Aus der Rille

PSYCHEDELISCHE MUSIK VON 1969 BIS 2019

Grundsätzlich lassen sich bestimmte innovative Entwicklungen in der populären Musik von 1967 – 1969 unter dem Begriff «Psychedelische Musik» zusammen- fassen. Die psychedelischen Wurzeln dieser Musik liegen auf jeden Fall im Konsum von LSD in den USA. Dort wurde LSD seit den späten 1950er-Jahren mit staatlicher Erlaubnis in Psychotherapien eingesetzt. Ebenfalls ist der in Südamerika bekannte Mescalin-, Psilocybin- und Kokainkonsum als weitere Quelle dieser Musik zu bezeichnen. VON PETER TRÜBNER

Und genauso bezogen viele Musiker ihre Inspiratio- Bewusstseinserweiterung für ihre Musikproduktion. nen aus dem Rauchen von Cannabis (genannt Gras, Nur Frank Zappa hat immer deutlich betont, dass er Weed oder Marihuana und Haschisch), welches sie keine psychedelischen Drogen nehmen würde. Zap- aus Südamerika, dem nördlichen Afrika und aus dem pa sagte mal: «Mit LSD im Kopf würde meine Musik asiatischen Raum rings um Indien bezogen. mich sicher verrückt machen.» Bereits 1964 sangen die beiden Folk-Musiker Holy Modal Rounders auf ihrer ersten LP im «Hesitation EXPERIMENTIERLUST Blues»: «I got the psychedelic blues» oder in «Reu- Die psychedelische Musik verliess in der populären ben‘s Train»: «some cocaine, give me some». Musik zuerst den einfachen und durchgängig tanz­ baren rhythmischen Aufbau, der für Rock‘n‘Roll wie OHNE FRANK ZAPPA für die Beat-Musik bestimmend war. Die Musiker Im Jahre 1967 verbreiteten die Beatles, Rolling Sto- arbeiteten mit Brüchen in der Struktur ihrer Musik. nes, Doors, Grateful Dead, Beach Boys, Jimi Hend- Gleichzeitig setzten sie immer neue Instrumente im rix, Small Faces – um nur einen winzig kleinen Aus- Tonstudio ein. Damit schufen sie neue Klangfarben. schnitt zu nennen – mit ihren Schallplattenveröffent- Wesentlich zu erwähnen ist, wie in der psychedeli- lichungen Einblicke in die mit Drogen erreichbare schen Musik die Band als Gruppe für alle Mitspielen-

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AAA_S_19_28-35_Rille_Spsychedelic.indd 28 11.08.19 14:59 den Räume zum Experimentieren mit ihren individu- ellen Ausdruckswünschen schuf.

MIT TIMOTHY LEARY Das Motto des LSD-Predigers und Psychologie-Pro- fessors Timothy Leary – «Turn on, tune in, drop out» – war in der Musik bis zum Woodstock-Festival im August 1969 sicher ein Leitmotiv. Spannend ist für mich, wie mit diesem grossen Festival der psyche­ delischen Musik die breite industrielle Kommerzia- lisierung dieser Musik begann und gleichzeitig die kommende Verfolgung der Konsumenten der ge- nannten psychedelischen Drogen eingeläutet wur- de. Timothy Leary wurde im 1970 wegen eines Ma- rihuana-Delikts zu zehn Jahren Gefängnis verurteilt Denn Carlos Santana hatte die noch lebenden Musi- – er war vorbestraft, neu wurden in seinem Auto zwei ker Gregg Rolie, Michael Shrieve, Michael Carabello Joints gefunden. Der Kassenerfolg von Woodstock und Neal Schon für diese Aufnahmen als wichtigen dagegen trug dazu bei, dass 1970 nachträglich das Teil seiner Begleitband ausgewählt. Mit diesen Mu- Monterey International Pop Festival von 1967 kom- sikern spielte er bis 1971 und damit bis zu Santana III merziell verwertet wurde; es gilt als musikalischer zusammen. Santana IV ist die Fortsetzung der Anfän- Auftakt zur so genannten Hippie-Kultur. ge und die Wiederholung dessen, was die Anfänge Hier verweise ich nun auf vier Veröffentlichungen hin, von Santanas Erfolg ausmachten. die den Bogen von den Anfängen vor 50 Jahren bis Diese Anfänge sind durch das Ende August 1969, erst zur Gegenwart spannen. nach ihrem Auftritt in Woodstock veröffentlichte erste bestimmt mit den Titeln «Evil Ways», «Jingo», REUNION – SANTANA IV: «Soul Persuasion». Wer Zugang zu den kompletten «LIVE AT THE HOUSE OF BLUES, LAS VEGAS» Aufnahmen ihres Auftritts am Woodstock Festival um «Santana IV Live» erschien als Studio-LP im April 14.00 Uhr am Nachmittag des 16. August 1969 hat, 2016. Carlos Santana (guitar, vocals), Neal Schon kann deutlich hören, wie dem ersten spärlichen Bei- (guitar, vocals), Gregg Rolie (hammond B3, lead fall von Stück zu Stück mehr Aufmerksamkeit des vocals), Michael Shrieve (drums) und Michael Cara- ­Publikums folgte, zusammen mit immer lauterem bello (congas, percussion, backing vocals), mit Karl Beifall bei dem knapp 45 Minuten langen Set. Als Perazzo (percussion, vocals), Benny Rietveld (bass) damals noch unbekannte Gruppe, die Bill Graham, und David K. Mathews (keyboards), veröffentlich- der Leiter des Fillmore East und West, empfohlen ten mit Special Guest Vocalist Ronald Isley bereits hatte, spielten sie für eine Gage von 1‘500 USD. San- im Oktober 2016 das mit 3 LPs und 1 DVD perfekte tana nutzten ihre Chance und begannen ihren Erfolg Live-Album ihrer Reunion. wesentlich mit dem Film über Woodstock.

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TRAUMHAFTES ZUSAMMENSPIEL genau zu hören sind und der Bass mit vollem Ton Es geht mir um diese 3 LPs «Santana IV - Live at the körperlich spürbar im Raum steht. Genau die Hälfte House oft Blues, Las Vegas» mit der beiliegenden der insgesamt 24 gespielten Titel sind die bekann- DVD. Es lohnt sich, mit der DVD zu beginnen. Bereits testen Stücke der frühen Jahre von Santana. Die wei- die ersten Takte machen deutlich, dass diese Band teren 12 Stücke sind von der bereits erwähnten Stu- fast 50 Jahre nach ihrem ersten Erfolg immer noch dio-LP «Santana IV». mit einer enormen Freude und vor allen Dingen mit einem traumhaften musikalischen Zusammenspiel Zu erwähnen bleibt nur, dass die LPs endlich mal begeistern kann. Weil ich Santana oft in Berlin gese- wieder perfekt, ohne jedes Knistern abgespielt wer- hen habe, finde ich, hier spielen die ursprünglichen den können. Die Pressung ist ausgezeichnet. Es Musiker mit einer Perfektion, die sie früher nur selten macht Freude, das Album mit dem 3-fach ausklapp- so stimmig erreichten. baren Gatefold aufzuklappen. Der Wechsel von den Papier-Sleeves in gefüllte Hüllen fällt bei der übrigen Bereits mit dem ersten Stück «Soul Sacrifice» zei- hohen Qualität leicht. gen Santana IV, was ihren frühen Erfolg ausmachte. Die rhythmische Verbindung von südamerikanischer Neu bringt Santana in die psychedelische Musik sein Gitarrenspiel ein, das er von den mexikanischen und kubanischen Gitarristen gelernt und rockig wei- ter entwickelt hat. Die «Santana IV live» zeigt nach

Musik mit Rock und sogar Jazz wird bei dem langen so langer Zeit immer noch, was die psychedelische Schlagzeug-Solo von Michael Shrieve und dem fol- Musik ausmachte: Das Zusammenspiel mit der stän- genden Einsatz der ganzen Band mit einer unglaub- digen Möglichkeit zum freien Improvisieren. Bei San- lichen Präsenz der Musiker vorgespielt. Es ist die tana entstehen in der Verbindung von Schlagzeug pure Freude am Musik spielen, mit der seine frühen mit zwei Perkussionisten, dem eigenwilligen Ham- Musiker dem Gitarristen Santana zeigen, wie leben- mond-Sound und der treibenden Gitarre neue Klang- dig sie abseits von dessen grossen Erfolgen geblie- farben, die bis dahin in der Beat-Musik keinen Platz ben sind. Gregg Rolie und Neal Schon gingen ab gefunden hatten. 1971 ihre Wege mit Journey oder in Ringo Starr‘s All Starr Band wie mit ihren Solo-Produktionen. Michael JIMI HENDRIX: «MACHINE GUN» – THE FILLMORE Shrieve spielte nach seinem Ausstieg bei Santana im EAST FIRST SHOW 12/31/1969 1974 in der Folge in den verschiedensten Bands mit, Bei dem erwähnten Woodstock-Festival war Jimi selbst auf «Emotional Rescue» der Rolling Stones. Hendrix der Publikumsmagnet. Hendrix hatte vor- Michael Shrieve blieb mit experimentellen oder am her auf seinen drei Studio-LPs mit der Jimi Hendrix Jazz orientierten Musikern verbunden. Experience bewiesen, dass die Grenzen des Gitar- renspiels sich endlos erweitern lassen. Von der ers- LAUT HÖREN! ten eigenen LP «Are You Experienced» an schuf er Die Freude und Perfektion des 1. Stücks geht auf den vollkommen neue Klänge, sowohl mit seinem Gitar- Schallplatten auf eine Weise weiter, dass ich jedes renspiel wie mit seinem teilweise surrealen Gesang, Mal die Anlage lauter und lauter stelle bis zu den 85 dessen Texte oft seine Drogenerfahrungen wieder- dB Durchschnittslautstärke, bei denen alle Details gaben.

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AAA_S_19_28-35_Rille_Spsychedelic.indd 30 11.08.19 14:59 «Electric Ladyland» von 1968, seine letzte abge- heraus mit Jimi Hendrix, seinem Armee-Freund Billy schlossene Studio-Produktion, war die kultige Dop- Cox und dem vorher bei «Electric Flag» neben Mi- pel-LP, die sicher dazu beitrug, dass Hendrix für chael Bloomfield spielenden Schlagzeuger Buddy seinen Auftritt in Woodstock (im Gegensatz zu den Miles. «Band Of Gypsys» ist eine gute Aufnahme, die 1‘500 USD für Santana) tatsächlich 30‘000 USD er- so schnell mit der Bewilligung von Hendrix erschien, hielt: 18‘000 USD für den Auftritt als Headliner des weil er seinen Plattenvertrag erfüllen musste. Festivals und 12‘000 USD für die Filmrechte. Nach nur zwei Proben mit der neuen Band und einem Auf- Doch mir geht es um die erst Ende 2016 erschiene- tritt, bei dem die verstimmte Gitarre so laut verstärkt ne Aufnahme des 1. Konzerts der Band of Gypsys an wurde, dass die beiden zusätzlichen Perkussionis- Sylvester in dem für 2‘600 Besucher zugelassenen ten kaum zu hören waren, blieb hauptsächlich sein New Yorker Fillmore East. Es ist die Aufzeichnung «Star Spangled Banner» aus dem Woodstock-Film in des ersten der vier Auftritte dieser Band an den bei- Erinnerung. Der Auftritt war nicht so schlecht, wie oft den Tagen. Die Fülle der nach seinem Tod heraus- behauptet wird, doch es ist eine andere Aufnahme, gebrachten Hendrix-LPs machte mich zunehmend die mich nachträglich begeistert. skeptisch. Nachträglich mit neuen Studio-Musikern zusammengesetzte Aufnahmen verleideten mir die

Noch zu Lebzeiten von Hendrix erschienen vor sei- Freude an seiner Vermarktung. Nur die 1998 erschie- nem Tod im September 1970 Live-Aufnahmen der nenen «BBC Sessions» halte ich für erwähnenswert. Band of Gypsys, des Woodstock-Konzerts und sei- nes bahnbrechenden Auftritts in Monterey, bei dem THE FIRST SHOW er zum Schluss seine Gitarre mit Feuerzeugbenzin in Aber als ich jetzt im 2019 zum ersten Mal in die Dop- Brand setzte. Hendrix zeigte seine psychedelische pel-LP «Jimi Hendrix – Machine Gun: The Fillmore Inszenierung über Kleidung, Haarstil und Auftritte, East First Show 12/31/1969» hineinhörte, musste ich bei denen er die Gitarre hinter seinem Rücken spielte sie kaufen. Denn darauf ist die Freude und stellen- oder die Saiten bei einem Solo mit den Zähnen an- weise Aggressivität und vor allen Dingen die Expe- schlug. rimentierfreude des Jimi Hendrix von 1969 zu hören. Bei seinem ersten Auftritt mit der Band of Gypsys FILLMORE EAST nach nur zwei Wochen Proben ist Jimi Hendrix ner- Mit insgesamt vier Sylvester-/Neujahrskonzerten am vös. Deshalb gibt er alles, um seinem Wunsch für das 31. Dezember 1969 und 1. Januar 1970 spielte Jimi Konzert gerecht zu werden. Die 70 Minuten auf den Hendrix mit seiner neu gegründeten Band im Fill­ beiden LPs machen klar, was Hendrix damit meinte, more East auf Einladung vom erwähnten Bill Gra- als er im Vorfeld für das Konzert ankündigte: «I want ham. Die Grateful Dead durften erst am 2. und 3. to bring it back to earth. I want to get back to the Januar – nach den Feiertagen – dort auftreten. Im blues, because that‘s what I am.» (‘Ich will wieder auf Eiltempo brachte Capitol bereits im März 1970 die den Boden. Ich will zurück zum Blues, denn das bin bekannte Platte vom Neujahrskonzert dieser Band ich.’ – Red.)

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Mit dem festen und sicheren Rhythmushintergrund ist das von Jimi Hendrix gewünschte vierte Album, für von Buddy Miles bleibt Hendrix nicht im traditionel- das er keine Studio-Produktion wünschte. Vielmehr len 12-Bar-Blues oder im Boogie stecken. Er spielt gelingt ihm vor dem Publikum live eine Vorführung den Blues auf seine Art, indem er bei dieser Aufnah- seiner Faszination als ultimativer Gitarrist der dama- me – auch wegen der Nervosität nach den wenigen ligen psychedelischen Musik. Die gesamte innovati- Proben und den deshalb unsicheren Songstrukturen ve Suche nach neuen Klangfarben ist hier zu hören, – seine enorme Kompetenz als Gitarrist vollkommen welche die psychedelische Musik voran trieb. ausschöpft. Auf dem Stück «Bleeding Heart» wird Nach dem Tod von Jimi Hendrix bleibt eine Songzeile deutlich, wieviel Gefühl Jimi Hendrix immer noch für aus dem Blues von Elmore James «Bleeding Heart» den Blues hat. Bisher galt «Electric Ladyland» als die hängen, die er mehrmals auf Seite 3 des Doppel-Al- Studio-LP, die zeigt, was sich mit der Gitarre machen bums wiederholt: «Understand a little loving is all I lässt. Doch auf «Machine Gun» holt Jimi Hendrix need. And it causes my heart to bleed.» (‘Verstehst ohne Studio-Bearbeitung live auf der Bühne des Fill- du, ein bisschen Liebe ist alles, was ich brauche. Und more sein perfektes Repertoire hervor. Seine Melodi- das lässt mein Herz bluten.’ – Red.) en und seine Zwischentöne, noch dazu hinter seinem Die LPs sind vorbildlich gepresst. Die Gatefold-Hülle Gesang, sind an vielen Stellen unglaublich. und die 8 Seiten lange Beilage mit den neuen Fotos sowie den Begleittexten kommen dem damaligen Bei diesem ersten Auftritt mit dieser neuen Band zei- Zeitgeist entgegen. gen die drei Afro-Amerikaner, wie sich Blues mit Soul und Funk verbinden lässt, und wie der Blues dabei «PSYCHEDELIC» HEUTE seine innovative Kraft behält. Buddy Miles singt pas- Weil psychedelische Musik mit dem folgenden Prog- send: «With the power of soul anything is possible.» Rock und den darin von der Klassik übernommenen Billy Cox sagt später zu dem Konzert vom Sylves- strengen Arrangements ihre Wurzeln im Blues Stück terabend: «Wenn ich einen Fehler machte, ging Jimi für Stück abgesägt hat, war ich überrascht, wie viele darauf ein und passte sein Gitarrenspiel darauf an.» Musik sich selbst im 2019 noch als Psychedelic Rock, Diese Spontanität ist leider auf der Veröffentlichung als Psychedelic Blues/Hard Rock, als Space Rock, des Neujahrskonzerts nicht mehr zu hören. Erst «Ma- als Psychedelic Trance, als Psy-Prog, als Psychede- chine Gun» zeigt das gesamte Potential dieser Band. lic Jazz oder als Psychedelic Doom/Black Metal be- zeichnet. KEIN STILLSTAND, SONDERN RISIKO Vielleicht haben die Legalisierungsanstrengungen Weil sie nicht die bekannten Hits von Jimi Hendrix für Cannabis dazu beigetragen. Eher ist aber zu ver- spielen, erfüllte die Band of Gypsys nicht alle Hörer- muten, dass mit dem Begriff «Psychedelic» weiter wünsche. Doch die Doppel-LP zeigt jetzt etwas auf: eine Veränderung und Erweiterung der Wahrneh- Jimi Hendrix konnte nie musikalisch stehen bleiben. mung von Musik angestrebt wird. Er suchte immer wieder nach neuen Formen, um sei- Wie dies heute noch gelingt, will ich an zwei weite- ne Freiheit als Bandleader ausleben zu können. Im ren LPs deutlich machen, die erst 2019, also 50 Jah- letzten Stück auf der 4. Seite «Burning desire keeps re nach dem gerade besprochenen Hendrix-Konzert, my magic fire» beweist Jimi Hendrix noch einmal erschienen sind. deutlich, welche Improvisationen einen guten elektri- schen Blues ausmachen. Diese Bereitschaft, ein Risi- DEERHUNTER: «WHY HASN‘T EVERYTHING ko vor einem Publikum einzugehen, das vielleicht nur ALREADY DISAPPEARED?» die bekannten Hits hören will, macht die Faszination Seit 2001 besteht die US-amerikanische Band Deer- des ganzen ersten Konzerts aus. hunter mit Branford Cox als Sänger und Gitarris- ten mit ständig wechselnden Besetzungen. Nur der Bill Graham beschreibt noch im 1987 seine Erinne- Schlagzeuger Moses Archuleta (seit 2001) und der rung an dieses erste Sylvesterkonzert der Band of zweite Gitarrist Lockett Pundt (seit 2005) sind von Gypsys mit Jimi Hendrix so: «I will never see again den Anfängen geblieben. a performance by a guitarist-vocalist with that inten- Die Schablonen, mit denen ihre Musik bezeichnet sity, with that total emotional impact. It was like an wird, reichen für die frühen Aufnahmen als Grunge adagio dance. The guitar was the snake, and he was bis zu Psychedelic Pop für die neue LP «Why Hasn‘t the snake charmer.» (‘Ich werde nie wieder eine solch Everything Already Disappeared?» (‘Weshalb ist intensive, emotionale Vorführung sehen. Es war wie nicht bereits alles verschwunden?‘ – Red.) ein Tanz in adagio. Die Gitarre war die Schlange und Diese LP wurde von Cate Le Bon produziert, welche er war der Schlangenbeschwörer.’ – Red.) Besser auf dem ersten Titel «Death In Midsummer» ein be- lässt sich nicht ausdrücken, was hier zu hören ist. Es stimmendes Cembalo spielt. Branford Cox führt mit

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AAA_S_19_28-35_Rille_Spsychedelic.indd 32 11.08.19 14:59 FEINSTE STRUKTUREN Diese Texte passen nicht zu einer Musik, die zuerst von manchen Kritikern als belanglos und zu unter- haltsam und poppig wahrgenommen wurde. Dage- gen wurde «Why Hasn‘t Everything Already Disappe- ared?» von anderen Kritikern wiederum als die Platte der Woche gefeiert. Deren Lob der Musik zusammen mit den Texten ist nur im Kontext der psychedeli- schen Musik richtig zu verstehen. Denn beim genau- en Zuhören löst sich der oberflächliche Dream Pop auf und immer mehr feinste Musikstrukturen sind zu hören. Seit 2016, als Javier Morales zu Deerhunter gekommen ist, nutzen sie neben dem traditionellen Rockinstrumentarium die verschiedensten elektro- nischen Instrumente, aber gerade auch Instrumente aus der klassischen Musik, um nur einige Anklänge «Come on down from that cloud, and cast your fears zu nennen. Es wäre unsinnig, wenn ich hier alle Ins- aside» in die Platte ein, bevor er das eigentliche The- trumente aufzählen wollte, die auf der Schallplatte ma anspricht: «Your friends have died, and in their gespielt werden. Die Aufzählung findet sich auf dem lives, they just fade away. Some worked the hills, Innencover, auf dem auch alle Texte abgedruckt sind. some worked in factories. Worked their lives away. And in time you will see your own life fade away. Mit dem ausführlichen Innencover schaffen Deerhun- There was no time to go back.» (‘Deine Freunde sind ter nicht nur Musik zum Nachdenken über die tief- tot und in ihrem Leben sind sie einfach verwelkt. Eini- gründigen Texte. Sondern jedes Stück lässt Raum für ge waren oben, andere blieben unten. Sie arbeiteten ein intensives Hörerlebnis, bei dem die aufgeführten sich kaputt. Und du wirst auch verwelken. Keine Zeit Instrumente deutlich zu hören sind. Dabei löst sich zur Umkehr.‘ – Red.) die vorher einfache, weil oberflächliche Pop-Struktur auf und es wird bewusst, mit welch tiefgründiger In- ALLES VERSCHWINDET tensität Deerhunter ihre absolut eigenwilligen Klang- Bereits diese depressiven Texte zwingen zum ge­ farben zusammengemischt haben. naueren Zuhören. Sie sind vielleicht davon geprägt, dass Branford Cox an einer seltenen Erbkrankheit ANKLÄNGE AN FRÜHERE BANDS leidet, dem Marfan-Syndrom (Instabilität aller Bin- Spannend ist für mich, wie neben den erst heute im degewebe des Körpers). Vielleicht ist das «fading Studio möglichen Klangproduktionen von der Band away» (verblassen, verwelken) aber ein Thema, das immer wieder Momente eingebaut werden, die in ihn beschäftigt, seitdem er im 2014 von einem Auto der frühen US-amerikanischen Psychedelischen Mu- angefahren und schwer verletzt wurde. Auf jeden sik hörbar waren. Da gibt es Erinnerungen an die Fall ist «disappearing» (verschwinden) für die ge- Byrds von ihrem Album «The Notorious Byrd Bro- samte Schallplatte bestimmend. Bereits das nächste thers» oder deren Live-Album «Untitled». Und genau- Lied «No One‘s Sleeping» (‘Niemand schläft’) hört auf so sind Anklänge an Tommy James & the Shondells mit «There is peace – the great beyond» (‘Da gibt’s mit «Crimson and Clover», an die Box Tops mit «Cry ­Frieden – im Jenseits’), als wäre persönlicher Frieden Like a Baby» oder an Love mit «Alone Again Or» wie erst in einem Jenseits erreichbar. Und es geht weiter sogar an die Lemon Pipers mit «Green » mit: «What happens to people, what happens to you? zu hören. Um bei den 1967/68er Bands zu bleiben. Es They fade out of view.» (‘Was geschieht mit den Men- finden sich Momente der Musik von The Strawberry schen, was geschieht mit dir? Sie verschwinden aus Alarm Clock, der Count Five, den Zombies und so- dem Gesichtsfeld.‘ – Red.) gar Klänge von Gary Puckett & The Union Gap sind Sicher passen diese Textzeilen zu der momentanen in einer überraschend neuen Mischung verarbeitet Jugendbewegung mit deren Frage nach einer mög- worden. Deerhunter spielen live am 29. August 2019 lichen Zukunft. In «Futurism» singt Brandon Cox wie beim Festival Nox Orae in La Tour-de-Peilz in der als Kommentar zur vermuteten Klimakatastrophe: Nähe von Vevey. «Your cage is what you make it. If you decorate it, it goes by faster.» (‘Dein Käfig ist das, was du dar- Deerhunter als Band lassen nicht zu, dass behauptet aus machst. Wenn du ihn schmückst, verschwindet er werden kann, in der aktuellen Musikproduktion pas- schneller.’ – Red.) siere nichts wesentlich Neues mehr. Noch nie erlebte

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Aus ist der Schlagzeuger bei ich Monat für Monat so viele Neuerscheinungen aus den folgenden Musikproduktionen ge- allen verfügbaren Musikstilen wie in den letzten Jah- folgt. Beide sind bereits seit der Sekundarschulzeit ren. miteinander befreundet. Zusammen mit vielen Gast- musikern veröffentlichten sie ihre Aufnahmen als Die psychedelische Musik scheint nicht aufzuhören. «O‘rang» auf insgesamt drei Alben zwischen 1994 – Sie überlebt in immer neuen Formen, die zum Teil 1996. Die stundenlangen Improvisationen ihrer Gast- deutlich hörbare Bezüge zu den Anfängen dieser musiker verbanden beide mit ihrer eigenen Musik so, Musik nehmen. als würden sie die Musik von Talk Talk fortsetzen, nur ohne den bestimmenden Gesang von . RUSTIN MAN (PAUL WEBB): «DRIFT CODE» Seine musikalische Tradition hat Rustin Man in Bri- Mit Beth Gibbons, der Sängerin der Trip-hop-Band tannien. Seine Musik auf «Drift Code» ist typisch bri- Portishead, nahmen beide das 2002 veröffentlichte tisch an den frühen psychedelischen Folk-Musikern Album «Out Of Season» auf. Dieses Album erschien der Insel ausgerichtet. Mit seinem richtigen Namen unter den Namen von Beth Gibbons und Rustin Man, Paul Webb war er der Bassist von Talk Talk. Zusam- so nannte sich Paul Webb jetzt. Die musikalischen men mit Mark Hollis und Lee Harris prägte er die in Einflüsse bewegten sich zwischen Trip-hop, Folk und der Hitparade erfolgreiche Phase dieser Band von Jazz. «The Party‘s Over» (1982) bis zu «» (1988). «Spirit of Eden» ist unbedingt ein notwendiger GEWÖHNUNGSDÜRFTIG Teil der Platten-Sammlung. In dem 17 Jahre später im Februar 2019 erschiene- nen Album «Drift Code» singt zum ersten Mal Rustin «Have You Heard The News?», «», «It‘s Man (Paul Webb) selber auf allen Songs ausser dem My Life», «Life‘s What You Make It» von Talk Talk wa- Instrumentalstück « Dream». Seine Stim- ren in den 1980er-Jahren herausragende Songs der me ist enorm gewöhnungsbedürftig. Sie bewegt sich Indie-Musik. Die sich eigenwillig entwickelnde Musik irgendwo zwischen dem Gesang von Robert Wyatt, mit der charakteristischen Stimme von Mark Hollis Mike Heron von der Incredible String Band und sogar und den eigenen, im Studio bearbeiteten elektroni- Roy Harper. Es ist keine unterhaltende Stimme und schen Effekten der Band lief im Radio genauso wie in Rustin Man singt Texte, die nah an Halluzinationen den Diskotheken. angesiedelt sind.

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AAA_S_19_28-35_Rille_Spsychedelic.indd 34 11.08.19 14:59 Auf «Brings Me Joy» singt er: «When it comes from «PFORTEN DER WAHRNEHMUNG»? the voice of angels how do I keep you listening? Psychedelische Drogen sollten nach der Meinung Give you a chance to hear them sing? I know you‘ll des Harvard-Psychologie-Professors Timothy Leary be happy then.» (‘Wenn die Engel singen, wie bringe die Pforten der Wahrnehmung (nach «The Doors of ich dich zum Zuhören? Wie helfe ich dir, damit du Perception» von Aldous Huxlex, 1954) öffnen. Leider sie hörst? Ich weiss, dass du dann glücklich wärst.’ haben sich dabei manche Musiker wie Syd Barrett – Red.) Sein stellenweise beissender Gesang macht von Pink Floyd verloren oder viele andere Musiker die LP nicht zu einer leicht konsumierbaren Aufnah- wie Jimi Hendrix versuchten im Anschluss Heroin, an me, die ihren Weg in die Hitparade finden könnte. dem sie kaputt gegangen sind. Vielmehr verlangt die Schallplatte wiederholtes Hö- Doch parallel zu dem gesellschaftlich sich verbrei- ren, um Zugang zu finden. Das Cover mit der hollän- tenden Konsum von psychedelischen Drogen ent- dischen Strassenorgel bereitet ein Stück weit auf die stand bei Musikern eine Bereitschaft, Musik mit den eigenwillige Musik vor. dabei möglichen Klängen immer wieder neu zu er- Denn auch die Musik hat deutlich an Komplexität zu- finden und zu verändern. Diese Suche nach neuen genommen seit dem Album, das er zusammen mit Klängen ist in den beiden Beispielen von 2019 bei Beth Gibbons aufnahm. «Drift Code» klingt stellen- Deerhunter und bei Rustin Man vorhanden. Die Fül- weise so, als hätte die Incredible String Band Anlei- le von sogenannt psychedelischer Musik, die 2019 hen beim Jazz von Henry Cow, bei Ethno-Musik und bereits veröffentlicht wurde, lässt vermuten, dass die an vielen Stellen bei harten Rock-Melodien genom- Suche nach neuen Klängen immer weiter geht. ● men. Natürlich ist Lee Harris weiter dabei am Schlag- zeug. Doch hat er die gerade rhythmische Struktur verlassen, die er bei Talk Talk den Stücken unterleg- te.

SURREAL Rustin Man erfindet surreale Musik. Acht verschie- dene Musiker spielen auf insgesamt 33 verschiede- nen Instrumenten. Beim Lesen der Texte, die in dem 4-seitigen Booklet komplett abgedruckt sind, wird verständlich, wie perfektionistisch Rustin Man vorge- gangen ist. Denn er schafft es, seine Texte mit immer neuen kleinen musikalischen Interventionen zu un- terstreichen. Ein weiteres Textbeispiel soll das unterstreichen, was ich mit den psychedelischen Texten meine, die nah an Halluzinationen stehen. Aus «The World in Town», dem ersten Stück auf der zweiten Seite: «And the world keeps on turning like it‘s never been turned before. And my mind is expanding over rivers and fields wanting more. Left up here in space. I‘m part of the Milky Way. I‘m drifting from day to day and everywhere feels like my home.» (‘Und die Welt dreht sich wie nie zuvor. Und meine Seele entfaltet sich über Flüsse und Felder und will mehr. Im Weltraum. Ich bin Teil der Milchstrasse. Ich schwebe von Tag zu Tag und bin überall zu Hause.’ – Red.) Rustin Man ist es gelungen, eine Schallplatte auf- zunehmen, die sich mit einzelnen Soloproduktionen von Robert Wyatt vergleichen lässt. Doch er ist – wie die Incredible String Band – um etliches vielfältiger in seinen immer neuen musikalischen Ausdrucksfor- men. Auf seiner Webseite rustinman.com finden sich Links zu zwei Videos mit den ersten beiden Titeln von dieser Platte. Sie zeigen Einblicke in seine psy- chedelische Welt.

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