hatte, die auf revolutionärem Wege Die zunehmende europäische Integration, die zum Kommunismus bzw. Sozialismus gelangen Herausbildung neuer gesellschaftlicher Kon- wollten, entwickelten sich diese erst mit der fliktlinien und neuer grün-alternativer Bewe- Spaltung der Sozialdemokratie zu Parteien mit gungen sowie das Wachstum der Friedensbe- gesellschaftlicher Relevanz. wegung für (atomare) Abrüstung in den 1970er und 80er Jahren markierten eine dritte Zäsur 4 Vgl. Anna Striethorst: Mitglieder und Elektorate von Linksparteien in Europa, in: Daiber u.a., a.a.O., S. 89ff. für die Linke. Erstmalig kam es zur Herausbil-

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dung neuer linker Sammlungsparteien, die ihre und anderer moderner Linksparteien und die Wurzeln in den sozialen Bewegungen dieser gleichzeitig entstehenden sozial- und globalisie- Zeit hatten und über die klassische Vertretung rungskritischen Bewegungen Ende der 1990er von Arbeiterinteressen gegenüber dem Kapi- Jahre führten zur Formation neuer linker Samm- tal hinausreichende Forderungen stellten. Das lungsparteien. Diese fünfte Zäsur führte auch zu linke Parteienspektrum erweiterte sich damit einer Bündelung linker Kräfte und Parteien über um linkssozialistisch-ökologische Formationen. die Grenzen des Nationalstaates hinweg. Zwar Diese Parteien, die zunächst eher wie plurale hatten lose grenzüberschreitende Diskussions- Bewegungen und weniger wie klassische Par- zusammenhänge, wie das Forum der Neuen teien auftraten, setzten auf eine transformato- Europäischen Linken (NELF), seit 1990/91 exis- rische Strategie zur Überwindung des Kapitalis- tiert; einen verbindlichen Charakter der Koope- mus unter Berücksichtigung neuer gesellschaft- ration konnten diese aber nicht herstellen. 2004 licher Einstellungen und Werte. wurde ein europäischer Sammlungsprozess mit der Gründung der Europäischen Linkspartei Eine vierte Zäsur stellte – ganz besonders in den gewissermaßen nachgeholt. „realsozialistischen“ Ländern, aber auch in den Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EG), Die Entfesselung des Kapitalismus – genauer: dem Vorläufer der EU – der Fall der Berliner des sich ungezügelt bahnbrechenden Neolibe- Mauer und das Ende der Blockkonfrontation ralismus und der daraus entstehenden Domi- dar. Sozialistische bzw. kommunistische Staats- nanz der Finanzmärkte – führte ab 2007/2008 parteien verloren ihre Führungsrolle, lösten sich nicht nur zur bislang schwersten Wirtschafts- auf oder unterzogen sich inneren Reformpro- und Finanzkrise der Nachkriegszeit, sondern zessen, die durch äußere Umstände notwendig auch zur Entstehung neuer linker Anti-Auste- geworden waren. Viele dieser Parteien in Osteu- ritätsbewegungen. Diese sechste Zäsur mün- ropa wandelten sich in der Folge zu sozialdemo- dete teilweise in die Entstehung neuer politi- kratischen Parteien, wie in Polen oder Ungarn; scher Parteien oder bewirkte weitere Reformen andere unterzogen sich einem programmati- bereits bestehender Linksparteien wie in Spa- schen und demokratischen Wandlungsprozess, nien, Griechenland oder Frankreich. wie DIE LINKE in Deutschland, und gehören weiterhin dem Lager der Parteien links von der Sozialdemokratie an. Manche Parteien, die aus Die Europäische Linkspartei (EL) früheren Staatsparteien hervorgingen, wie etwa die tschechische KSČM, hielten an ihrer traditio- Nach der Überwindung der Blockkonfrontation nellen kommunistischen Orientierung fest. Aber geriet die Linke in Ost- und Westeuropa in die auch die bestehenden Linksparteien Westeuro- Defensive. Der Zusammenbruch des Staats- pas, wie jene des Eurokommunismus oder die sozialismus wurde zu einer Niederlage einer den neuen sozialen Bewegungen verbundenen, gesamten politischen Idee und damit zur Nie- gerieten in eine Legitimationskrise und unter- derlage linker Parteien insgesamt, unabhängig zogen sich inneren Reformprozessen. Dabei von ihrer ideologischen Ausrichtung. Um diese verschwanden manche von ihnen, wie beispiels- zu überwinden, wurden Koordination und weise die (Euro)Kommunistische Partei Italiens inhaltlicher Austausch auf europäischer Ebene (PCI), gänzlich von der Bildfläche. immer wichtiger. Im Forum der Neuen Europä- ischen Linken begann eine gemeinsame Suche Die sich nach der Auflösung der Blockkonfron- nach Reformvorstellungen, Aktionsmodellen tation rasant verstärkende europäische Inte­ und den erfolgreichsten Parteikonzepten für gration, die Krise klassischer kommunistischer eine reformierte Linke.

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Tabelle 2: Zäsuren der Linken in Europa

Sechs Zäsuren Zeitraum Linke Beispiele Oktoberrevolution und 1914-1923 Kommunistische Linke PCP, KKE, KPD, PCE, Erster Weltkrieg u. a. Prager Frühling 1968 Eurokommunistische PCF, PCI, PCE, KKE Linke reform Neue links-alternative 1970er bis Mitte Neugründung linksgrü- IU, , Linke, linksgrüne 1980er ne, linksalternative & Schwedische Linke, SP Neugründungen antiautoritäre Linke Niederlande, SYN Ende der Blockkon- 1989-1990 Plurale, demokra- PDS, PRC, Linksbund frontation tisch-sozialistische Finnland, Rot-grüne Linke & reformierte Einheitsliste Dänemark Staatsparteien Europäische Integra- Ende der 1990er Jahre Parteiallianzen unter Bloco de Esquerda, Dei tion & Antiglobalisie- bis Mitte der 2000er Einbindung der glo- Lénk Luxemburg, PRC, rungsbewegung Jahre balisierungskritischen SYN, IU Bewegungen Globale Wirtschafts- ab 2007/2008 Parteiallianzen unter Syriza, Podemos, Parti und Finanzkrise Einbindung der Anti- de Gauche Austeritätsbewegung

Zur Jahrtausendwende gründete sich die Euro- kratie, soziale Gerechtigkeit, Gleichstellung päische Antikapitalistische Linke (EAL), die stark der Geschlechter und Achtung vor der Natur“ durch trotzkistische und außerparlamentarische kämpfen.6 Insbesondere Themen wie die Ver- Linksparteien geprägt wurde. Ihr gelang es aber teidigung des Wohlfahrtsstaates, der Kampf kaum, politischen Einfluss zu generieren.5 Am gegen prekäre Beschäftigungsverhältnisse und 8. Mai 2004 wurde dann in Rom schließlich die Arbeitslosigkeit sowie kollektive Sicherheit und Europäische Linkspartei (EL) gegründet. Sie ver- Frieden stehen im Mittelpunkt. Ein weiteres sucht, eine gemeinsame politische Identität zwi- Thema, das 2004 noch nicht im Fokus stand, schen den Mitgliedsparteien herauszuarbeiten, aber heute die Politik der EL-Parteien beein- ohne dabei die Geschichte und die nationalen flusst, sind die Krise des Finanzmarktkapitalis- politischen Verhältnisse zu ignorieren. In der Par- mus und die Austeritätspolitik der EU. tei herrscht das Konsensprinzip. Zur EL gehören heute 31 Mitglieds- und offizielle Beobachter- Vorschläge der EL zur Überwindung der Krise parteien an, darunter auch solche aus Ländern, werden in erster Linie innerhalb des kapitalis- die nicht der EU angehören (Türkei, Moldawien, tischen Systems gedacht. Darin zeigt sich ein Weißrussland, Schweiz und Nordzypern). Nicht Dilemma: Die Notwendigkeit, konkrete und in der EL vertreten sind die wichtigen Linkspar- zeitnah umsetzbare Konzepte zum Vorteil teien aus Schweden und Norwegen. breiter Bevölkerungsschichten zu entwickeln, zwingt linke Parteien dazu, ein System zu stüt- Alle Mitgliedsparteien der EL weisen eine hohe zen, das sie eigentlich überwinden wollen. Dies Kohärenz in Bezug auf ihre Kernthemen auf; zeigt sich etwa in der Forderung nach einer sie wollen gemeinsam für „Frieden, Demo- stärkeren Regulierung des Finanzsektors. Die

5 Vgl. Martin Schirdewan: Links – kreuz und quer. Die Be- ziehungen innerhalb der europäischen Linken, Berlin 6 Vgl. Programm der EL, verabschiedet am 8. und 9.5.2004 2009, S. 69. in Rom, S. 1.

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Tabelle 3: Mitgliedsparteien der EL (inkl. Beobachterstatus)

Partei Land Bloco de Esquerda Portugal Izquierda Unida (IU) Spanien Partido comunista de España (PCE) Spanien Esquerra unida i alternativa (EuiA) Spanien (Katalonien) Partito dei Comunisti Italiani (PdCI) Italien Partito della rifondazione comunista (PRC) Italien Parti de Gauche (PG) Frankreich Gauche Unitaire (GU) Frankreich Parti Communiste Francais (PCF) Frankreich Syriza Griechenland Birleşik Kibris Partisi Zypern Yeni Kıbrıs Partisi Zypern Ανορθωτικό Κόμμα Εργαζόμενου Λαού (AKEL) Zypern Özgürlük ve Dayanışma Partisi (ÖDP) Türkei Българската левица (BL) Bulgarien Partidul Socialist Roman (PSR) Rumänien Partidul Comuniştilor din Republica Moldova (PCRM) Moldawien Magyarországi Munkáspárt 2006 Ungarn Komunistická strana Slovenska (KSS) Slowakei Komunisticka strana Čech a Moravy (KSČM) Tschechische Republik Strana demokratického socialismu (SDS) Tschechische Republik Kommunistische Partei Österreichs (KPÖ) Österreich Partei der Arbeit der Schweiz (PdA) Schweiz DIE LINKE Deutschland Communist Party Wallonie-Bruxelles (PC) Belgien Enhedslisten – De Rød-Grønne (EL) Dänemark Suomen kommunistinen puolue (SKP) Finnland Vasemmistoliitto (VAS) Finnland Eestimaa Ühendatud Vasakpartei (EÜVP) Estland Belarusian Рarty of the “Fair World“ (BSM) Weißrussland

Linken wollen der Krise mit einer Umvertei- Unter den Mitgliedsparteien der EL gibt es acht lung des Reichtums von oben nach unten, die Parteien mit mehr als 30 000 Mitgliedern und Binnennachfrage und Konjunktur ankurbeln stabiler parlamentarischer Präsenz. Daneben soll, begegnen. Der Fokus liegt auf der Forde- versammelt die EL auch mittelgroße Linkspar- rung staatlicher Investitionen und der Kritik des teien mit 8000 bis 17 000 Mitgliedern, die in Par- Rückzug des Staates von wichtigen ökonomi- lamenten vertreten sind. Darüber hinaus gibt es schen und sozialen Aufgaben. eine Vielzahl außerparlamentarischer Kleinpar-

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teien mit 5000 oder weniger Mitgliedern (wie Zuge der 6. Zäsur entstanden. Sie stellt im Unter- die Deutsche Kommunistische Partei oder die schied zur griechischen Schwesterpartei jedoch Kommunistische Partei Österreichs).7 Ingesamt keine linkssozialistische Parteienallianz, sondern vereint die EL über 500 000 Mitglieder. eine Bewegung mit Parteistatut dar.

Nicht alle Linksparteien in Europa lassen sich, Linksparteien in Europa auch aufgrund von parteiinternen Debatten und Flügelauseinandersetzungen, eindeutig zuord- Die Linksparteien in Europa befinden sich gegen- nen. Die dänische rot-grüne Einheitsliste etwa wärtig in sehr unterschiedlichen Phasen ihrer ist aus einer linkssozialistischen Parteienallianz Entwicklung. Während die skandinavischen Par- heraus entstanden, weist programmatisch aber teien alle ein starkes ökologische Profil haben auch Eigenschaften einer linksgrünen Formation und bemüht sind, übergreifende sozial-ökologi- auf. Die nebenstehende Tabelle bietet einen sche transformatorische Prozesse anzustoßen Überblick über die Einordnung der Parteien vor und nur noch rudimentär die Bezeichnung „sozi- dem Hintergrund ihrer Entstehungsgeschichte. alistisch“ im Namen oder Programm verwenden, sind andere Parteien, wie die PCF in Frankreich Deutlich wird, dass die unterschiedlichen Zäsu- oder PdCI und PRC in Italien, noch immer stark ren zur Ausformung spezieller Typen von Links- eurokommunistisch (2. Zäsur) geprägt. Der parteien führten. Diese füllten eine Lücke der Bloco de Esquerda (BE) aus Portugal und die SP politischen Vertretung, die die jeweils existieren- der Niederlanden sind stark aktionsorientiert den Linksparteien nicht zu besetzen vermochten. und stellen demokratisch-sozialistische Parteien Das bedeutet zugleich, dass es gleichzeitig unter- dar, die in zwei unterschiedlichen Phasen (SP 3. schiedliche Formen von Linksparteien gegeben Zäsur, BE 5. Zäsur) als Sammlungsparteien der hat und gibt, die ihre politische Relevanz im Par- neuen Linken entstanden sind. DIE LINKE und teienwettbewerb nachweisen können. die KSČM hingegen haben sich im Zuge der vierten Zäsur (1989-1990) herausgebildet und Im Folgenden sollen vier unterschiedliche Partei- unterschiedliche Entwicklungspfade eingeschla- formationen vorgestellt werden, die es möglich gen. Während DIE LINKE den demokratisch-so- machen, die Geschichte der Linken in Europa zialistischen reformierten staatssozialistischen und ihre Vielschichtigkeit nachzuvollziehen. Parteien zugerechnet werden kann, gehört die KSČM zum Lager der Kommunistischen Par- Zunächst werden die griechische „Koalition teien. Während etwa die Kommunistische Partei der Radikalen Linken“ (Syriza) und ihre aktuel- Portugals (PCP) eine klassische kommunistische len Herausforderungen als Regierungspartei Partei ist (1. Zäsur), ist die französische Parti de beschrieben. Syriza ist ein klassisches Parteien- Gauche (5. Zäsur) eine links-sozialdemokratische bündnis, welches im Zuge der Anti-Austeritäts- Formation. Als linkssozialistische Parteiallian- bewegungen und -proteste entstanden ist. Den- zen klassifiziert werden können die spanische noch reicht die Geschichte des konstituierenden Izquierda Unida (3. Zäsur) oder die griechische Teils – Synaspismos (SYN) – bis zur Spaltung der Syriza (6. Zäsur), deren dominanter Kern, Syn- Kommunistischen Partei 1968/69 zurück. Syna- aspismos, in der 2. Zäsur (1968/69) entstand. spismos selbst hat ihren Charakter im Zuge der Auch die spanische Podemos ist, wie Syriza, im Herausbildung neuer sozialer Bewegungen in 7 Die Mitgliedszahlen müssen freilich immer in Relati- den 1980er Jahren und der Antiglobalisierungs- on zum Bevölkerungsaufkommen in den jeweiligen bewegung in den 2000er Jahren wiederholt ver- EU-Staaten gesehen werden; vgl. Anna Striethorst: Mit- glieder und Elektorate von Linksparteien in Europa, in: ändert. Mit Syriza gelang es schließlich die Ent- Daiber u.a., a.a.O., S. 90 wicklung von einem Splitterbündnis mehrerer

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Tabelle 4: Untergruppen der Familie der Linksparteien in Europa (GUE/NGL & EL)8

Linksso- Linkssozi- Bewe- Refor- Reform- zialdemo- alistische Links-grü- gung mit mierte Kommu- kommu- kratische Parteialli- ne Partei- Parteista- Staatssoz. nisten nisten Parteien anzen en tut Partei Beispiele PCP, PCF, PdCI, SP, SDS, BE, Syriza, ÖDP, EL, Podemos DIE LINKE, KSČM, PRC, KPÖ, PdA, PG, IU, EuiA, VAS, SF, V KSČM, KSS SKP, DKP, PCE, AKEL SF, V GU, DIE PC, KSS, LINKE, EL, PCRM, PSR, BSM Alternati- Kommu- Kommu- Solidari- Demo­ Sozialöko- Basisde- Demo­ ve/Weg nistische nistische sche Ge- kratischer logische, mokrati- kratischer Gesell- Gesell- sellschaft Sozia- feminis- sche Ge- Sozialis- schaft, schaft, mit demo- lismus, tische sellschaft, mus vs. Revolution revolu- kratischen emanzipa- & nach- Volksde- komm. tionäre Beteili- torischer haltige Ge- mokra- Gesell- Transfor- gungs- Prozess sellschaft, tische schaft mation strukturen Transfor- Plebiszite mation Koopera- Avantgar- relativier- polit. breite ges. rot-grüne Bündnisse breite tionsfor- de te Avant- Bündnis- Bünd- Bündnisse der Bevöl- gesell. men garde se – Mit- nisse als und ge- kerungs- Bündnisse te-Links Vorausset- sellschaft- schichten vs. Avant- Koalitio- zung für liche gegen garde nen mit pol. Bünd- Bündnisse Oligarchi- (KSČM & Sozialde- nisse mit en KSS) mokratie Sozialde- mokratie

Kleinstparteien zur größten Oppositions- und teritätsparteien. Diese Form der Linken wird in dann zur Regierungspartei. Spanien durch Podemos repräsentiert, welche in dieser Studie ebenfalls vorgestellt werden soll. Die spanische Izquierda Unida (Vereinigte Linke, Podemos gehört zu den jüngsten Linksparteien IU) hat ihre Wurzeln in den neuen sozialen, alter- in Europa, die keine direkten historischen Vor- nativen Bewegungen der 1980er Jahre. Einfluss läufer hat. Man kann Podemos als Bewegung auf ihre Politik übt dennoch in hohem Maße die mit Parteistatut beschreiben, da sie zwar offiziell Kommunistische Partei Spaniens (PCE) aus. Im als Partei registriert, aber in ihrer Organisation Unterschied zu Syriza ist die IU nach wie vor eine kaum mit klassischen Parteien zu vergleichen ist. Allianz verschiedener (und teilweise regionaler) Linksparteien. Auch wenn sie in den Anti-Auste- Schließlich soll mit der bundesdeutschen DIE ritätbewegungen der vergangenen Jahre aktiv LINKE eine Partei vorgestellt werden, deren Wur- war, gehört die IU nicht zu den neuen Anti-Aus- zeln in einer reformierten staatssozialistischen Partei des ehemaligen Ostblocks liegen. Zwar 8 Vgl. auch Cornelia Hildebrandt: Fragmentierung und agiert sie seit der Fusion mit der westdeutschen Pluralismus von Linksparteien in Europa, in: Daiber u.a., a.a.O., S. 18f. WASG als gesamtdeutsche Partei, dennoch wer-

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den die programmatischen Inhalte noch immer samen Identität als Linkspartei arbeitet, setzt die stark von der Auseinandersetzung mit dem IU auf die Beibehaltung des Parteienbündnisses. gescheiterten Sozialismusversuch in Osteuropa Und während Podemos mehr Bewegung bleiben geprägt. DIE LINKE gehört zu den stabilsten und als Partei werden will, tritt DIE LINKE als klassi- größten Linksparteien in Europa und ist vor die- sche Parteiformation in den politischen Wett- sem Hintergrund eine tragende Säule der EL. bewerb um Mehrheiten. Allen vier Parteien ist gemein, dass sie dann erfolgreich sind, wenn sie Alle vier Parteien thematisieren vergleichbare Sammlungsprozesse anstoßen und die Pluralität programmatische Forderungen, begegnen den der Akteure miteinander verbinden. Im Unter- aktuellen politischen Herausforderungen aber schied zu klassischen kommunistischen Parteien mit unterschiedlichen strategischen und orga- proklamieren sie keine Avantgarderolle. Dabei nisatorischen Konzepten. Während Syriza nach zeigen diese Beispiele auch, dass die Linke in einem breiten gesellschaftlichen Sammlungs- Europa wieder eine Rolle beim Kampf um alter- prozess nun an der Herausbildung einer gemein- native Mehrheiten spielen kann.

2. Syriza und der europäische linke Frühling

Das Wochenmagazin „Der Spiegel“ verglich rend der griechischen Militärdiktatur (1967-1974) ihn einst mit Elvis Presley. Wenn er die Bühne illegalisierten KP trennte sich 1968 ein später als betritt, brechen seine Anhänger in Jubel aus – eurokommunistisch bezeichneter Flügel. Nach wie Anfang 2015, als vor tausen- dem Ende der Militärdiktatur entwickelte sich ein den Sympathisanten in Athen den Wahlkampf Teil der Eurokommunisten zur undogmatischen von Syriza einläutete. Während die regierende und den neuen sozialen Bewegungen nahe ste- konservative Nea Dimokratia (ND) in einem henden „Griechischen Linken“ (EAR) weiter. Ende Konferenzhotel in den Wahlkampf startete, für der 1980er Jahre, inmitten einer skandalbeding- die Sozialdemokratie (PASOK) gerade eine Cafe- ten Krise der sozialdemokratischen PASOK-Re- teria ausreichte und deren Ex-Chef Papandreou gierung, formte die EAR mit der marxistisch-leni- sein Spaltprojekt in einem Museum vorstellte, nistischen KKE die „Koalition der Linken und des kannte der Zustrom zu Syriza kaum Grenzen. Fortschritts – Synaspismos“ (SYN). Obwohl das Positiv beschrieben wurde Tsipras in den euro- Wahlbündnis von Anfang an ein fragiles Gebilde päischen Medien trotzdem selten. Kurz vor der war, erhielt es 1989 bei der Parlamentswahl 13 Parlamentswahl 2012 bezeichnete ihn das größte Prozent der Stimmen. Interne Auseinanderset- deutsche Boulevardblatt „Bild“ als Halbkriminel- zungen und der Kollaps der Sowjetunion führten len, der „mit gewalttätigen Anarchisten“ sympa- 1991 wieder zum Bruch, aber undogmatische thisiere. Auch zu Beginn des Jahres 2015 fielen Linke und sogenannte KKE-Reformer entschie- die medialen Beschreibungen für den charisma- den sich im Jahr darauf, das Bündnis Synaspis- tischen Parteichef wenig schmeichelhaft aus. mos in eine Partei umzuwandeln. 1996 gelang dieser neuen Formation der Einzug ins Parla- ment (Vouli). In den folgenden Jahren rang die Von Synaspismos zu Syriza Partei beständig darum, die geltende Dreipro- zenthürde zu überwinden. Die Gründungstage der griechischen Linkspar- tei beginnen mit der Spaltung der Kommunisti- Im Jahr 2000 erfolgte die erste große Spaltung schen Partei Griechenlands (KKE). Von der wäh- der Partei. Protagonisten des rechten Flügels

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wanderten zur Sozialdemokratie ab, und Synas- aller linken Kräfte geworben hatte, den Auftrag pismos rückte weiter nach links. Dies ermög- zur Regierungsbildung. Seine Versuche scheiter- lichte es der Partei, weitere linke Gruppen und ten aber. Tsipras’ Weigerung, eine Koalition mit die gerade erst in Europa entstehenden globa- PASOK einzugehen und stattdessen weiterhin lisierungskritischen Bewegungen einzubinden. für eine Linksregierung zu werben, ließen die Kurz vor der Parlamentswahl 2004 wurde so Umfragewerte für Syriza indessen weiter stei- zum ersten Mal die „Koalition der radikalen Lin- gen. Diese sagten ein Kopf-an-Kopf-Rennen mit ken – Syriza“ gebildet, welche aber nur etwa 3,3 ND für den nun notwendig gewordenen neuen Prozent der Stimmen errang. Das Wahlbündnis Wahlgang voraus. Größtes Hindernis für Syriza zerfiel daraufhin weitgehend. Erst 2007 konnte sollte aber nicht die ND, sondern eine Beson- Syriza wiederbelebt werden. Fundament der derheit des griechischen Wahlsystems sein. Die- teils weit auseinander stehenden Parteien und ses spricht der stärksten Partei 50 Bonussitze in Gruppierungen waren erneut der Kampf gegen dem gerade einmal 300 Sitze zählenden Parla- den neoliberalen Umbau Griechenlands und ment zu. Da nur Parteien und nicht Wahlbünd- die enge Bindung an neue soziale Bewegungen. nisse davon profitieren, ließ sich Syriza noch Trotz der Tatsache, dass auch maoistische und vor dem Urnengang am 17. Juni 2012 als Partei trotzkistische Gruppen in Syriza mitarbeiteten, registrieren. Syriza legte zehn Prozent zu und blieb Synaspismos stets die tragende Säule erzielte 26,9 Prozent, verfehlte aber knapp das des Bündnisses. Trotz einer tiefen EU-Skepsis Ziel, stärkste Partei zu werden. Die Steigerung innerhalb des Bündnisses gelang es, den Ver- des Wahlergebnisses von 4,6 (2009) auf 26,9 bleib Griechenlands in der EU programmatisch Prozent (2012) ist historisch beispiellos für die durchzusetzen. Linke in Europa. Dies wurde nur möglich, weil es der Linkspartei gelang, aus einem über zwei Nach dem mit fünf Prozent gestärkten Einzug Jahrzehnte fragilen Bündnis eine gemeinsame ins Parlament 2007 schlossen sich weitere linke, Partei zu formen, ohne den Charakter als brei- soziale und ökologische Gruppen dem Wahl- tes politisches Bündnis zu verlieren. bündnis an. Bei der Wahl 2009 ging der Stim- menanteil jedoch auf 4,6 Prozent zurück. Der Gemeinhin wird unter europäischen Linken immer wieder aufkommende Flügelstreit führte die Zeit nach dem Syriza-Wahlsieg vom Januar während der einsetzenden Finanzkrise beinahe 2015 als europäischer linker bzw. roter Frühling zur endgültigen Spaltung des Bündnisses. 2010 bezeichnet. Meiner Ansicht nach nahm dieser verließ dann ein großer Teil des rechten Flügels Frühling allerdings bereits Jahre vor der Regie- Synaspismos und gründete „als konstruktive, rungsübernahme seinen Anfang. Das seit vier linke Opposition“ zu PASOK die „Demokratische Jahren von einer verheerenden Wirtschafts- und Linke“ (DimAr). Der Parteiführung um Alexis Finanzkrise erfasste Griechenland hatte mit den Tsipras gelang es in der Folge, die neuen Spiel- Parlamentswahlen vom Mai und Juni 2012 Auf- räume zu nutzen, Synaspismos weiter zu öffnen merksamkeit in Europa erregt. Der Grund hier- und enttäuschte Mitglieder von PASOK, aber für lag, neben dem Abschneiden der Linken, in auch von der KKE, für eine Mitarbeit in Syriza der zunehmenden Fragmentierung des politi- zu gewinnen. schen Systems und der Unfähigkeit, in Athen zu stabilen Mehrheiten zu gelangen. Neu daran Bei der Wahl am 6. Mai 2012 erhielt Syriza dann war, dass sich nicht länger die Lager um ND und mit knapp 17 Prozent den zweitgrößten Stim- PASOK gegenüberstanden, sondern die Befür- menanteil. Nachdem Koalitionsversuche der worter und Gegner der Austeritätspolitk. Die bei- erstplatzierten ND gescheitert waren, erhielt den „Volksparteien“ sahen sich mit erstarkenden Tsipras, der immer für ein gemeinsames Bündnis politischen Rändern konfrontiert, die zuvor ledig-

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lich als Legitimationsgehilfen der Demokratie stand turnusmäßig zwei Monaten später an. Die fungiert hatten. Nie waren die kleinen Parteien Regierungskoalition, die nach dem Ausschei- an Koalitionsregierungen beteiligt gewesen, nun den von DimAr aus dem Regierungsbündnis aber brauchte man sie plötzlich. Die Zeiten des nur noch über eine knappe Mehrheit verfügte, bloßen Mehrheitenwechsels zwischen ND und ergriff die Flucht nach vorn und zog die Wahl des PASOK waren vorüber.9 neuen Staatspräsidenten vor. Damit wollte man Druck auf die eigenen Abgeordneten auszuüben Dass die beiden herrschenden Parteien den- und gleichzeitig die über den Haushaltsplan ver- noch zunächst an den Hebeln der Macht blieben, ankerte Sparpolitik durchzusetzen. Die Ankün- lag nicht nur an dem ungeheuren (medialen) digung, die Präsidentenwahl vorzuziehen, stand Druck aus Europa, sondern auch an der Linken zudem im Zusammenhang mit der Erklärung der in Griechenland. Die Linke – die in die drei Par- Euro-Gruppe, das „Rettungsprogramm“ verlän- lamentsparteien Syriza, KKE und DimAr gespal- gern zu wollen – sprich: das Land weiter unter ten war – sah sich nicht in der Lage zu gemeinsa- dem Diktat der Troika zu belassen. Dabei hatte mem Handeln. Vielmehr kultivierten DimAr und Samaras noch wenige Wochen zuvor in Aussicht KKE ihre Abneigung gegenüber Alexis Tsipras gestellt, dass die Spardiktate der Troika dem- und lehnten jede prä- sowie post-elektorale nächst ein Ende haben würden. Kooperation ab. Dass es im Juni 2012 schließ- lich doch noch für eine Koalitionsregierung aus Im den ersten beiden Wahlgängen verfehlte die ND und PASOK reichte, lag allerdings primär am Koalition mit nur 160 bzw. 168 Stimmen die not- Wahlsystem mit den 50 Bonussitzen für die ND. wendige Zweidrittelmehrheit für die Wahl des Zugleich aber hatte die Wahl gezeigt, dass Syriza Präsidenten. Für den dritten und letzten Wahl- nicht nur Protestwähler erreichte, sondern 27 gang, bei dem nur noch 180 Stimmen erforder- Prozent der Wähler hinter einer Anti-Austeritäts- lich waren, rechnete Samaras mit einer Zustim- politik versammeln konnte, die auf Gegenwehr mung von Abgeordneten der Parteien DimAr und auf gestalterischer Verantwortung fußte. and ANEL, die laut Umfragen bei vorgezogenen Dies illustriert zugleich, dass eine neue gesell- Neuwahlen nur schlechte Aussichten hatten, schaftliche Konfliktlinie ins Zentrum der Ausein- erneut ins Parlament einzuziehen. andersetzung in Griechenland gerückt war: die Austeritäts- und Troikapolitik. Syriza machte zwischen den Wahlgängen deut- lich, dass die Partei auf vorgezogene Neuwahlen bestand. Das griechische Volk müsse zunächst Syrizas Wahlsieg die Möglichkeit haben, über die Zukunft des Landes – den Haushaltsplan – abzustimmen. Die Abstimmung über eine neue Kürzungsrunde Nachdem auch der dritten Wahlgang am 29. im Haushaltsplan der konservativ-sozialdemo- Dezember 2014 der Koalition nicht die notwen- kratischen Koalition am 7. Dezember 2014 offen- dige Stimmenmehrheit von 180 Abgeordneten barte, dass die Regierung von Antonis Samaras erbracht hatte, rief Samaras Neuwahlen für den (ND) die Unterstützung von 180 Abgeordneten 25. Januar 2015 aus. im Parlament nicht mehr sicher hatte. Diese Stimmenanzahl ist laut Verfassung notwendig, Der Wahlkampf 2015 dauerte weniger als einen um einen neuen Staatspräsidenten (im dritten Monat, war aber ausgesprochen intensiv. Wer Wahlgang) zu wählen, und diese Abstimmung geglaubt hatte, die europaweite mediale und 9 Vgl. Dominic Heilig: Griechenland: Europa streitet wie- politische Kommentierung des Wahlkampfes der über Alternativen, 2012, sowie ders.: Die Parla- mentswahlen in Griechenland, 2012, beide www.rosa- 2012 sei intensiv gewesen, der wurde 2015 eines lux.de. Besseren belehrt. Man muss lange suchen, um

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eine Wahl in einem EU-Mitgliedstaat zu finden, Stichwortgeber für die konservative europa- die europaweit derart aufmerksam verfolgt weite Kampagne waren die konservative Nea wurde. Positiv gesehen hatte diese Wahl damit Dimokratia und ihr Regierungschef Samaras. – weit mehr als die im Jahr zuvor abgehaltene Sollte Tsipras die Wahl für sich entscheiden, Europawahl – eine europäische Dimension. werde das Land sich isolieren und ohne starke Nüchtern betrachtet muss man allerdings kon- Währung dastehen, warnte Samaras. Er betonte statieren, dass noch nie zuvor ein derart offen- immer wieder, dass das Land bereits eine siver Versuch unternommen wurde, von außen „weite und schmerzhafte Strecke an Einsparun- Einflussauf das Wahlverhalten in einem EU-Land gen und Konsolidierungen hinter sich gebracht“ zu nehmen. Dies war vor allem dem Umstand habe, was sich nun als vergeblich erweisen geschuldet, dass Syriza in den Umfragen führte, könnte. Ähnlich formulierte es der deutsche was den konservativen und sozialdemokrati- Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er schen Eliten in Europa einen gehörigen Schre- warnte Athen davor, den von der Troika verord- cken in die Glieder jagte. Sie befürchteten, damit neten „Reformkurs“ zu verlassen, und verwies eine symbolische Niederlage für ihre neoliberale auf die milliardenschweren Anleihekäufe der Kürzungspolitik zu kassieren, die zudem eine Europäischen Zentralbank (EZB), die direkt vor Sogwirkung auf die folgenden Wahlen in den dem Wahlsonntag in Athen begonnen hatten. Krisenstaaten Spanien, Portugal und Irland aus- Die Kampagne der politischen Rechten basierte üben könnte. Besonders in Deutschland, dem für also auf Angstmache und „Weiter so“. die aktuelle europäische Politik maßgeblichen EU-Staat, fühlten sich viele Politiker berufen, das „Syriza bringt die Hoffnung zurück“, war hinge- Wahlprogramm von Syriza zu kritisieren. Flan- gen das Motto der Linkspartei. Die Syriza-Kam- kiert von auflagenstarken Medien drohten Regie- pagne fußte auf zwei Säulen: dem Kampf um rungsmitglieder für den Fall eines Erfolges der Demokratie, das heißt die Rückgewinnung der Linkspartei mit einem Euroaustritt bzw. einem Souveränität der Griechen, und einem detail- Eurorausschmiss Griechenlands („Grexit“). liert ausgearbeiteten, aber allgemeinverständ- lich formulierten Wirtschaftsprogramm zur Diese Angriffe erzeugten auch Gegenwehr. Überwindung der Krise. Syriza hatte seit der Europaweit entwickelte sich ein Kampf zwi- Parlamentswahl 2012 zahlreiche namhafte schen den politischen Lagern – Troikabefür- Wirtschaftswissenschaftler um sich gescharrt worter vs. Linke – um die Hegemonie im grie- und ein eigenes Programm für die zukünftige chischen Parlament. Delegationen prominenter Regierungsarbeit ausarbeiten lassen.10 Kernfor- Linkspolitiker reisten zur Unterstützung nach derung war die Ablehnung des Memorandums Athen, organisierten Solidaritätsaktionen und (Troikaverträge) und dessen Ersetzung durch versuchten, die nationalen Regierungen unter ein alternatives Wirtschafts- und Sozialpro- Druck zu setzen, ihre Politik gegenüber Athen gramm. Dieses Programm basierte auf: zu korrigieren. Im Zuge dieser Auseinanderset- zung entwickelte sich erstmals ein europäisches ⇒⇒ B e e n d i g u n g d e r A u s t e r i t ä t s p o l i t i k u n d W i e - linkes Bewusstsein. Nachdem die EL Alexis Tsi- dereinsetzung der Kollektivverträge so- pras bereits 2014 als ihren Spitzenkandidaten wie Abschaffung arbeitsrechtlicher Vor- für das Amt des EU-Kommissionspräsidenten in schriften, die durch die Memoranden den Wahlkampf geschickt hatte, wurde er nun eingeführt wurden; erneut zu ihrem europäischen Kandidaten. Nie ⇒⇒ Bekenntnis zur Wiederbelebung der Wirt- zuvor hat der Wahlkampf einer Linkspartei über schaft, Ankurbelung des Arbeits­marktes

Ländergrenzen hinweg eine solch große Mobili- 10 Vgl. das Interview mit John Milios, in: „Neues Deutsch- sierung auch ihrer Partnerparteien bewirkt. land“, 22.1.2015.

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und Einführung eines fairen Steuersys- Ernüchternd hingegen war das Ergebnis der tems sowie eine demokratische Umge- ND-Abspaltung ANEL, die, ebenfalls knapp vor staltung des verkrusteten politischen Sys- PASOK, mit drei Prozent Verlust ins Parlament tems; einzog. Die aus Protest gegen die Troikapolitik ⇒⇒ Streichung des größeren Teils des nomi- hervorgegangene wirtschaftsliberale Partei To nellen Werts öffentlicher Schulden auf Potami blieb hinter den Erwartungen zurück einer Schuldenkonferenz; und erzielte sechs Prozent der Stimmen, etwas ⇒⇒ Einbeziehung einer Wachstumsklausel in weniger sogar als die Faschisten der „Goldenen die Rückzahlung der verbleibenden Morgenröte“. Klarer Wahlverlierer war – neben Schulden, so dass sie entsprechend der DimAr, die aus dem Parlament flog – die bishe- Wachstumsrate anstatt mit Haushaltsmit- rige konservative Regierungspartei unter Minis- teln getilgt werden; terpräsident Samaras. ⇒⇒ Europäischer New Deal für öffentli- che Investitionen, finanziert von der Syriza aber erzielte 36,3 Prozent und wurde zur Europäischen Investitionsbank.11 stärksten Partei. Damit hatte Alexis Tsipras den Wählerauftrag, die erste linksgeführte Regie- Dem Athener Parlament gehörten seit der Juni- rung in der Geschichte der EU zu bilden. wahl 2012 sieben Parteien an. Mit Ausnahme von DimAr konnten sich alle Hoffnungen auf einen Wiedereinzug machen. 2015 traten Der europäische linke Frühling ver- nun insgesamt 22 Parteien an. An der Grenze liert seine Blüten der Parlamentshürde bewegten sich in den Die ersten Wochen nach dem Syriza-Wahlerfolg Umfragen die sozialdemokratische PASOK, war die europäische Linke in euphorischer Stim- deren – vom ehemaligen PASOK-Vorsitzenden mung. „Wir sind in Athen gestartet, als nächstes und Ministerpräsidenten Giorgos Papandreou nehmen wir Madrid“, hieß es. Zum ersten Mal gegründete – Abspaltung KIDISO sowie die demonstrierten in den Hauptstädten Europas Unabhängigen Griechen (ANEL). Die erst 2014 Linke für und nicht gegen eine Regierung. gegründete Partei To Potami (Der Fluss) wurde in allen Umfragen sicher im Parlament gesehen. Doch die erste Bewährungsprobe für die neue griechische Regierung stand bereits im Februar Am Wahlabend des 25. Januar 2015 war früh- 2015 an, als weitere Zahlungen, noch mit der zeitig klar, dass Syriza stärkste Partei werden Vorgängerregierung in einem zweiten Hilfs­ würde. Auch zeichnete sich rasch ab, dass es paket ausgehandelt, durch Athen angewiesen Papandreou mit seiner Abspaltung KIDISO werden mussten, wofür wiederum frische Kre- nicht ins Parlament schaffen und seine - ehe dite der Eurozone nötig waren. malige Partei, die PASOK, mit 4,7 Prozent der Stimmen ein ganz schwaches Ergebnis einfah- Tsipras überstand diese Bewährungsprobe ren würde. Dies ist gerade noch ein Zehntel ebenso wie die linke Kritik in Europa, die sich der Stimmen, die die einstige Volkspartei nach gegen die Auswahl seines Koalitionspartners dem Sturz der Militärdiktatur in den 1980er ANEL sowie dagegen richtete, dass seiner Jahren sammeln konnte. Selbst die KKE lief mit Regierung keine einzige Frau in Ministerrang 5,5 Prozent noch vor PASOK ins Parlament ein. angehörte. Mit Blick auf seinen Koalitionspart- ner hatte Tsipras allerdings – nachdem die KKE 11 Vgl. das Regierungsprogramm: www.transform-net- noch am Wahlabend erklärt hatte, als Koaliti- work.net/de/fokus/griechenland-entscheidet/news/ onspartner nicht zur Verfügung zu stehen – nur detail/Programm/what-the-syriza-government-will-do. html. wenig Handlungsspielraum. Wollte er nicht sein

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Wahlversprechen brechen, mit keiner der tra- die Geister, die Verhandlungen nahmen eine genden Parteien des alten Systems zu koalieren, zunehmend personalisierte Form an. Wochen- blieb nur die Zusammenarbeit mit ANEL, einer lang wurde zwischen Syriza und den Vertretern rechtspopulistischen, klerikalen und chauvinis- von Internationalem Währungsfonds, Europäi- tischen Formation. Sie war von Ex-ND-Mitglie- scher Zentralbank und EU über eine Verlänge- dern gegründet worden, die aus Gegenwehr zu rung des Kreditprogramms für Griechenland den Sozialkürzungen der Regierung ihre Partei verhandelt. Auf dem ultimativen Treffen der verlassen hatten. Hier lag denn auch der Mini- Eurofinanzminister am 25. Juni konnte - letzt malkonsens der ungleichen Partner: die Auste- lich keine Einigung erzielt werden. EU-Ratsprä- ritätspolitik zu beenden. sident Donald Tusk sagte auf dem Treffen der Regierungschefs mit Blick auf Athen: „The game Im Frühjahr versuchte die Regierung Tsipras, is over“ – Das Spiel ist aus. Tsipras packte seine neue Bedingungen für einen Schuldenschnitt Koffer. Am folgenden Tag trat Tsipras mit der mit den Mitgliedern der Eurozone auszuhan- Erklärung an die Öffentlichkeit, dass er sich ent- deln. Viele Linke hegten große Hoffnungen auf schieden habe, den Griechen die letzten Bedin- einen Kurswechsel in Europa, auf eine Alterna- gungen der Gläubiger zur Fortsetzung des seit tive zu Austeritätsdiktat und deutscher Krisen- 2012 laufenden Kreditprogramms zur Volks- politik. Angesichts der realen Kräfteverhältnisse abstimmung vorzulegen. Gleichzeitg bat er die begann man allerdings schon zu ahnen, dass Bevölkerung um ihre Ablehnung, da das vorge- es zunächst um „Kompromisse des Zeitge- legte Papier „schlimmer als das ursprüngliche winns und des Offenhaltens von Spielräumen“ Memorandum von 2010“ sei. Das europäische gehen würde.12 Man habe „mehr verhandelt Establishment war entsetzt. als regiert“, sollte Alexis Tsipras später im Euro- paparlament erklären. „Unter Umständen des Dieses Vorgehen lag aus der Sicht von Syriza finanziellen Erstickens waren unsere Fürsorge, nahe – schließlich ging es der Partei, neben der unsere Sorge, unsere Überlegung mehr, wie wir Bewältigung der Krise im Land, auch um eine es schaffen werden, die griechische Wirtschaft Demokratisierung des europäischen Währungs- am Leben zu erhalten.“13 systems. Dennoch konnte sich der Ministerprä- sident alles andere als sicher sein, ob er eine Ende Juni jedoch war klar, dass es zu keiner Eini- Mehrheit für sein OXI (Nein) bekommen würde. gung zwischen Athen und der Eurogruppe kom- Weil sich in den Verhandlungen nichts bewegte, men würde. Tsipras war den Gläubigern in den war die Kritik im eigenen Lager in den Wochen unzähligen Verhandlungsrunden weit entgegen- zuvor lauter geworden. Während einige mehr gekommen, doch suchten diese gar keinen Kom- Zugeständnisse forderten, verlangten andere promiss. Sie wollten diese Regierung so rasch einen härteren Kurs gegenüber Brüssel und wie möglich wieder loswerden – aus prinzipiellen brachten einen Grexit ins Spiel. Viele Menschen Gründen, aber auch als Signal an andere Krisen- in Griechenland vermissten angekündigte staaten, in denen ebenfalls Wahlen anstanden Reformen – diese aber waren für die Regierung und die Linke immer stärker wurde. nur machbar, wenn dafür auch die Grundlagen bestünden, sprich: die Gläubigerbedingungen Besonders an der Person des griechischen geändert würden. Auch innerhalb der EL wuchs Finanzministers, Yanis Varoufakis, schieden sich die Kritik an Tsipras. Alternativen aber formu- lierten seine Kritiker nicht. 12 Tom Strohschneider, Nach dem Frühling, in: ND-Dos- sier: Deutsch-Europa gegen Syriza. #ThisIsACoup, 2015, Was auf die Ankündigung Tsipras’ folgte, glich S. 3. 13 Zit. nach ebd. dem Januar-Wahlkampf: Europäische Politiker,

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allen voran aus Deutschland, mischten sich diesem so nicht erwarteten Abstimmungssieg. öffentlich ein und machten Stimmung gegen Noch einmal hatte es Syriza gegen alle Wider- das von Syriza verlangte Votum. Eurogruppen- stände des Establishments, gegen Merkel und chef Jeroen Dijsselbloem bezeichnete das Refe- die Eurogruppe geschafft. Die Wut der Neolibe- rendum als eine „traurige Entscheidung für Grie- ralen war auch deshalb so groß, weil die Zahlen chenland“, mit der die Tür zu weiteren Gesprä- aus Griechenland so beeindruckten: Die 18- bis chen zugeschlagen worden sei.14 Entsprechend 24-Jährige sagten zu 85 Prozent Nein zur Auste- diskutierte die Eurogruppe eine temporäre Ban- ritätspolitik, die Angestellten im öffentlichen Sek- kenschließung und Kapitalverkehrskontrollen in tor zu über 70 Prozent und fast 73 Prozent der Griechenland – bis zum Referendum, welches Erwerbslosen. Doch die Gretchenfrage war: Wie bereits eine Woche später stattfinden sollte. Die würde es nun weitergehen? EZB drängte die griechische Regierung, diesen Maßnahmen zuzustimmen. Den Rahmen für Am Tag nach dem Referendum trat Finanzmi- Ausfallkredite für griechische Banken hingegen nister Yiannis Varoufakis mit der Begründung, wollte die EZB nicht ausweiten; auf diese Weise er wolle den Konflikt in der Eurogruppe entper- sollte der Druck auf Athen verstärkt werden. sonalisieren und den Weg für neue Verhand- lungen freimachen, von seinem Amt zurück. Diese Schritte zeigen, dass die EZB eine Politik Sein Nachfolger, Efklidis Tsakalotos, der bereits betrieb, die sich gegen die gewählte Regierung zwei Tage nach dem Referendum in Brüssel die richtete. Athen musste der Schließung der Ban- Verhandlungen übernahm, drang aber mit sei- ken eine Woche vor dem Referendum zustim- nen Vorschlägen ebenso wenig durch wie zuvor men; ab sofort konnten die Bürgerinnen und Varoufakis. Längst ging es nicht mehr um Grie- Bürger nur noch 60 Euro pro Tag abheben. Die chenland, sondern um die Frage, ob der Euro Wirtschaft in Griechenland kam praktisch zum zu einer Zwangsjacke würde, in der Demokratie Erliegen. Der bundesdeutsche Wirtschaftsmi- keinerlei Bewegungsspielraum mehr habe. nister, Sigmar Gabriel (SPD), erklärte das Refe- rendum sogar zur Grexit-Frage: Ein Nein wäre, Am Donnerstagabend nach dem Referendum so der SPD-Vorsitzende, ein klares Zeichen übersandte die griechische Regierung ein neues gegen einen Verbleib im Euro. Eurogruppen- Papier an die EU-Institutionen mit neuen Vor- chef Dijsselbloem stimmte dem zu: „Sollten die schlägen, die den alten Bedingungen der Gläu- Griechen beim Referendum mit OXI votieren, biger weit entgegenkamen. Insgesamt sollte gibt es nicht nur keine Basis für ein neues Kre- das Volumen der Maßnahmen aus Ausgaben- ditprogramm, sondern dann ist es sehr fraglich, kürzungen und Einnahmesteigerungen rund ob es überhaupt eine Basis für Griechenland in 13 Mrd. Euro betragen. Im Gegenzug wollte der Eurozone gibt.“15 Athen Kredite aus dem Europäischen Stabili- tätsmechanismus in Höhe von mindestens 53,5 Umfragen deuteten lange auf ein knappes Ren- Mrd. Euro über drei Jahre, um bis 2018 Schul- nen zwischen dem OXI-Lager der Linken und den bezahlen zu können, ein Investitionspaket jenen, die gegen die Regierung Tsipras votieren sowie Zugeständnisse beim Primärüberschuss wollten. Am 5. Juli jedoch wurde das Referendum und bei Schuldenerleichterungen. zu einem fulminanten Sieg des Tsipras-Lagers, das auf 61,3 Prozent kam. Noch einmal atmeten Manche Linke in Europa sahen dieses Papier griechische und europäische Linke gemeinsam als Umdeutung oder gar als „Verrat“ am OXI, auf. Noch einmal zogen Linke in Europa Kraft aus und auch der linke Syriza-Flügel begehrte auf

14 Zit. nach ebd., S. 5. und verlangte den Austritt des Landes aus 15 Zit. nach ebd., S. 7. dem Euro. Tsipras widersprach dem Euroaus-

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tritt vehement und bat das Parlament um ein und in Europa war geschockt. Infolge des mit Mandat für weitere Verhandlungen. Der Minis- den Gläubigern vereinbarten Kreditprogramms terpräsident erhielt zwar eine satte Mehrheit, verlor Tsipras endgültig die Mehrheit im Par- aber die Regierungskoalition verfehlte zugleich lament, weil Mitglieder des linken Flügels das ihre eigene Regierungsmehrheit. Einen Tag spä- Abkommen nicht mittragen wollten. In mehre- ter drohte der bundesdeutsche Finanzminister ren Abstimmungen über den Reformkurs der erneut: Entweder die griechische Regierung Regierung verweigerte bis zu ein Drittel der akzeptiere die Bedingungen der Gläubiger oder Fraktion Tsipras die Gefolgschaft. Mehrheiten sie müsste die Eurozone verlassen. Damit stand erhielt die Regierung nur durch Stimmen der der deutsche Vorschlag eines (befristeten) Opposition. Am 20. August erklärte Tsipras des- Euro-Ausstiegs Athens auf der Tagesordnung. halb seinen Rücktritt als Ministerpräsident, um den Weg für Neuwahlen frei zu machen. Am 12. Juli trafen die Regierungschefs der Euro- zone zusammen und verhandelten bis in die Der als „linke Plattform“ organisierte Syriza-Flü- Nacht. Tsipras erhielt dabei keinerlei Unterstüt- gel trat daraufhin aus Fraktion und Partei aus zung aus anderen Mitgliedstaaten. Später würde und gründete am 21. August die Partei Laiki das Wort vom „mentalen Waterboarding“ die Enotita – Linke Volksunion (LAE). Die neue Par- Runde machen. In jedem Fall muss der Druck auf tei ging selbstbewusst in den Wahlkampf und den Regierungschef, der vor die Wahl zwischen wollte drittstärkste Kraft im Parlament werden. Euro-Rauswurf und einem schlechten Gläubi- Man befürwortete zudem den Austritt Grie- ger-Paket gestellt wurde, enorm gewesen sein.16 chenlands aus dem Euro.

Am nächsten Morgen stand fest: Tsipras akzep- Bei der vorgezogenen Neuwahl am 20. Septem- tiert die Forderungen der Eurogruppe. Es sei ber 2015 schließlich siegte Syriza mit 35,5 Pro- „in diesem harten Kampf“ gelungen, begrün- zent (minus 0,8%) und nahm 145 von 300 Par- dete er, eine Umstrukturierung der Schulden lamentssitzen ein. Das zweite Kabinett Tsipras, zu erreichen; außerdem liege mit dem neuen erneut eine Koalitionsregierung mit ANEL, ESM-Programm eine Lösung auf dem Tisch. wurde drei Tage nach der Wahl vereidigt. Die Zugleich sprach Tsipras aber auch von „unse- Ergebnisse der übrigen Parteien lagen ganz nah rer verlorenen demokratischen Souveränität“. bei jenen, die sie im Januar erzielt hatten; die #ThisIsACoup wurde zum Hashtag Nr.1 in den Syriza-Spaltung LAE schaffte den Einzug in den sozialen Medien. Die Linke in Griechenland Vouli indes nicht.

3. Der schwarze Herbst der Linken in Europa: Die Linke in Spanien

Die politische Landschaft Spaniens ist seit dem diesen beiden Blöcken und an den politischen Ende der Franco-Diktatur 1975 durch eine starke Rändern befinden sich weitere kleinere, oft regi- Polarisierung gekennzeichnet. Diese drückt sich onale Formationen und Parteien. Diese Block- im Kampf zweier politischer Blöcke aus, bei dem konfrontation wurde durch die Proteste gegen auf der einen Seite die Spanische Sozialistische die Austeritätspolitik der Zentralregierung mit Arbeiterpartei (PSOE), auf der anderen die kon- der Entstehung neuer Parteien, die sich keinem servative Volkspartei (PP) dominieren. Zwischen der beiden Blöcke zuordnen wollen, aufgebro- 16 Vgl. ebd., S. 12. chen. Vielmehr sehen sich diese – allen voran die

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Bewegung mit Parteistatut Podemos – als Bewe- und ermordet. Viele gingen ins Exil, vor allem in gungen gegen die alte Politoligarchie. die Sowjetunion und nach Frankreich.17

Die Regionalisierung Spaniens allerdings wurde Bis zu ihrer Legalisierung am 9. April 1977 ope- auch durch diese neuen Bürgerparteien nicht rierte die Partei illegal.18 Bei den ersten freien aufgebrochen. Noch heute begünstigt diese Wahlen 1977 erreichte die PCE 9,4 Prozent der Regionalisierung und das daraus abgeleitete Stimmen. Zu dieser Zeit stand sie in einem Bünd- Wahlsystem die Herausbildung regionaler Par- nis mit der Sozialistischen Arbeiterpartei, der teien. So hat es insbesondere eine landesweit Coordinación Democratica, gegen die Reprä- verankerte Linke schwer, sich zu behaupten, sentanten des alten Regimes. Beim Urnengang zum Leidwesen der linkssozialistischen Partei- 1979 konnte die PCE ihr Ergebnis sogar auf 10,8 enallianz Izquierda Unida (IU). Prozent verbessern. Die Geschichte der Partei lässt sich in fünf Phasen unterteilen:19

Izquierda Unida: Die Linke vereint 1. Abspaltung von der PSOE und Gründung der PCE; Am 15. April 1920 gründete sich aus der Ju- 2. Spanischer Bürgerkrieg und Etablierung gendorganisation der Sozialistischen Arbeiter- der PCE; partei die Partido Comunista Español (PCE). 3. Illegalität und Hinwendung zur KPdSU; Gleichzeitig hatten Mitglieder der Sozialistischen 4. Legalisierung und Akzeptanz der konstituti- Partei versucht, ihre Partei zum Beitritt zur Kom- onellen Monarchie; munistischen Internationale zu bewegen. Statt- 5. Sozialistische Wende und Herausbildung dessen trat die SP der Internationalen Arbeits- neuer Bündnisse. gemeinschaft Sozialistischer Parteien bei. Die Befürworter der Kommunistischen Internatio- Seit den 1960er Jahren trat die PCE zunehmend nale erklärten daraufhin ihren Austritt und grün- moderat auf. Diese Strategie zeigte Erfolg, deten am 13. April 1921 die Partido Comunista wie die Wahl von 1979 belegte, war aber auch Obrero Español (PCOE). Beide noch jungen kom- Anlass für innerparteiliche – insbesondere das munistischen Parteien – die PCE und die PCOE Verhältnis der Partei zur Sowjetunion und zur – schlossen sich am 14. November 1921 zur Par- KPdSU betreffende – Auseinandersetzungen.20 tido Comunista de España (PCE) zusammen. Schließlich löste sich die Partei vom Einfluss der KPdSU, wandte sich dem Eurokommunismus zu Ende der 1920er Jahre setzte sich in der Par- und akzeptierte das demokratisch-parlamenta- tei eine pro-sowjetische Ausrichtung durch, in rische System in Spanien.21 deren Folge es zu Abspaltungen und Austritten kam. Bei der Ausrufung der Zweiten Spanischen 17 Vgl. Andreas Baumer: Jenseits der Pyrenäen. Parteien- Republik 1931 trieben die internen Konflikte die systeme und gesellschaftliche Konflikte in Spanien und Portugal, in: Edith Ulrich und Gerd Mielke (Hg.): Gesell- Partei an den Rand des Zusammenbruchs. Die schaftliche Konflikte und Parteiensysteme, Länder und PCE beteiligte sich aktiv an den 1934 einsetzen- Regionalstudien, Wiesbaden 2001, S. 144. den Arbeitererhebungen des Landes und schloss 18 Vgl. Walther Bernecker: Spanien-Lexikon. Wirtschaft, Po- litik, Kultur, Gesellschaft, München 1990, S. 338. sich bei den Wahlen 1936 der Frente Popular 19 Unterteilung in Anlehnung an Rainer Schultz (der nur (Volksfront) an. In dem 1936 beginnenden Spa- vier Phasen sieht); vgl. Rainer Schultz: Linksdemokra- nischen Bürgerkrieg, der bis 1939 andauerte, tische Parteien in Spanien. Facetten und Entwicklung, RLS-Studie, Januar 2003, S. 4. erfuhr die PCE starken Zulauf und steigerte ihre 20 Vgl. Fred A. Lopez III: Bourgeois State and the Rise of Mitgliederzahl auf rund 200 000. Mit der Nieder- Social Democracy in Spain, in: Ronald H. Chilcote u. a. (Hg.): Transition from Dictatorship to Democracy. Com- schlagung der Republik wurde die PCE verboten, parative Studies of Spain, Portugal and Greece, New und ihre Mitglieder wurden unter Franco verfolgt York 1990, S. 17-72, hier S. 53f.

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Bei den Wahlen 1982 stürzte die Partei auf nur tierte, stellte der NATO-Beitritt 1982 für die noch 4,1 Prozent der Stimmen ab. Die nach wie noch junge Demokratie, im Kontext des Kalten vor zentralistischen Strukturen konterkarierten Krieges und angesichts der atomaren Offen- die programmatische Öffnung und Hinwen- sive der Reagan-Administration, einen politi- dung der Partei zum Eurokommunismus. Als schen Wandel dar. Zahlreiche Wähler waren Erklärung für den Stimmenverlust muss aber vom „Umfallen“ der PSOE enttäuscht, wandten auch die Polarisierung der politischen Ausein- sich ab und waren fortan in Bürgerbewegun- andersetzung zwischen PSOE und PP gesehen gen gegen die NATO-Mitgliedschaft aktiv. werden. Denn Ende der 1970er Jahre hatte sich die Sozialistische Arbeiterpartei als Alternative Über diese Auseinandersetzungen etablierte zu der bis dahin regierenden Unión de Centro sich eine neue Kraft links der PSOE. Aus der Democrático (UCD), einer bürgerlichen Partei „Plataforma Civica por la salida de España de der rechten Mitte, etabliert. Die Regierungs- la OTAN“ entwickelte sich 1986 das Wahlbünd- krise der UCD verschärfte sich, als die Partei nis „Plataforma de la Izquierda Unida“, das den unter der spanischen Bevölkerung unpo- 4,6 Prozent erreichte und 1989 schließlich 9,1 pulären NATO-Beitritt Spaniens zum Wahl- Prozent der Wählerstimmen einfuhr.22 1992 kampfthema machte. Dies ermöglichte es der erfolgte schließlich die offizielle Registrierung PSOE, die absolute Mehrheit zu erringen und der „Vereinigten Linken“ als spanische Partei, bis 1996 ununterbrochen zu regieren.21 die sich aus acht Gründungsparteien zusam- mensetzte.23 Mit dem Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft (EG) 1986 setzte dann in Spanien ein starkes Trotz des Umstandes, dass die IU als eigenstän- Wirtschaftswachstum ein, das oft mit dem deut- dige politische Partei registriert und öffentlich schen „Wirtschaftswunder“ verglichen wird. Der aktiv ist, besitzt die IU also primär den Charak- Aufschwung zog im bis dato wirtschaftlich rück- ter einer Parteienallianz, in der die konstituti- ständigen Land massive Veränderungen hin- ven Mitgliedsparteien ihre formale, rechtliche, sichtlich politischer Einstellungen, sozialer Ver- organisatorische und politische Eigenständigkeit haltensweisen und kultureller Orientierungen behalten. Diese Tatsache führt immer wieder nach sich. Vor allem die Strukturfördergelder zu Spannungen unter den Mitgliedsorganisatio- der EU trugen zur Auflösung des klassischen nen, vor allem im Hinblick auf die Besetzung von Proletariats in Spanien bei. Damit verlor die Wahllisten, die finanziellen Ressourcen und die PCE weite Teile ihrer Basis. Auf die Auswirkun- programmatische Ausrichtung. Die Partei unter- gen der Globalisierung der Wirtschafts- und teilt sich in 17 Regionalorganisationen, die paral- Finanzabläufe hatten die Linken, das heißt die lel zu den teilweise auch regionalen Organisati- Bewegungen und Parteien links der PSOE, keine Antwort. 22 Vgl. Juan J. Linz und José Ramón Montero: The party systems of Spain. Old cleavages and new challenges, in: Die linkssozialistische Parteienallianz Izquierda Lauri Karvonen und Stein Kuhnle (Hg.): Party Systems and Voter Alignments Revisted, London/New York 2001, Unida nahm ihren Anfang nicht als Partei, S. 163ff. sondern – wie Syriza oder Synaspismos – als 23 Bis auf die PCE und das Colectivo de Unidad verließen loses Wahlbündnis, gruppiert um die Frage der die anderen Gründungsparteien die IU allerdings in den Jahren zwischen 1987 und 2001 wieder. Heute gehören NATO-Mitgliedschaft. Obwohl Spanien bereits der IU auch viele regionale Parteien an, z.B. die katala- seit 1950 Militärbasen des US-Militärs akzep- nische Esquerra Unida i Alternativa, der linksalterna- tiv-trotzkistische Espacio Alternativo, das Colectivo de Unidad und die kleineren trotzkistischen Gruppen Cua- 21 Vgl. Marita Müller: Politische Parteien in Spanien (1977- dernos Internacionales, Nuevo Claridad, Partido Obrero 1982). Interne Konflikte und Wahlverhalten, Saarbrü- Revolucionario sowie die Partido Revolucionario de los cken 1994, S. 46ff. Trabajadores – Izquierda Revolucionaria.

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onen der IU-Mitgliedsparteien die Politik vor Ort In der Legislaturperiode 2004-2008 tolerierte vertreten. Die IU versucht seit ihrer Gründung, die IU eine Minderheitsregierung unter José ihr pluralistisches Profil zu stärken und sich den Luis Rodríguez Zapatero (PSOE), konnte dabei neuen globalisierungskritischen und sozialen aber kaum eigene Inhalte durchsetzen. Die Tat- Bewegungen zu öffnen bzw. als Teil dieser in den sache, dass die PSOE die IU in relevanten Fragen verschiedenen Sozialforen auf regionaler, natio- ausbootete und stattdessen das Bündnis mit nalstaatlicher, europäischer und globaler Ebene der konservativen Oppositionspartei PP suchte, aktiv zu sein. Im Bericht an die siebte Generalver- schwächte die Vereinte Linke ebenso wie eine sammlung der IU vom Dezember 2003 bekennt generell gegen die IU gerichtete PSOE-Strate- sich die IU ausdrücklich zum Sozialismus. Sie gie des voto útil (nützliche Stimme) bzw. voto kämpft für eine Gesellschaft, die „partizipativ, kri- de miedo (Stimme der Angst). Bereits vor dem tisch und alternativ zu dem dominanten Modell“ nationalen Kongress am 15./16. November ist.24 Dazu gehören nach Ansicht der Mitglieder 2008 kündigte der IU-Generaldirektor Gaspar der Pazifismus ebenso wie ökologische -Stand Llamazares seinen Rückzug an. Der von har- punkte und der Feminismus.25 ten Auseinandersetzungen geprägte Kongress bestimmte zwar einen neuen Vorstand, konnte Die Verbindungen der Partei zu den Gewerk- sich aber auf keinen neuen Vorsitzenden eini- schaften erfolgt hauptsächlich über die Mitglied- gen. Am 14. Dezember wählte schließlich der spartei PCE, die eng mit der größten Gewerk- IU-Vorstand das PCE-Mitglied Cayo Lara zum schaft des Landes, die Comisiones Obreras (CC. neuen Generaldirektor. Dieser versuchte, das OO.), verbunden ist. Die Tatsache, dass die PCE strategische Bündnis seines Vorgängers Llama- sich bereits 1986 dafür entschied, aktiv an der zares mit der regierenden PSOE wieder zu lösen Herausbildung des Wahlbündnisses mitzuar- und die Eigenständigkeit der IU zu betonen. beiten und die IU schließlich in eine Partei zu transformieren, federte die Auswirkungen des Scheiterns des real existierenden Sozialismus Spanien: ein krisengeschütteltes Land 1989 für die PCE ab. So konnte das sehr gute Abschneiden des Wahlbündnisses bei der Par- Die bis 2011 regierende PSOE von Ministerprä- lamentswahl 1989 mit 9,6 Prozent der Stimmen sident Zapatero erlitt bei den Regionalwahlen vier Jahre später sogar noch verbessert werden, im Mai des Jahres eine krachende Niederlage als die Partei 10,5 Prozent erhielt. Dieses her- und sackte landesweit auf 27,8 Prozent ab (2007 vorragende Ergebnis konnte bei den folgenden ca. 35 Prozent). Hochburgen wie Sevilla oder Wahlen allerdings nicht wiederholt werden. Barcelona gingen verloren. Von der Schwäche der Partei profitierte vor allem die konserva- Parallel zu den ausbleibenden Wahlerfolgen tive Oppositionspartei, Partido Popular (PP). Sie wuchsen die politischen, strategischen und pro- zog in nahezu alle Regionalregierungen ein und grammatischen Auseinandersetzungen inner- erreichte im Landesdurchschnitt 38 Prozent der halb der IU. Vor allem die PCE, die lange Zeit Stimmen. Im Mai wählten viele Spanier auch defensiv und im Verhältnis zu ihrer relativen „ungültig“, um ihren Protest und ihre Solidari- Stärke zurückhaltend in der Parteiallianz agiert tät mit den seit dem 15. Mai 2011 andauernden hatte, erhob nun wieder Anspruch auf mehr Massenprotesten (Bewegung des 15. Mai auf Einfluss in deren Gremien. der Puerta del Sol in Madrid) zu bezeugen.

Für die IU waren die Regionalwahlen ein ers- 24 Vgl. Beschluss der VII. IU-Generalversammlung, Dezem- ter Hoffnungsschimmer nach stetig sinkenden ber 2003, S. 3, www1.izquierda-unida.es. 25 Vgl. Paola Giaculli: Parlamentswahl in Spanien, in: „DIE Wahlergebnissen in den vorausgegangenen LINKE International“, Juli 2008. Jahren. Sie konnte sich so, vor allem indem

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sie enttäuschte PSOE-Wählermilieus für sich damit bei 22 Prozent, die Jugendarbeitslosig- gewann, landesweit auf 6,3 Prozent der Stim- keit sogar bei rund 50 Prozent. Eine gesamte men steigern und drittstärkste Partei werden. Generation hatte so keine Zukunftschance. Auch profitierte die Linkspartei von den mas- Daran hat sich bis heute wenig geändert. Die siven sozialen Protesten gegen die Sparpro- neoliberalen Rezepte der PSOE-Regierung zur gramme der Regierung, da ihre Mitglieder von Lösung der Krise waren dieselben wie unter Beginn an in der Protestbewegung aktiv gewe- PASOK in Griechenland (Papandreou) und PS sen waren. Nach den Regionalwahlen verfügte in Portugal (Sócrates): Ausgabenkürzungen auf sie über 58 Bürgermeister, die mit absoluter Kosten der Bevölkerung bei der Bildung, im Mehrheit, und 53 Bürgermeister, die mit relati- Gesundheitswesen, bei den Renten und Löh- ver Mehrheit gewählt wurden. Auch im Hinblick nen im öffentlichen Dienst. Zusätzlich sollten auf die Wahlen zu den Regionalparlamenten die öffentlichen Kassen durch Privatisierung konnte die IU ihre Sitzanzahl ausbauen.26 der öffentlichen Daseinsvorsorge aufgefüllt werden. Im Gegenzug wurden Stützungskre- Kurz nach den für die PSOE enttäuschenden dite für Banken und Steuererleichterungen für Regionalwahlen rief Ministerpräsident Zapatero Unternehmen in Milliardenhöhe beschlossen. vorgezogene Neuwahlen für den 20. Novem- ber 2011 aus und erklärte, selbst nicht wieder Mit der Wahl des neuen Vorstandes unter der antreten zu wollen. Leitung von Cayo Lara machte sich die IU auf den Weg zu einer „Neugründung der Parteien- Spanien war 2011 von der weltweiten Wirt- allianz“. Erster Schritt war die kontinuierliche schafts- und Finanzkrise besonders schwer ge- Mitgliederwerbung und -erfassung, zweiter der troffen worden. Der Boom des „Wirtschafts- Ausbau der partizipativen Demokratie in der wunders“ war vorbei, er hatte – vor allem mit Partei, dritter Schritt dann die Beseitigung der Blick auf den Bau- und Immobiliensektor – auf schlechten Beitragszahlungsmoral. Die Vereinte tönernen Füßen gestanden. Angetrieben vom Linke konnte sich bei der Parlamentswahl 2011 Hype am Finanz- und Aktienmarkt zu Beginn auf die größte spanische Gewerkschaft (CC.OO.) des Jahrzehnts waren an den Peripherien der stützen und profitierte zudem von den neuen Metropolen neue Satellitenstädte entstanden, Protestbewegungen und enttäuschten Wählern deren Wohneinheiten mit bis zu 120 Prozent der PSOE. Cayo Lara trat im Wahlkampf als „par- belehnt wurden. Das Ergebnis der dann 2008 lamentarischer Indignado“ auf und warb dafür, geplatzten Immobilienblase war in Spanien die Wahl nicht zu boykottieren, sondern der IU besonders alarmierend: 700 000 unverkaufte die Stimme zu geben, um „der neoliberalen Poli- Wohneinheiten warteten auf Käufer, laut spa- tik von Angesicht zu Angesicht entgegenzutre- nischer Zentralbank standen 176 Mrd. Euro an ten“. Dass dies kein plumper Stimmenfang war, wackligen Hypotheken aus. Viele konnten die sondern die Partei durchaus versuchte, die spa- Zinsen für diese Hypotheken nicht mehr auf- nische Protestbewegung 15-M einzubeziehen, bringen. Seit 2008 wurden so rund 300 000 Spa- illustrierte ihr Wahlprogramm. Genau genom- nier Opfer von Zwangsräumungen. men handelte es sich dabei um gar kein Wahl- programm; vielmehr hatte die IU einen „Aufruf In der Krise stieg auch die Arbeitslosenquote. zur Bekämpfung der Krise und zur Mobilisierung Lag die Zahl der Arbeitslosen 2008 offiziell noch für eine soziale Alternative und eine wirkliche bei rund zwei Millionen, stieg sie bis 2011 auf Demokratie“ vorgelegt.27 Dieser war das Ergeb- 4,4 Millionen an. Die Arbeitslosenquote lag nis eines breiten Konsenses zwischen jenen, 26 Vgl. Dominic Heilig: Ein Hoffnungsschimmer für die Lin- ke. Eine kurze Einschätzung der Regionalwahlen in Spa- 27 Vgl. Sozialer Wahlaufruf für 7 Revolutionen, www.con- nien aus linker Sicht, www.rosalux.de, S. 4f. vocatoriasocial.org.

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Der wichtigste Konflikt seit dem Wandel der spanischen Gesellschaft nach dem Tode Francos im Jahr 1975 ist die Auseinandersetzung zwischen Staat und Kirche. Gesellschaft und Parteiensys- tem in Spanien sind darüber hinaus geprägt von Klientelismus und Paternalismus. Diese auto- ritär-politische Tradition spiegelt sich bis heute in einer starken parteilichen Personalisierung26 und einer schwachen politischen Partizipation: Spanien hat im europäischen Vergleich eine sehr niedrige Parteimitgliedschaftsquote.27 Der Wandel der spanischen Gesellschaft ist außerdem von der Tatsache geprägt, dass den Parteien Ende der 1970er Jahre eine Rolle im Institutionen- gefüge zugewiesen wurde, aus der heraus sie sich nur schwer als gesellschaftliche Mobilisie- rungskräfte entwickeln konnten. Das Aufkommen der modernen Massenmedien veränderte die Kommunikationsanforderungen erheblich.28 Darüber hinaus bildete sich mit dem Übergang von der faschistischen Diktatur zur konstitutionellen Monarchie ein Regionalismus heraus, der bis heute weite Teile des politischen Diskurses bestimmt. Regionale Parteien dominierten nicht nur das Parteiensystem, sondern erfuhren darüber hinaus eine parlamentarische Verankerung im nationalen Abgeordnetenhaus.29 Die Konfliktlinien Staat-Kirche, Partei-Institutionengefüge und Zentrum-Peripherie hindern heute nationale Parteien wie die IU daran, eine landesweite Partei- basis aufzubauen und zu verbreitern. Es fällt der IU schwer, den Wählern ein kontinuierliches, programmatisch einheitliches Angebot zu unterbreiten. Insbesondere die Zurücksetzung des Klassenkonfliktes zugunsten der Regionalisierung verstärkt die Probleme bei der Etablierung linker Parteien, die im nationalen Rahmen handlungsfähig werden wollen.

die „einen alternativen, sozialen Block gegen Gruppen in die Erarbeitung ihrer politischen die neoliberale Hegemonie“ bildeten. An dem und programmatischen Ziele hatte die Partei Erarbeitungsprozess, zu dem die Partei einlud, an gesellschaftlicher Bindung gewonnen. Von beteiligten sich landesweit über 200 Vereine besonderem Interesse ist, dass die Parteialli- und Verbände sowie 15 000 Sympathisanten anz, die zuvor am Rande einer Spaltung und/ der IU in über 500 öffentlichen Versammlungen oder Auflösung gestanden hatte, ihr Selbstbe- und zahlreichen Debatten im Internet. wusstsein durch innere Reformen zu stärken vermochte. Cayo Lara hatte sein Programm der Dennoch war das Wahlergebnis für die Linke „Neugründung und Demokratisierung der IU“ ernüchternd: Die rechtskonservative Volkspar- umgesetzt, und die IU es verstanden, die außer- tei errang mit 44,6 Prozent der Stimmen (2008: parlamentarische und die parlamentarische 39,9 Prozent) die absolute Mehrheit der Sitze Ebene miteinander zu verknüpfen. Im Ergeb- und stellte fortan mit Mariano Rajoy den Regie- nis schärfte sie ihr programmatisches Profil als rungschef. Die bis dato regierende PSOE verlor linkssozialistische Parteienallianz. über 15 Prozent und kam nur auf 28,7 Prozent der Stimmen (2008: 43,9 Prozent). Podemos: Von der Bürgerbewegung Waren die Regionalwahlen im Mai 2011 bereits zur Partei ein Hoffnungsschimmer für die IU gewesen, so war ihr Abschneiden nunmehr ein Erfolg. Die Mit der Exekutive in den Händen der mit abso- Partei konnte ihr Ergebnis im Vergleich zu 2008 luter Mehrheit ausgestatteten konservativen beinahe verdoppeln – und gehörte damit wie- Volkspartei wurde die Austeritätspolitik unter der zu den stärksten Linksparteien in der EU. dem Diktat der Troika weiter verschärft. Dies Mit der Einbeziehung breiter gesellschaftlicher provozierte landesweite Proteste und die Ent-

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stehung vieler Bürgerorganisationen. Flächen- pawahl nur antreten, wenn mindestens 50 000 deckend entstanden etwa Komitees gegen Personen ihre Unterstützung für das Projekt Zwangsräumungen und Organisationen zur erklärten. Die Unterschriften kamen binnen 24 Selbsthilfe. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand Stunden zusammen. Heute verfügt Podemos diese Protestbewegung, deren stärkster Able- nach eigenen Angaben über mehr als 380 000 ger 15-M war, in der Gründung der Partei Pode- Unterstützerinnen und Unterstützer.28 mos („Wir können“). Zum Zeitpunkt der Europawahl 2014 vertrat Podemos ist im eigentlichen Sinne eine spani- die Mehrheit der Initiatoren von Podemos noch sche politische Bürger- und Demokratiebewe- die Vorstellung, eine gemeinsame Kandidatur gung, die sich im Januar 2014 bildete und am mit anderen linken Parteien und Gegnern des 11. März 2014 als Partei zugelassen wurde. Sozialabbaus auf die Beine zu stellen, und viele Populäre Führungsfigur ist Pablo Iglesias- Tur Aktivisten kleinerer Linksparteien traten dem rión. Ihre erste Bewährungsprobe bestand die Bündnis bei. Am 24. Februar 2014 trafen sich Partei bei der Europawahl im Juni 2014, bei der dann Podemos und Izquierda Unida mit dem sie acht Prozent der Stimmen und fünf Abgeord- Ziel, die Möglichkeit einer Einheitskandidatur nete in Brüssel errang, die sich, wie jene der IU, zu sondieren. In diesen Gesprächen stellte man der Linksfraktion GUE/NGL anschlossen. Nicht Übereinstimmungen, aber auch Unterschiede zuletzt deshalb wird die Partei dem linken Spek- zwischen beiden Organisationen im Hinblick trum zugeordnet – eine äußerliche, europäische auf Aufstellung der Wahllisten fest. Während Beschreibung, mit der nicht alle im Umfeld von Podemos für die Durchführung offener Vor- Podemos sich einverstanden erklären. wahlen plädierte, an denen jeder Bürger teil- nehmen können sollte, trat die IU dafür ein, die Der Ursprung der Podemos-Bewegung liegt im an der Kandidatur teilnehmenden Parteien den Manifest „Mover ficha: convertir la indignación Spitzenkandidaten bestimmen zu lassen. en cambio político“ (Spielstein bewegen: Die Empörung in politische Veränderung verwan- Die Differenzen blieben unüberwindbar. Nach deln). Das Manifest wurde von rund 30 Intel- dem Scheitern der Verhandlungen kündigte lektuellen, Kulturschaffenden, Journalisten und Podemos an, alleine anzutreten und ein offe- Sozialaktivisten unterzeichnet, die auf die Not- nes Vorwahlverfahren durchzuführen, an dem wendigkeit verwiesen, für das Europäische Par- auch Nicht-Mitglieder über das Internet teilneh- lament zu kandidieren, um der europäischen men durften. Im EU-Wahlkampf 2014 schlossen Austeritätspolitik auch auf europäischer Ebene sich regionale soziale Bewegungen wahlweise entgegenzutreten. Zu den hervorgehobenen Podemos oder Izquierda Unida an. Podemos’ Programmpunkten zählten die Umverteilung Vorwahlen – bei denen Kandidaten von einem des Reichtums in Spanien von oben nach unten, der Podemos-Kreise (Circulos Podemos) vor- Beibehaltung des öffentlichen Charakters von geschlagen werden mussten, um antreten zu Bildung und Gesundheit, Erhöhung der Löhne, dürfen – fand im März 2014 statt, nach eigenen Schaffung eines Bestandes an öffentlichen Angaben nahmen 33 000 Menschen daran teil. Wohnungen sowie der Widerstand gegen die Pablo Iglesias wurde mit 60 Prozent zum Spit- Verschärfung des spanischen Gesetzes zum zenkandidaten gewählt. Schwangerschaftsabbruch. Die Bewegung for- derte zudem den NATO-Austritt Spaniens. Dennoch gab es innerhalb der Partei, auch wegen der großen Heterogenität, immer wieder Ausein- andersetzungen über die Ausrichtung des Bünd- Von Beginn an setzte Podemos auf ein hohes Maß an Bürgerbeteiligung. Sie wollte zur Euro- 28 Vgl. https://participa.podemos.info/es.

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nisses. Der größte Konflikt – über das Parteilogo Der Bündnisfall sorgt für Streit zur Europawahl – war zu Beginn rein symbo- lisch, sollte aber letztlich die politisch-program- Die Kommunal- und Regionalwahlen vom 24. matische Ausrichtung von Podemos wesentlich Mai 2015 in Spanien läuteten dann endgültig beeinflussen. Um so viele wie möglich aus den das Ende des bisherigen Zwei-Parteien-Systems sozialen Protestbewegungen mitzunehmen, ein. Die konservative PP blieb zwar landesweit wollten die Podemos-Initiatoren auf die Sym- die stärkste Kraft Stimmen, büßte aber mehr als bole der traditionellen wie modernen Linken in zehn Prozentpunkte gegenüber der Wahl 2011 Europa verzichten. Zur EU-Wahl entschied man ein; die PSOE erreichte 25 Prozentpunkte. Beide sich aus diesem Grunde dafür, Pablo Iglesias’ das Land seit der Transition 1975 dominieren- Gesicht als Logo für die Stimmzettel zu nehmen. den Volksparteien erreichten damit gemeinsam Dies traf in den sozialen Medien auf massive nur noch knapp über 50 Prozent der Stimmen Kritik. Heute finden sich in dem Parteilogo oder landesweit.30 den Farben der Partei – ganz bewusst – keinerlei Anleihe an die traditionelle Linke in Europa. Gewinner der Abstimmungen waren zum einen die rechtsliberale Bürgerbewegung Ciudadanos Bei der EU-Wahl wurde Podemos auf Anhieb (C’s), die mit 6,6 Prozent der Stimmen landes- zur viertstärksten politischen Kraft Spaniens (die weit drittstärkste Kraft wurde, und zum ande- IU errang zehn Prozent und Platz 3). Die Partei ren linke, von Podemos unterstützte Bürger- profitierte von der Aktivierung von Wählern, bündnisse in den Städten. (Podemos war nicht die sich unter anderen Umständen enthalten flächendeckendangetreten, sondern nur in ein- hätten, und solchen, die sich von der PSOE ent- zelnen Regionen im Bündnis mit anderen Grup- täuscht abgewandt hatten. Nach einer Umfrage pierungen.) Diesen lokalen Bündnissen gelang waren 66 Prozent der Podemos-Wähler älter als es in Barcelona (en Comú) und in Madrid (Ahora 35 Jahre, 56 Prozent männlich, und mehrheitlich Madrid), im Bündnis mit der Izquierda Unida, arbeitende Menschen (50 Prozent gegenüber 22 die Rathäuser zu erobern. Aber auch darüber Prozent Arbeitslosen, 15 Prozent Studenten und hinaus gelang es dort, wo Podemos, IU und neun Prozent Rentnern). Ein Drittel der Pode- andere linke Parteien und Gruppen gemeinsam mos-Wähler hatte bei der Europawahl 2009 für antraten, Erfolge zu erzielen. Wo es hingegen die PSOE gestimmt. Ideologisch positionieren zu keiner Zusammenarbeit, sondern zu Kon- sich die Podemos-Wähler zwischen IU und PSOE. kurrenzkandidaturen kam, konnten Konserva- 60 Prozent von ihnen hatten bis zum letzten tive und Sozialdemokraten Mehrheiten in den Moment gezweifelt, welche Partei sie nun wäh- Rathäusern erobern bzw. verteidigen. len sollten.29 Der Erfolg von Podemos lag vor allem in dem Verlust an Glaubwürdigkeit der eta- Für die IU verliefen die Regionalwahlen 2015 blierten Parteien und der Angst der Mittelschicht – dort wo sie alleine antrat – ernüchternd. Ihr vor ihrem Abrutschen in die Armut begründet. designierter Parteichef Alberto Garzón, der Cayo Lara demnächst ablösen wird, ist des- Im Juli 2014 begann Podemos mit der Aufnahme halb wiederholt auf Podemos zugegangen, um von Parteimitgliedern. Innerhalb der ersten 48 ein gemeinsames Linksbündnis aus der Taufe Stunden registrierten sich 32 000 Menschen auf zu heben. Pablo Iglesias indes lehnte eine der Podemos-Webseite. Nach 20 Tagen hatte gemeinsame Kandidatur ab; es werde „keiner- Podemos bereits rund 100 000 Mitglieder und lei Wahlabkommen mit der IU geben“, sagte er. wurde, gemessen an der Mitgliederzahl, die Der IU warf er vor, „im eigenen Saft mit roten drittgrößte spanische Partei, größer als die IU.30

29 Vgl. „El Pais“, 1.6.2014. 30 Vgl. „El Huffington Post“, 17.8.2014.

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Sternen zu schmoren“.31 Vorbehalte bestanden hängeschilder „Ahora Madrid“ und „Barcelona insbesondere gegenüber dem starken und seit en Común“ zusammen.32 Jahrzehnten existenten IU-Parteiapparat und den widerstreitenden Gruppen innerhalb der Ein wesentlicher Grund für Podemos’ Ableh- Vereinten Linken. Besonders aber schreckt die nung eines Linksbündnisses ist, dass die Partei Bürgerbewegung die Dominanz der PCE. über die traditionelle linke Wählerschaft hin- aus wählbar sein will. Ihre Aktivisten sehen das Iglesias’ Einfluss auf Podemos endete zuletzt politische System Spaniens – und mit ihm auch aber des Öfteren an regionalen Grenzen. So die politische Linke – in einer tiefen Legitimati- ist die aus der 2011 entstandenen Empör- onskrise. Podemos weicht deshalb auf andere ten-Bewegung entstandene Partei gemeinsam Begrifflichkeitenaus und streitet für eine „echte mit der „Initiative für Katalonien“ (ICV), ein Teil Demokratie“. Dadurch will sie eine neue Klas- der IU, zu den Regionalwahlen 2015 angetre- senlogik etablieren, die der Masse gegen die ten. Diese wurden vom Regionalregierungs- Oligarchie. Die relative Unbestimmbarkeit chef Artur Mas zu einer Abstimmung über die des Projekts macht die Partei zwar einerseits Unabhängigkeit Kataloniens vom spanischen angreifbar. Andererseits jedoch ermöglicht Zentralstaat umgedeutet. Das Bündnis aus ICV diese Offenheit ein breites politisches Bündnis, und Podemos schlug sich auf keine der bei- das der Unzufriedenheit eine Form gibt.33 den Seiten – pro und contra Unabhängigkeit –, sondern plädierte für mehr Demokratie und Iglesias’ Unnachgiebigkeit allerdings hat Pode- Souveränität der Bevölkerung gegenüber den mos – zumindest kurzfristig – geschadet. Der herrschenden, oligarisch auftretenden Volks- Urwahlprozess der Listenaufstellung für die parteien. Am Ende erreichte das Wahlbündnis Parlamentswahl verlief ernüchternd; nur 16 knapp zehn Prozent der Stimmen. Während Prozent der Basis beteiligten sich. Selbst Per- Iglesias dieses Resultat als Niederlage und sonalcoups wie die Nachricht, dass der fran- Zeichen deutete, dass ein Bündnis mit der IU zösische Ökonom Thomas Piketty bei der Aus- keine Erfolgschancen habe, markierte es ange- arbeitung eines Wirtschaftsprogramms mit- sichts der Zuspitzung beider Pole in Katalo- arbeiten würde, halfen nicht, den Sinkflug der nien in Wirklichkeit ein durchaus respektables Umfragewerte umzukehren; im Oktober stand Ergebnis. sie mit 15 Prozent nur noch auf Platz vier des Parteienrankings.34 Im Gegenzug erweitere die Wegen der auch nach den Regionalwahlen in IU ihr Wahlbündnis „Ahora en Común“ und trat Katalonien anhaltenden Zurückhaltung der als „Unidad Popular: Izquierda Unida“ mit dem Podemosführung, ein landesweites Linksbünd- Spitzenkandidaten Alberto Garzón zur Wahl an. nis zu etablieren, hat die Izquierda Unida wenig später eigenmächtig die Plattform „Ahora en Común“ (Jetzt gemeinsam) gebildet. An ihr Die Parlamentswahl im Dezember sind, neben der IU, die grüne Partei „Equo“ und 2015: Die Linke marschiert getrennt einzelne Podemos-Aktivisten beteiligt. Sie alle glaubten, dass nur die Vereinigung der Linken Nach dem endgültigen Scheitern der Gesprä- eine Chance böte, im Dezember 2015 der grie- che traten IU und Podemos in der Mehr- chischen Syriza zu folgen und eine einflussrei- che Kraft im Land zu werden. Der Name der 32 Vgl. ders.: Iglesias und „grummelnder Zwerg“, in: „Neues Initiative setzte sich aus den Namen der Aus- Deutschland“, 13.7.2015. 33 Vgl. Jonas Wollenhaupt: Inside Podemos, in: „Neues Deutschland“, 10.9.2015. 31 Zit. nach Ralf Streck: Podemos zeigt IU die kalte Schulter, 34 Vgl. Ralf Streck, Podemos will den Alleingang, in: „Neues in: „Neues Deutschland“, 27.6.2015. Deutschland“, 8.10.2015.

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heit der Wahlkreise gegeneinander an. Eine Prozent der Stimmen gekommen, so waren es gemeinsame Liste gab es nur in den vier kata- weniger als 50 Prozent. Die konservative lanischen Wahlkreisen (unter dem Namen „En PP verlor knapp 18 Prozent und erreichte 28,7 Comú Podem“, zusammen mit der katalani- Prozent der Stimmen, während die sozialde- schen Linkspartei ICV und der linken Stadtpar- mokratische PSOE über sechs Prozent verlor tei Barcelona en Comú) und in den vier gali- und nur noch auf 22 Prozent der Stimmen zischen Wahlkreisen (unter dem Namen „En kam. Marea“, zusammen mit der regionalen Links- partei Anova-Irmandade Nacionalista). Pode- Für die Linke in Spanien muss das Ergebnis – mos trat darüber hinaus in der Region Valen- trotz der rund 20 Prozent für Podemos – mit cia gemeinsam mit der linken Regionalpartei Ernüchterung betrachtet werden. Besonders Compromís an. Die IU trat außerdem mit ver- die Entscheidung der Podemos-Führung, gegen schiedenen kleineren landesweiten oder regi- einen gemeinsamen Wahlantritt mit Izquierda onalen Linksparteien gemeinsam an. Daneben Unida, hat einen linken Regierungswechsel kandidierte in den drei baskischen Provinzen maßgeblich erschwert. Dort, wo Podemos und und Navarra das Linksbündnis „Bildu“. Die Izquierda Unida gemeinsam antraten, wurden katalanische linksliberale ERC bildete ein von sie zur stärksten (Katalonien) oder zweitstärks- Podemos und IU unabhängiges Wahlbündnis ten Kraft (Galizien). Wo sie getrennt und damit mit der Kleinpartei Catalunya Sí unter dem gegeneinander antraten, hat es ihnen – zumin- Namen ERC-CATSÍ. dest im Hinblick auf die komplizierte Sitzver- gabe – eher geschadet. Weil die besondere Am Abend des 20. Dezember 2015 wurde rasch Lage im Baskenland für beide Parteien im Wahl- klar, dass diese Wahl das Ende des Zweipar- kampf kein Thema war, traten dort sogar – mit teiensystem in Spanien markierte. Dies war dem Parteienbündnis Bildu – drei linke Kräfte maßgeblich dem Erfolg von Podemos geschul- gegeneinander an, die sich alle in der Links- det. Eine linke Mehrheit gab es dennoch nicht. fraktion im Europäischen Parlament (GUE/NGL) Spanien ist nach dem Urnengang vielleicht organisieren. nicht einfacher regierbar und vielleicht nicht linker geworden, aber auf jeden Fall demokrati- Der Politikwissenschaftler Raul Zelik sieht den scher. Gleichzeitig besteht das regional zerklüf- Kurs der linken Podemos zu Recht kritisch. Er tete politische System fort, auch und vor allem merkt an, dass die erst Januar 2014 gegrün- wegen des spanischen Wahlsystems, welches dete Partei „zentrale inhaltliche Positionen auf- die Besonderheit aufweist, dass die Sperrklau- gegeben“ habe, um sich „als verlässliche und sel in den einzelnen Provinzen unterschiedlich staatstragende Reformkraft zu profilieren. Von hoch ist, wodurch kleinere nationale Parteien einer Überwindung der postfranquistischen benachteiligt werden. (So benötigte die IU bei- Verfassung von 1978 oder einer Opposition spielsweise bei den Wahl 2004 im Durchschnitt gegen die Austeritätspolitik der EU ist nicht 254 000 Stimmen für ein Mandat, während die mehr die Rede“, schreibt er in einer Kurzanalyse PSOE dafür nur 66 000 Stimmen benötigte.) Im für die Rosa-Luxemburg-Stiftung.35 Podemos neuen Abgeordnetenhaus nehmen Regional- fordert inzwischen nur noch „eine punktuelle parteien 26 der 300 Sitze ein. Reform der Verfassung“, was ihren Einbruch in der Wählergunst im Vergleich zu Beginn des PSOE und PP büßten im Vergleich zur vorhe- Jahres 2015 begründen mag. Podemos führte rigen Wahl massiv an Zustimmung ein. Waren 35 Vgl. Raul Zelik: Die interessantesten Wahlen seit über beide Parteien 2008 zusammen noch auf 83,8 30 Jahren, www.rosalux.de; vgl. ders.: Spaniens Linke Prozent und 2011 immerhin noch auf über 73 erstarkt, ebd.

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den Wahlkampf mit dem Ziel, möglichst viele erreichte landesweit lediglich 3,7 Prozent und Menschen an die Wahlurnen zu bringen – was zwei (statt elf) Mandate. gelang, die Wahlbeteiligung stieg um vier auf 73 Prozent. Zugleich verkürzte man jedoch die Kri- Die Regierungsbildung gestaltet sich nach die- tik an den spanischen Herrschaftsstrukturen; sem historischen Wahlabend mehr als schwie- polemisch könnte man sagen, dass Podemos rig. Weder reicht es für eine Koalition zwischen den Inhalt dem Populismus geopfert hat. konservativer PP und rechtsliberaler C’s, noch für eine Koalition zwischen PSOE und Podemos, Doch auch Izquierda Unida, die mit ihrem cha- auch nicht unter Hinzuziehung von IU und wei- rismatischen Spitzenkandidaten Alberto Garzón teren regionalen Linksparteien. Gelingt es dem vor allem die sozialen Netzwerke nutzte, ent- neuen Parlament nicht, zeitnah einen Regie- täuschte. Sie verlor über drei Prozent und rungschef zu wählen, drohen Neuwahlen.

4. DIE LINKE: Stabilitätsfaktor in der Europäischen Linken

Anders als die bislang vorgestellten Parteien europäischen Linken, die den Weg einer sich handelt es sich bei der bundesdeutschen Par- zunehmend von den Interessen der Beschäf- tei DIE LINKE weder um eine Parteienallianz tigten entfernenden und neoliberal ausgerich- (wie Syriza und IU) noch um eine aus einer teten Sozialdemokratie in Deutschland – ver- Protestbewegung hervorgegangene Partei gleichbar mit Tony Blairs „New Labour“ in Groß- (wie Podemos). Die 2007 gegründet LINKE ist britannien – nicht mehr mitgehen wollte. vielmehr eine Mischform und setzt sich im Kern aus zwei Bestandteilen zusammen. Zum Die beiden Parteien hatten 2005 zunächst eine einen wird sie geprägt durch den seit 25 Jah- gemeinsame Liste zur Bundestagswahl aufge- ren bestehenden Teil, der zu den reformierten stellt und fusionierten nach dem Einzug in den staatssozialistischen Parteien des Ostblocks Bundestag 2007 zur Partei DIE LINKE. Inzwi- zählt und sich über mehrere Schritte zu einer schen haben sich beide in der LINKEN aufge- demokratisch-sozialistischen Partei links der löst. Bestimmte politische Einstellungen und Sozialdemokratie gewandelt hat. Dieser Teil Traditionen, die den beiden Quellparteien zuge- firmierte zuvor unter dem Namen „Partei des rechnet werden können, bestehen indes inner- Demokratischen Sozialismus (PDS). Zum ande- halb der neuen Organisation fort, weshalb man ren gehört zu ihr die (primär westdeutsche) von einer Zwitterpartei sprechen kann. Dies Wahlalternative Arbeit und soziale Gerech- bedeutet allerdings nicht, dass der Kurs der tigkeit (WASG), die 2004/2005 von ehema- Partei unklar wäre. Programmatisch wie orga- ligen Mitgliedern der SPD und von der SPD nisatorisch ist in den vergangenen acht Jahren nahe stehenden Gewerkschaftern gegründet ein stabiler Konsens zwischen den Mitgliedern wurde, die über die harten sozialen Einschnitte erarbeitet worden. (Hartz-Gesetze) der sozialdemokratisch-grü- nen Koalition unter Kanzler Gerhard Schröder DIE LINKE gehört – in Form ihrer Quellpartei (SPD) enttäuscht waren. PDS – seit 25 Jahren zu den stabilen Säulen der Linken in Europa. Zwar ließen die bundes- Die WASG repräsentierte eine klassische links- weiten Wahlergebnisse die PDS immer wieder sozialdemokratische Strömung innerhalb der um den Einzug in den Bundestag bangen –

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und in der Tat verfehlte sie im Jahre 2002 die Gleichheit jeder und jedes Einzelnen zur Bedin- Fünfprozenthürde und war nur noch mit zwei gung der solidarischen Entwicklung aller wird“. direkt gewählten Abgeordneten im Bundes- So formuliert DIE LINKE ihren programmati- tag vertreten. Dennoch katapultierte die her- schen Anspruch in ihrem Parteiprogramm. ausgehobene Stellung Deutschlands in der EU Dabei werden drei Grundideen in der Idee des die PDS und dann vor allem DIE LINKE in den demokratischen Sozialismus zusammengefügt: Rang des vielleicht wichtigsten Akteurs der Lin- erstens die individuelle Freiheit und Entfaltung ken in Europa. Dazu bei trug nicht zuletzt der der Persönlichkeit durch soziale Gleichheit der Umstand, dass Parteien in der Bundesrepublik Teilhabe an den Bedingungen eines selbst- ein hohes verfassungsrechtliches Schutzniveau bestimmten Lebens und Solidarität; zweitens genießen und großenteils durch Steuern finan- die Unterordnung von Wirtschaft und Lebens- ziert werden. Obgleich DIE LINKE, gemessen an weisen unter die solidarische Entwicklung und ihren Mitgliedern und Wahlergebnissen, weder den Erhalt der Natur; und drittens die Ver- die größte noch die stärkste Linkspartei in wirklichung dieser beiden Ideen durch einen Europa ist, verfügt sie deshalb im Vergleich zu emanzipatorischen Prozess, „in dem die Vor- ihren Schwesterparteien über die besten Struk- herrschaft des Kapitals durch demokratische, turen und größten Ressourcen. soziale und ökologische Kräfte überwunden wird.“ DIE LINKE sieht sich „in grundsätzlicher DIE LINKE gehört nicht zu den selbst erklärten gesellschaftlicher und politischer Opposition zu revolutionären kommunistischen Kräften in Neoliberalismus und Kapitalherrschaft, imperi- Europa. Vielmehr versteht sie sich als plural alistischer Politik und Krieg“.37 und offen „für jede und jeden, die oder der glei- che Ziele mit demokratischen Mitteln erreichen Um alternative gesellschaftliche und parlamen- will“.36 Sie gewährt umfassende Mitglieder- tarische Mehrheiten herzustellen, strebt DIE rechte, darunter das Recht, sich innerparteilich LINKE breite Bündnisse an. Die für eine andere mit anderen zusammenzuschließen oder das Regierungsmehrheit erforderliche Koopera- Recht, auch als Einzelmitglied an alle Organe tion mit anderen Parteien werde man aber nur der Partei Anträge zu richten. Es gibt die Mög- dann eingehen, wenn diese einen Richtungs- lichkeit des Mitwirkens von Gastmitgliedern, wechsel in Politik und Gesellschaft fördern und denen nahezu alle Mitgliederrechte übertra- Kernforderungen der Linken übernehmen. Zu gen werden können. Damit will sich die Partei letzteren zählen der Rückzug der Bundeswehr gesellschaftlichen Gruppen und Bewegungen aus Afghanistan, die Abschaffung der neolibe- öffnen. Die Resonanz darauf blieb bislang ralen Arbeitsmarktgesetze (Hartz-Gesetze), die allerdings beschränkt. Die Gleichstellung der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes und Geschlechter ist konstitutiv für die Partei; es gilt die Ablehnung der Rente erst ab 67 Jahren. die Mindestquotierung von 50 Prozent. Gerade an der Frage parteipolitischer Bündnisse und Koalitionen auf Bundes- und Landesebene Wer oder was ist DIE LINKE? entbrannten seit Bestehen der Partei immer wieder teilweise heftige programmatische und Die Partei will – gemeinsam mit Gewerkschaf- strategische Konflikte. Verantwortlich dafür ten, sozialen Bewegungen, mit Bürgerinnen dürften vor allem vier Gründe sein. Zum einen und Bürgern in Deutschland, Europa und welt- werden Koalitionen, insbesondere auf Bun- weit – „eine Gesellschaft des demokratischen desebene (mit Grünen und Sozialdemokraten) Sozialismus aufbauen, in der die Freiheit und äußerst kritisch gesehen. Dies liegt nicht zuletzt

36 Bundessatzung der Partei DIE LINKE. 37 Parteiprogramm DIE LINKE, www.die-linke.de.

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daran, dass es eine rot-grüne Bundesregierung in Thüringen sogar den Ministerpräsidenten war, die in Gestalt des Jugoslawienkrieges 1999 einer rot-rot-grünen Landesregierung. den ersten ausländischen Kampfeinsatz der Bundeswehr in der Geschichte der Bundesre- Zum Vierten gab es immer wieder grundsätz- publik zu verantworten hatte. Demgegenüber liche Auseinandersetzungen darüber, auf wel- stellt sich DIE LINKE mehrheitlich gegen jede chem Wege die Gesellschaft verändern werden Form militärischer Auslandsintervention und kann. Eine Minderheit plädierte stets für einen Gewalt. Zum Zweiten haben sich Grüne und mehr oder minder „revolutionären“ Weg, der Sozialdemokraten seit ihrer Regierungsführung Koalitionen mit SPD oder Grünen nicht vorsah. zwischen 1998 und 2005 vom linken politischen Heute wird diese Debatte, vor allem durch die Spektrum weg, hin zur politischen Mitte ori- erfolgreiche Regierungsführung in Thüringen, entiert. Die Grünen sind zunehmend offen für in der Partei weniger emotional geführt. Es gibt Bündnisse mit den deutschen Konservativen kaum mehr Parteimitglieder, die Regierungs- von CDU/CSU, und die Sozialdemokraten haben beteiligungen grundsätzlich ausschließen. ihr sozialpolitisches Profil weitgehend geopfert. Zwar gibt es nach wie vor unterschiedliche Vor- In der LINKEN ist umstritten, ob sozialpolitische stellungen darüber, welche Voraussetzungen und solidarische Politikkonzepte mit der SPD für den Eintritt in eine Koalition gegeben sein überhaupt noch durchzusetzen sind. Schließ- müssten, aber diese stellen keinen Grundkon- lich wurden unter der Regierungsführung der flikt mehr dar. SPD Minijobs, prekäre Beschäftigungsverhält- nisse und Sozialkürzungen eingeführt bzw. aus- Als inzwischen drittstärkste Kraft im Bundestag gebaut und Privatisierungen der öffentlichen vermittelt DIE LINKE nun auch nach außen das Daseinsvorsorge zugelassen. Bild, Verantwortung für Veränderung überneh- men und mehr als bloße Fundamentalopposi- Zum Dritten sind die Erfahrungen der LINKEN tion betreiben zu wollen. Dieser relative Erfolg (bzw. der PDS) mit Koalitionsregierungen mit der stellte sich jedoch erst mit dem Zusammen- SPD nicht die Besten. Zwar fanden diese bislang gehen von PDS und WASG ein, das aus dem nur in ostdeutschen Ländern und nicht auf Bun- Protest gegen Sozial- und Demokratieabbau desebene statt; dennoch sah sich die PDS (bzw. der Agenda 2010 geboren wurde. Die Agenda DIE LINKE) am Ende dieser Koalitionsbeteiligun- 2010 markiert ein in der deutschen Nachkriegs- gen mit Glaubwürdigkeitsproblemen und sin- geschichte ungekanntes Programm zur Absen- kendem Wählerzuspruch konfrontiert. Obwohl kung sozialer Standards und sogenannten Flexi- sie durchaus sozialpolitische Erfolge vorweisen bilisierung des Arbeitsmarktes, in dessen Folge konnte, sanken die Zustimmungswerte für die die Armutsrate in Deutschland stieg, während PDS nach Regierungsbeteiligungen als SPD-Juni- Löhne und Renten sanken. orpartner in Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vor- pommern und Berlin teils massiv. Dies war auch Nur langsam verändert sich das Bild der LINKEN dem Umstand geschuldet, dass die PDS über von einer Protestpartei gegen Sozialkürzungen viele Jahre von der SPD als Koalitionspartner hin zu einer gestaltenden Partei. Dies hat auch gemieden worden war. Als es schließlich doch damit zu tun, dass sie auf dem Gebiet der DDR, zu Koalitionen kam, war die Partei nicht darauf in fünf ostdeutschen Bundesländern und Ber- vorbereitet. Erst in den letzten Jahren hat sich lin, entsprechend ihrer starken Wahlergebnisse dieses Bild verbessert, und DIE LINKE kann auf in (fast) allen Wählergruppen als Volkspartei Landesebene selbst als Juniorpartner in Koaliti- bezeichnet werden kann. Hier konnte man sie onen besser bestehen. Aktuell regiert DIE LINKE auch, wie beschrieben, in Regierungsverant- in Brandenburg als SPD-Juniorpartner und stellt wortung sehen.

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Obwohl seit 2013 im Bundestag eine rechne- verfassungsrechtlich garantierten Führungs- rische Mehrheit mit SPD und Grünen besteht, anspruch im Land. ist eine linke Regierungskoalition derzeit nicht absehbar. Dazu müsste sich das Verhältnis der Erster Vorsitzender der PDS wurde . Akteure, insbesondere zwischen Linkspartei Bei der ersten freien Volkskammerwahl (Parla- und SPD, zunächst substanziell verbessern. ment der DDR) am 18. März 1990 erreichte sie 16,4 Prozent, die Partei ging in die Opposition. Die Mitglieder der Partei leiten derweil aus dem Nach der Vereinigung der beiden deutschen differenzierten Wählerzuspruch – im Osten Staaten am 3. Oktober 1990 errang die PDS bei über 20 Prozent, im Westen unter 10 Prozent der ersten gesamtdeutschen Wahl im Dezem- – ein unterschiedliches Parteiverständnis ab: ber 2,4 Prozent (und damit weit weniger als die im Westen Protestpartei und im Osten gestal- fünf Prozent, die für den Einzug einer Partei tende Volkspartei. Hinzu kommt, dass die par- in den Bundestag für gewöhnlich erforderlich lamentarische Stärke der LINKEN auf Bundese- sind). Da das Bundesverfassungsgericht aber bene, anders als in Spanien oder Griechenland, zuvor die Staatsgebiete von DDR und BRD zu kein Ergebnis starken außerparlamentarischen getrennten Wahlgebieten erklärt hatte, zog die Widerstands oder sozialer Bewegungen, son- PDS, die in Ostdeutschland elf Prozent erzielte, dern das Resultat parteipolitischer und parla- in den Bundestag ein. mentarischer Arbeit ist. Bei der Bundestagswahl 1994 konnte die Par- tei ihr Ergebnis auf 4,4 Prozent steigern. Dass Die Geschichte der PDS sie wieder in den Bundestag einzog, obwohl sie erneut die Fünfprozenthürde verfehlte, hat mit Die Geschichte der LINKEN ist eine Geschichte einer Besonderheit des deutschen Wahlrechtes zweier Parteien, der PDS und der WASG. Die zu tun. Denn in Ost-Berlin errang die PDS vier PDS war 1989/90 aus der Sozialistischen Ein- Direktmandate, die den Einzug ins Parlament heitspartei Deutschlands (SED) hervorge- entsprechend ihrer prozentualen Stärke mög- gangen, die ihrerseits 1946 im Zuge der (von lich machten. starkem staatlichen Druck begleiteten) Verei- nigung von SPD und KPD gegründet worden In den ostdeutschen Bundesländern entwi- war. Von 1949 bis 1989 war die SED die Staats- ckelte sich die PDS zunehmend zur Volkspartei partei der DDR. Im Zuge der Massenproteste und erzielte ab Ende der 1990er Jahre meist und der hunderttausendfachen Ausreise von Wahlergebnisse von über 20 Prozent. Bei der DDR-Staatsbürgern in die Bundesrepublik ent- Bundestagswahl 1998 überwand die Partei wickelte sich ein politischer Reformdruck auf dann mit 5,1 Prozent erstmalig die Fünfprozent- staatliche Institutionen des Landes, der auch hürde. Im Westen blieb der Zuspruch der PDS vor der herrschenden SED nicht Halt machte. allerdings schwach und lag unter zwei, in man- Dieser äußere Druck auf die SED korrespon- chen Regionen gar unter einem Prozent. dierte mit einem inneren Reformdruck von Seiten der Parteimitglieder. Diesem trug die 2002 scheiterte die PDS mit 4,3 Prozent an Parteispitze symbolisch mit der Umbenennung ihrem Ziel, den Wiedereinzug in den Bundestag der SED in die Partei des Demokratischen Sozi- zu schaffen. Da sie in Ost-Berlin nur zwei der alismus am 4. Februar 1990 Rechnung. Dem zuvor vier Direktmandate erlang, war die Partei Symbolischen folgten programmatische Refor- auch nur noch mit zwei Abgeordneten im Par- men; so legte die PDS den Anspruch einer lament vertreten. Daraufhin geriet die Partei in Avantgardepartei ab und verzichtete auf den eine schwere innerparteiliche Krise. Allerdings

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setzte bereits 2004 eine Konsolidierung ein, kam, dass die Ressourcen der noch jungen For- als die PDS sich stark in den Protesten gegen mation WASG sehr gering waren. Die PDS war die neoliberalen Arbeitsmarkt- und Sozialrefor- im Westen immer noch schwach, während sie men der zweiten rot-grünen Bundesregierung im Osten an ihre Erfolge vor 2002 anknüpfen (Agenda 2010) engagierte. In der Folge stiegen konnte. Mit der Ankündigung vorgezogener die Zustimmungswerte für die Partei, wenn Neuwahlen für den September 2005 wuchs der auch zunächst nur in den ostdeutschen Bundes- Druck auf beide Parteien, ähnlich wie bei Syriza ländern. im Juni 2012, sich auf eine gemeinsame Kandi- datur zu verständigen. Insgesamt war die PDS zwar der Rechtsnach- folger der Staatspartei SED; programmatisch aber trat sie deren Nachfolge nicht an, im Die Vereinigung zur LINKEN Gegenteil: Auf ihren beiden Programmkon- gresse distanzierte man sich wiederholt vom Im Juni 2005 einigten sich PDS und WASG, bei System des Stalinismus und den Verbrechen, der Wahl im September gemeinsam anzutre- die im Namen des Sozialismus in der DDR ten. Hierzu traten Mitglieder der WASG auf begangen wurden. den Wahllisten der – im Juli zur Linkspartei. PDS umbenannten – PDS an. (Wahlbündnisse sieht das deutsche Wahlrecht, anders als in Die Geschichte der WASG Spanien und Griechenland, nicht vor.) Zu den Spitzenkandidaten wurden die späteren Frakti- Aus Protest gegen die 2003 unter Kanzler Ger- onsvorsitzenden Gregor Gysi und Oskar Lafon- hard Schröder (SPD) forcierte Agenda 2010 for- taine gewählt. Bei der Wahl am 18. September mierten sich 2004 – zunächst unabhängig von- 2005 erreichte die Linkspartei.PDS 8,7 Prozent einander – in Norddeutschland die „Wahlalter- der Stimmen und wurde viertstärkste Kraft. native“ sowie in Süddeutschland die „Initiative Knapp zwei Jahre später, am 16. Juni 2007, fand Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (ASG). Beide schließlich die Fusion der beiden Parteien zur Formationen wurden von ehemaligen SPD- und DIE LINKE statt. In Urabstimmungen votierten SPD-nahen Gewerkschaftsmitgliedern domi- 96,9 Prozent der Mitglieder der Linkspartei.PDS niert. Im Juli 2004 fanden sich zunächst beide und 83,9 Prozent der WASG-Mitglieder dafür. Organisationen zur „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ (WASG) zusammen. Im Die Partei wuchs schnell auf über 78 000 Mitglie- Mai 2005 trat die neue Partei zur Landtagswahl der an und erzielte eine Reihe von Wahlerfol- in Nordrhein-Westfalen an erreichte 2,2 Pro- gen. Viele neue Mitglieder – aus sozialen Bewe- zent der Stimmen (die PDS erzielte 0,9 Prozent). gungen, ehemalige SPD- und Grünenmitglieder Wenig später trat Oskar Lafontaine, ehemaliger sowie Aktivisten kleinerer Gruppen – traten der SPD-Kanzlerkandidat und -Parteivorsitzender Partei bei. DIE LINKE wurde auf diese Weise zu sowie Bundesfinanzminister unter Gerhard einer Art Sammlungsbewegung radikal Linker. Schröder, aus seiner SPD aus und in die WASG Bei der Bundestagswahl 2009 konnte sich die ein. Partei dann gar auf 11,9 Prozent der Stimmen steigern. PDS und WASG erkannten, dass der enge Raum links der Sozialdemokratie nicht durch zwei Mit dem Erfolg kamen auch innerparteiliche miteinander konkurrierende Parteien erfolg- Auseinandersetzungen, vor allem zwischen reich genutzt werden konnte; bei einer Bun- den Mitgliedern der ehemaligen Quellpar- destagswahl drohten beide zu scheitern. Hinzu teien. Deren Ergebnis waren Misserfolge bei

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Tabelle 5: Entwicklung der Mitgliedschaft42

Landes­verbände 31. Dez. 2015 davon Frauen Prozent Baden-Württemberg 2.836 704 24,82 Bayern 2.508 602 24,00 Berlin 7.447 3.192 42,86 Brandenburg 6.626 2.898 43,74 Bremen 481 138 28,69 Hamburg 1.307 375 28,69 Hessen 2.525 673 26,65 Mecklenburg-Vorpommern 4.034 1.805 44,74 Niedersachsen 2.552 663 25,98 Nordrhein-Westfalen 6.465 1.787 27,64 Rheinland-Pfalz 1.594 464 29,11 Saarland 2.114 694 32,83 Sachsen 8.677 3.878 44,69 Sachsen-Anhalt 4.044 1.747 43,20 Schleswig-Holstein 970 251 25,88 Thüringen 4.767 2.067 43,36 Bundesgeschäftsstelle 42 16 38,10 Gesamt 58.989 21.954 37,22 westdeutschen Landtagswahlen, die wiede- Grünen erstmalig in der Geschichte der Bun- rum interne Flügelkämpfe befeuerten, welche desrepublik den Ministerpräsidenten. Zuvor auf dem Parteitag von Göttingen im Juni 2012 war die PDS Juniorpartner in rot-roten Landes- öffentlich ausgetragen wurden. In der Folge regierungen in Berlin und Mecklenburg-Vor- wuchs die Partei dann aber langsam zusam- pommern. In Sachsen-Anhalt tolerierte sie men, und es gelang, alte Rivalitäten einzuhegen Mitte der 1990er Jahre eine rot-grüne Minder- und an dem Erfolg einer gemeinsamen Partei heitsregierung. In den westdeutschen Landta- zu arbeiten. Bei der letzten Bundestagswahl gen ist die Partei nicht flächendeckend vertre- gingen die Zustimmungswerte für DIE LINKE ten. In Bayern, Baden-Württemberg und Rhein- zwar wieder zurück. Gleichzeitig wurde die Par- land-Pfalz war sie noch nie, in Niedersachsen, tei indes mit 8,6 Prozent zur drittstärksten Kraft Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein – und damit zur größten Oppositionsfraktion – nur für eine Legislaturperiode im Landtag ver- im Bundestag. treten. In die Landtage von Hamburg, Bremen, Hessen und dem Saarland hingegen wurde sie Noch heute ist die Partei in den neuen Bundes- wiederholt ins Parlament gewählt. ländern eine Volkspartei, die in allen Landes- parlamenten (meist als zweitstärkste Kraft) ver- In der Partei existiert – auch vor dem Hinter- treten ist. In Brandenburg regiert sie seit 2009 grund der unterschiedlichen Verankerung und als Juniorpartner einer Koalition unter Führung regionalen Stärke – noch immer ein Nebenei- der SPD. In Thüringen stellt sie seit 2014 mit nander von divergierenden Politikverständnis- Bodo Ramelow in einer Koalition mit SPD und sen, eine Vielfalt politischer Kulturen und kultu-

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Tabelle 6: Abgeordnete in Parlamenten

Parlamente Gesamt Frauen Anteil Frauen (%) Europäisches Parlament 7 4 57 Bundestag 64 35 55 Abgeordnetenhaus Berlin 19 10 53 Bürgerschaft Bremen 17 8 47 Bürgerschaft Hamburg 8 4 50 Landtag Hessen 6 3 50 Landtag Mecklenburg-Vorpommern 14 7 50 Landtag Saarland 8 4 50 Landtag Sachsen 27 13 48 Landtag Sachsen-Anhalt 16 9 56 Landtag Thüringen 28 14 50 reller Codes. Konkret bedeutete dies die Koexis- Mit ihrer Gründung 2007 hat DIE LINKE euro- tenz von autoritären sozialstaatsorientier- päische Normalität nach Deutschland gebracht. ten, kommunistischen, trotzkistischen, linksso- In der Bundesrepublik hatte es zuvor über zialistischen, sozialdemokratischen oder refor- Jahrzehnte keine parlamentarische Vertretung mistisch-libertären Gruppierungen. einer Partei links der Sozialdemokratie gege- ben. Der Ost-West-Konflikt, und mit ihm der Regierungsbeteiligungen waren in der Partei scharfe Antikommunismus, machte es linken stets umstritten. Diese Frage beschreibt jedoch Formationen – anders als etwa in Frankreich keinen Konflikt zwischen Ost und West oder und Italien – schwer, Fuß zu fassen. zwischen vermeintlich radikalen und reform- orientierten Strömungen innerhalb der LINKEN. DIE LINKE hat aber nicht nur für „europäische Kaum eine politische Strömung innerhalb der Normalität“ in Deutschland gesorgt, sondern LINKEN lehnt Regierungsbeteiligungen grund- auch sozialpolitische Alternativen wieder in den sätzlich ab. Diskutiert werden vielmehr die Fokus der politischen Auseinandersetzungen Bedingungen, unter welchen DIE LINKE zu einer gerückt. Dieses Feld hatte die Sozialdemokratie Regierungsbeteiligung bereit ist. Erschwert wird mit ihrer Regierungsbeteiligung ab 1998 nach die Debatte auch durch die Weigerung der SPD und nach geräumt. Damit hat DIE LINKE aber auf Bundesebene, an einem Mitte-Links-Bünd- auch einen Gegenentwurf zur Austeritätspoli- nis zu arbeiten. Im Gegenteil: DIE LINKE wird tik und Dominanz Deutschlands in Zeiten der von der SPD hier, anders als auf Landesebene, Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa entwi- weiterhin geächtet. ckelt. Dies hatte für die von der Krise betroffe- nen europäischen Staaten und für die dortigen In der Linksfraktion im Europäischen Parla- Linksparteien einen besonderen strategisch-po- ment (GUE/NGL) ist sie die Partei mit den meis- litischen Wert, den es nicht zu unterschätzen gilt. ten Abgeordneten und stellt mit deren Vorsitzende. Sie ist Gründungsmitglied Durch das Zusammengehen von PDS und WASG der EL, stellte mit einen ihrer Vor- gelang es, die politische Linke endlich zu einer sitzenden und wirkt im Forum der Neuen Euro- päischen Linken (NELF) mit. 38 Vgl. www.die-linke.de/partei/fakten/mitgliederzahlen/.

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gesamtdeutschen Linken fortzuentwickeln, chendeckend in allen Landesparlamenten ver- auch wenn Unterschiede, etwa hinsichtlich der treten zu sein. Insofern stellt DIE LINKE keine regionalen Wahlergebnisse, weiterhin beste- Ausnahme dar. Die strategische Frage ist, ob hen. Doch auch hier deuten die Zahlen auf die es irgendwann auch auf Bundesebene gelingt, Entwicklung der LINKEN zu einer gesamtdeut- die Blockadehaltung der SPD gegenüber einer schen, starken Linkspartei. Schließlich haben Zusammenarbeit mit der Linkspartei aufzubre- auch die anderen kleineren Parteien in Deutsch- chen, Dies wiederum ist die Voraussetzung für land, wie Grüne oder FDP, Schwierigkeiten, flä- andere Mehrheiten.

5. Strategische Aufgaben für die Linke in Europa

Die Europäische Union ist tief gespalten. Mit halten und damit Ausdruck der sozialen, wirt- der Griechenlandkrise 2015 und dann der schaftlichen und politischen Spaltung der EU. anhaltenden Flüchtlingskrise ist die Solidari- tät der Länder unter deutscher Führung kol- Die Linke in Europa steht vor der Herausforde- labiert. Die Bundesregierung hat hierauf bis- rung, eine gemeinsame Antwort auf diese Spal- lang keine gemeinsame oder gar solidarische tung zu finden und gleichzeitig Politikangebote Antwort gefunden. Viele, vor allem osteuropä- für die spezifischen Situationen in den einzel- ische, Mitgliedstaaten der EU verweigern sich nen EU-Mitgliedstaaten zu formulieren. Das ist kategorisch der Aufnahme von Flüchtlingen keine leichte Aufgabe, denn die europäische aus Afghanistan, Syrien, dem Irak oder den Linke gibt ihrerseits ein vielschichtiges – oder, nordafrikanisch-arabischen Staaten – obwohl negativ formuliert, gespaltenes – Bild ab. In den sie, an der Seite der Vereinigten Staaten, selbst osteuropäischen Staaten ist sie – mit von Slowe- an dem sogenannten Krieg gegen den Terror, nien und partiell Kroatien – absolut marginali- an Bürgerkriegen, Hungersnöten und instabile siert. Relevante Linksparteien bzw. parlamenta- Machtkonstruktionen aktiv mitwirkten. Die rische Vertretungen links der Sozialdemokratie aktuelle Flüchtlingssituation verstärkt dabei existieren dort nicht. nur das Bild eines gespaltenen Europas, das bisweilen gutwillig als ein Europa der unter- DIE LINKE in Deutschland stellt in diesem schiedlichen Geschwindigkeiten beschrieben Zusammenhang einen Sonderfall dar. Sie ist wurde. Hinzu kommt, dass der Konflikt in der die einzige ehemalige Staatspartei, die sich – Ukraine das Verhältnis zu Russland ebenso wie entgegen dem Trend eines historischen wie das Binnenverhältnis der EU-Mitgliedstaaten erneuerten Antikommunismus im Osten Euro- untergräbt. pas – grundlegend erneuern und politisch behaupten konnte. Die einzige andere frühere Bereits infolge der Wirtschafts- und Finanzkrise Staatspartei, die sich behaupten konnte, ist die ab 2008 hat Europa auseinanderdriften lassen: Kommunistische Partei Böhmens und Mäh- In ein wirtschaftlich und politisch dominan- rens (KSČM). Dies hat jedoch nicht den Weg tes „Kerneuropa“ um die Bundesrepublik und einer sich erneuernden, modernen demokra- einen abgehängten, wirtschaftlich schwachen tisch-sozialistischen Partei gewählt, sondern und politisch nicht-souveränen Süden. Die Dik- beharrt auf der Politik und Organisationsform tate der Troika aus Brüssel sind das Instrument, einer klassischen demokratisch-zentralisti- diesen Widerspruch auf Dauer aufrechtzuer- schen kommunistischen Avantgardepartei.

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Doch nicht nur im Osten Europas befindet delt hatten, behaupten sich seit Jahrzehnten sich die Linke in der Defensive. Die zuneh- als parlamentarisch relevante Kräfte. Sie waren menden gesellschaftlichen und innereuropä- zeitweise als Juniorpartner an sozialdemokra- ischen Krisenzeiten haben nämlich vor allem tisch geführten Regierungen beteiligt. Ein gro- die populistische und radikale Rechte gestärkt. ßer Sprung nach vorn konnte damit allerdings In Frankreich ist der rechtsradikale Front Nati- nicht erreicht werden. onal inzwischen stärkste Partei, während die Linke auf niedrigem Niveau stagniert. Und dies Kraft und Erneuerung schöpft die Linke in trotz der Tatsache, dass es in dem Land zwei Europa derzeit nur aus dem Süden, aus Grie- unterschiedliche Linksformationen gibt – die chenland, Spanien und Portugal. Das macht eurokommunistische PCF und die linkssozial- Mut und eröffnet die Chance, alternative linke demokratische Parti de Gauche –, die ihrerseits Politik in ganz Europa wieder verstärkt auf die das Bündnis miteinander gesucht haben. In vie- Bühne der politischen Auseinandersetzung zu len weiteren Ländern sind rechtsradikale oder bringen. rechtspopulistische Kräfte auf dem Vormarsch, so etwa in Österreich, Belgien, Italien, Polen Allerdings ist der Widerstand der Herrschen- und Ungarn. In all diesen Ländern ist die Linke den auch in diesen Ländern groß. Konservative schwach, was auch daran liegen mag, dass hier und Sozialdemokraten haben, im Bündnis mit klassische Kommunistische Parteien den Raum Oligarchien und Wirtschaftsmogulen, im Falle links der Sozialdemokratie besetzen. Griechenlands europaweit fast alles aufgebo- ten, um einen Wahlsieg von Syriza zu verhin- Zum anderen lässt sich die These vertreten, dern. Als dies nicht gelang, setzten sie alles, ein- dass Linksparteien in der Form reiner Protest- schließlich der europäischen Institutionen, in parteien auf Dauer nicht überlebensfähig sind. Bewegung, um die erste Linksregierung in der Soziale Krisenzeiten bedingen keineswegs eine EU in die Knie zu zwingen. In der Folge konnte automatische Hinwendung der Menschen zu Syriza sich zwar an der Regierung behaupten, den Angeboten der radikalen Linken. Vielmehr doch nur um den Preis eines dritten unsozialen müssen sich die Linken in das von ihnen kriti- und antidemokratischen „Hilfspakets“. Seitdem sierte System hineinbegeben, um dort Verände- streitet die Linke in Europa darüber, ob der rungen nach ihren Vorstellungen durchsetzen Konflikt um Griechenland nun als Erfolg oder zu können. In diesem Zwiespalt bewegen sich Misserfolg zu werten ist. freilich alle Linksparteien in Europa. Allerdings fällt es jenen Parteien, die auf „revolutionäre“ Dass die neoliberalen Eliten nicht bereit sind, Lösungen setzen, zunehmend schwer, eine linken Anti-Austeritätsparteien wie Syriza, überzeugende und wahlarithmetisch erfolgrei- die die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich che Antwort auf die Frage zu geben, wie die kon- haben, Macht und Gestaltungsplätze einzu- kreten Problemen der Menschen gelöst werden räumen, zeigt in ganz ähnlicher Weise das Bei- können. Da in Europa in absehbarer Zeit keine spiel Portugal. Portugal ist, wie Griechenland revolutionären Tendenzen gibt, werden diese und Spanien, stark von der Wirtschafts- und Parteien kurz- und mittelfristig bestenfalls Finanzkrise betroffen und musste finanziell kleine Achtungserfolge erzielen können. durch die EU und die Eurogruppe gestützt wer- den. Banken wurden in Milliardenhöhe geret- Die skandinavischen Linksparteien, die sich tet, während soziale Errungenschaften, Löhne bereits in den 1970er und 80er Jahren zu und Renten gekürzt wurden. Die konservative demokratisch-sozialistischen, linkssozialisti- Regierung (2011-2015) unter Ministerpräsident schen oder grün-linken Formationen gewan- Pedro Passos Coelho (PSD) ließ keinen Zweifel

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an ihrer Bereitschaft aufkommen, die von der schritten und Öffnungsprozessen verweigert, Troika geforderten Privatisierungen und Sozial- und wo sie sich spaltet und in Konkurrenz kürzungen durchzusetzen. zueinander steht. Dass sogar erfolgreiche Öff- nungsprojekte wie Podemos nicht frei davon Die Quittung für diese Politik erhielt Passos sind, zeigt das Wahlergebnis in Spanien. Wie in Coelho bei der Parlamentswahl am 4. Oktober Portugal ist es der Linken, den Anti-Austeritäts- 2015. Er verlor seine Mehrheit, und zwei Linksfor- und Bürgerparteien in Spanien nicht gelun- mationen, der „Bloco de Esquerda“ (BE) und die gen, vor der Wahl zu einem breiteren Bündnis Kommunistische Partei Portugals (PCP), erklär- zusammenzufinden. Aber während es in Por- ten ihre Bereitschaft, eine Minderheitsregierung tugal möglich wurde, die Spaltung der Linken der Sozialdemokraten (PS) zu unterstützen. Por- (zwischen Linksblock und KP) nach der Wahl tugals Konservative schürten Ängste vor einer mehrheitsbildend zu korrigieren, bestand diese linken Regierung. Als diese dann nicht mehr zu Option in Spanien, auch aufgrund des kompli- verhindern war, bemühten sie gar das instituti- zierten Wahlsystems und der regionalen Zer- onelle System, um eine linke Regierungsüber- klüftung des Landes, nicht. nahme zu verhindern. Staatspräsident Cavaco Silva (PSD) verweigerte die Ernennung der Links- Die Entwicklung in Spanien, aber auch in regierung, die im Parlament über die Mehrheit Deutschland, zeigt, dass Erfolg und Misserfolg verfügte, und beauftragte stattdessen den Wahl- der Linken immer auch von den institutionellen verlierer, seinen Parteifreund Coelho, mit der Vorgaben (wie Wahlrecht) abhängen. Darüber Regierungsbildung. Erst als diese nach Monaten hinaus spielen Faktoren wie die gesellschaftliche scheiterte, wurde schließlich doch noch die neue Mobilisierung durch die Linke oder die Fähigkeit Linksregierung vereidigt.39 der Linken, Antworten auf die Umbrüche der Gesellschaft zu formulieren, eine wesentliche Die Beispiele Griechenland und Portugal unter- Rolle. Denn fest steht, dass die Linke – gerade streichen, dass die politischen und wirtschaft- vor dem Hintergrund ihrer institutionellen lichen Eliten nicht einmal mehr bereit sind, Benachteiligung – stärker als andere Parteien demokratische Wahlergebnisse zu akzeptieren, das Bündnis mit anderen progressiven Kräften sofern diese dazu führen könnten, dass sie an suchen muss. Nur wenn die traditionellen Spal- Macht einbüßen. Die Linke in Europa ist deshalb tungen der Linken, wie in Griechenland oder umso mehr gefordert, den Druck zu verstärken, Deutschland, überwunden werden und sich alle will sie ihre alternativen politischen Vorstellun- Akteure auf gemeinsame Ziele – wie den Kampf gen gegen diese Eliten durchsetzen. gegen Austerität und Entdemokratisierung – ver- ständigen, können Erfolge erzielt werden. Die südeuropäischen Beispiele zeigen zugleich, dass die Linke in Europa aktuell dort stark ist, Um auf diese Herausforderungen zu reagieren, wo sie als moderne Sammlungsbewegung auf- scheinen jene Linksparteien am besten vorbe- tritt, den Protest der Bevölkerung aufgreift und reitet zu sein, die sich als Sammlungsbewegung in einem breiten Bündnis die Machtfrage stellt. aufstellen, gesellschaftlichen Protest aufgreifen und gleichzeitig offen sind für parlamentarische Hingegen ist die europäische Linke überall dort Bündnisse links der Mitte. Die Linke in Europa in der Defensive, wo sie sich eigenen Reform- ist dann erfolgreich, wenn sie sich selbst einem ständigen Veränderungsprozess unterwirft, 39 Vgl. Dominic Heilig: Den Unterschied herausstellen. sich neuen gesellschaftlichen Milieus zuwendet Wahlanalyse der Portugiesischen Parlamentswahl vom 4. Oktober 2015, www.rosalux.de; ders.: Portugals Linke und von ihrem überkommenen Avantgardecha- vorn, in: „Disput“, 11/2015. rakter verabschiedet.

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Syriza in Griechenland, Podemos und IU in Jahren, von einer randständigen Formation mit Spanien sowie Linksblock und PCP in Portugal vier Prozent Wählerzuspruch zu einer Partei zu haben zudem nachgewiesen, dass es nicht län- werden, die über ein Drittel der Bevölkerung ger ausreicht, soziale Protestpartei zu sein. Sie hinter sich zu bringen verstand. Podemos ver- betonen, dass die Systemfrage sich aktuell als mochte es, innerhalb eines Jahres über 20 Pro- Demokratiefrage stellt. Ohne eine Demokra- zent der Bevölkerung hinter einer alternativen tisierung der „Postdemokratie“ und der euro- politischen Botschaft zu versammeln. In Portu- päischen Integration werden sich soziale Ver- gal, wo Linksblock und Kommunisten zusam- werfungen in den EU-Mitgliedstaaten und der men knapp 20 Prozent der Wählerschaft hinter EU selbst nicht verhindern oder gar umkehren sich bringen konnten, gelang ein ähnlicher Pro- lassen. Gerade das Beispiel Griechenland illus- zess. Der Grund hierfür dürfte auch darin lie- triert, dass der Aufbau eines gerechten Sozial- gen, dass sie nachvollziehbar und glaubwürdig wesens nicht ohne radikale Reform der demo- ihre Bereitschaft bekundeten, Verantwortung kratischen Souveränität und Mitbestimmung für Veränderung über bloße Opposition hinaus zu haben ist. Denn es sind die aktuellen Ent- wahrnehmen zu wollen. scheidungsstrukturen, die – neben den euro- päischen Machtverhältnissen – einen sozialen Auch die deutsche LINKE, welche seit nunmehr Aufbruch in Athen bislang massiv erschwert zehn Jahren zwischen acht und zehn Prozent haben. In Spanien sind es undemokratische Zustimmung generiert, muss, will sie gestaltend Instrumente der Mehrheitsbildung, das konsti- auf die Entwicklung Europas Einfluss nehmen, tutionelle Franco-Erbe und die Monarchie, die die Machtfrage stellen und sich einer zwei- im Dezember einen sozialen Wandel verhindert ten Öffnung unterziehen. Für sie kommt zwar haben, während in Portugal die institutionelle erschwerend hinzu, dass politische Ausein- Macht – in Form der Weigerung des Staatsprä- andersetzungen in Deutschland nicht in dem sidenten, die mehrheitstragende Linke mit der Maße wie im Süden Europas durch soziale Regierungsbildung zu beauftragen – bemüht Bewegungen getragen werden, dennoch gibt es wurde, um eine Abkehr von der Austeritätspoli- Ansatzpunkte für eine Sammlungsbewegung. tik zu verhindern. Bereits ihre erste Öffnung, die Fusion von PDS und WASG, hat viele tausend Bürgerinnen und Die Linke muss, auch das haben die südeuro- Bürger bewogen, sich der neuen Linkspartei päischen Linksparteien eindrucksvoll bewiesen, anzuschließen. Nun geht es darum, den nächs- die Machtfrage gegen die alten Oligarchien und ten Schritt zu gehen und die eigene Mitglied- Herrschaftsstrukturen mit Nachruck stellen. schaft und das eigene politische Spektrum zu Denn auf Dauer kann sie ihre Programmatik erweitern. nicht als Juniorpartner der Sozialdemokratie umsetzen. Diese These wird durch die Erfah- Die Geschichte der europäischen Linken zeigt, rungen der skandinavischen Linken und der dass Öffnungen und parteiinterne Reformen in deutschen LINKEN untermauert. Zwar sind in aller Regel zum Ausbau der Basis und zu Wah- solchen parlamentarischen Bündnissen politi- lerfolgen führen. sche Kurskorrekturen partiell möglich – mehr aber auch nicht. Die kommunistischen und reformkommunisti- schen Parteien hingegen scheinen nicht mehr Syriza und Podemos haben als neue Samm- über die Wirkung und innere Struktur zu verfü- lungsparteien und -bewegungen die Macht- gen, die eine Verbreitung ihrer Basis und ihres frage gestellt. Der griechischen „Koalition der Einflusses möglich machen. Revolutionäre radikalen Linken“ gelang es innerhalb von drei Situationen sind in Europa trotz der anhalten-

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den sozialen und wirtschaftlichen Verwerfun- ihre europäische Spaltung zu überwinden. Mit gen nicht in Sicht. Im 21. Jahrhundert warten diesem Ziel sind Syriza und Podemos in den die Menschen auf dem Kontinent auf keine Wahlkampf gezogen: Sie beschränkten ihre Avantgarde, die ihnen den Weg weist. Es ist Demokratisierungs- und Sozialprojekte nicht daher unwahrscheinlich, dass diese Parteien auf den jeweiligen Nationalstaat, sondern bezie- die Zukunft der Linken in Europa wesentlich hen sich auf die gesamte Europäische Union. beeinflussen oder gar in der Lage sein werden, Dafür aber muss die Linke in Europa auch ihre politische Mehrheiten in EU-Mitgliedsstaaten zu transnationalen Organisationen stärker nut- erobern. zen, wie die Europäische Linkspartei oder die Linksfraktion im Europäischen Parlament (GUE/ Die klassischen linkssozialistischen und links- NGL). Dann kann künftig vielleicht auch ver- sozialdemokratischen Parteien Europas, wie in hindert werden, dass etwa im Baskenland drei Skandinavien oder den Niederlanden, werden es linke Parteien bei gegeneinander antreten, die in naher Zukunft schwer haben, ihre bisherigen zugleich alle drei Teil der GUE/NGL sind. – wenngleich stabilen – parlamentarischen Ein- flusssphären auszubauen. Dafür sind sie schlicht Der europäische Frühling, der im Januar 2015 zu sehr vom strategischen Verhalten der Sozial- mit Syrizas Wahlsieg in Athen begann, ist demokratien in ihren Ländern abhängig. bislang nicht in einem europäischen Winter geendet. Aber die Herausforderungen bleiben Parteien mit Zukunft stellen vor allem jene gewaltig. Viel wird davon abhängen, ob es, nach Formationen dar, die als linke Sammlungsbe- Griechenland und Portugal, auch in Spanien wegungen ihre eigene Reform oder Öffnung zu einer Linksregierung kommt. Und 2016 ste- betreiben. Die Arbeitswelten sind – durch Glo- hen weitere wichtige Wahlen für die Linke an, balisierung, Digitalisierung und einen Wan- beispielsweise in Irland, einem weiteren von del des kapitalistischen Systems hin zu einem Austeritätspolitik gebeutelten EU-Land. Von finanzmarktgetriebenen Kapitalismus – im entscheidenderer Bedeutung aber dürfte die hohen Maße Veränderungen ausgesetzt. Die- Bundestagwahl 2017 sein. Gelingt es, DIE LINKE ser Prozess hat massive Auswirkungen auf sozi- zu stärken und Bundeskanzlerin Angela Merkel, ale Beziehungen und Milieus. Nur Parteien, die die Architektin der europäischen Austeritäts- darauf neue programmatische und organisato- politik, zu bezwingen, kann sich Europa in eine rische Antworten finden, dürften längerfristig andere, sozialere und demokratischere Rich- überlebens- und mehrheitsfähig sein. tung entwickeln.

In jedem Falle hat das so wichtige Jahr 2015 Fest steht: Die europäische Linke muss auf die gezeigt, dass die Linke in Europa nur dann über- Herausforderungen der Gegenwart reagieren leben, bestehen und vielleicht sogar erfolgreich und sich weiterentwickeln. Dies wiederum kann sein kann, wenn sie sich nicht auf den National- im 21. Jahrhundert nur heißen: linke Politik staat beschränkt, sondern europaweit koope- demokratisch und pluralistisch zu definieren riert und handelt. Eine einzige Linksregierung in – und sich nicht in der Oppositionsrolle einzu- Europa macht eben noch keinen roten europä- richten, sondern die eigene Regierungsfähigkeit ischen Frühling. Die Linke täte daher gut daran, und -willigkeit in den Blick zu nehmen.

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