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Werbeseite MNO DAS DEUTSCHE NACHRICHTEN-MAGAZIN

Hausmitteilung Betr.: Titel, Solschenizyn

a Die Deutschen, höhnt der Theatermann Peter Zadek, seien “das einzige Volk auf Erden, das ein schlechtes Gewissen mehr genießt als eine schöne Frau“. Er hat vermutlich recht, allerdings berei- tet der Genuß des schlechten Gewissens erfahrungs- gemäß ja auch Qual. Aufregender ist das Schürfen nach der deutschen Identität, die Inspektion deut- scher Befindlichkeit schlechthin. Sogenannte ver- spätete Nationen (außer der deutschen beispielswei- se auch die israelische) sind darauf geradezu ver- sessen, und die Medien kommen daran nicht vorbei. Als SPIEGEL-Reporter Cordt Schnibben gegen den Tanz um das Goldene Kalb “Nation“ polemisierte (50/1993), war die SPIEGEL-Redaktion in Pro und Contra gespalten. Die Impressionen, die SPIEGEL-Re- porter Jürgen Leinemann im Deutschland dieser Tage gewann, sind sanfter, weniger spektakulär. Er be- schreibt die – unvermeidlichen? – Folgen, nachdem die beiden deutschen Teilstaaten so “unversehens aus ihren relativen Idyllen gefallen sind“. Am En- de des Tunnels müßte nicht zwangsläufig der häßli- che, unheimliche oder auch nur unbeliebte Deutsche dräuen, der Abenteuer auf einem neuen “Sonderweg“ sucht – Titelfigur so mancher SPIEGEL-Ausgabe. Leinemann setzt vielmehr darauf, daß “mit dem Be- griff des Nationalen nicht nur Barbarei in unsere Gegenwart hineinragt“, sondern auch ein kühler Verfassungspatriotismus, der freilich wenig Gebor- genheit gibt, statt dessen den Bürgern zivile An- strengungen abverlangt (Seite 40). a “Warum fahren Sie so weit?“ fragte unwirsch Alex- ander Issajewitsch Solschenizyn, als die SPIEGEL- Leute Andrej Batrak und Walter Mayr wissen woll- ten, warum der große Mo- ralist sich nach seiner Rückkehr aus 18jährigem US-Exil ausgerechnet unter dem Schutz zwielichtiger Geschäftsleute am Ostrand Sibiriens durch die wie- dergefundene Heimat habe führen lassen. Seltsam genug: Ehemalige KGB-Män- ner schirmten den Schriftsteller, jahrelang Opfer übler KGB-Attacken, bei seinem Auftritt in Wladiwostok vor der aus- ländischen Presse ab. Der SPIEGEL-Fotograf wurde gar tätlich an seiner Arbeit Solschenizyn, Ehefrau in Wladiwostok gehindert (Seite 142).

DER SPIEGEL 23/1994 3 TITEL INHALT Jürgen Leinemann über das verquere Selbstverständnis der Deutschen ...... 40 Die Bonner Republik bekommt ein Museum .....55 Kohl redet, Herzog schweigt Seiten 18, 160 KOMMENTAR Am 20. Juli 1944 Rudolf Augstein: Oskar und das „Reich“ ...... 23 scheiterte das Attentat DEUTSCHLAND von Wehrmachtsoffi- zieren auf Hitler. Der Panorama ...... 16 Führer überlebte die Wahlkampf: Kohl bringt Herzog Bombenexplosion, die um seine erste große Rede ...... 18 Verschwörer wurden CDU: Hartmut Palmer über Kohls hingerichtet. 50 Jahre Wahlkampf in Ostdeutschland ...... 20 später wird die Ge- SPD: Kanzlerkandidat in der Krise ...... 21 denkfeier zum Wahl- Europa: Wahlkampf mit Bananen, kampfthema. Roman Äpfeln und frommen Wünschen ...... 24 Herzog wollte mit sei- Kassenfüller für die Parteien ...... 26 ner ersten großen Rede Verfassungsschutz: Der Verdacht gegen den als Präsident glänzen, Solinger V-Mann Schmitt verdichtet sich ...... 28 doch Kanzler Kohl ver- Bad Kleinen: Neue Debatte um den Tod Zerstörtes Führerhauptquartier 1944 drängte ihn. des Terroristen Grams ...... 30 Nachruf: Günter Schabowski über Erich Honecker ...... 33 Wohin mit Honeckers Asche? ...... 36 Bad Kleinen: Doch kein Selbstmord? Seite 30 Wahlen: Gauweilers Bewährungsprobe ...... 61 Kirche: Kölner Werbekampagne – Neues zum Polizeidebakel in Bad Kleinen: Der RAF-Terrorist Wolf- ein teurer Flop ...... 63 gang Grams ist bei seiner Festnahme vor einem Jahr möglicherweise Forum ...... 65 doch von Polizisten erschossen worden. Die amtliche Selbstmord- Umwelt: Deutscher Müll verschandelt These, so der Gerichtsmediziner Wolfgang Bonte in einem Gutach- das Baltikum ...... 68 ten, sei „wissenschaftlich nicht haltbar“. Plaste und Elaste überrollen den Grünen Punkt ...... 73 Verkehr: Mit Laserkanonen gegen Laser gegen Raser Seite 77 Tempo-30-Sünder ...... 77 Medien: TV-Kleinanzeigen machen Mit neuen Laserkano- Zeitungen Konkurrenz ...... 80 nen jagen Polizisten Abgeordnete: Das Doppelleben Raser in Tempo-30-Zo- des Europa-Parlamentariers Dieter Schinzel ...... 83 nen. Auch gegen Rad- fahrer werden die WIRTSCHAFT Meßgeräte eingesetzt. Trends ...... 87 Statt Beweisfotos soll Ärzte: System der Selbstbedienung ...... 88 die Aussage der Beam- Chefärzte: Spitzenverdiener ten genügen, um die im Medizinbetrieb ...... 91 Sünder zu überführen. Interview mit Professor Detlef Schlöndorff Autolobbyisten suchen über die Ärzte und das Geld ...... 94 nach Gegenmaßnah- Agenturen: Mediaplaner Thomas Koch men. Kontrolle mit Laserkanone über den IBM-Etat ...... 99 Affären: Schneiders Helfer in Haft ...... 100 Medien: Reporter sichten ein Phantom ...... 101 Einladung zum Mißbrauch Seiten 88, 91, 94 Konzerne: SPIEGEL-Gespräch mit dem Hoechst-Chef Jürgen Dormann Chefärzte kassieren über Versäumnisse des Managements Nebeneinnahmen in und den Standort Deutschland ...... 102 Millionenhöhe, die Zu- Unternehmen: Schnapshersteller Racke lieferer des Medizinbe- will selbständig bleiben ...... 108 triebs stellen den Klini- Marken: Streit um den Namen Ohropax ...... 110 ken grotesk überhöhte Werbung: Der Erfolg der britischen Preise in Rechnung. Agentur BBH ...... 115 Die Übelstände wur- zeln im deutschen Ge- GESELLSCHAFT sundheitssystem, das Frauen: Oft auf dem Bildschirm, ärztliche und kaufmän- selten Einfluß aufs Programm ...... 118 nische Verwaltung an Pfarrer: Ein Seelsorger schreibt den Kliniken nicht sau- über Mord und Totschlag ...... 128 tz, München ber trennt und damit „Götter in Weiß hatte ich mir immer ganz anders zum Mißbrauch ein- vorgestellt!“ AUSLAND lädt, so der Münchner Panorama Ausland ...... 130 Klinikchef Professor Detlef Schlöndorff, der jahrelang in den USA Ruanda: Flüchtlinge gearbeitet hat. Dort dürfen Ärzte aus Klinikeinkäufen „keinen finan- destabilisieren Nachbarländer ...... 134 ziellen Nutzen“ ziehen.

4 DER SPIEGEL 23/1994 Almut Hielscher über die Killing Fields in Zentralafrika ...... 136 Uno: SPIEGEL-Gespräch mit Generalsekretär Butros Butros Ghali über Arafat: Vater der Nation Seite 148 die Fehlschläge der Friedensmissionen ...... 138 Europäische Union: Der Holländer Lubbers Streng und warmherzig, will nicht aufgeben ...... 141 zaudernd und verläßlich Rußland: Walter Mayr über – Jassir Arafat gilt dem den Heimkehrer Alexander Solschenizyn ...... 142 israelischen Publizisten Ungarn: Interview mit dem sozialistischen Uri Avnery, der den PLO- Wahlsieger Gyula Horn ...... 145 Chef seit Jahren persön- Ein Stützkorsett schützt Gyula Horn lich kennt, als „Vater der vor Querschnittslähmung ...... 146 palästinensischen Nati- Palästina: Uri Avnery über PLO-Führer on“. Arafat sei bereits Jassir Arafat ...... 148 „seit frühester Kindheit Schweiz: Volksabstimmung rebellisch, dominierend über Blauhelme ...... 154 und aktiv“ gewesen. Den USA: Disney-Konzern plant Geschichtspark ..... 158 umtriebigen Arafat, um Unterzeichnung des Autonomieabkommens dessen Gesundheit es SERIE schlecht bestellt sein soll, sieht der jüdische Autor als „einzige Die alliierte Invasion Quelle der Autorität“ unter den Palästinensern und ernsthaften Frie- in der Normandie 1944 (III) ...... 160 denspartner „im Mittelpunkt eines Minenfelds“. KULTUR Szene ...... 175 Literatur: Ernst Jünger enttarnt Die Fernseh-Frauen Seite 118 den Antisemiten Ce´line ...... 178 Kulturgeschichte: Historiker erforschen Keinesfalls zu ero- den deutschen Durst ...... 183 tisch dürfen sie sein, Design: Warum die Milka-Kuh die weiblichen TV- nach links guckt ...... 188 Stars, die den Ein- Kunsthandwerk: Afghanische Teppiche druck erwecken, im dokumentieren den Krieg ...... 192 Fernsehen sei der Autoren: Andreas Zielcke über Machtwechsel der John Grishams Thriller „Der Klient“ ...... 195 Geschlechter im Gan- Bestseller ...... 196 ge. Doch die meisten Scharlatane: Fritz Rumler über der Bildschirm-Ver- den Vielschreiber Johannes von Buttlar ...... 200 käuferinnen sollen Kritiker: War Marcel Reich-Ranicki nur die Einschaltquo- ein Spitzel? ...... 202 ten hochtreiben. Über Film: „Hudsucker – Der große Sprung“ Programme entschei- von Joel und Ethan Coen ...... 204 De Mol (RTL)den Männer. Christiansen (ARD) Pop: Prozeß um das Erbe von Jimi Hendrix ...... 205 Fernseh-Vorausschau ...... 226 Ernst Jünger belastet Ce´line Seite 178 WISSENSCHAFT Prisma ...... 207 Ernst Jünger, der greise Dichter aus dem schwäbischen Wilflingen, Rinderseuche: Wissenschaftler fordern gibt ein Geheimnis preis: Hinter dem Porträt eines antisemitischen Einfuhrstopp für britisches Rindfleisch ...... 208 Franzosen, das Jünger während des Krieges in seinem Tagebuch Hirnforschung: Wo sitzt die Moral? ...... 211 festhielt, verbirgt sich der Romancier Louis-Ferdinand Ce´line. Der Hirnregionen: Schachzüge im Denkorgan 99jährige Autor bestätigt damit die Spekulationen der Experten – sichtbar gemacht ...... 212 und zerstört die letzten Illusionen der Ce´line-Verehrer. Tiere: Orang-Utan – der König der Ausbrecher ...... 215 TECHNIK Strickwaren und Rennwagen Seite 216 Raumfahrt: Europäer wollen zum Mond ...... 212 Automobile: Neuer Lkw für gefährliches Stückgut ...... 214 fährt allen davon: Mit den Siegen über die SPORT etablierten Formel-1- Formel 1: Michael Schumachers Siege Teams zeigt Benetton, stützen Benettons Expansionskurs ...... 216 daß technische Überle- Schwimmen: Interview mit Rica Reinisch genheit ins PR-Konzept und Catherine Menschner über Spätfolgen eines Textilkonzerns des Dopings ...... 219 paßt. In der eigenen Fabrik in England ar- Briefe ...... 7 beiten 200 Techniker Impressum ...... 14 daran, die beiden Personalien ...... 222 Rennwagen schneller Register ...... 224 Benetton-Rennwagenfabrik zu machen. Hohlspiegel/Rückspiegel ...... 230

DER SPIEGEL 23/1994 5 Werbeseite

Werbeseite BRIEFE Aufrecht im Bett und durchzusetzen“. Nachdem bereits 1993 bei einem Open-air-Konzert massi- (Nr. 21/1994, Städte: Die Stillegung ve Überschreitungen der zulässigen Im- Münchens) missionsrichtwerte in den nahe gelege- Wenn es manchen Menschen also aus ir- nen Wohngebieten gemessen wurden, gendwelchen Gründen nicht mehr mög- hat der Bezirksausschuß die Begrenzung lich ist, sich von bayerischer Fröhlich- derartiger Veranstaltungen auf 22 Uhr keit anstecken zu lassen, dann sollten gefordert. diese aufs Land ziehen. Die Stadt wird München GÜNTER DEPPISCH weiter pulsieren. München STEPHAN JÄGER München, von der „heimlichen Haupt- stadt Deutschlands“ zur Totenstadt Gegen nachtoffene Biergärten setzen Deutschlands. sich nicht nur quengelige Villenbesitzer, Würzelen GERHARD LEIN sondern einfach nur übermüdete Famili- en zur Wehr. Der Autor vergißt: Echte Weg mit den Biergärten, weg mit den Villen liegen nicht neben Biergärten, spielenden Kindern, weg mit den Kir- sondern in ruhigen Gegenden. chenglocken. Die schweigende Mehr- Frankfurt am Main heit wird sowieso – wie üblich – nichts WOLFGANG BOHNHARDT sagen, also weg mit der Harley-David-

Gäste im Biergarten in Großhesselohe: Liebliche Laute biertrinkender Bayern

Die von Ihnen beschriebene Haltung ist son, der Stereoanlage, dem kläffenden sehr verbreitet, sie führt dazu, daß fast Hund des Nachbarn. Deutschland jeder Kinderspielplatz bekämpft wird, schweigt. Protest ist gefährlich, könnte daß bald der gesamte Schwarzwald sich ja als Lärmbelästigung ausgelegt wer- gegen Motorradfahrer abriegelt, jedes den. Kurkaff Fahrverbote verhängt, und wer Tübingen ASTRID STOLL über ein bißchen Einfluß verfügt, läßt die Straße vor seinem Eigenheim für „Schön habt Ihr’s hier“, soll einmal Kai- den Durchgangsverkehr sperren. ser Sigismund zum Abt eines romantisch Dortmund RÜDIGER HASENPUSCH gelegenen Klosters gesagt haben. „Ja“, hätte ihm der geantwortet, „für die Schon mal bis drei Uhr nachts aufrecht Vorübergehenden.“ Ein amerikanischer im Bett gesessen, wenn betrunkene Dis- Tourist oder ein singender Vorzeige- co-Cowboys vor Ihrem Schlafzimmer Münchner sieht’s und hört’s halt anders das Abfahren in sportauspuffbehängten als der, der die lieblichen Laute biertrin- C-Kadett-Coupe´s probieren? kender Bayern ständig auf die Löffel- Limburgerhof (Rhld.-Pf.) chen kriegt. CHRISTIAN STEIGER Herbrechtingen (Bad.-Württ.) WALTER HEINLEIN Das einstimmige Votum des Bezirksaus- schusses Trudering-Riem hat nichts mit Es ist nicht nur in München zu beobach- Spießigkeit zu tun. Bezirksausschüsse ten, daß Großstadtbewohner Friedhofs- haben die Aufgabe, „stadtbezirksbezo- ruhe auf den Straßen der Amüsiervier- gene Anliegen der Bürger zu erörtern tel verlangen. Bremen, Ostertor-/Stein-

DER SPIEGEL 23/1994 7 Werbeseite

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Werbeseite BRIEFE

torviertel: Vor 15 Jahren wa- ren sie Hausbesetzer, vor 10 Jahren renovierten und miete- ten sie die Häuser, vor 5 Jah- ren, mittlerweile Akademiker, kauften sie ihre Objekte und wollten fortan ihre Ruhe ha- ben. Bremen DIRK FRIELINGSDORF

Die beschriebene Sperrstun- denpraxis für die Münchner Biergärten ist nur ein Beispiel von vielen. Wer meint, daß es schlimmer nicht mehr geht, wird in Düsseldorf eines Bes- seren belehrt. Das Brauhaus Joh. Albrecht, in Düsseldorf- Niederkassel gelegen, muß nicht nur seinen Biergarten, sondern das ganze Lokal täg- Helicobacter-Mikroben lich um 21.30 Uhr schließen. Noch andere Faktoren beteiligt Grundlage für diese Entschei- dung war nicht der mögliche Lärm, der Ergänzend hätte noch die Frage des aus dem Brauhaus dringt (und den es wirtschaftlichen Einsatzes der H2-Ant- auch gar nicht gibt), sondern ausschließ- agonisten bzw. der Protonenpumpen- lich die Geräusche, welche die Gäste hemmer diskutiert werden sollen, die ei- beim Verlassen des Brauhauses verursa- ne wichtige Bedingung im niedergelas- chen. senen Bereich, weniger in der Klinik darstellt. Witten U. DASEKING „Joh. Albrecht“ Brauerei- Hamburg DR. MED. AXEL SOMMER Beratung und -Beteiligung GmbH Bei dem von Ihnen dargestellten Atem- test, den Sie als kompliziert beschrei- Eingeengter Blick ben, handelt es sich um den in unserem Institut entwickelten 13C Harnstoff (Nr. 21/1994, Medizin: Neue Strategie Atemtest, der eine nicht invasive, leicht gegen Magengeschwüre) und schnell durchzuführende Diagnose Nach 15 Jahren Magengeschwür und des Bakteriums HP erlaubt. Die Durch- zahllosen Säureblockern bin ich endlich führbarkeit ist derart einfach, daß sie an einen Arzt geraten, der nicht an sei- auch problemlos vom betroffenen Pa- nen Geldbeutel, sondern an meine Ge- tienten vorgenommen werden kann. sundheit gedacht hat. Nun bin ich dank Bochum DR. SITKE AYGEN Institut für biomedizinische Analytik GmbH antibiotischer Therapie, die gegen die Magenmikrobe Helicobacter pylori ver- abreicht wurde, endlich geheilt. Sagenhaftes Glück Hamburg CHRISTA LOWIGUS (Nr. 21/1994, Titel: Der Todesstoß – Normandie 1944, Invasion gegen das Sie demonstrieren, wie durch den einge- Nazi-Reich) engten Tunnelblick von Fachleuten rich- tige Erkenntnisse sich schnell in ihr Ge- In diesem und in anderen Artikeln über genteil verkehren können, indem eine die Landung der Alliierten 1944 in der Krankheit nur noch monokausal be- Normandie verwenden Sie das Wort trachtet wird. Die Entdeckung eines „Invasion“, um diese Landung zu be- Bakteriums im sauren Magenmilieu ist zeichnen. Es mutet mich seltsam an, noch nicht der Beweis dafür, daß psy- denn die Verwendung dieses Begriffes chosomatische Faktoren bei der Entste- ist nicht bedeutungslos: Damit überneh- hung von Ulcera im Magen- und Zwölf- men und verbreiten Sie die Sichtweise fingerdarmbereich keine Rolle mehr der Nazis weiter, die das besetzte Frank- spielen. Sie könnte auch eine wertvolle reich als Teil Deutschlands betrachteten Ergänzung einer Theorie der Ulcusent- und also die Landung der Befreier (auch stehung sein. Daß Streß zur Magen- darunter Franzosen) gegen die deut- schleimhautentzündung und zum Ulcus schen Invasoren als „Invasion“ ansahen. führt, ist bei Patienten in der Intensiv- Wäre es nicht an der Zeit, daß sich die medizin ebenso wie in der psychothera- Deutschen dieser Interpretation der peutischen Situation zu beobachten und Ereignisse entledigen und das Wort im übrigen auch tierexperimentell un- „Landung“ für De´barquement verwen- tersucht. den? Hannover DIETER KÜHNE-WERKMEISTER Berlin EVELYNE SINNASSAMY

10 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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erstellen zwar Protokolle über den Zu- stand von Fahrzeugen, aber keine Schadensgutachten; dies ist die Aufga- be von technischen Sachverständigen. Die Mitarbeiter des Verbandes haben es nicht in der Hand, den Verkaufs- preis zu bestimmen. Bonn PETER GAULY HUK-Verband e.V.

Begrenzte Weltbilder (Nr. 21/1994, Außerirdische: Psycho-Stu- die über Entführungen) Das Problem der Ufo-Entführungen ist – was immer sich wirklich dahinter ver- bergen mag – weit komplexer, umfas- sender und tiefer in die menschliche Psyche eingreifend, als Sie dies auch nur ansatzweise darzustellen vermögen. Und was würden Sie davon halten, Ihr Augenmerk statt auf Amerika ganz ein- fach mal auf Deutschland zu richten? Amerikanische Landungstruppe*: Moralisches Hausrecht in Frankreich Hier schlägt nämlich genau dieses Phänomen auch seine Wellen. Mich schaudert’s beim Lesen Ihres Ar- teristische Grundausbildung, aber kein Bad Neustadt (Bayern) tikels von der Alliiertenlandung 1944. ausreichendes Kampftraining, und sie DR. JOHANNES FIEBAG Als 14jähriger, vollgestopft mit Durch- waren in der Tat leicht „vergammelt“. halte- und Wunderwaffenparolen, woll- Hamburg EWALD HORN Außerirdische genießen hier Narrenfrei- te ich den Krieg bis zur Besetzung ge- heit dank der begrenzten Weltbilder winnen. Und die Herren Generale, die Der Nachkriegsgeneration wird die In- so vieler (ein)gebildeter Rationalisten. es besser wissen mußten? Sie gehorch- vasion immer als überwältigender Er- Permanent vertretene Eigenschaft: ten auf Kosten täglich Tausender To- folg der Alliierten und ihrer Waffen hin- nicht dabeigewesen und es besser wissen ten und Verletzten. Für sie galt nur der gestellt. Ganz so war es nicht, wie der wollen. Der Nachweis von eingesetzten Fahneneid. Und als es dann am 20. Ju- englische Historiker und Kriegsbericht- Implantaten in den Schädeln von Be- li zum Schwur kam, stellte man den erstatter Max Hastings in seinem Werk troffenen wurde bereits 1989 erbracht „Koffer“ nur neben Hitler ab und ver- über den D-Day-Overlord darstellt. Le- und gleichfalls von Dogmatikern igno- schwand durch den Nebenausgang. diglich die von Anfang an absolute See- riert. Betroffene sind die eigentlichen Essen HELMUT VIEBAHN und Luftherrschaft hat die Alliierten im Rationalisten. Verein mit ihrer quantitativen Material- Schorndorf (Bad.-Württ.) KARL H. WINKLER Wer hatte denn das moralische Haus- überlegenheit zum Sieg geführt. recht in Frankreich? Wolfhagen (Hessen) JON SENDER Paris REINHARD VON NAGEL Ihr Artikel hat mir wieder vor Augen geführt, welch sagenhaftes Glück ich Nur Protokolle damals gehabt habe. Als Angehöriger (Nr. 20/1994, Versicherer: Geklaute Au- der 147. Panzerjägerkompanie war ich tos auf Halde) in Guıˆnes bei Calais stationiert, als die Alliierten in der Normandie landeten. Der HUK-Verband betreibt in Osteuro- Während dort eine höllische Schlacht pa keinen Fahndungsdienst, etwa im tobte, machten wir Dienst nach Vor- Sinne einer Ersatzpolizei, zum Auffin- schrift, mußten sogar nach dem Atten- den gestohlener Autos. Aufgabe unse- tat auf Hitler den Hitlergruß üben, ein rer Mitarbeiter ist es, Fahrzeugdaten, richtiger Schwachsinn. die von polnischen Behörden zur Verfü- Wehrheim (Hessen) DOUGLAS HERBERT gung gestellt werden, auszuwerten, die Eigentümer gestohlener Autos zu ermit- Wer sich über die hohe Zahl der Luft- waffensoldaten mokiert, darf dies nicht teln, die Freigabe durch die polnischen übersehen: Ab September 1942 wurden Behörden zu veranlassen und anschlie- aus der Luftwaffe massenweise Solda- ßend die Autos zurückzuführen. Die da- ten herausgelöst und zu Tausenden in durch entstehenden Kosten werden den Luftwaffenfelddivisionen zusammenge- Gesellschaften berechnet. Daß in Ost- faßt. Diese Divisionen hatten dann an europa 50 000 sichergestellte Fahrzeuge der Front schreckliche Verluste. Die auf Deponieplätzen auf Abholung war- jungen Männer hatten zwar eine infan- ten, können wir in dieser Größenord- nung nicht nachvollziehen; so sind es z. B. in Polen, dem Hauptumschlag- * Oben: am 6. Juni 1944 an der Normandieküste; unten: in dem Film „This Island Earth“ mit Faith platz, nach offiziellen Angaben nur Hollywood-Filmmonster* Domergue. 3500. Mitarbeiter des HUK-Verbandes Narrenfreiheit für Außerirdische

12 DER SPIEGEL 23/1994 Einer von dreien (Nr. 22/1994, Sicherheit: Dresden plant halbprivaten Ordnungsdienst) Schön wär’s, wenn ich neben der Arbeit als Professor noch Zeit für einen Neben- beruf hätte. Habe ich aber nicht. Des- halb bin ich auch nicht Geschäftsführer der Gesellschaft für Zivile Sicherheits- dienste mit Sitz in Weimar, sondern le- diglich einer von drei Gesellschaftern. München PROF. ARMIN STEINKAMM Unheilvolle Allianz (Nr. 21/1994, Kolumbien: Guerilla profi- tiert vom Ölboom) Ihr Artikel erweckt den Eindruck, poli- tische Gewalt in Kolumbien ginge hauptsächlich von der Guerilla aus. Das ist jedoch weder für die Provinz Casana- re noch für den Rest des Landes richtig. Es stimmt zwar, daß auch die Guerilla für Sabotageakte, Entführungen und Mordanschläge verantwortlich ist. Die weitaus meisten Gewaltakte werden in- des von Polizei und Militär und den mit ihnen verbündeten paramilitärischen Gruppen verübt. Diese unheilvolle Alli- anz bekämpft nicht nur die Guerilla, sondern auch alle, die sich für soziale Veränderungen in Kolumbien einset- zen. Seit 1986 sind in Kolumbien über 20 000 Menschen politischer Gewalt zum Opfer gefallen. Circa 70 Prozent dieser Morde wurden von Polizei, Mili- tär oder den mit ihnen verbündeten Pa- ramilitärs begangen. Gewalt in diesem Land geht von vielen Seiten aus, vor al- lem jedoch vom Staat. Berlin KAJETAN VON ECKARDSTEIN Amnesty International Garantiertes Höchstmaß (Nr. 21/1994, Forum/Bier: Maßvolle Reinheit) Die in Ihrem Artikel vertretene Auffas- sung, Bier aus Rohstoffen, die ökolo- gisch angebaut wurden, sei besser als normales Bier, ist nicht zutreffend. Alle nach dem deutschen Reinheitsgebot aus nichts anderem als Malz, Hefe, Hopfen und Wasser gebrauten Biere garantieren ein Höchstmaß an Qualität und Ver- braucherschutz. Bonn ERICH DEDERICHS Deutscher Brauer-Bund e.V. Vergiftete Atmosphäre (Nr. 21/1994, Selbstmord: Bruno Schrep über fünf Fälle von Freitod in Weimar) Der Bericht macht betroffen, gerade mich als Weimarer. Fünf Menschen werden mit ihren Problemen nicht fertig, die die Wende 1989 mit sich brachte. Sie sahen letztlich keine Per-

DER SPIEGEL 23/1994 13 BRIEFE MNO spektive, kapitulierten vor ihren 20457 Hamburg, Brandstwiete 19, Telefon (040) 3007-0, Telefax (040) 3007 2247, Telex 2 162 477 Schwierigkeiten, resignierten schließlich CompuServe: 100064,3164 (Internet: [email protected]) und gingen deshalb in den Freitod. HERAUSGEBER: Rudolf Augstein Prag: Jilska´ 8, 11 000 Prag, Tel. (00422) 24 22 0138, Telefax Weimar DR. HERWART KAISER CHEFREDAKTION: Dr. Wolfgang Kaden, Hans Werner Kilz 24 22 0138 . Rio de Janeiro: Jens Glüsing, Avenida Sa˜o Sebasti- REDAKTION: Karen Andresen, Ariane Barth, Dieter Bednarz, a˜o, 157 Urca, 22291 Rio de Janeiro (RJ), Tel. (005521) 275 1204, Telefax 542 6583 . Rom: Valeska von Roques, Largo Wolfram Bickerich, Wilhelm Bittorf, Peter Bölke, Jochen Bölsche, . Die Folgen der Wiedervereinigung und Dr. Hermann Bott, Klaus Brinkbäumer, Stephan Burgdorff, Wer- Chigi 9, 00187 Rom, Tel. (00396) 679 7522, Telefax 679 7768 Stockholm: Hermann Orth, Scheelegatan 4, 11 223 Stockholm, unsere Einschätzung aus dem Westen ner Dähnhardt, Dr. Thomas Darnstädt, Hans-Dieter Degler, Dr. . Martin Doerry, Adel S. Elias, Rüdiger Falksohn, Nikolaus von Fe- Tel. (00468) 650 82 41, Telefax 652 99 97 Tokio: Wulf Küster, 5-12, Minami-Azabu, 3-chome, Minato-Ku, Tokio 106, Tel. wirken sich für zu viele Bürger in einem stenberg, Jan Fleischhauer, Uly Foerster, Klaus Franke, Gisela . Friedrichsen, Angela Gatterburg, Henry Glass, Rudolf Glismann, (00813) 3442 9381, Telefax 3442 8259 Warschau: Andreas Besatzungsverhalten aus, bei welchem Johann Grolle, Doja Hacker, Dr. Volker Hage, Dr. Hans Halter, Lorenz, Ul. Polna 44/24, 00-635 Warschau, Tel. (004822) 25 49 96, Telefax 25 49 96 . Washington: Karl-Heinz Büsche- im Vordergrund das Abrechnen mit Werner Harenberg, Dietmar Hawranek, Manfred W. Hentschel, mann, Siegesmund von Ilsemann, 1202 National Press Building, Ernst Hess, Hans Hielscher, Heinz Höfl, Clemens Höges, Joachim dem alten System steht. Sicherlich ist Washington, D. C. 20 045, Tel. (001202) 347 5222, Telefax Hoelzgen, Jürgen Hogrefe, Dr. Jürgen Hohmeyer, Carsten Holm, 347 3194 . Wien: Dr. Martin Pollack, Schönbrunner Straße 26/2, nichts dagegen einzuwenden, daß die Hans Hoyng, Thomas Hüetlin, Rainer Hupe, Dr. Olaf Ihlau, Ulrich 1050 Wien, Tel. (00431) 587 4141, Telefax 587 4242 Jaeger, Hans-Jürgen Jakobs, Urs Jenny, Dr. Hellmuth Karasek, Bürger, die sich eines menschenrechts- ILLUSTRATION: Renata Biendarra, Martina Blume, Barbara Bo- Sabine Kartte-Pfähler, Klaus-Peter Kerbusk, Ralf Klassen, Petra cian, Ludger Bollen, Katrin Bollmann, Thomas Bonnie, Regine widrigen Verhaltens schuldig gemacht Kleinau, Sebastian Knauer, Dr. Walter Knips, Susanne Koelbl, Braun, Martin Brinker, Manuela Cramer, Josef Csallos, Volker haben, abzuurteilen sind. Es ist jedoch Christiane Kohl, Dr. Joachim Kronsbein, Karl Heinz Krüger, Bernd Fensky, Ralf Geilhufe, Rüdiger Heinrich, Tiina Hurme, Antje Klein, Kühnl, Dr. Romain Leick, Heinz P. Lohfeldt, Udo Ludwig, Klaus Ursula Morschhäuser, Cornelia Pfauter, Monika Rick, Chris Rie- eine Anmaßung, als westdeutscher Bür- Madzia, Armin Mahler, Dr. Hans-Peter Martin, Georg Mascolo, werts, Julia Saur, Detlev Scheerbarth, Claus-Dieter Schmidt, Man- ger eine Be- und Verurteilung in der jet- Gerhard Mauz, Walter Mayr, Gerd Meißner, Fritjof Meyer, Dr. Wer- fred Schniedenharn, Frank Schumann, Rainer Sennewald, Diet- ner Meyer-Larsen, Joachim Mohr, Mathias Müller von Blumen- mar Suchalla, Karin Weinberg, Matthias Welker, Rainer Wört- zigen Form vorzunehmen. cron, Rolf S. Müller, Bettina Musall, Hans-Georg Nachtweh, Dr. mann, Monika Zucht Jürgen Neffe, Dr. Renate Nimtz-Köster, Hans-Joachim Noack, Gu- SCHLUSSREDAKTION: Rudolf Austenfeld, Horst Beckmann, Sa- Berlin SIEGFRIED BLUST nar Ortlepp, Rainer Paul, Christoph Pauly, Jürgen Petermann, bine Bodenhagen, Lutz Diedrichs, Dieter Gellrich, Hermann Joachim Preuß, Dr. Rolf Rietzler, Dr. Fritz Rumler, Dr. Johannes Harms, Bianca Hunekuhl, Rolf Jochum, Karl-Heinz Körner, Inga Saltzwedel, Karl-H. Schaper, Marie-Luise Scherer, Heiner Lembcke, Christa Lüken, Reimer Nagel, Dr. Karen Ortiz, Andreas Auch ohne Stasi-, Polit- und Karriere- Schimmöller, Roland Schleicher, Cordt Schnibben, Hans Joachim M. Peets, Gero Richter-Rethwisch, Thomas Schäfer, Wilhelm verwicklungen aktualisiert das gewöhn- Schöps, Dr. Mathias Schreiber, Bruno Schrep, Helmut Schü- Schöttker, Ingrid Seelig, Hans-Eckhard Segner, Tapio Sirkka, mann, Matthias Schulz, Hajo Schumacher, Birgit Schwarz, Ulrich Hans-Jürgen Vogt, Kirsten Wiedner, Holger Wolters, Peter Zobel liche Unglück des kapitalistischen All- Schwarz, Claudius Seidl, Mareike Spiess-Hohnholz, Dr. Gerhard VERANTWORTLICHER REDAKTEUR dieser Ausgabe für Pan- Spörl, Olaf Stampf, Hans Gerhard Stephani, Günther Stockinger, orama, Wahlkampf, SPD, Europa: Dr. Gerhard Spörl; für Verfas- Hans-Ulrich Stoldt, Peter Stolle, Barbara Supp, Dr. Rainer Traub, sungsschutz, Bad Kleinen, Nachruf, Wahlen, Kirche, Forum, Um- Dieter G. Uentzelmann, Klaus Umbach, Hans-Jörg Vehlewald, Dr. welt, Verkehr, Abgeordnete: Ulrich Schwarz; für Trends, Ärzte, Manfred Weber, Susanne Weingarten, Alfred Weinzierl, Marianne Koch-Interview, Affären, Dormann-Gespräch, Unternehmen, Mar- Wellershoff, Peter Wensierski, Carlos Widmann, Erich Wiede- ken, Werbung: Armin Mahler; für Medien (S. 80), Frauen, Pfarrer, mann, Dr. Dieter Wild, Christian Wüst, Dr. Peter Zolling, Helene Design, Pop, Fernseh-Vorausschau: Hans-Dieter Degler; für Chef- Zuber ärzte, Medien (S. 101), Schlöndorff-Interview, Ungarn, Prisma, REDAKTIONSVERTRETUNG BONN: Winfried Didzoleit, Man- Rinderseuche, Hirnforschung, Hirnregionen, Raumfahrt, Automo- fred Ertel, Dirk Koch, Ursula Kosser, Dr. Paul Lersch, Elisabeth bile, Tiere: Klaus Franke; für Panorama Ausland, Ruanda, Butros- Niejahr, Olaf Petersen, Rainer Pörtner, Hans-Jürgen Schlamp, Ghali-Gespräch, Europäische Union, Horn-Interview, Palästina, Gabor Steingart, Alexander Szandar, Klaus Wirtgen, Dahlmann- Schweiz, USA: Dr. Olaf Ihlau; für Szene, Literatur, Kulturgeschich- straße 20, 53113 Bonn, Tel. (0228) 26 70 3-0, Telefax 21 51 10 te, Kunsthandwerk, Bestseller, Kritiker: Dr. Martin Doerry; für For- REDAKTIONSVERTRETUNGEN DEUTSCHLAND: Berlin: Wolf- mel 1, Reinisch/Menschner-Interview: Heiner Schimmölller; für gang Bayer, Petra Bornhöft, Christian Habbe, Dieter Kampe, Uwe namentlich gezeichnete Beiträge: die Verfasser; für Briefe, Perso- Klußmann, Jürgen Leinemann, Claudia Pai, Hartmut Palmer, Nor- nalien, Register, Hohlspiegel, Rückspiegel: Dr. Manfred Weber; bert F. Pötzl, Michael Schmidt-Klingenberg, Harald Schumann, für Titelbild: Rainer Wörtmann; für Gestaltung: Dietmar Suchalla; Kurfürstenstraße 72 – 74, 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91-0, für Hausmitteilung: Dr. Dieter Wild (sämtlich Brandstwiete 19, Telefax 25 40 91 10; Dresden: Sebastian Borger, Dietmar Pie- 20457 Hamburg) per, Detlef Pypke, Königsbrücker Str. 17, 01099 Dresden, Tel. DOKUMENTATION: Jörg-Hinrich Ahrens, Werner Bartels, Sigrid (0351) 567 0271, Telefax 567 0275 . Düsseldorf: Ulrich Bieger, Behrend, Ulrich Booms, Dr. Jürgen Bruhn, Lisa Busch, Heinz Egle- Georg Bönisch, Hans Leyendecker, Richard Rickelmann, Rudolf der, Dr. Herbert Enger, Johannes Erasmus, Dr. Karen Eriksen, An- Wallraf, Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) dre´ Geicke, Ille von Gerstenbergk-Helldorff, Dr. Dieter Gessner, 93 601-01, Telefax 35 83 44 . Erfurt: Felix Kurz, Claus Christian Hartmut Heidler, Wolfgang Henkel, Gesa Höppner, Jürgen Holm, Malzahn, Dalbergsweg 6, 99084 Erfurt, Tel. (0361) 642 2696, Christa von Holtzapfel, Joachim Immisch, Hauke Janssen, Günter Telefax 566 7459 . Frankfurt a. M.: Peter Adam, Wolfgang Bitt- Johannes, Angela Köllisch, Sonny Krauspe, Hannes Lamp, Marie- ner, Annette Großbongardt, Annette Littmann, Ulrich Manz, Ober- Odile Jonot-Langheim, Walter Lehmann, Michael Lindner, Dr. Pe- lindau 80, 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 71 71 81, Telefax tra Ludwig, Sigrid Lüttich, Roderich Maurer, Rainer Mehl, Ulrich 72 17 02 . Hannover: Ansbert Kneip, Rathenaustraße 16, 30159 Meier, Gerhard Minich, Wolfhart Müller, Bernd Musa, Christel Hannover, Tel. (0511) 32 69 39, Telefax 32 85 92 . Karlsruhe: Nath, Anneliese Neumann, Werner Nielsen, Paul Ostrop, Nora Pe- Dr. Rolf Lamprecht, Amalienstraße 25, 76133 Karlsruhe, Tel. ters, Anna Petersen, Peter Philipp, Axel Pult, Ulrich Rambow, Anke (0721) 225 14, Telefax 276 12 . Mainz: Birgit Loff, Wilfried Rashatasuvan, Dr. Mechthild Ripke, Hedwig Sander, Constanze Sanders, Rolf G. Schierhorn, Ekkehard Schmidt, Marianne Voigt, Weißliliengasse 10, 55116 Mainz, Tel. (06131) 23 24 40, Schüssler, Andrea Schumann, Claudia Siewert, Margret Spohn, Telefax 23 47 68 . München: Dinah Deckstein, Annette Ramels- Rainer Staudhammer, Anja Stehmann, Stefan Storz, Monika Tän- berger, Dr. Joachim Reimann, Stuntzstraße 16, 81677 München, zer, Dr. Wilhelm Tappe, Dr. Eckart Teichert, Jutta Temme, Dr. Iris Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425 . Schwerin: Bert Ga- Timpke-Hamel, Carsten Voigt, Horst Wachholz, Ursula Wamser, merschlag, Spieltordamm 9, 19055 Schwerin, Tel. (0385) Mutter einer Selbstmörderin* . Dieter Wessendorff, Andrea Wilkens, Karl-Henning Windelbandt 557 44 42, Telefax 56 99 19 Stuttgart: Dr. Hans-Ulrich Grimm, BÜRO DES HERAUSGEBERS: Irma Nelles Keine Perspektive Sylvia Schreiber, Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. NACHRICHTENDIENSTE: ADN, AP, dpa, Los Angeles Times/Wa- (0711) 22 15 31, Telefax 29 77 65 shington Post, Newsweek, New York Times, Reuters, Time REDAKTIONSVERTRETUNGEN AUSLAND: Basel: Jürg Bürgi, tags den depressiven Grundkonflikt der Spalenring 69, 4055 Basel, Tel. (004161) 271 6363, Telefax SPIEGEL-VERLAG RUDOLF AUGSTEIN GMBH & CO. KG fehlenden Geborgenheit in dieser Welt 271 6344 . Belgrad: Renate Flottau, Teodora Drajzera 36, Abonnenten-Service: Tel. 0130-863006, Telefax (040) 11000 Belgrad, Tel. (0038111) 66 99 87, Telefax 66 01 60 . 30072898 Postfach 10 58 40, 20039 Hamburg bei vielen Ostdeutschen. Brüssel: Heiko Martens, Marion Schreiber, Bd. Charlemagne 45, Abonnementspreise: Normalpost Inland: sechs Monate DM Berlin DR. ERIKA PLÖNTZKE 1040 Brüssel, Tel. (00322) 230 61 08, Telefax 231 1436 . Jeru- 130,00, zwölf Monate DM 260,00, für Studenten (nur Inland) DM salem: Dr. Stefan Simons, 1, Bet Eshel, Old Katamon, Jerusalem 182,00. Normalpost Europa: sechs Monate DM 184,60, zwölf 93227, Tel. (009722) 61 09 36, Telefax 61 76 40 . Johannes- Monate DM 369,20; Seepost Übersee: sechs Monate DM Da dachte ich schon, es sei Ihnen wenig- burg: Almut Hielscher, Royal St. Mary’s, 4th Floor, 85 Eloff 189,80, zwölf Monate DM 379,60; Luftpostpreise auf Anfrage. Street, Johannesburg 2000, Tel. (002711) 333 1864, Telefax Verlagsgeschäftsstellen: Berlin: Kurfürstenstraße 72 – 74, stens einmal gelungen, die Befindlich- 29 40 57 . Kairo: Volkhard Windfuhr, 18, Shari’ Al Fawakih, Mu- 10787 Berlin, Tel. (030) 25 40 91 25/26, Telefax 25 40 9130; keiten im Osten Deutschlands ohne den handisin, Kairo, Tel. (00202) 360 4944, Telefax 360 7655 . Düsseldorf: Oststraße 10, 40211 Düsseldorf, Tel. (0211) Kiew: Martina Helmerich, ul. Kostjolnaja 8, kw. 24, 252001 936 01 02, Telefax 36 42 95; Frankfurt a. M.: Oberlindau 80, penetranten Gebrauch von Wörtern wie Kiew, Tel. (007044) 228 63 87 . London: Bernd Dörler, 6 Hen- 60323 Frankfurt a. M., Tel. (069) 72 03 91, Telefax 72 43 32; marode trefflich zu schildern. Doch rietta Street, London WC2E 8PS, Tel. (004471) 379 8550, Tele- Hamburg: Brandstwiete 19, 20457 Hamburg, Tel. (040) fax 379 8599 . Moskau: Jörg R. Mettke, Dr. Christian Neef, Kru- 3007 2545, Telefax 3007 2797; München: Stuntzstraße 16, dann dieses Happy-End. Am Schluß at- tizkij Wal 3, Korp. 2, kw. 36, 109 044 Moskau, Tel. (007502) 81677 München, Tel. (089) 41 80 04-0, Telefax 4180 0425; met man auf: „Ist ja doch nicht so 220 4624, Telefax 220 4818 . Neu-Delhi: Dr. Tiziano Terzani, Stuttgart: Kriegsbergstraße 11, 70174 Stuttgart, Tel. (0711) 6-A Sujan Singh Park, New Delhi 110003, Tel. (009111) 226 30 35, Telefax 29 77 65 schlimm, ein paar gibt es immer, die mit 469 7273, Telefax 469 7273 . New York: Matthias Matussek, Verantwortlich für Anzeigen: Horst Görner 516 Fifth Avenue, Penthouse, New York, N. Y. 10036, Tel. Gültige Anzeigenpreisliste Nr. 48 vom 1. Januar 1994 der Herausforderung der Zeit nicht (001212) 221 7583, Telefax 302 6258 . Paris: Lutz Krusche, Postgiro-Konto Hamburg Nr. 7137-200 BLZ 200 100 20 klarkommen.“ Helmut Sorge, 17 Avenue Matignon, 75008 Paris, Tel. (00331) Druck: Gruner Druck, Itzehoe; maul belser, Nürnberg 4256 1211, Telefax 4256 1972 . Peking: Jürgen Kremb, Qijiayu- VERLAGSLEITUNG: Fried von Bismarck, Burkhard Voges Ludwigshafen BERND SEILER an 7. 2. 31, Peking, Tel. (00861) 532 3541, Telefax 532 5453 . 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14 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND PANORAMA

Ökosteuern Treuhand Mehr Arbeit Manager durch Reform gefeuert Eine ökologische Steuerre- Der Streit zwischen der FDP form, welche die Gesamt- und der Treuhandanstalt um steuerlast für Bürger und Un- das auf über 200 Millio- ternehmen nicht erhöht, wür- nen Mark geschätzte Vermö- de in Deutschland innerhalb gen der DDR-Blockparteien von zehn Jahren mehrere LDPD und NDPD eskaliert. hunderttausend Arbeitsplät- Am Donnerstag voriger Wo- ze schaffen. Zu diesem Er- che entließen die Treuhand gebnis kommt eine noch un- und die Unabhängige Kom- veröffentlichte Studie des mission Parteivermögen frist- Deutschen Instituts für Wirt- los Ludwig Venus, den Ge- schaftsforschung (DIW) im schäftsführer der Vercon Auftrag der Umweltorgani- GmbH, in der die Parteibe- sation Greenpeace. Bei den Brunner (in Bonn) triebe der ehemaligen Block- Modellrechnungen steigen parteien zusammengefaßt die Energiepreise für Heizöl, Parteien einem „neuen Namen“ zu sind. Grund: Er habe seine Erdgas und Strom um jähr- sammeln. Die neue Partei Pflichten als Geschäftsführer lich rund sieben Prozent. Die Freie Bürger könne „Die Freiheitlichen“ verletzt, als er darauf be- Autofahrer müssen an den heißen. Jörg Haider, Chef stand, die Geschäfte auch auf Tankstellen mit denselben am Ende? der rechten Freiheitlichen Anweisung von FDP-Schatz- Preiserhöhungen rechnen. Manfred Brunner, Vorsitzen- Partei Österreichs, der meh- meister Hermann Otto Solms Die Staatseinnahmen werden der der Rechtspartei Bund rere öffentliche Auftritte mit zu führen. Die Partei habe freier Bürger, denkt über die Brunner nach militanten Ge- keine Gesellschafterrechte Gründung einer neuen rech- gendemonstrationen absagte, an der unter treuhänderi- ten Sammlungsbewegung ist offenkundig in die Plä- scher Verwaltung stehenden nach. Bei einer Sitzung eines ne seines deutschen Gesin- Vercon; sie sei nicht Rechts- Arbeitskreises des „Forum nungsfreundes eingeweiht. nachfolger von LDPD und Freiheitliche Medizin“, einer Wenn Brunners Bund schei- NDPD. Ministerialdirigent rechtskonservativen Ärzte- tere, so äußerte Haider, wer- Christian von Hammerstein, vereinigung in München, er- de es „eine andere Möglich- Chef des Sekretariats der wog er laut Protokoll, nach keit geben, eine freiheitliche Kommission, wirft der FDP einem „Mißerfolg bei der Eu- Bewegung in Deutschland zu vor, den Konflikt um das ropawahl“ Anhänger unter etablieren“. Ostvermögen zu schüren:

Vereinte Nationen ter hatten Rekruten seiner Brigade ge- fragt, wie sie sich im sogenannten Vertei- digungsfall verhalten würden. Für die fast Deutscher General einhellige Antwort „abhauen“ mußte sich Die Bundesregierung hat Generalmajor der General rechtfertigen. 1992 wurde Tankstelle (bei Eisenach) Manfred Eisele, 56, für einen Spitzenpo- Eisele beim Amtsantritt von Minister sten bei der Uno nominiert. Ausgestattet Volker Rühe als Leiter der für Militärpo- an private Haushalte und mit dem Titel „Assistant Secretary-Gene- litik zuständigen Abteilung im Verteidi- Unternehmen zurückgege- ral“, soll er in der New Yorker Uno-Zen- gungsressort nach nur zwölf Monaten ben. Die Unternehmen zah- trale die weltweiten Einsätze der Blau- vorzeitig abgelöst, weil er als überfordert len weniger Lohnnebenko- helm-Friedenstruppen steuern. Die Beset- galt. Seit Anfang April ist er Chef des sten; die Privatverbraucher zung der neu eingerichteten Führungsposi- Bonner Streitkräfteamts. Im Hardthöhen- erhalten einen sogenannten tion, noch vor dem Urteil Jargon heißt die Behörde Ökobonus, der ähnlich wie des Bundesverfassungsge- spöttisch „Soldatenfried- das Kindergeld ausgezahlt richts über die Zulässigkeit hof“, weil dorthin über- wird. Gewinner des Umbaus von Out-of-area-Einsätzen wiegend Offiziere versetzt wären laut DIW neben An- der Bundeswehr, hatte in werden, die abgeschoben bietern von Dienstleistungen Bonn zu Kompetenzstrei- werden sollen. Eisele rei- auch etliche Industriebran- tigkeiten zwischen Aus- ste vorige Woche zum chen, etwa der Maschinen- wärtigem Amt, Wehrres- Vorstellungsgespräch bei bau und die Automobilindu- sort und Kanzleramt ge- der Uno nach New York. strie. Zu den Verlierern zäh- führt (SPIEGEL 20/1994). Generalsekretär Butros len die Eisen- und Stahlindu- Eisele war als Komman- Butros Ghali muß die No- strie sowie die Chemiebran- deur der Hamburger minierung für den einfluß- che. Selbst bei pessimisti- Panzergrenadierbrigade 17 reichen Posten, den auf schen Annahmen sei ein Mitte der achtziger Jahre seinen Wunsch ein Deut- deutliches Beschäftigungs- bei Vorgesetzten in Miß- scher erhalten soll, noch plus zu erwarten, heißt es in kredit geraten. TV-Repor- Eisele bestätigen. der Studie.

16 DER SPIEGEL 23/1994 „Wir haben nie Streit mit der FDP gesucht, aber plötzlich spielen die verrückt.“

Rüstzeug Bonner Geheimnisse Die Bundesregierung weigert sich, die Zahl der deutschen Raketen an das Waffenregi- ster der Vereinten Nationen zu melden. So enthält die

Raketenwerfer „Mars“ neueste Meldung zwar Anga- ben über den Kauf von 30 Raketenwerfern „Mars“ und 6180 zugehörigen Raketen (Reichweite 38 Kilometer), die im vorigen Jahr von der Bundeswehr angeschafft wurden. Es fehlt aber die Ge- samtzahl der Systeme und Raketen dieser Serie und an- derer Typen. Die Vereinig- ten Staaten und Großbritan- nien scheuen sich hingegen nicht, ihre beträchtlichen Ar- senale (120 331 und 32 853 Stück) aufzuführen. Darin sind die gemeinsam mit Deutschland produzierten Mars-Systeme enthalten. Im Gegensatz zu 1992 meldete Bonn diesmal auch 40 Lenk- flugkörper AA-10 aus DDR- Beständen nicht. Die Ge- heimniskrämerei begründet das Verteidigungsministeri- um damit, daß „diese Anga- ben den Vereinten Nationen nicht übermittelt werden dür- fen, da kein entsprechendes Geheimschutzabkommen existiert“. Das Waffenregi- ster, auf dessen Einrichtung 1991 auch die Bundesregie- rung gedrängt hatte, soll ei- nen Überblick über interna- tionale Waffenarsenale und Rüstungsexporte vermitteln.

DER SPIEGEL 23/1994 17 DEUTSCHLAND

Wahlkampf DER BRAVE PRÄSIDENT Roman Herzog hat den Auftakt seiner Amtszeit verpatzt: Das künftige Staatsoberhaupt darf nicht bei der Gedenkfeier zum 20. Juli in Berlin reden. Der Bundeskanzler, Helmut Kohl, hat sich rechtzeitig den Auftritt reserviert. Nun wird der Festakt für den deutschen Widerstand zum Wahlkampf-Thema.

s hätte so schön werden können. Der Kanzler hielt es nicht mal für nö- ihm der künftige Bundespräsident am Erst intoniert ein Musikkorps der tig, auf Herzogs öffentlich bekundete 20. Juli nicht in die Parade fährt. Bereits EBundeswehr feierlich das „Opfer- Absicht zu reagieren – er ließ ihn ein- im Oktober – da war noch der Sachse lied“ von Ludwig van Beethoven, da- fach auflaufen. Steffen Heitmann des Kanzlers Wunsch- nach begrüßt Berlins Regierender Bür- „Bei uns hatte sich Herzog gar nicht kandidat – ließ er die Organisatoren wis- germeister, Eberhard Diepgen, die ge- mit diesem Wunsch gemeldet“, erklärt sen, wer die Rede bei der Gedenkveran- ladenen Gäste. scheinheilig ein Mitarbeiter aus dem staltung im Bendlerblock in der Stauf- Und dann: die Rede. Kanzleramt. So hat es der Machthaber fenbergstraße halten werde. Am 20. Juli wollte der frisch amtie- gern: Wünsche, und rende Bundespräsident Roman Herzog seien es die des künfti- den Deutschen zeigen, wer nun als gen Bundespräsiden- neues Staatsoberhaupt an der Spitze ten, sind bei ihm anzu- steht. Mit einer großen Rede in der melden, vor allem zu Berliner Gedenkstätte Deutscher Wi- Zeiten des Wahl- derstand hoffte sich der Staatsrechtler kampfes. als ebenbürtiger Nachfolger Richard Zudem wird Kohl von Weizsäckers zu präsentieren. Wür- von der Sorge getrie- diger Rahmen: Die zentrale Gedenk- ben, daß auch die- veranstaltung für die Hitler-Attentäter ser Bundespräsident vom 20. Juli 1944. durch sinnstiftende Der erträumte Auftakt nach Maß, Reden aus geschichts- die „erste große Bewährungsprobe“ trächtigem Anlaß über (Herzog), geriet zum kläglichen Fehl- Maßen Ansehen er- start. Statt Herzog wird ein anderer ringt und zum Leitbild sprechen: Bundeskanzler Helmut der Bürger wird. Zehn Kohl. Der CDU-Chef hat wissen las- Jahre Richard von sen: „Es ist der 50. Jahrestag, das Weizsäcker sind Lehre möchte ich diesmal selbst machen.“ genug. Basta. Der hatte sich am 8. Herzog fügte sich. Er wolle den Ge- Mai 1985 in die Herzen denktag jetzt nicht mit einem „Pre- der Deutschen gere- stigekrach“ befrachten, gab er klein det. In einem weltweit bei. Bei „genauerem Nachdenken“ beachteten Vortrag merke er, daß er sich „vertan“ habe: zum 40. Jahrestag der „Ich hab’s nicht richtig überlegt.“ Kapitulation, der auch Nach der mißglückten Rede von der eine Befreiung war, „unverkrampften“ Nation am Tag sei- verneigte sich Weiz- ner Wahl schon der zweite Patzer. Er säcker im Bundestag habe sich nunmehr „entschieden“, for- vor allen Opfern des mulierte Herzog in bescheidenem Faschismus und zoll- Trotz, Widerstandskämpfer und Hin- te den Widerstands- terbliebene des fehlgeschlagenen Hit- kämpfern unter- ler-Attentats ins Schloß Bellevue ein- schiedslos Respekt. zuladen. Kann er mit dem Eindruck le- Die Rede wurde, auf ben, er sei Präsident von Kohls Gna- Schallplatte gepreßt, den? „Ja, in den ersten drei Wochen zum Bestseller und meiner Amtszeit kann ich das.“ Weizsäcker zum Pri- Herzog weiß, wem er sein hohes vatfeind des Kanzlers. Amt verdankt. Nun läßt sein Gönner Der litt darunter, daß ihn schmerzhaft spüren, wer das Sagen er nicht annähernd so im Staate hat: nicht der protokollarisch schön reden kann. erste, sondern Kohl selbst, der dritte Weitsichtig hatte Mann. Kohl vorgesorgt, daß Konkurrenten Herzog, Kohl: Noch wäre Zeit genug, dem

18 DER SPIEGEL 23/1994 „Er hat sagen lassen, daß er es gern Kanzler zu widersprechen. Dabei konn- Nazis eine Richtung und einen Rahmen täte“, erinnert sich Dieter Thomas, te jeder vorhersehen, daß der Gedenk- geben können. Doch nun haben sich Vorstandsmitglied der Stiftung Hilfs- tag mitten im Wahlkampf wohl besser Krämerseelen und Eiferer dieses Tages werk 20. Juli. Für Thomas ein klarer vom Bundespräsidenten, von Amts we- bemächtigt. Fall: „Wenn der Bundeskanzler es gen überparteilich, als vom CDU-Vor- Plötzlich entflammt erneut jahrealter wünscht, kann keiner nein sagen.“ sitzenden begangen würde. Zwist um Exponate der Ausstellung in Im Februar trafen sich die 18 Mit- „Eine unheimliche Politisierung“ des der Gedenkstätte Deutscher Wider- glieder der Vorbereitungskommission 20. Juli rügt Peter Steinbach, der Leiter stand. Der Sohn des Hitler-Attentäters für den Gedenktag in der Berliner Se- der Gedenkstätte in Berlin. Claus Graf Schenk von Stauffenberg, natskanzlei. Dabei waren Vertreter Nach Kohls einsamem Entschluß Franz Ludwig, kritisiert die Einbezie- dreier Widerstandsorganisationen, der merkte auch die SPD, daß sie dem hung des „Nationalkomitees Freies Bundesregierung, der Gedenkstätte in Kanzler eine prächtige Chance zur wei- der Stauffenbergstraße und des Se- hevollen Selbstdarstellung überlassen nats. hat. Ganz in Anspruch genommen von „Wenn der Bundeskanzler Der Vorschlag, Kanzler Kohl möge der Suche nach Profil und Programm, es wünscht, ebenso wie zum 40. Jahrestag vor zehn übersah Rudolf Scharpings Mannschaft Jahren die Rede halten, wurde ohne die Bedeutung des 50. Jahrestages, des kann keiner nein sagen“ Diskussion akzeptiert. „Da regte sich ersten großen historischen Gedenktages kein Widerspruch,“ sagt Senatskanzlei- im vereinten Deutschland. Deutschland“, das unter kommunisti- chef Volker Kähne. „Das lief wohl ein bißchen zu routine- scher Anleitung im sowjetischen Die Chance, zum runden deutschen mäßig ab“, räumt Bernd Faulenbach, Kriegsgefangenenlager Krasnogorsk Datum den Opfern des Nazi-Terrors Chef der historischen Kommission beim Widerständler gegen Hitler geworben und ihren Nachkommen angemessener SPD-Parteivorstand, ein. Das Präsidium hatte. unter die Augen zu treten, war vertan der Sozialdemokraten hatte im März das Der Leiter der Gedenkstätte droht – weil niemand auf die Idee kam, dem Festkonzept samt Redner gebilligt. mit Rücktritt, falls tatsächlich Exponate Jetzt kartet der entfernt werden. Steinbach: „Der Wi- SPD-Chef nach, eben- derstand läßt sich nicht teilen.“ so verunglückt wie ge- Steinbach zum Trotz sollen die Berli- rade erst nach der ge- ner Feierlichkeiten zur Traditionsange- scheiterten Präsident- legenheit der Militärs stilisiert werden – schaftskandidatur von weil Stauffenberg und viele seiner Mit- Parteifreund Johannes verschwörer deutschnationale Offiziere Rau. Er hätte es für waren (siehe Seite 160). Die Bundes- angemessen gehalten, wehr wird eine Ehrenformation stellen. jammert Scharping, Dem Kanzler kann es nur recht sein. „wenn der Vorsitzende Für ihn reiht sich der 20. Juli in eine einer Partei, die in be- werbewirksame Folge militärisch unter- sonderer Weise unter malter Auftritte. der Diktatur des Drit- Am 31. August plant er, mit Ruß- ten Reiches gelitten lands Präsident Boris Jelzin durchs hat, um Teilnahme an Brandenburger Tor zu schreiten. Am 8. der zentralen Gedenk- September will er mit einem pompösen feier gebeten worden Akt den Abzug der alliierten Truppen wäre“. in Berlin zelebrieren. Das fällt ihm spät Reichlich Entschädigung dafür, daß ein. Die SPD habe of- der deutsche Regierungschef nicht – fiziell überhaupt nicht wie er es gern wollte – bei den D-Day- angefragt, um auf die Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Rednerliste zu kom- alliierten Invasion in der Normandie men, versichert Kanz- dabei sein durfte. leramtsminister Fried- Noch wäre Zeit genug für Herzog, rich Bohl (CDU). dem Kanzler zu zeigen, wer der Erste Nun präsentieren, Mann im Staate ist: Ein klärendes Wort Wahlkampf ist Wahl- mit dem Kanzler dürfte dem Staats- kampf, auch die Grü- oberhaupt nicht schwerfallen. nen den idealen Doch der Weizsäcker-Nachfolger hat Gedenkredner. Der seit dem Tag nach seiner Wahl kein DDR-Bürgerrechtler Wort mehr mit dem Kanzler gewech- und Präsidentschafts- selt. Im stillen ist er schon bei seiner kandidat Jens Reich, nächsten Bewährungsprobe. so der Vorschlag, sol- Am 8. Mai 1995 jährt sich das Ende le auf der zentralen des Zweiten Weltkrieges zum fünfzig- Gedenkveranstaltung sten Mal. Wer wird dann sprechen? sprechen. Roman Herzog glaubt: der Bundesprä- Ein Bundespräsi- sident. Er wolle seine Rede „mit scho- dent – auch ein just in- nungsloser Wahrheit und mit klaren thronisierter, der sein Worten halten“, ließ Herzog die Öf- Amt versteht, hätte fentlichkeit jetzt schon wissen. dem Gedenken an den Der Mann hat vom Kanzler ge- Kanzler zu zeigen, wer der Erste Mann im Staate ist Widerstand gegen die lernt. Y

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gewinnt Kohl seine Zuhörer, weil er sich CDU ihnen als einer der Ihren empfiehlt. Ei- ner, der redet, fühlt, denkt wie sie; einer mit festen konservativen Ansichten, der mit ihren festen konservativen Ansich- Der Kanzler leuchtet ten übereinstimmt. Vor allem aber als einer, der nicht SPIEGEL-Redakteur Hartmut Palmer über Kohls Wahlkampf gönnerhaft über die Ostdeutschen her- zieht: Fast nie versäumt es Helmut Kohl auf seinen Reisen durch die Provinz, er helle Abendhimmel ist plötzlich Rudolf Scharping vorbeiziehen sehen. den Leuten zu sagen, er wisse auch schwarz. Düstere Regenwolken Gerade in der alten DDR ist der Um- nicht, ob er nicht – wäre er in der DDR Dschieben sich über den Marktplatz schwung fast körperlich zu spüren. geboren und aufgewachsen – zu den von Eisenach und tauchen die Stadt un- Noch gibt es keine jubelnden „Hel- Mitmachern und Mitläufern gehört hät- ter der Wartburg in bleiernes Licht. mut, Helmut“-Chöre wie 1990, als Kohl te. Ein Held jedenfalls, tröstet er, wäre Vereinzelte Tropfen sind schon gefal- dem Osten die D-Mark brachte und un- auch er nicht geworden. len, Regenschirme springen auf, die umstritten der Kanzler der Einheit war. Das glaubt man ihm. Menge rückt zusammen. Aber es gibt eben auch keine Wutaus- Er kommt auch deshalb so gut an, Helmut Kohl aber steht unverrückt brüche mehr wie vor drei Jahren in Hal- weil damit die Vergangenheit, sorgsam und leuchtet. le, keinen kollektiven Zorn über den verteilt, mit seiner Autorität bewältigt Nicht einmal Leni Riefenstahl hätte Kanzler der unerfüllten Versprechun- wird. Wenn Kohl in Ostdeutschland das geschafft. Und es ist auch kein raffi- gen. über die Verbrechen des DDR-Regimes nierter Regie-Einfall der Wahlkampf- Der zweite Ost-Feldzug des Wahl- spricht, sind nie seine Zuhörer gemeint, Truppe aus der Parteizentrale der CDU. kämpfers Helmut Kohl verläuft völlig sondern immer nur die ganz oben. Bei Es ist einfach eine Laune des Wetters, daß die Scheinwerfer, die schon die ganze Zeit auf den Kanzler der Bundesrepu- blik Deutschland gerichtet wa- ren, erst jetzt, nach dem plötzli- chen Einbruch der Finsternis, voll zur Geltung kommen: Sie malen den Kontrast, sie lassen den Illuminierten leuchten. Helmut Kohl blüht „im Glanze dieses Glückes“, das er am Ende jeder Kundgebung so inbrünstig in der dritten Stro- phe des Deutschlandliedes be- singt. Und mit ihm blüht die ge- samte lokale CDU-Prominenz vom Ministerpräsidenten bis zum Bürgermeister, vom Land- rat bis zum Europa-Kandida- ten. Kein Ei fliegt in diese Idylle hinein, keine Tomate und kein Farbbeutel beschmutzen des Redners Revers – trotz extrem hoher Arbeitslosenquoten, trotz platt gemachter Betriebe, trotz so vieler enttäuschter Wahlkämpfer Kohl*: „Heimat, Vaterland, Zukunft“ Hoffnungen. Das liegt nicht nur daran, daß die Or- anders, als die Propheten (und vielleicht soviel Einfühlungsvermögen muß dieser ganisatoren der Partei soviel ausgesuch- auch er selbst) geglaubt haben: genauso Bonner Kanzler nicht fürchten, als Wes- tes Publikum zwischen Bühne und ge- nämlich wie der erste im Jahre 1990 und si abgelehnt zu werden. meinem Volk plaziert haben; nur ein auf jeden Fall nach dem gleichen Dreh- Auch sein Weltbild ist leicht zu be- Weitwurf-Olympionike könnte die Di- buch wie alle Kohl-Kampagnen seit greifen: „Heimat“, „Vaterland“, stanz überwinden. Es liegt auch nicht an 1976. „Zukunft“ – das ist die Kohlsche Drei- den vielen jungen Männern, die – per Wo immer er angekündigt ist oder faltigkeit; an ihr läßt er nicht rütteln. Funk herbeigerufen – sofort zur Stelle sich unangemeldet blicken läßt, strömen Für die Heimat sind Ministerpräsiden- sind, um mit geübtem Polizeigriff jeden die Menschen zusammen. Zehntausend ten und Bürgermeister zuständig – für Störer aus dem Verkehr zu ziehen, so- sind es in Eisenach, genauso viele im na- das Vaterland, für Europa und die Zu- bald eine Trillerpfeife ertönt. hen Meiningen, wo Kohl am vergange- kunft der Kanzler persönlich. Die Stimmung hat sich geändert. So nen Donnerstag die Stimmung testete. Blühende Landschaften? So sicher falsch jedenfalls scheinen die Meinungs- Ob in Eisenach oder Meiningen, in wähnt sich Kohl inzwischen seines Pu- forscher nicht zu liegen, die dem Amts- Strausberg oder im Spreewald: Überall blikums, daß er die heikle Frage selbst inhaber wachsende Zustimmung nach- aufwirft. Vielleicht habe er sich „um ein sagen und ihn an SPD-Herausforderer * Am vorigen Donnerstag in Eisenach. paar Jahre“ verschätzt – aber daß die

20 DER SPIEGEL 23/1994 Talsohle durchschritten ist und die Landschaften bald blühen, „daran gibt es doch überhaupt keinen Zweifel“. Bei soviel Zulauf und Zustimmung gehört fast schon wieder Mut dazu, an- derer Meinung als der Gast aus Bonn zu sein. In Meiningen jedenfalls fühlt sich Heinz Rothaus, 42, aus dem thüringi- schen Untermaßfeld ziemlich schief an- geguckt, und dies, obwohl er auf seinem selbstgemalten Schild nur die Parolen herumträgt, die eigentlich zum Allge- meingut an allen ostdeutschen Stammti- schen gehören: „Wann sind wir Ossis keine Menschen zweiter Klasse mehr? Ex-DDR = Armutsgebiet Deutsch- lands. Im Rechtsstaat viel mehr Lügen, Unrecht und Machtmißbrauch als im Ex-SED-Staat.“ Daß auch die PDS gelegentlich mit ih- ren Plakaten wedelt, kommt Kohl gele- gen: Er begrüßt sie regelmäßig als die „Spätlese der sozialistischen Völker- wanderung“. Der Gag wird überall herzlich belacht. Und hat es nicht immer noch einen hohen Überraschungseffekt, wenn ein SPD-Kanzlerkandidat Scharping: „Everybody’s darling is everybody’s Depp“ CDU-Kanzler die Sozialistin Rosa Lu- xemburg im Munde führt? Von der Frei- SPD Union dagegen könnte es auf 42 Prozent heit, die immer die Freiheit der Anders- bringen (siehe Grafik Seite 22). denkenden sei, spricht Kohl freilich Einige Präsidiumsmitglieder denken nicht, um die Arbeiterführerin zu ehren, bereits laut über die „Katastrophe“ sondern nur, weil es ihm in seinen Wahl- Bloß nix nach, wenn die SPD bei der Europa- kram paßt: Den Satz hat er mindestens wahl wie vor fünf Jahren verliert und seit 1987 im Repertoire, als er gegen den auch bei der anschließenden Landtags- SPD-Versöhnler Johannes Rau sein Genaues wahl in Sachsen-Anhalt nicht den ver- Amt verteidigte. sprochenen Machtwechsel schafft. Auch mit seinen überfallartigen Hub- Die Strategie ändern? Kanzlerkan- Scharping wäre lädiert, als Verlierer ab- schrauber-Besuchen folgt der Wahl- didat Scharping scheut gestempelt, noch ehe die heiße Phase kämpfer Kohl einem altbewährten Kal- des Bundestagswahlkampfes beginnt. kül: Wie der legendäre Kalif von Bag- weiterhin jede Festlegung, wie Der Kandidat bleibt sich treu, unver- dad ist er auch früher schon in westdeut- und mit wem er regieren will. drossen. Er schmettert, unterwegs im schen Wahlkämpfen plötzlich aufge- Europawahlkampf, noch immer nicht taucht und wieder verschwunden – im die Fanfare von Aufbruch oder „Zeit Unterschied zu Harun el-Raschid aber lötzlich bekommt Rudolf Schar- zum Wechsel“. Er beschränkt seine Bot- tut er das nie, um heimlich Volkes Mei- ping ganz große Augen, weit öffnet schaft auf den schlichten Anspruch, so- nung zu erkunden, sondern um Mei- Psich sein Mund. Schnell befeuchtet zial, wirtschaftlich und ökologisch kom- nung und Stimmung zu machen. er den rechten Zeigefinger, reckt ihn petenter zu sein als der Kanzler, dem er Das kommt im mecklenburgischen gen Himmel – und schüttelt triumphie- ansonsten nacheifert. Neuensund (119 Einwohner) ebensogut rend das Haupt: „Mit mir nicht.“ Ob in Heidelberg auf dem Marktplatz an wie in Mochow am Rande des Spree- Wer seine „Politik nach der Wetter- oder in Sachsen-Anhalt, Scharping pre- walds (120 Einwohner). Dort stand am fahne“ richte, doziert Scharping, der digt mehr Gerechtigkeit und Sicherheit vorletzten Wochenende das ganze Dorf „produziert Schlagzeilen, weist aber kei- in allen Lebenslagen. Demnächst, so kopf, weil niemand mit dem plötzlichen ne Richtung“. Zweisprachig legt er verkündet er hoffnungsfroh, werde sich Besuch gerechnet hatte. Bürgermeister nach: „Everybody’s darling is everybo- eine Arbeitnehmer- und eine Künstler- Hans Müller (CDU), der gerade seinen dy’s Depp.“ Das war’s denn. Den An- Initiative für die SPD ins Zeug legen. Traktor reparierte, kam mit ölver- flug von Spontaneität, selten genug bei Alle Ansinnen, er solle möglichst in schmierten Händen. Er wird nie verges- dem Stoiker aus dem Westerwald, er- Mark und Pfennig sagen, was ein Kanz- sen, daß Kohl ihm dennoch die Hand stickt er schnell. ler Scharping den Bürgern zumuten gegeben hat. Der Kanzlerkandidat übt sich in der werde, weist er als verfrüht zurück. Die Genausowenig wie der Gastwirt Kunst, den Verfall seines Ansehens und SPD sei die „Partei, die Reformen will“. Frank Grassmel, in dessen Kneipe Kohl den seiner Partei zu ignorieren. Als hät- Das soll genügen. für 85 Mark eine Lokalrunde schmiß. te es Johannes Raus mißratene Präsi- Soviel Ignoranz nimmt er für sich in Für Grassmel scheint mit diesem Besuch dentschaftsbewerbung und den seltsa- Anspruch – und geißelt sie beim Kanz- des Kanzlers die Mauer ein zweites Mal men Versuch, die Niederlage in eine ler. gefallen zu sein. Jedenfalls entfährt ihm Mitleidskampagne zu verwandeln, nicht Der bloße Wille zur Macht reiche in der Rückschau das schon vergessene gegeben. Nach Emnid-Umfragen für „überhaupt nicht aus“, ruft er unter Ap- Polit-Wort des Jahres 1989: „Wahn- den SPIEGEL landet die SPD bei der plaus am vorigen Mittwochabend im gut sinn“. Y Europawahl bei nur 38 Prozent; die besuchten „Bürgerhaus“ zu Wirges, we-

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nige Kilometer von seinem Geburtsort Niederelbert ent- fernt, aus. Der Souverän fra- ge vor der Stimmabgabe die Politiker: „Wozu eigentlich? Für wen? Für was? Mit wel- chen politischen Zielen?“ Geboten sei umfassende Auskunft: „Die Fragen soll- ten genau, konkret beant- wortet werden und nicht mit dem allgemeinen wolkigen Geschwafel, das man häufig hört, nach der Methode: bloß nix Genaues sagen.“ Das geht an Scharpings ei- gene Adresse. Fast beleidigt reagiert er auf das Begehr, er solle end- lich kundtun, mit welchem Partner seine 33,5-Prozent- Partei eigentlich das Land re- gieren wolle. Jegliche Koali- tionsdebatte vor dem Wahl- abend schade der SPD, glaubt Scharping fest. Den Lehrsatz begründet er, ganz im Stile seines Pfälzer Vorbil- des, aus dem Bauch: „Glau- ben Sie mir, ich habe selten danebengelegen.“ Eine „reformorientierte Politik“, die leichter mit den Grünen zu verwirklichen wäre, hatte Chef die Differenzen zu seinem Chef- Scharpings wichtigster Helfer, Bundes- manager herunter. Dessen Überlegun- geschäftsführer Günter Verheugen, vori- gen seien „in Ordnung“, wiegelte er ab. ge Woche im SPIEGEL skizziert. Nur so Scharping wiederholt derzeit stereotyp, könne die SPD, interpretierte Verheu- daß ihm nicht der Sinn nach der Großen gen seine These, plausibel machen, was Koalition steht; ansonsten beharrt er auf die Partei von der Union unterscheide. möglichst vielen Optionen nach dem 16. Widerspruch kam am Montag voriger Oktober. Woche in Scharpings vertraulicher Wahl- Seine Partei könne nur dann die helferrunde vom nordrhein-westfäli- stärkste im Lande werden, wenn sie von schen Minister Wolfgang Clement und Union, FDP und Grünen Wähler ab- dem Mainzer Staatskanzleichef Karl- werbe: „An meiner Einschätzung hat Heinz Klär. Der Düsseldorfer befürch- sich nichts geändert und wird sich nichts tet, eine Diskussion über Rot-Grün kön- ändern.“ ne der NRW-SPD im nächsten Frühjahr Argwöhnisch allerdings verfolgen die Chancen bei der Landtagswahl ver- Scharping und seine Helfer das Treiben derben. Dem Scharping-Intimus Klär des niedersächsischen Ministerpräsiden- graust vor dem Verlust von Stammwäh- ten Gerhard Schröder. Der macht kein lern und vor Rückwirkungen auf die Ko- Hehl daraus, daß er Rot-Grün für den alition mit der FDP in Rheinland-Pfalz. Schlüssel zum Erfolg gegen Helmut Verheugen hingegen glaubt, daß sich Kohl hält. die Kernwählerschaft der SPD ein prä- Schröders flapsige Anmerkungen, der gnantes ökologisches Profil wünsche. Kandidat solle lieber den Kanzler attak- Rot-Grün habe auch bei Industriearbei- kieren, anstatt sich mit dem künftigen tern und Gewerkschaftern an Schrecken Bundespräsidenten Roman Herzog und verloren, nachdem sich diese Traditions- Bundestrainer Berti Vogts („Auslauf- klientel früher im Wettbewerb zwischen modell“) anzulegen, wurde in Schar- Ökologie und Ökonomie allemal für die pings Montagsrunde als „eine ganz böse Ökonomie entschieden habe. Sache“ ernstgenommen. Die Berater Verheugen: „Dieser Spagat hat sich er- des Kandidaten hegen den Verdacht, heblich verkürzt.“ Das sozialdemokrati- Schröder lauere auf Scharpings Schei- sche „Reformprojekt“ sei derzeit „nicht tern, um ihn spätestens nach einer verlo- überzubringen, ohne es inVerbindung zu renen Bundestagswahl abzulösen. setzen mit realistischen Machtperspekti- Den offenen Konflikt mit dem macht- ven“. bewußten Sponti aus Hannover scheut Diese Festlegung scheut Scharping Scharping. Auch das hebt er sich für nach wie vor. Mühsam redete der SPD- später auf. Y

22 DER SPIEGEL 23/1994 KOMMENTAR Oskar und das „Reich“ RUDOLF AUGSTEIN

aarlands Ministerpräsident Os- Minute blockiert wird.“ Ehmke will Kriele, animiere zu einer Verrohung kar Lafontaine ist, wie ihm ihn wütend gefragt haben, ob er der öffentlichen Sitten. SHorst Ehmke bescheinigt, ein nicht wenigstens ab und zu vorher ei- Ein erster Regierungsentwurf aus politisches Naturtalent. Man hat es nen Erwachsenen fragen könne. der Staatskanzlei war von der SPD- bei ihm mit einer unberechenbaren Nicht zum erstenmal trat Oskar als Fraktion für nicht durchsetzbar, weil Mischung zu tun. Mal sieht man in bloßer Taktiker auf. verfassungswidrig, erkannt worden. ihm den Saar-Napoleon, mal den Sein schärfster Gegner war Hel- Dies mußte von der Fraktion ver- Mini-Strauß, mal den Sonnenkönig mut Schmidt samt Anhang, von La- kleistert werden. in einem recht kleinen und recht ar- fontaine als „SPD-Senioren-Initiati- Darum wurde, wie der CDU- men Land. ve für Helmut Kohl“ verspottet. Fraktionsvorsitzende Peter Müller Solide würde ihn niemand nen- Neuerdings will Schmidt Deutsch- sagte, ein „offensichtlich verfas- nen, seriös auch nicht. Aber er be- land retten, indem er sich mit dem sungswidriger Regierungsentwurf wegt etwas. Es fragt sich nur, ob durch einen unsinnigen, ab- Scharping gut daran tat, ihn in sei- geänderten Entwurf er- ner Wahlkampfmannschaft an die setzt“. Am Ende würden herausragende Stelle für Wirtschaft „Lügner“ das letzte Wort und Finanzen zu setzen. Auch ihm haben. müßte aufgefallen sein, daß Oskar Man fragt sich, welcher immer nur hinterher recht hatte. Geist eine Staatskanzlei be- Es gibt eine Erklärung. Zwar wegt, die künftig auch Kari- kann Oskar nirgendwo hin, aber es katuren und Fotografien kommt niemand an ihm vorbei. Die unter das Recht auf Gegen- gewagte Voraussage sei mitgeteilt, darstellung zwingen will. daß Oskar im Herbst zwar volle Die SPD-Fraktion ihrer- Versammlungen haben, letztendlich seits ließ einen Passus dem soliden und seriösen Scharping durch, dem zufolge „der aber schaden wird. Bürger“ künftig die Hilfe Denn ein Einzelgänger und Quer- der Gerichte bei der Formu- kopf, ja sogar ein Gaukler ist Lafon- lierung seiner Texte in An- taine auch. Das kann er sich leisten, spruch nehmen kann. Ge- weil er die Saar-SPD samt seinem waltenteilung? Nie gehört. potentiellen Nachfolger Reinhard Mit Sicherheit verfassungs- Klimmt hinter sich weiß. In Lafon- widrig. taines 1982 erschienenem SPIE- Es geht hauptsächlich um GEL-BUCH (ich habe es seinerzeit den „Redaktionsschwanz“ in Bonn vorgestellt) hieß ein Kapi- hinter den Gegendarstel- tel: „Die Bundesrepublik Deutsch- lungen. Er sollte ursprüng- land muß aus der militärischen Inte- SPIEGEL-Titel 20/1992 lich gar nicht mehr erlaubt gration der Nato ausscheiden“ – Nur zu gern „Alleinherrscher“ sein. Nun muß er an anderer sehr zur Unzeit, wie mir damals Stelle stehen und auf Tatsa- schien. Möchtegern-Minister Lafontaine in chen beschränkt sein – eine unsinnige Publikumswirksame Alleingänge seinem Buch „Das Jahr der Ent- Schikane. wurden Oskars Markenzeichen. Er scheidung“ anfreundet. Oskar stört es nicht, daß er im Saar- fühlt sich nur zu gern als „Allein- Oskar aber kann es nicht lassen. land Sonderrecht schafft und die Ein- herrscher“. Weil die Saarländer das Weil er sich persönlich in der Pensi- heitlichkeit des Presserechts aufhebt. übrige Deutschland immer noch als ons- und Rotlicht-Affäre gekränkt In Rheinland-Pfalz sieht Scharpings „das Reich“ ansehen, will Ehmke fühlte, ließ er das Landespressege- designierter Nachfolger –wenn der es ihm mehr als einmal gesagt haben: setz verschärfen. in Bonn denn packt – und Vorsitzen- „Oskar, das Reich ist größer.“ Während alle anderen Bundeslän- der der SPD, Kurt Beck, keinen Kurz vor der Abstimmung über der das „Gegendarstellungsrecht“ Handlungsbedarf, die bestehenden den Staatsvertrag zur deutsch-deut- dem Inhalt und Gehalt nach ähnlich rechtlichen Möglichkeiten bei der schen Währungsunion 1990 wußte handhaben – schließlich hat es sich Gegendarstellung zu verschärfen. der Kanzlerkandidat Lafontaine im in Jahrzehnten entwickelt –, wollte Und überhaupt bestünden bei even- SPIEGEL folgenden ziemlich idioti- Oskar Lafontaine einen „ersten Ein- tuell notwendigen Novellierungen schen Vorschlag beizusteuern: „Bei stieg, um die Persönlichkeitsrechte keine Absichten, die Presse in irgend- dem jetzigen Stand rate ich dazu, betroffener Bürger zu schützen“. einer Form zu beschneiden. daß wir den Vertrag ablehnen, aber Den betroffensten Bürger kennen Oskar in seiner liebsten Rolle: al- signalisieren, daß bei vernünftigem wir. Die Rechtsprechung des Bun- lein gegen den Rest der Welt, der Verhalten der Bundesregierung die desverfassungsgerichts, so zitiert La- Schweinehirt gegen alle Journalisten- Währungsumstellung nicht in letzter fontaine den Kölner Staatsrechtler schweine. Wohl bekomm’s.

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ner noch perfekteren Zusammenarbeit Wohlstandsgrenze erschwert. Doch die Europa der Westeuropäer wirkt bizarr. Freizügigkeit kommt. Was wird dann Brüssel regelt den Krümmungswinkel aus den hohen deutschen Löhnen? der Gurken – im ehemaligen Jugosla- Bisher sitzen in Brüssel 12 Staaten am wien herrscht Krieg. Brüssel verpflichtet Tisch. Wie sollen sich 20, vielleicht so- Bizarres die Almkäsereien, aus hygienischen gar 35 Länder verständigen und einig Gründen nur noch Einweghandtücher werden? zu benutzen – in Rußland kehrt die tot- Die alte Gewißheit, daß Europa zwar Basteln geglaubte Diphtherie zurück. langsam, aber stetig zusammenwächst, Knapp 300 Millionen Europäer des hat sich verflüchtigt. Angetrieben von Ein schönes und friedliches Europa früheren Ostblocks hoffen auf Zutritt diffusen Ängsten, schließen sich überall spiegeln die Parteien im Wahl- zum Binnenmarkt, doch der reiche Klub Skeptiker und Gegner der EU-Politik der Westler spielt auf Zeit. Die Parla- zusammen. Linke und Rechte, Populi- kampf vor – dabei lasten auf der mentarier, die am Donnerstag und sten und Intellektuelle bilden europa- EU gewaltige Probleme. Sonntag gewählt werden, müssen mit weit eine Koalition der Verzagten. entscheiden über die Einführung einer „Unsere Europapolitik besteht aus einheitlichen Eurowährung und die Re- verbalen Schleiertänzen“, meldet sich ie wollen sich nicht nachsagen las- form nahezu aller Institutionen. Doch erregt der Politpensionär und ehemalige sen, daß sie nichts zu bieten haben. selbst in Deutschland, an der Nahtstelle SPD-Finanzminister Hans Apel zu SDie Liberalen verteilen Bananen der Probleme, findet keine laute Debat- Wort. Seine dringende Bitte: „Die an Passanten, auch im Westen. Die Uni- te statt. Bonner Windmaschinen der Euro-Pro- on reicht ihrer Klientel auf den Markt- Die Implosion des Kommunismus pagandisten müssen abgestellt werden.“ plätzen rote Äpfel. Die SPD hat sich ein wird die Europäische Union bis in die Doch die eigenen Genossen wirbeln biedersinniges Plakat einfallen lassen, Fundamente erschüttern. Die Zeit der nach Kräften mit. „Wir brauchen eine Neudefinition der Europäischen Union“, drängt der be- dächtigte Karl Otto Pöhl, ehemals Präsi- dent der Bundesbank und heute Gesell- schafter des Bankhauses Sal. Oppen- heim in Köln. Niemand hört hin. Seine Kollegen in den Bankhäusern und Indu- strieetagen haben sich aus der Euro-De- batte ausgeblendet. Der Verdruß über die Schönfärber und Weggucker im Establishment wächst. Die Bürger, und nicht nur die in Deutschland, wenden sich von der Ge- meinschaft ab, fühlen sich von Brüssel gleichzeitig bevormundet und im Stich gelassen. Erstmals in der 15jährigen Geschichte des direkt gewählten Europaparlaments entpuppt sich Euro-Skepsis als Wahl- schlager. Die verdrossene Gesellschaft flüchtet sich in Wahlenthaltung oder vo- tiert für populistische Protestparteien. In Portugal, wo die Bauern, Hand- werker und Kleinhändler zunehmend unter der Öffnung der Märkte leiden, führen die Christdemokraten eine natio- nalistische Kampagne. Die liberal-kon- Liberale Wahlkämpfer (in Hamburg): Betont friedlich, angestrengt positiv servative Regierungspartei antwortet mit dem Bekenntnis „Europa ja – Portu- das einen im Ruderboot vor sich hindö- Verwerfungen kommt verzögert, aber gal immer“. senden Familienvater samt Sohn zeigt. gewaltig. Was die Deutschen nach dem In Frankreich hat sich ein halbes Dut- Auch die Wahlslogans signalisieren Mauerfall als Vereinigungskrise erleb- zend Wahlbewegungen gebildet – quer entspannte Zeiten. „Sicher in die Zu- ten, steht den Europäern erst bevor. zum Rechts-Links-Schema üblicher Par- kunft“, beschwört die eine Volkspartei, Noch werden billige Produkte aus teikämpfe –, das gegen Maastricht zu „Sicherheit statt Angst“ propagiert die dem Osten – Stahl, Kartoffeln, Textilien Felde zieht. andere. In der Pose des unbeschwerten – an den EU-Grenzen gestoppt. Der Die Deutschen, in Brüssel über Jahr- Europäers hoffen die Etablierten die Westen lebt im künstlichen Schutz der zehnte als Musterschüler geschätzt, ha- Wahl am kommenden Sonntag unbe- Quoten und Zölle. Wie lange? ben sich eingereiht. In der Abneigung schädigt zu überstehen. Im Wahlkampf Noch verteilen die Westpolitiker ihre gegen eine Einheitswährung sind sie ei- der Unverbindlichkeiten klingt alles be- Subventionen untereinander. Mit dem nig mit Europas härtesten Ecu-Dissi- tont friedlich und angestrengt positiv. Beitritt der Ostländer würden sich die denten, den Briten und Dänen. 50 Pro- Und garantiert nichtssagend. Budgets für EU-Agrarausgaben und zent der Bundesbürger, so eine Umfra- Umlullt von den eigenen Beschwichti- Strukturfonds mehr als verdoppeln. ge des britischen Mori-Instituts, lehnt gungen, weichen die Politiker vor der Wer soll das bezahlen? die Euro-Währung kategorisch ab. unschönen Realität zurück. Das selbst- Noch wird den billigen Arbeitskräften Jetzt rächt sich, daß der auf wirt- verliebte Basteln der EU-Politiker an ei- aus dem Osten das Überqueren der schaftliche Zusammenarbeit fixierte

24 DER SPIEGEL 23/1994 Zwölfer-Klub nie bemüht war, eine eu- Die Bonner Parteien wirken verzagt. Hucke voll“, empört sich die SPD-Poli- ropäische Identität auszubilden. „Einen Anstatt die Wähler auf schwierige Zei- tikerin Heidemarie Wieczorek-Zeul. Binnenmarkt“, sagt lakonisch Kommis- ten vorzubereiten, biedert sich die Uni- Wer aufbegehrt, hat es auch in der sionspräsident Jacques Delors, „kann onsspitze dem Publikum an. Unisono SPD nicht leicht. Um die Parteioberen man nicht lieben.“ fordern CDU- und CSU-Politiker, die wachzurütteln, legte die Europa-Exper- Alle wissen, daß ein Kurswechsel in Deutschen sollten weniger zahlen für tin dem Präsidium ein Papier vor, das Europa überfällig ist. Doch wohin? Die Europa. die Kosten der europäischen Ost-Erwei- Rückkehr zum alten Nationalstaat, der Dabei wissen alle: Der Aufbau der terung exakt beziffert. Allein mit der alles allein regelt, ist versperrt. Ein Viel- Ostländer wird die EU-Bürger schnell Aufnahme der Polen, Ungarn, Tsche- völkerstaat, der sich vom Atlantik bis dreistellige Milliardenbeträge kosten. chen und Slowaken müßten die Ausga- zum Ural erstreckt, ist eine Illusion. „Kohl und Waigel lügen den Leuten die ben für Struktur- und Agrarpolitik von

BELGIEN Wahl zum Europäischen Parlament DÄNEMARK Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt 25/24 16/16 Wahlbeteiligung 1989 Voraussichtliche Sitzvertei- Wahlbeteiligung 1989 90,7 Prozent (Wahlpflicht) * Sonstige 2 Koalition der 46,2 Prozent lung im Europaparlament Linken–KL 13 (13) Die führenden Parteien 1989 bisherige Sitzverteilung Die führenden Parteien 1989 partei fraktion ergebnis in % sitze in Klammern; partei fraktion ergebnis in % sitze CVP EVP 21,1 5 Anzahl der Sitze Europäische SD SOZ 23,3 4 PS SOZ 14,5 5 bislang: 518, Volkspartei/ VB REG 18,9 4 SP SOZ 12,4 3 künftig: 567 Christdemokraten–EVP Fraktion der Sozialde- Venstre LIB 16,6 3 188 (162) mokratischen Partei innenpolitische bedeutung der wahl *The European/ innenpolitische bedeutung der Wahl Mori-Umfrage Europas–SOZ Belastungsprobe für die brü- 224 (197) Mögliches Erstarken der chige Regierungskoalition Europa-Gegner

DEUTSCHLAND FRANKREICH Fraktion der Samm- Anzahl der Sitze neu/alt lungsbewegung der Anzahl der Sitze neu/alt 99/81 Europäischen Demo- 87/81 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 62,3 Prozent kraten–ED Liberale und Die Grünen 48,7 Prozent 7 (20) demokratische Fraktions- Regenbogen- 43 (27) Die führenden Parteien 1989 Fraktion–LIB lose–FL fraktion– REG Die führenden Parteien 1989 partei fraktion ergebnis in % sitze 46 (44) 27 (27) 17 (16) partei fraktion ergebnis in % sitze CDU/CSU EVP 37,7 32 Abkürzungen PS SOZ 23,6 22 Belgien: CVP=Christliche Volkspartei, PS und SP=Sozialisten; Dänemark: SD=Sozialdemokraten, SPD SOZ 37,3 31 VB=Volksbewegung gegen die EU; Frankreich: PS=Sozialisten, RPR=Gaullisten, UDF=Giscardisten; RPR ED 14,0 13 Grüne Die Grünen 8,4 8 Griechenland: ND=Neue Demokraten, Pasok=Sozialisten, LA=Links-Allianz; Irland: PD=Progressive UDF EVP/LIB 14,0 13 Demokraten; Italien: DC=Christdemokraten, PDS=Demokratische Linke, PSI=Sozialisten; Luxemburg: innenpolitische bedeutung der wahl CSV=Christlich-soziale Volkspartei, LSAP=Sozialistische Arbeiterpartei, DP=Demokratische Partei, innenpolitische bedeutung der wahl Probeabstimmung für die Niederlande: CDA=Christdemokraten, PvdA=Arbeitspartei, VVD=Freiheitliche demokratische Partei; Erste Anhaltspunkte für die Portugal: PS=Sozialisten, PSD=Sozialdemokraten(Liberale), VL= Vereinigte Linke; Spanien: Psoe= Bundestagswahl im Oktober Arbeitspartei, PP=Volkspartei, VL=Vereinigte Linke Präsidentenwahl im April 1995

GRIECHENLAND GROSSBRITANNIEN IRLAND ITALIEN Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt 25/24 87/81 15/15 87/81 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 79,9 Prozent (Wahlpflicht) 36,2 Prozent 68,3 Prozent 81,0 Prozent Die führenden Parteien 1989 Die führenden Parteien 1989 Die führenden Parteien 1989 Die führenden Parteien 1989 partei fraktion ergebnis in % sitze partei fraktion ergebnis in % sitze partei fraktion ergebnis in % sitze partei fraktion ergebnis in % sitze ND EVP 40,4 10 Labour SOZ 40,1 45 Fianna Fail ED 31,5 6 DC EVP 32,9 26 Pasok SOZ 36,0 9 Torys EVP 34,1 32 Fine Gael EVP 21,6 4 PDS SOZ 27,6 22 LA KL 14,3 4 Greens Die Grünen 15,0 0 PD LIB 12,0 1 PSI SOZ 14,8 12 innenpolitische bedeutung der wahl innenpolitische bedeutung der wahl innenpolitische bedeutung der wahl innenpolitische bedeutung der wahl Währungsverfall könnte Pre- Indirektes Votum für oder ge- Probe für die Stabilität der Test für die neue Berlusconi- mier Papandreou schaden gen Premier Major Koalition Regierung

LUXEMBURG NIEDERLANDE PORTUGAL SPANIEN Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt Anzahl der Sitze neu/alt 6/6 31/25 25/24 64/60 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 Wahlbeteiligung 1989 87,4 Prozent (Wahlpflicht) 47,2 Prozent 51,2 Prozent 54,6 Prozent Die führenden Parteien 1989 Die führenden Parteien 1989 Die führenden Parteien 1989 Die führenden Parteien 1989 partei fraktion ergebnis in % sitze partei fraktion ergebnis in % sitze partei fraktion ergebnis in % sitze partei fraktion ergebnis in % sitze CSV EVP 34,9 3 CDA EVP 34,6 10 PSD LIB 32,7 9 Psoe SOZ 40,2 27 LSAP SOZ 25,4 2 PvdA SOZ 30,7 8 PS SOZ 28,5 8 PP EVP 21,7 15 DP LIB 20,0 1 VVD LIB 13,6 3 VL REG/KL 14,4 4 VL FL 6,2 4 innenpolitische bedeutung der wahl innenpolitische bedeutung der wahl innenpolitische bedeutung der wahl innenpolitische bedeutung der wahl Auch Parlamentswahl, christ- Mögliches Erstarken der Test für den durch die Rezession Indikator für Stimmenverluste soziale Mehrheit in Gefahr Europa-Gegner angeschlagenen Premier Silva der González-Regierung

DER SPIEGEL 23/1994 25 DEUTSCHLAND heute 62 Milliarden um weitere 68 Milli- arden Ecu steigen – ein Push um über 100 Prozent. Engagiert warb Wieczorek-Zeul für „Ehrlichkeit gegenüber der Bevölke- rung“. Die SPD, beschwor sie die Ge- nossen, müsse im Wahlkampf eine „aggressive Wertedebatte führen, gegen den aufkeimenden Nationalismus und für Solidarität in Europa“. Mit ihrem Appell blieb sie ganz allein. Die CDU ist nicht mutiger als die SPD. Helmut Kohl, der sich gern als Ober-Europäer feiern läßt, verkündet in seinen Wahlreden floskelhaft: „Erweite- rung und Vertiefung der Europäischen Union sind kein Gegensatz.“ Er weiß es besser. Die Auslandsabteilung des Kanzler- amtes hat in Planspielen längst Ab- schied von dem einen Europa genom- men. Mit dem Beitritt der Oststaaten, so die Kohl-Berater, werde eine Zwei- teilung des europäischen Hauses wahr- scheinlich. Im geräumigen Untergeschoß siedeln demnach alle Staaten, die 1999 nicht reif für eine Währungsunion sind, dabei sind die Briten. Gemeinsam mit Süd- und Osteuropäern bilden sie eine Freihan- Gutes Geld Die Parteien füllen die Kassen

as Superwahljahr ist gut für die Parteien. Sie können ihre chro- Dnisch leeren Kassen auffüllen. Rund 400 Millionen Mark werden die Parteien in diesem Jahr aus der Staatskasse an Zuschüssen bekom- men. Nach dem neuen Parteienge- setz, das seit dem 1. Januar gilt und auf ein Urteil des Bundesverfas- sungsgerichts zurückgeht, gibt es für jede Wählerstimme eine Mark. Die ersten fünf Millionen Stimmen wer- den gar mit je 1,30 Mark vom Staat honoriert. Für jede Mark, welche die Partei- en als Spende oder Beitrag einsam- meln, legt der Staat noch einmal 50 Pfennige drauf. So kommen leicht die 230 Millionen Mark zusammen, die Karlsruhe als absolute Obergren- ze für die Parteien festlegte. Das ist aber längst nicht alles. Ne- ben Staatsgeldern für die jeweilige Parteijugend kassieren die Schatz- meister rund 100 Millionen Mark zu- sätzlich an „Abschlußzahlungen“ aus der bis 1992 gültigen alten Wahl- kampfkostenerstattung. Auch der Chancenausgleich für 1992 bringt noch einmal rund 30 Millionen Mark. Er soll kleinere Parteien ent- delszone mit lockerem politischem Überbau. In der Beletage residieren die Kern- Europäer, vornweg Franzosen und Deutsche. Zusammen mit den Benelux- ländern und womöglich den Österrei- chern verschmelzen sie ihre Währun- gen, betreiben fortan eine gemeinsame Geld- und Wirtschaftspolitik. Den Vorgarten bevölkern etwa Rus- sen, Türken und Ukrainer. Ihnen wird die Mitgliedschaft verwehrt. Sie bleiben der EU mit Assoziierungsverträgen ver- bunden. Das Modell wäre ein radikaler Bruch mit den Einheitsparolen aller Parteien. Und dennoch hat das Planspiel Chan- cen, Realität zu werden. Prominente Franzosen wie Europaminister Alain Lamassoure und neuerdings auch Bri- ten-Premier John Major fordern ein „Europa der zwei oder mehr Geschwin- digkeiten“. In Bonn findet die Debatte nur heim- lich statt. Die Politiker wollen mit wol- kigen Bekenntnissen zu Frieden, Frei- heit und Sicherheit die Probleme aus dem Wahlkampf verdrängen. Hauptsa- che, die befürchtete Wahlabstinenz fällt nicht zu hoch aus. Y schädigen, die nicht so viele Spenden bekommen wie die großen, und wird mit zwei Jahren Verspätung ausge- zahlt. Für die Wahlkämpfe wollen die Schatzmeister viel weniger ausgeben, als sie einzunehmen hoffen. Höch- stens 75 Millionen Mark wird die SPD für Europa- und Bundestags- wahl investieren, Bündnis 90/Grüne rund 5 Millionen und die PDS 17,5 Millionen Mark. Die CDU will für alle Wahlkämpfe gar nur 60 Millio- nen Mark auslegen, die CSU höch- stens 24 Millionen, die FDP 20 Mil- lionen Mark. Die Republikaner ha- ben 4 Millionen Mark eingeplant. Die neue Regelung ist ein Glücks- fall für sämtliche Schatzmeister. Denn bisher durfte der Staat nur je- ne Wahlkampfkosten erstatten, die von den Parteien belegt werden konnten. Die billigen Kampagnen dieses Jahres können dem Wähler zudem noch als neue Sparsamkeit angepriesen werden. Ein noch besseres Jahr für die Schatzmeister wird 1995. Wegen des Inflationsausgleichs rutscht die Ober- grenze für die staatliche Parteienfi- nanzierung auf rund 268 Millionen Mark, dazu kommen rund 30 Millio- nen aus dem Chancenausgleich. Für vier Landtagswahlkämpfe müssen die Schatzmeister 1995 lange nicht soviel Geld ausgeben, wie ihnen zu- steht.

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Verfassungsschutz Politischer GAU Der Solinger V-Mann des Verfas- sungsschutzes, Bernd Schmitt, gerät immer stärker in Verdacht, Neonazis unterstützt zu haben.

er Ton war bitter, fast wehleidig. Die Vorwürfe gegen ihn „im Fall DSolingen“, klagte Nordrhein-West- falens Innenminister Herbert Schnoor (SPD) Mitte vergangener Woche vor Genossen, seien „infam und diffamie- rend“. Böse Mächte seien am Werk, Kampfsportgruppe „Hak Pao“, V-Mann Schmitt (Kreis), Aktivist Schlösser (2. v. r.)*: Brunnenvergifter, Dreckschleuderer, Spezialisten für „Desinformation“, Schmitt seinen Führungsleuten über die schaft schon gegen den V-Mann und kurz: Leute, „die ihre Hose mit der Untergrundarbeit berichten. Kampfsportlehrer Schmitt wegen des Kneifzange anziehen“. Schnoor war also bestens präpariert, Verdachts, er habe trotz Verbots der Fast ein Jahr lang hatte sich der Sozi- doch als der Vorhang aufging, stand er „Nationalistischen Front“ (NF) deren aldemokrat auf die Enttarnung des da wie ein Mime, dem auf offener Büh- militante Aktivitäten unterstützt. Solinger Kampfsportlehrers Bernd ne die Knöpfe abspringen. Er verlor die Die Funktionäre der NF, die nach Schmitt, 50, als Agent gegen rechts vor- Contenance und beschimpfte die Presse- Einschätzung des Bundesinnenministe- bereiten können. bengels, die über den doch so geheimen riums die „verfassungsmäßige Ord- Schon kurz nach dem Solinger Brand- Fall leider berichtet hätten. nung“ bekämpfen, sind nach wie vor anschlag am 29. Mai vergangenen Jah- „Da kommst du nicht durch“, prophe- konspirativ tätig. Mehr als 80 Straftaten res, bei dem fünf Türkinnen auf grauen- zeite ihm die SPD-Landtagsabgeordnete registrierte das Bundeskriminalamt volle Weise starben, bekam Schnoor, Erika Rothstein, 58. Dem Solinger Un- (BKA) nach dem NF-Verbot im No- 67, erstmals die Akten des Spitzels terbezirksvorsitzenden der SPD, Hans- vember 1992 – von der illegalen Ver- Schmitt auf den Schreibtisch. Drei der Werner Bertl, „wachsen graue Haare“: breitung einschlägigen Propagandama- vier jungen Leute, die sich derzeit als Einerseits versuchten Sozialarbeiter, terials bis zur „Finanzierung der Fort- mutmaßliche Mordbrenner vor dem junge Menschen „aus der rechten Szene führung der verbotenen Vereinigung“. Düsseldorfer Oberlandesgericht verant- herauszuarbeiten“, andererseits würden Ein BKA-Bericht hielt fest: worten müssen, waren Schmitt-Schüler Steuergelder für einen V-Mann gezahlt, Im Rahmen dieser Ermittlungen wurden – und dessen „Deutscher Hochleistungs- der „genau kontraproduktiv gearbeitet“ bisher sieben Bankkonten beschlag- Kampfkunstverband“ (DHKKV) galt habe. nahmt. Es handelt sich hierbei um zwei unter Kennern bundesweit als braunes Schnoor blieb scheinbar unberührt. Konten, die (dem früheren NF-Chef) Nest von Neonazis. Ob am Kabinettstisch, in der SPD-Frak- Schönborn direkt zuzuordnen sind so- Ein V-Mann, der ein Netz für die vie- tion oder der Parlamentarischen Kon- wie um fünf Konten, die Mitgliedern der len Spinner der Rechten webt, ist ein trollkommission (PKK) des Parlaments NF zuzuordnen sind. Scoop für jeden Nachrichtendienst. Ein – monoton variierte er in der vergange- geheimer Frontkämpfer nen Woche sein Thema. Ex-Boß Meinolf Schönborn, 38, soll aber, der – und wäre Kein Wort über V-Leute darüber hinaus verantwortlich sein für sein Anteil noch so ge- und ihre möglichen Pan- die geplante Rekrutierung eines „Natio- ring – indirekt am Infer- nen, keinen Satz über nalen Einsatzkommandos“ (NEK), des- no von Solingen beteiligt Schmitt. sen „kadermäßig gegliederte mobile wäre, bedeutet den poli- Paragraph 9 Absatz 2 Verbände . . . zentrale Aktionen“ tischen GAU, nicht nur des nordrhein-west- durchführen wollen – für ein „völkisches für Schnoor. Das däm- fälischen Verfassungs- Deutschland“ und „gegen Ausländer- merte dem Minister schutzgesetzes, beteuer- banden“. frühzeitig. te er allerorts,verbieteei- Die Karlsruher Bundesanwaltschaft In endlosen Sitzungen ne Unterrichtung über ei- hatte gegen Schönborn und Konsorten spielte er seit Mitte ver- nen möglichen V-Mann, wegen „Verabredung zu einem Verbre- gangenen Jahres mit sei- wenndadurchdieFunkti- chen der Gründung und Mitgliedschaft nem Verfassungsschutz- onsfähigkeit des Verfas- in einer terroristischen Vereinigung“ er- chef Fritz-Achim Bau- sungsschutzes gefährdet mittelt. Ein Vorwurf, der für die Justiz mann den heiklen Fall werden könne. Er verra- kaum zu belegen ist. durch, immer und im- te auch nicht, ob der mer wieder. Haarklein Papst ein V-Mann sei. * Im Juni 1992 vor dem Kölner Senats-Hotel bei mußte der freiberuflich Verfassungsschützer Baumann SeitDezember1993er- einer Veranstaltung der rechtsradikalen Deut- arbeitende V-Mann „Ermittlungen nicht stören“ mittelt die Staatsanwalt- schen Liga für Volk und Heimat.

28 DER SPIEGEL 23/1994 sich der Verdacht, im Dunstkreis der Schlägerclique für den gefährlichsten Sportschule „Hak Pao“ sei versucht Politzirkel im Bergischen. „Die DKI“, worden, eine verschwiegene rechte sagt Nordrhein-Westfalens oberster Kommandoeinheit zu installieren. Mitt- Verfassungsschützer Baumann, gehöre lerweile hat die Düsseldorfer Staatsan- „eigentlich in den Verfassungsschutz- waltschaft ihr Verfahren auf sieben Be- bericht“. Daß ihr Eintrag fehlt, liege schuldigte ausgedehnt. „nur am laufenden Ermittlungsverfah- Zu den 45 000 Blatt Dokumenten, die ren, das nicht gestört werden sollte“ nach dem Anschlag aus Schmitts (Baumann). Kampfsportschule herausgeschafft und Die bei Schmitt entdeckten Unterla- erst gut ein halbes Jahr später beschlag- gen lesen sich wie ein Auszug aus dem nahmt worden waren (SPIEGEL Kaderbuch der Neonazis: Robert 22/1994), ist nach der Wohnungsrazzia Langnickel, Mitglied der inzwischen ein möglicherweise wichtiges Beweis- verbotenen Nationalen Offensive stück hinzugekommen – eine Liste mit (NO), Christian Worch, führender knapp 40 Namen von Kampfschülern, Kopf der Nationalen Liste in Ham- die nach Einschätzung von Experten burg, Funktionäre der sogenannten „eindeutig rechtsextremistisch“ seien. Freiheitlichen Arbeiterpartei und der Sie hatten bei Schmitt immer freitags längst verbotenen Deutschen Alternati- das „Special Forces Combat Karate“ ge- ve tauchen auf – das ganze braune übt, am liebsten dann, wenn der Saal deutsche Elend. „kanakenfrei“ war. Für einen DKI-Lehrgang am 5. Juni Die jetzt bei Schmitt entdeckte Liste 1993 war neben Worch als Interessent „Kampfkünste im nationalen Lager fördern“ kann vermutlich Aufschluß geben über auch der Solingen-Angeklagte Markus die personelle Struktur eines Spezial- G. vorgemerkt. Zum Termin konnte V-Mann Schmitt wurde in diesem Er- trupps, den Staatsschützer als Ersatz für G. nicht erscheinen – kurz vorher wur- mittlungsverfahren auch gehört, als das fehlgeschlagene NEK-Projekt anse- de er festgenommen. Zeuge. Hilfreich war er nicht. Fragen, hen: die Deutsche Kampfsport-Initiati- V-Mann Schmitt, Träger des 9. Dan die ihm die BKA-Vernehmer zu NF ve (DKI), 1992 vom Mitbeschuldigten in der Karatedisziplin Taekwon-Do, oder NEK stellten, beantwortete er mit Wolfgang Schlösser gegründet. amtierte bei der DKI als Trainer. „Nein“ oder „keine Angaben“. Im Verfahren gegen Schmitt selbst je- doch kommen die Fahnder voran. Am Samstag vorvergangener Woche, als in Solingen Tausende Bürger des ersten Jahrestages der gräßlichen Brandtat ge- dachten, hatten Düsseldorfer Staatsan- wälte überraschend drei Wohnungen durchsuchen lassen – darunter die von Schmitt. Weil niemand öffnete, ließ der Führer des Polizeitrupps einen Schlüs- seldienst holen. Knapp zwei Stunden lang durchsuch- ten Beamte der Wuppertaler Kripo Schmitts privates Domizil. „Es war merkwürdig“, schildert einer, „wir hat- ten das Gefühl, bestimmte Dinge seien so drapiert, daß wir sie finden sollten und durften.“ Andere Papiere, die sich gemeinhin daheim befinden, konnten nicht ent- deckt werden – Kontoauszüge beispiels- weise. Dennoch war die bislang geheim ge- Zeuge Schmitt (M.)*: Aussage verweigert haltene Aktion kein Fehlschlag. Nach erster Durchsicht der gefundenen Un- Damals hatte er per Inserat in Rechts- DKI-Kämpfer Schlösser wiederum und terlagen steht für die Ermittler bereits außen-Blättern „patriotisch denkende seine Mitstreiter waren gleichzeitig or- fest, daß Kampfsportler“ gesucht, die „den Sport ganisiert in Schmitts DHKKV. Schmitts i Solinger Ultras auch nach dem Ver- bzw. Kampfkünste im Nationalen Lager geheime Aufgabe war es, die DKI im einsverbot „erhebliche Kontakte“ zur bundesweit fördern“ sollten – eine zu- Auge zu haben und darüber konspirativ NF-Spitze pflegten, rückhaltende Beschreibung dessen, was zu berichten. i die Logistik der illegalen Vereinigung die DKI wirklich wollte: Organisation Der Fachmann für den Kampf Mann noch voll funktionsfähig und „jeder- eines Saal- und Personenschutzes für gegen Mann erschien am Freitag voriger zeit reaktivierbar“ ist, praktisch auf rechtsextremistische Gruppen und viel- Woche vor dem 6. Strafsenat des Düs- Knopfdruck. leicht, Vorbild NEK, noch mehr. seldorfer Oberlandesgerichts. Über den Schönborn, für den V-Mann Schmitt Während Schlösser abwiegelt („DKI Solinger Anschlag durfte er reden, aber in der Vergangenheit Wachmann ge- war ein Flop“), halten Ermittler die kein Sterbenswort über seine Tätigkeit spielt hatte, soll lange nach dem NF- für den Verfassungsschutz. Schnoors Verbot in Solingen gesehen worden * Am vergangenen Freitag auf dem Weg zum Düs- Ministerium hatte ihm eine umfassende sein. Für die Staatsschützer verstärkt seldorfer Oberlandesgericht. Aussagegenehmigung verweigert. Y

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Bad Kleinen „Sog. Griff zur Entwindung“ Ein Gutachten des Düsseldorfer Rechtsmediziners Wolfgang Bonte kommt zu einem sensationellen Ergebnis: Bevor der RAF-Terrorist Wolfgang Grams in Bad Kleinen an einem aufgesetzten Kopfschuß aus der eigenen Pistole starb, sei ihm die Waffe entwunden worden. „Fremdtäterschaft“ könne nicht ausgeschlossen werden.

n den Semesterferien ging Professor Fest steht: Grams erschoß Michael ge Schmauchspuren, Blut- oder Gewebe- Wolfgang Bonte, 54, einer unge- Newrzella, 25, einen Beamten der Son- spritzer verschwanden im Abfluß. Spu- Iwöhnlichen Beschäftigung nach: Er dereinheit Grenzschutzgruppe 9 (GSG ren am Tatort wurden nur schleppend ge- verletzte sich absichtlich. 9). Dann stürzte der Terrorist auf die sichert. Noch Tage nach der Schießerei Der Direktor des rechtsmedizini- Gleise und starb nach einem aufgesetz- sammelten Beamte Hülsen und Ge- schen Instituts der Universität Düssel- ten Kopfschuß – aus seiner eigenen schoßteile aus dem Gleisschotter, sogar dorf hielt eine durchgespannte Pistole Waffe. an der Stelle, wo Grams gelegen hatte. vom Typ Bruenner Modell CZ 75 in Wer jedoch diesen Schuß abfeuerte, Obendrein informierten die Behörden der rechten Hand. Seinen Assistenten blieb lange im dunkeln. Keiner der am Parlament und Öffentlichkeit nur zöger- forderte der Wissenschaftler auf, ihm Einsatz beteiligten Beamten will den lich über das Debakel. Die Angaben wa- das Schießeisen möglichst gewaltsam zu Schützen gesehen haben. Die Ermittler ren zunächst unvollständig und teilweise entwinden. gingen schließlich davon aus, Grams ha- falsch. Der Mitarbeiter packte die Waffe be sich selbst umgebracht. Der damalige Bundesinnenminister fest am Lauf, bog sie heftig nach oben Die Gewißheit der Strafverfolger ver- Rudolf Seiters (CDU) trat zurück, Gene- und drehte sie zugleich im Uhrzeiger- wunderte. In Bad Kleinen war nur das ralbundesanwalt Alexander von Stahl sinn. Dabei schabte der zurückgespann- Chaos eine verläßliche Größe. Ein Un- wurde zwangspensioniert, Polizeiführer te Schlaghammer der Pistole über den tersuchungsbericht der Bundesregie- erhielten ihre Versetzung, der wahr- Handrücken des Wissenschaftlers. Zwi- rung zählt 17 derbe Fehler auf – ein scheinlich wohl einzige V-Mann, den die schen Daumen und Zeigefinger blieb Sammelsurium von schier unglaublichen Sicherheitsbehörden je an den mutmaßli- eine blasse Schürfwunde zurück. Pannen. chen Kern der RAF heranspielen konn- Im Laufe einer Stunde verfärbte sich Dem getöteten Grams wurden zu früh ten, warenttarnt und damitunbrauchbar. die Verletzung zu einer leichten Rö- Gesicht und Hände gewaschen – wichti- Der Chef des Bundeskriminalamtes, tung. Mit einer Nahaufnah- Hans-Ludwig Zachert, ver- me wurde die Wunde im Bild niedlichte den verheerenden festgehalten. Später wechsel- Einsatz als „Desaster“. ten die Wissenschaftler die Zur Staatskrise wäre es Rollen. Bontes Assistent gekommen, wenn sich her- zückte die Waffe, der Profes- ausgestellt hätte, daß, wie sor entwand sie ihm. Auch lange geraunt wurde, Beam- diesmal entstand die Schürf- te der GSG 9 den auf den wunde, unübersehbar. Gleisen liegenden Grams Die Tests dienten der Vor- aus nächster Nähe erschos- bereitung eines bisher unver- sen und die Spuren beseitigt öffentlichten Gutachtens, hätten. Monatelang ermit- das der weltweit angesehene telte die Staatsanwaltschaft Gerichtsmediziner vorigen Schwerin gegen zwei Mit- Monat abschloß. Mit der glieder der Elitetruppe we- Waffe in der Hand hatte gen des Verdachts der vor- Bonte nachgestellt, was, Sterbender Grams: „Rückschluß auf Selbsttäterschaft . . . sätzlichen Tötung. wenn seine Version zutrifft, Im Januar stellte die Be- am 27. Juni 1993 im mecklen- hörde das Verfahren ein, burgischen Bad Kleinen ge- womöglich vorschnell. schah. „Grams selbst“ habe sich, so An jenem Sonntag lief auf die Strafverfolger, nach sei- dem Provinzbahnhof ein Po- nem Sturz auf das Gleis 4 im litkrimi ab: Eine halbe Hun- Bahnhof von Bad Kleinen dertschaft Polizisten, auf die „in Suizidabsicht mit der von Fährte gebracht von dem V- ihm mitgeführten Pistole Mann Klaus Steinmetz, soll- den tödlichen Kopfdurch- te die als Terroristen der Ro- schuß zugefügt“. Selbst eine ten Armee Fraktion (RAF) „versehentliche Schußauslö- gesuchten Birgit Hogefeld, sung“, etwa „während des heute 37, und Wolfgang Sturzes oder beim Aufpral- Grams, 40, festsetzen. Die len auf das Schotterbett“ des Aktion endete mit einer töd- Gleises, schlossen die Er- lichen Ballerei. . . . wissenschaftlich nicht haltbar“: Gutachter Bonte mittler aus.

30 DER SPIEGEL 23/1994 Grams-Hand mit Druckstelle: „Enger, gewaltsamer und unfreiwilliger Kontakt mit dem Schlaghammer“

Innenminister Manfred Kanther zeig- dung. „Die Schürfung te sich mehr als zufrieden über das Er- Der Entwindungsgriff Polizist an der rechten Hand gebnis. Zu Unrecht, so der christdemo- des Grams“, schloß kratische Politiker, hätten Beamte sei- Bär, sei womöglich ner Anti-Terror-Einheit GSG 9 im Ver- „durch den Schlagham- dacht gestanden, den mutmaßlichen Der Rechtsmediziner mer am Waffenrücken Terroristen „hingerichtet“ zu haben. Bonte untersuchte eine der CZ 75 infolge eines Der Düsseldorfer Mediziner Bonte bogenförmige Hautab- sehr engen, gewaltsa- hingegen hegt trotzdem Zweifel. Er hält schürfung auf der Hand Schlaghammer men und eventuell un- nahezu alle Ermittlungsergebnisse der des getöteten Terroristen freiwilligen Kontakts Staatsanwaltschaft für mangelhaft. Der Grams. Die Ursache laut der rechten Hand des Rechtsmediziner, im vergangenen Jahr Bonte: Ein Polizist riß die Grams mit diesem Präsident der weltweiten „International Waffe am Lauf nach hin- Schlaghammer ent- Association of Forensic Sciences“, ten, um sie dem RAF- standen“. Es sei „da- kommt in einem Gutachten, das er im Mann aus der Hand zu bei auch an einen Auftrag der Grams-Anwälte Andreas drehen. Dabei schabte sog. ,Griff zur Entwin- Groß und Thomas Kieseritzky erstellt der gespannte Schlag- dung der Waffe‘ hat, zu dem Ergebnis: Es sei „weder hammer über den Hand- (= Entwindungsgriff) Selbsttäterschaft bewiesen noch Fremd- rücken und verletzte aus der Hand zu den- täterschaft ausgeschlossen“. die Haut. Grams ken“. Bonte geht noch einen Schritt weiter: Die Expertise lande- Ein ausschließlicher „Rückschluß auf te bei der Schweriner Selbsttäterschaft ist wissenschaftlich Experiment in „weitestgehender Annä- Staatsanwaltschaft, von der Bär beauf- nicht haltbar“. herung“ reproduziert. Bonte zum SPIE- tragt worden war, Leichenteile von Der Wissenschaftler glaubt experi- GEL: „Es hat einen Entwindungsgriff Grams auf Spuren zu untersuchen. Das mentell nachweisen zu können, daß die gegeben.“ Ergebnis sorgte bei den Strafverfolgern Bruenner-Pistole Grams entwunden Der Professor steht mit seiner Schluß- für einige Verwirrung. Keiner der zuvor wurde und nicht etwa nach dem Kopf- folgerung nicht allein. Die von ihm be- beauftragten Gutachter hatte sich Ge- schuß zu Boden fiel, wie die von der merkte Spur war bereits dem Schweizer danken über die Abschürfung gemacht. Schweriner Staatsanwaltschaft beauf- Gerichtsmediziner Walter Bär von der Als Bärs Expertise eintraf, arbeiteten tragten Experten angenommen hatten. Universität Zürich aufgefallen. die Ermittler schon an den ersten Ver- Hat Bonte recht, stellt sich erneut die Der hatte im Sommer vergangenen satzstücken für die Abschlußverfügung. Frage, wie Grams zu Tode kam. Jahres zwei Hände, „feucht“, „abge- Arbeitsthese: Selbstmord. Auf dem rechten Handrücken von trennt im Handgelenk“, von Wolfgang Eilig beauftragten sie daraufhin den Grams bemerkte Bonte eine „bogenför- Grams untersucht. Bärs Augenmerk fiel Bonner Rechtsmediziner Karl Sellier, mige Hautabschürfung und -rötung“. bald auf eine „streifige, halbovale, ober- sich mit Bärs These auseinanderzuset- Diese Spur lasse sich „widerspruchsfrei flächlich geschürfte Hautveränderung zen. Der Experte für forensische Balli- durch einen streifenden Kontakt mit von circa 4 cm maximaler Schenkellänge stik hatte zuvor schon irritiert bemerkt, dem Hahnende“ der Waffe des RAF- und circa 4 mm Breite“. daß die Untersuchungen im Falle Grams Mannes „im Rahmen eines Entwin- Auch der Schweizer Wissenschaftler so lange dauerten. dungsgriffes erklären“. Aussehen und bringt die Verletzung mit dem Schlag- Wenige Tage später hatte er die Ent- Form der Hautveränderung habe er im hammer der Grams-Waffe in Verbin- windungsthese weggewischt. Die Ver-

DER SPIEGEL 23/1994 31 letzungen seien „durch Berührungen hat, kommt zu einem für die Zunft des Handrückens mit dem Schotter“ verheerenden Ergebnis. Die Gutachten auf den Bahngleisen entstanden. seien „durch strategische Fehler“ ohne Grams sei bei den Rettungsversuchen Aussagekraft. Die Brinkmann-Ausfüh- schließlich mehrfach gewendet worden. rungen seien in wesentlichen Punkten Das leuchtete der Staatsanwaltschaft „nicht zwingend“, in anderen „abwe- sofort ein. Bonte hingegen fand die gig“ oder schlichtweg „falsch“. Der These „abstrus“. Er besorgte sich ver- Gutachter sitze „einer durch nichts be- schiedene Schottersteine vom Tatort legten Fiktion“ auf. und versuchte, sich mit deren Kanten Präzise notiert Bonte auf 80 Seiten und Spitzen Schürfwunden beizubrin- die für ihn entscheidenden „Fehler“ gen. Ergebnis: Auch mit aller Macht der Gerichtsmediziner. konnte er sich die gewünschten Verlet- Nach Ansicht von Brinkmann soll zungen nicht zufügen. sich Grams die Pistole senkrecht auf Eine Hautabschürfung durch Schot- den Kopf gesetzt und dann abgedrückt ter sehe wesentlich anders aus, als die haben. Dadurch sei im gleichen Mo- bei dem Toten festgestellten Befunde ment eine „atonische Lähmung“ einge- ergeben hatten, bilanzierte der Wissen- treten. Grams’ Hand habe die Waffe schaftler. Die „gleichmäßig breite ober- freigegeben, und diese sei so schnell zu flächliche Hautabschürfung oder Rö- Boden gefallen, daß die nach oben ex- tung und viertelellipsige Schürffigur“ plosionsartig wegspritzenden Blut- und sei an dieser Stelle der Hand durch ei- Gewebepartikel auf die Waffe herab- nen Schotterstein nicht erklärbar. rieseln konnten. Schludereien bei den Ermittlungen, Bonte weist diese Erklärung zurück. Widersprüche unter den Experten und „Die Annahme einer sofortigen Läh- Lücken in den Untersuchungsberichten mung“ sei „keineswegs gerechtfertigt“, charakterisieren das Verfahren Grams. weil völlig untypisch. Die Waffe müs- Auch die Zeugen halfen nicht weiter: se, so Bonte, „im Augenblick des Ein- Bei der Vernehmung verwickelten sich schusses bespritzt“ worden sein. „Alle besonders die Elitepolizisten der GSG Gegenargumente“ wertet der Wissen- 9 immer wieder in Widersprüche. Kei- schaftler als „sicher widerlegbar“. ner der rund 150 vernommenen Zeugen So seien die Blutspritzer nicht will zudem gesehen haben, wie Grams gleichmäßig auf dem Schießeisen zu sich die tödliche Kugel gab. finden: Sie fehlten genau an den Stel- Fachleute für Schuß und Schmauch len, die üblicherweise zugedeckt wer- verfolgten die Ermittlungsarbeiten mit den, wenn die Waffe in die Hand ge- Grausen. Der Kriminalwissenschaftler nommen wird – ein für Bonte eindeuti- Wolfgang Lichtenberg bemängelte die ges Indiz. dilettantische Spurensicherung: „Wenn Auch die „Lage des Kopfes bei Schußerhalt“ sei von Brinkmann falsch berechnet worden, moniert Bonte. Das „Wir wollen genau gelte auch für die Flugbahn der weg- wissen, was in spritzenden Blutpartikel. Und: Eine „sichere Bestimmung“ Bad Kleinen geschah“ der weiteren fünf Körper- und Kleider- treffer, die Grams erhalten hatte, sei Haare entfernt oder gewaschen wer- durch die von den Gutachtern ange- den“, wie bei Grams geschehen, „ent- wandten Methoden nicht möglich ge- spricht das einer Spurenvernichtung.“ wesen. Die von der Staatsanwaltschaft Sellier hatte zunächst bemängelt, beauftragten Wissenschaftler hatten daß an der Leiche von Grams nicht so- angenommen, daß außer dem Kopf- fort eine Schmauchspurenanalyse vor- schuß alle Schüsse auf Grams aus min- genommen worden sei. „Für mich“, destens anderthalb Meter Entfernung wetterte er, „ist das Ganze ein Rät- abgegeben worden seien. Bonte sel.“ kommt zu dem Ergebnis: „Schüsse aus Für die Wissenschaftler des rechts- wesentlich kürzerer Distanz sind kei- medizinischen Instituts der Züricher neswegs auszuschließen.“ Universität und des Wissenschaftlichen Mit dem neuen Gutachten wollen Dienstes der Züricher Stadtpolizei hat- die Anwälte der Eltern von Wolfgang te sich die Spurensuche mühsam ge- Grams diese Woche die Schweriner staltet. Asservate waren verschwunden Staatsanwaltschaft zur Wiederaufnah- oder durch schlampige Vorermittlun- me der Ermittlungen bewegen. Grams- gen kaum noch verwertbar. Anwalt Groß: „Unser Ziel ist nicht ei- So beschränkten sie sich zwangsläu- ne Verurteilung der Polizisten. Wir fig auf die Untersuchungsergebnisse wollen genau wissen, was in Bad Klei- des von der Staatsanwaltschaft zuvor nen geschehen ist.“ beauftragten Gerichtsmediziners Bernd Für Bonte steht fest: „Die Staatsan- Brinkmann aus Münster. waltschaft ist trotz aller Arbeiten heute Bonte, der monatelang alle Gutach- nicht einen Schritt weiter als am An- ten der Kollegen sorgfältig ausgewertet fang.“ Y

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Der Bergarbeiterjunge will die größte Nachruf Veränderung, die zu denken ist. Er will die Welt umstülpen, in der er lebt. Aber der Verein der Veränderer, dem er bei- tritt, kann nur eines nicht ertragen: im Galionsfigur der eigenen Zirkel Veränderung, Wandel. Schon der Anflug eines eigenen Gedan- kens, der im stalinistischen Dogmenka- talog nicht vorgezeichnet ist, läßt Unrat Unbelehrbaren wittern. Die Kehrseite der gereckten Fäuste, Ex-Politbüromitglied Günter Schabowski zum Tod Erich Honeckers der Demonstrationen, des Opferwillens für das Arbeiterwohl gegen die Faschi- sten ist ein Kult des Verfolgungswahns, Schabowski, 65, war von 1978 bis Mir kommt das vor wie die nachgelasse- der stets Verrat an der ideologischen 1985 Chefredakteur des SED-Zentral- ne subtile Rache eines Mannes, der die Keuschheit der Gruppe halluziniert, ein organs Neues Deutschland, von 1984 Klassenfeind-Welt im Koordinatenfeld Kult der ideellen Selbstentmannung, die bis Ende 1989 gehörte er dem Politbü- zwischen Bild-Zeitung auf der einen und sich als Nibelungentreue versteht. ro an, dem inneren Führungszirkel der dem SPIEGEL auf der anderen Seite Diesen Schatten wird Honecker nicht SED um Parteichef Erich Honecker. gefaßt sah. los. Er liegt über dem System, dem Das lange und öffentliche Sterben des Staat, dem er eines Tages vorstehen as Sterben eines Menschen sollte Erich Honecker machte es möglich, die wird. Die sozialistische Sonne, die er von voyeuristischer Neugier ver- Mumifizierung eines politischen Cha- nach Ulbricht kräftiger aufdrehen will, Dschont sein. Dem alten Mann in rakters zu verfolgen. Er war unfähig, kann das Düstere nicht verdrängen. Ihr Santiago war das nicht vergönnt. Der das Ende seines Traumes zu begreifen, Licht weist kein Spektrum auf. Es ist gierige Blick der Fernsehkamera auf das der zum Alptraum für Millionen in der eintönig und fad. Das Land und die starre, eingefallene Gesicht des Toten DDR geworden war: Wie konnte das Menschen kümmern darunter. erfüllt mit Scham. Gutgemeinte, das er für „die Men- Wir, die „verdorbenen“ Greise und Das lange Sterben des Erich Honek- schen“ wollte, schlecht sein. Honecker – Halbgreise, wie Wolf Biermann das Po- ker war für die Medien ein Glücksfall. eine Fallstudie für das Dilemma dogma- litbüro nennt, um ihn herum waren in Das Ende war absehbar. Die Hinterher- tischer Weltverbesserer. demselben Wahn befangen wie er. Im sprüche und Filmrollen Politbüro, in der Partei sah er Ex-Staatschef Honecker, Ehefrau*: Der Fäustchenballer steckten längst zugeschnit- stets nur in sein Spiegelbild. ten in Regalen. Die Verfas- Erst als die Fundamente ser der Nekrologe durften barsten, zerbrachen drei den nur nicht versäumen, in den Spiegel – die Politbüromit- vorfabrizierten Text diese glieder Egon Krenz, Sieg- oder jene noch bekanntge- fried Lorenz und Günter wordene Facette aus dem Schabowski. Honecker wur- Sündenregister des saarlän- de gestürzt. Seiner Realitäts- dischen Undeutschen nach- verweigerung tat das keinen zuschleifen. Honecker be- Abbruch. AlsihmimPolitbü- stätigte der Öffentlichkeit ro am 17. Oktober 1989 kurz zum Schluß noch einmal den nach zehn Uhr der Antrag vor Vorzug „wissenschaftlicher den Kopf geknallt wird, seine Vorausschau“ und Planwirt- Absetzung in die Tagesord- schaft. nung aufzunehmen, ignoriert Ärgerlich war der Tod er das einfach wieein Tauber. wohl nur für jene, die seit Unbewegt fährt er im ur- der Exilierung nach Santiago sprünglichen Konzept fort. den Verdacht schürten, Ho- Auf den lauten Protest eini- necker habe seinen Krebs le- gerinder Runde beugt er sich diglich simuliert. dann doch dem Zwang der Ausgerechnet den SPIE- Lage und läßt die Diskussion GEL hat die Nachricht im zu. toten Winkel seiner Produk- Wie sehr dieser Zug von tion ereilt – Erich Honecker Wirklichkeitsentrücktheit starb am vorletzten Sonntag. schon Teil seiner Persönlich- Eine Woche lang lag das keit geworden war, illustriert Nachrichten-Magazin auf ein banaler Vorfall. Honek- meinem Tisch ohne die Vo- ker besaß einen Jagdhund, kabel Honecker, während der nicht konsequent abge- alle Blätter ihre Gedenk- richtet war. Das eigensinnige münzen verstreuten und am Tier biß gelegentlich unver- Mittwoch schon wieder zur mittelt zu, ging Mitarbeitern Tagesordnung übergingen. in Wandlitz an die Hose oder auch an die Haut. Er veran- * Am 29. Juli 1992 mit dem chile- laßte, daß der Rüde dem Ber- nischen Diplomaten James Holger beim Verlassen der chilenischen liner Tierpark zur Einschläfe- Botschaft in Moskau. rung übergeben wurde. Dort

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Werbeseite Chef nicht mehr unter die Augen kom- men. Der Schrecken über die Entmachtung am 17. Oktober 1989 lähmte Honecker gerade einen Tag. Dann waren die geisti- gen Schutzmechanismen wieder eingera- stet. In die ihm vorgelegte Abdankungs- erklärung setzte er den Namen „Krenz“ als Nachfolger ein. Der war damit voll- ends alseine Honecker-Marionette abge- stempelt. Seinem Interregnum war mit dieser Hypothek das Lebenslicht, kaum angezündet, schon fast ausgeblasen. In den folgenden Monaten und Jahren geht bei Honecker der physische Verfall mit dem Nachwachsen des lädierten Be- wußtseinspanzers einher. Den arthriti- schen Arm gereckt, die Hand zur Faust Honecker, Vorgänger Ulbricht 1971 geballt – die Bilder aus dem Berliner Ge- Parteichef Honecker 1988* Knappe, aber nicht Epigone des Spitzbarts richtssaal und beim Verlassen der chileni- Mehr als ein Betonzaun-König schen Botschaft in Moskau haben zeitlo- erkannte man, daß Erziehungsmängel sen Symbolwert –, stilisiert sich Honek- rer gescheitert, die sich gegen ihn ver- Ursache des Fehlverhaltens waren. Das ker mit neuem Selbstbewußtsein zur Ga- schworen hatten, Werkzeuge Moskaus, Tier wurde nicht getötet, sondern fach- lionsfigur der Unbelehrbaren, von kei- Washingtons und Bonns. Eine Niederla- männisch trainiert. Als der Tierparkdi- nen Gewissenszweifeln geplagt, mit ei- ge, auf die wieder Siege folgen werden. rektor bei der nächsten Geburtstagscour serner Stirn die Opfer seiner Politik leug- Honecker war der Polier des von Ul- Honecker freudestrahlend mitteilte, daß nend. Als einzigen der einstigen kommu- bricht und den Sowjets verfügten Mauer- man ihm seinen Hund, muckenfrei, zu- nistischen Führer hat ihnder Rummel um baus. Obwohler am 13.August 1961noch rückgeben werde, versteinerte sich das seine Person absurderweise post festum zehn Jahre von seinem eigenen Machtan- Gesicht des Staatsratsvorsitzenden, zu einem Märtyrer der Idee gemacht, die tritt entfernt war, steht die Mauer wie wortlos ließ er den verdatterten Zoo- er als letzter so elendig verschlissen hat. kein anderer Teil seiner Politik als Sym- menschen stehen. Seine Welt ist nicht untergegangen. Er bol für die Ära Honecker. Der hatte sich gleich zweier Blasphe- hatte sie um sich herum wiedererrichtet. Sie ist Ausdruck eines neuzeitlichen mien schuldig gemacht. Er hatte nicht Hatte er nicht immer prophezeit, daß die Herostratentums: der augenscheinliche, den Auftrag erfüllt und das Tier töten Gorbatschowschen Experimente den So- unwiderrufliche materielle Zerriß der lassen. Und er hatte den Ersten Mann zialismus ruinieren werden? Hat ihm die Nation. Ihre suggestive Wirkung macht eines Fehlurteils geziehen. Der Jagd- Geschichte nicht recht gegeben? Nicht übersehen, daß die Fundamente des hund war brauchbar, Honecker mußte den, der zu spät kommt, bestraft das Le- Mauerbaus tiefer in der Geschichte la- etwas falsch gemacht haben. Die Konse- ben, sondern die Reformer, die Ab- gern, in den Resultaten des Zweiten quenz für den Direktor war harmlos, weichler, die Verräter. Er, Honecker, ist doch unkorrigierbar. Er durfte dem nur am Verrat und an der Dummheit de- * Bei der 1. Mai-Demo; vorn rechts Schabowski.

geäußert, im elterlichen Grab bestat- tet zu werden. Wohin mit der Asche? Dies wird, wie der Neunkirchener Oberbürgermeister Friedrich Decker Die Berliner CDU sähe Honeckers Aber wo findet sich ein Platz für die mit Hinweis auf die örtliche Fried- Asche am liebsten in alle Winde ver- Urne mit Honeckers Asche? An der hofssatzung versicherte, nicht möglich streut, möglichst auf hoher See. Denn Seite von Rosa Luxemburg, Karl sein. Die „Belegungsrechte“ für das die Christdemokraten wollen, wie Liebknecht und Walter Ulbricht in Familiengrab sind im April abgelau- Volker Liepelt, Parlamentarischer der Gedenkstätte der Sozialisten auf fen. Geschäftsführer der CDU im Abge- dem Zentralfriedhof in Berlin-Fried- Dennoch könnte Honecker in ordnetenhaus, gleich nach dem Tod richsfelde jedenfalls ist kein Raum Wiebelskirchen seine letzte Ru- des früheren DDR-Staatsratsvorsit- mehr, wie das zuständige Berliner Be- hestätte finden. Denn in Neunkirchen zenden lauthals verkündete, „keine zirksamt prompt versicherte. lebt Honeckers Schwester Gertrud Gedenkstätte für Unverbesserliche“ Ob bundesdeutsche Friedhofsver- Hoppstädter. Und deren Fami- in der Hauptstadt. weser überhaupt zu einer Entschei- lie besitzt dort noch ein Familien- Grüne, SPD und PDS betrachten dung gezwungen werden, ist noch of- grab. Sozialdemokrat Decker: die Begräbnisfrage weitherziger. fen. Zumindest letzte Woche lag noch „Da könnte die Urne beigesetzt wer- Wenn Honeckers Angehörige eine kein Antrag von Honeckers Familie den.“ Bestattung in Deutschland wünsch- auf Beisetzung der Urne vor. Weder Die Befürchtungen der Berliner ten, könne dieses Begehren nicht ab- in Berlin noch im Neunkirchener CDU, Honeckers Grab könne sich zu gewiesen werden. Der Berliner SPD- Stadtteil Wiebelskirchen, wo das El- einer Pilgerstätte für Unbelehrbare Fraktionssprecher Herbert Beinlich: ternhaus des früheren DDR-Staats- entwickeln, teilt OB Decker nicht: „Wir können und wollen diese Fami- ratsvorsitzenden steht. „Die Leute beschäftigen sich mit dem lie nicht anders als andere behan- Dabei kursierten immer wieder Ge- Thema überhaupt nicht. Das interes- deln.“ rüchte, Honecker habe den Wunsch siert keinen mehr.“

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Weltkrieges. Die Mauer, die den We- Doch die Webfehler des System setz- sten herausforderte, signalisierte gleich- ten den Neuerungen bald ein Ende. Der zeitig eine fundamentale Schwäche: Das Aufwand für den Wohnungsbau und für System, das sich als „menschengerech- die Sozialpolitik überforderten die Kom- ter“ rühmte, war nicht imstande, seine mandowirtschaft. Ihre Erträge reichten Menschen zu halten. nicht, um die Verheißungen der Partei zu Honecker auf die Dimension des Be- finanzieren. tonzaun-Königs zu reduzieren würde Der vermeintliche Lockerer Honecker dennoch seiner Rolle nicht gerecht. Er versackte Mitte der siebziger Jahre in der war ein Knappe Ulbrichts, der beflissen Rechthaberei, dem Dogmatismus und in allen parteiinternen Fehden als des- dem Subjektivismus, für die sein Vorgän- sen Parteigänger agierte. Ein blasser ger berüchtigt war. Der Generalsekretär Epigone des Spitzbarts war er nicht, war unter den Regularien der diktato- nachdem er dessen Machtverzicht ge- risch herrschenden Partei wieder zum le- meinsam mit Moskau inszeniert hatte. benden Buddha degeneriert. Die Streichung der Vokabel „gesamt- Daß seine Politik sich im Wesen nicht deutsch“ im Partei-Wörterbuch und die geändert hatte, wurde vollends offenbar, Betonung deutscher Zweistaatlichkeit als Gorbatschow ans Ruder kam. Die unter dem Motto „Normalisierung der Selbstbehauptung gegen die Moskauer Beziehungen zur BRD“ standen am An- Hegemonie schlug um in verkrampfte fang eines Weges, der zum Grundlagen- Abschottung gegen jeden Schimmer von vertrag, zum Uno-Einzug der DDR und Reformen nachstalinistischer Strukturen bis unmittelbar unter die Schwelle zur in der DDR. völkerrechtlichen Anerkennung durch Der im chilenischen Refugium abge- die Bundesrepublik führte. stellte und verstorbene Polit-Rentner be- schäftigt uns eigentlich in einem übergebührli- chen Maß. Weil er der letzte der roten Ober- Mohikaner war, ver- sammelt er wie ein alt- testamentarischer Sün- denbock alle miesen Seiten der DDR auf sein Haupt. Doch er stapfte in Bahnen, die der großfüßige Ul- bricht längst ausge- latscht hatte. Es be- durfte nicht erst des Missetäters Honecker, daß diese DDR unter- ging. Einer der üblen Honecker auf dem Flug ins Exil (1993) Drehs heutiger soziali- Halbe Wahrheiten, ganze Lügen stischer Geisterbe- schwörer ist die Lob- Wohnungsbau und Sozialpolitik ver- preisung der Zeit vor Honecker, die sau- schafften ihm und der SED unter der ber gewesen sei. So sind Nostalgie-Netze von Ulbricht kurzgehaltenen Bevölke- gestrickt, die in den östlichen Bundeslän- rung anfänglich Pluspunkte. „Westfern- dern ausgeworfen werden. Tatsache ist sehen“ war zwar noch verhaßt, aber jedoch, daß dieHonecker-DDR nicht oh- nicht mehr unter Acht und Bann ge- ne die Epoche des Altstalinisten Ulbricht stellt. Und Jeanshosen waren nicht zu denken ist. Honecker ist auch geschei- mehr Attribut des Klassenfeindes. Mit tert, weil er nicht über den Schatten Ul- solchen für westliche Begriffe lächerli- brichts zu springen vermochte. chen Schritten ließ es sich für die dikta- Honecker ist tot. Ist damit der Schluß- turgeschädigten Menschen in der DDR strich unter die neudeutsche Misere gezo- etwas leichter atmen. gen? Nein. Nicht der Leichnam, die poli- Honecker versuchte auch, Spielräume tischen Leichenfledderer sind das Pro- gegen den erdrückenden „Bündnispart- blem. ner“ in Moskau auszuloten. Besonders Biermann hat in der FAZ höhnisch ge- auffällig wurde das, als Gromyko und schrieben: „Honecker ist eine historische Andropow 1983 drohten, bei Stationie- Mücke, unsterblich eingeschlossen im rung von Pershing-Raketen in der Bun- Bernstein“ von Biermanns „Ballade von desrepublik werde sich zwischen beiden den verdorbenen Greisen“.Seit „Jurassic deutschen Staaten ein östlicher Rake- Park“ weiß man, daß sich aus einem kon- tenvorhang absenken. Honecker hielt servierten Insekt ein Tyrannosaurier re- dagegen, daß es nun erst recht geboten konstruieren läßt. Aber das sind ja nur sei, Gespräche mit Bonn zu führen. Spielberg-Phantasien. Y

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DER HUNGER NACH SINN SPIEGEL-Reporter Jürgen Leinemann über das verquere Selbstverständnis der Deutschen

ur wer ahnt, daß der Redner sich SPD für „deutsche Interessen“ nach Eu- le Selbstverständnis der unfroh geeinten in ein Risiko stürzen will, sieht das ropa zu trommeln versucht, haben in- Republik. „Unterschätzt mal nicht die Nkurze Zögern, den skeptischen zwischen alle gemerkt. Aber die Grü- Bedeutung dieser Frage“, redet Fischer Blick, den Joschka Fischer über die gut nen? Und Joschka? in die Verblüffung seines Publikums besetzte „akademische Steilkurve“ des Vielleicht ist den Magdeburger Stu- hinein: „Alle reden so, als sollte alles so Hörsaals 90 in der Otto-von-Guericke- denten nicht bekannt, daß Fischers El- bleiben. Aber jeder weiß, es bleibt nicht Universität von Magdeburg schweifen tern erst nach dem Zweiten Weltkrieg so.“ läßt, bevor er zu seinem wichtigsten aus Ungarn nach Deutschland gekom- Hat nicht der Kanzler, indem er sich Thema ausholt: „Und worum es in die- men sind. vor der Vereinigung um dieses Thema sem Wahljahr ’94 auch geht, wenn nicht Aber viele wissen auch hier, daß der drückte, den Eindruck erweckt, im gar vor allem, das ist die Frage: Welches Grüne zu den wortgewaltigsten antina- Grunde solle es in Deutschland so wei- Deutschland wollen wir haben?“ tionalistischen Linken im Westen zählt tergehen wie immer? „Er hat vergessen, Plötzlich ist es sehr still. Fast starr – und natürlich zu den Gegnern eines das radikaldemokratische Erbe zur so, als hätten sie nicht recht gehört – Fortschritts, der angeblich die neu- Grundlage unserer Republik zu ma- scheinen die gut 300 jungen Leute auf en Länder jenseits der Elbe mit „acht- chen“, ruft Fischer. Langsam löst sich den grünen Minister aus Hessen herab- spurigen Helmut-Kohl-Gedächtnis- die Erstarrung auf den Rängen. zuschauen. Daß die CDU „Deutschland Highways“ zubetonieren will. „Es ist dringend nötig, daß Sie sich zuliebe“ auf die nationale Pauke haut, Und ausgerechnet der kommt ihnen einmischen“, rüttelt der Redner an sei- überrascht niemanden. Daß sich die nun mit einer Debatte über das nationa- nen Zuhörern.

Einheitsfeier (1989), antifaschistische Demonstration am Brandenburger Tor (1993): Keine Gewißheit scheint stabil, kein

40 DER SPIEGEL 23/1994 Haben sie, die Damen und Herren aus Wen hat Deutschland vor 1989 noch der früheren DDR, denn nicht in gewalt- wirklich um den Schlaf gebracht? Heute loserRebellion ein totalitäres Regime be- zerbrechen wieder Freundschaften an seitigt und mit ihren „Runden Tischen“ der Frage, ob die Deutschen eine Nati- ein ermutigendes Beispiel für demokrati- on sein sollen oder wollen. Der „Vater- sche Initiativen gegeben? „In Bonn hat landskomplex“ – wie das „Theater un- man die Tradition von 1989 ersatzlos ge- term Dach“ in Ost-Berlin eine pantomi- strichen.“ Als hätten die Deutschen ein misch-politische Show nennt – ist nicht solches Übermaß an demokratischen nur auf der Bühne ein heißes Thema. Traditionen, empört sich Fischer, daß sie Geschwätzt, gestritten und gebrütet auf solche Erfolgserlebnisse verzichten wird darüber am Stammtisch und in könnten. Talkshows, bei Familienfesten und Nun prasselt heftiger Beifall auf den Klassentreffen, in Selbsterfahrungs- Redner herab, der nachsetzt: „Wenn wir gruppen und bei Kameradschaftsaben- nicht unterscheiden zwischen einem de- den. Keine Gewißheit scheint stabil, mokratischen und einem reaktionären kein Tabu verläßlich, alles ist in Bewe- Verständnis von Tradition, dann wird der gung. Und weil alle Deutschen „gela- alte nationalistische Dreck wiederkom- den“ scheinen, ist die Stimmung explo- men.“ siv. Wahlkalkül? Das Thema Deutschland Ist das die Form, in der wir uns unse- treibt Joschka Fischer um. Der schnodd- ren Nachbarn präsentieren, als – wie der rige Anti-Nazi, der mit seinen Bundes- scheidende Bundespräsident Richard tagsreden die Rechten aller Parteien zur Antinationalist Fischer* von Weizsäcker sagt – „eine Nation un- Weißglut gereizt hat, persönlich aber im- „Welches Deutschland wollen wir?“ terwegs nach Europa“? Oder sind wir mer darunter gelitten haben will, „daß Deutsche bloß einmal mehr auf der wir nicht die Selbstverständlichkeit des Aus den Feuilletonspalten der Zei- Flucht? Umgangs mit uns selbst haben wieandere tungen und den Tagungsräumen der Und ob nun die einen in die Nation Europäer“, schreibt derzeit ein Buch kirchlichen Akademien ist das deutsche fliehen, die anderen aber vor der Nation über die Deutschen – wie seine Partei- Thema – wieder einmal und besonders – macht es, von außen betrachtet, einen freundin Antje Vollmer, wie die Kolle- besessen – in den politischen Alltag ge- so großen Unterschied? gen Rudolf Scharping und Freimut Duve drungen. Unsere Nachbarn sehen mit Er- von der SPD und Wolfgang Schäuble und schrecken, wie die Deutschen mal wie- Friedbert Pflüger von der Union. * Ende April in der Magdeburger Universität. der der Wirklichkeit davonzurennen

Tabu verläßlich, alles ist in Bewegung, die Stimmung der Deutschen ist explosiv

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Werbeseite TITEL versuchen. Denn tat- sächlich ist es ja diesmal weniger die unbewältig- te Vergangenheit, die Deutsche gegen Deut- sche erregt, und auch nicht die unsichere Zu- kunft. Der Ernstfall ist die Gegenwart – die unverkraftete deutsche Einheit. So bemerkenswert wi- derspruchslos, ja, ein- verständig die Gegner und einstigen Sieger- mächte zweier Weltkrie- ge die plötzliche Neu- entstehung eines wirt- schaftlich dominanten Nationalstaates von 80 Millionen Deutschen hingenommen haben, so nervös verfolgen sie nun deren Schwierigkeiten, mit sich ins reine zu kommen. Offenkundig ist, daß wir uns nicht mögen, Deutsche Urlauber auf Mallorca: Goldene Worte des Bundespräsidenten im Gepäck „wir, die Deutschen“, wie Helmut Kohl zu sagen pflegt. Wes- ren, wie dieses Deutschland wirklich daraus nur „Krampf“ entstehen könne. wegen wir – wie jeder Franzose, Hollän- ist“, das macht ihn sogleich kenntlich als „Und wenn die deutsche Nation sich der, Däne oder Spanier weiß – ausgiebig einen entweder ungemein naiven oder verkrampft, ist es Zeit, Alarm zu schla- ins Ausland reisen, um uns, als gute Eu- überaus verwegenen Charakter. gen“, hat Meier hinzugefügt. ropäer, von unsereinem zu erholen. Daß der Bayer, der hierzulande Vielleicht hat der neue Präsident sei- Im Gepäck führen wir dann gern gol- „keineswegs eine Rechtswende“ sieht, ne Bemerkung sogar als eine Zustim- dene Worte mit, wie die unseres Bun- sich dann aber auch noch erkühnt, die- mung zum linken Mißtrauen gegenüber despräsidenten Weizsäcker: „Die Nach- ses Land als „unverkrampft“ zu be- allzu kessen nationalen Auftrumpfern barn der Deutschen können nur Ver- schreiben, ja, sich zu sorgen, ob „wir gemeint, vielleicht wollte er nach allen trauen zu uns bilden, wenn wir Vertrau- Deutschen“ einer neuerlichen „Ver- Seiten abwiegeln. Daß Roman Herzog en zu uns selbst haben.“ krampfung der späten Nation“ würden derartig Anstoß erregte, hat wohl nur Darum schien es nicht schlecht be- entgegenwirken können, stellt. Über viele Jahre, zumindest so- das überschreitet das Dul- lange die zu selbstzerstörerischen Aus- dungsvermögen vieler sei- Der Ernstfall für die Deutschen ist nicht fällen neigenden Teutonen national in ner Zuhörer beträchtlich. zwei Teilstaaten organisiert und interna- Hochrote Köpfe, bro- die Vergangenheit, sondern die tional in feindliche Lager gegeneinander delnde Empörung, Wut, Gegenwart – die unverkraftete Einheit eingebunden waren, schien eine unge- ja Haß, wallt auf bei em- wohnte Stabilität gewachsen in Mittel- pörten Sozialdemokraten, europa. keineswegs nur linken, und Liberalen. zum Teil mit seiner Neigung Nun aber sind die Deutschen – mal „Unverschämt“, „polarisierend“, „uner- zu lockeren Formulierungen, koketten wieder oder immer noch – „unterwegs“. träglich“ zischelt es in der Lobby des Epilogen und spontanen Verschlimm- Napoleons Einschätzung, daß der Na- Reichstages. Zu heftig schießen die besserungen zu tun. turzustand der Deutschen das Werden Emotionen hoch, als daß sie allein mit Wundern muß sich einer nicht über sei, nicht das Sein, habe offenbar 200 Hinweisen auf schlechte Verlierer abzu- Mißverständnisse, der an einem Tag Jahre überdauert, wundert sich Daniel wiegeln wären. versichert, er betrachte „Nationalge- Vernet, der internationale Direktor des Was aber ist so haarsträubend an dem fühl“ nicht als eine wesentliche Schub- Pariser Monde, der sich wünscht, daß entscheidenden Satz: „Dieses Deutsch- kraft „für unser Volk“, von „National- Deutschland seine nationalen Interessen land muß in der Welt seine Rolle spie- stolz“ ganz zu schweigen. Um dann am definiere und verteidige. len, aber unverkrampft und ohne ge- nächsten Tag zu versichern, aber „lie- fletschte Zähne“? Was unterscheidet ben“, ja, lieben tue er dieses deutsche ihn von der Forderung des stellvertre- Volk „mit allen seinen Licht- und Schat- it soviel Schmackes wie Roman tenden SPD-Vorsitzenden Wolfgang tenseiten“. Wie sortiert man als Volk Herzog ist noch kein neuer Bun- Thierse, der – bei Respektierung der diese – überdies sehr patriarchalisch Mdespräsident auf die nationale Nationalität anderer – „eine kritisch-ge- vorgetragenen – Botschaften? Bühne gestapft. Und dann gleich voll ins lassene und zugleich freundliche Beja- Man benutzt sie zur Zementierung ei- Fettnäpfchen. Daß einer, der gerade ge- hung der eigenen Nationalität“ fordert? gener angstgespeister Vorurteile, ganz wählt worden ist und noch ganz ergrif- Der Münchner Historiker Christian wie man sie braucht. Immer schon ha- fen von dieser Ehre vor aller Welt an- Meier hat erst kürzlich in der Frankfur- ben die Deutschen dazu geneigt, sich zu hebt zu sagen, er wolle „Deutschland in ter Allgemeinen davor gewarnt, die Na- gläubigen Lagern zusammenzuschließen den nächsten fünf Jahren so repräsentie- zi-Vergangenheit zu verdrängen, weil und die anderen als Feinde zu bekämp-

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Werbeseite TITEL fen. Nun hat der Fall der Mauer alles oder Sozialismus heißt es heute Wessi den nationalen Wunsch- und Schrek- durcheinandergebracht. gegen Ossi, Patriot gegen vaterlandslo- kensbildern her, die ihnen ihre Vorväter Roman Herzog trifft den emotiona- sen Gesellen oder schlicht: Ordnung hinterlassen haben. len Reiznerv der Nation. Denn ent- gegen Chaos. Nach zwei größenwahnsinnigen Welt- scheidend für die ganz und gar nicht Was der bisweilen bizarren Diskussi- kriegen, einem industriemäßig produ- unverkrampfte Befindlichkeit der on um die Bewertung des Nationalen zierten Massenmord ohne historisches Deutschen ist die plötzliche Vermi- an historischer Genauigkeit fehlt – et- Beispiel, nach dem jammervollen Schei- schung der Bevölkerung von zwei wa: daß in Europa die Nation überall tern der weltbeglückenden Utopie des deutschen Teilstaaten, die unversehens ein linker Kampfbegriff war, auch in Sozialismus in einer Deutschen Demo- aus ihren relativen Idyllen gefallen sind deutschen Landen im Bunde mit der kratischen Republik regeneriert sich – die Wessis aus ihrem Paradies, die Aufklärung und der Moderne –, das nun nichts so üppig wie der Glaubens- Ossis aus ihren Nischen. wird übermäßig aufgefüllt durch giftige kampf um die deutsche Nation. Die ver- Jetzt sind sie Findelkinder und su- Gefühle, die aus unvernarbten Wun- möge noch heute jenen „Hunger nach chen nach Gewohntem. Das vertraute den sickern. Sinn und Identität“ zu stillen, glaubt al- Selbstbild ist ihnen abhanden gekom- Zu einer rechten Idee men. werden Nation und Natio- Für die emotionsgeladene Diskussi- nalismus in Deutschland Aufpasser schlagen Alarm, ideologische on über die nationale Identität bedeu- erst mit Otto von Bis- tete der Abriß der Mauer auch den marck. Bis dahin stehen Tugendwächter befinden über die Verlust einer hilfreichen Projektions- die Begriffe – pathetisch Zulässigkeit von Lehren und Begriffen wand für deutschen Selbsthaß. Beide aufgeladen im Gefolge der Seiten pflegten „die da drüben“ zu be- Französischen Revolution nutzen, um ihre eigenen ungeliebten von 1789 und der napoleonischen Beset- len Ernstes der Historiker und Kanzler- Deutschheiten loszuwerden. zung der deutschen Länder bis 1813 – berater Michael Stürmer, „den vordem Vier Jahre nach Beginn des schmerz- für demokratischen Aufruhr gegen Ty- Religion und Magie befriedigt hatten“. haften Prozesses der Vereinigung ist rannei und Fremdherrschaft. das Bedürfnis nach solchen Entsorgun- Doch die Träume von der kulturellen gen größer denn je. Es wird abgestem- und nationalen Einheit der Deutschen in Jahr nach Solingen. Kann das öf- pelt, recht behalten, ausgegrenzt, nie- enden 1849, als eine verfassunggebende fentliche „Nachdenken über das dergemacht. Was wem nützt, zählt – Versammlung deutscher Demokraten in Edeutsche Nationverständnis“ zur nicht, was wahr ist oder bedenkens- der Frankfurter Paulskirche – in sich Aufklärung darüber beitragen, wie „das wert. Nichts schlimmer als Beifall von zerstritten und von mächtigen Fürsten Unfaßbare“ in Deutschland wieder der falschen Seite. Aufpasser schlagen bedrängt – ergebnislos auseinandergeht. möglich geworden ist? Zum Gedenken Alarm bei falschen Meinungen, ideolo- Die ersehnte deutsche Revolution holt an die Mordbrennerei, die fünf Türkin- gische Tugendwächter befinden über Bismarck nach, von oben. nen das Leben kostete, haben sich Tür- die Zulässigkeit von Lehren und Be- Seit dieser ziemlich gewaltsamen na- ken und Deutsche in Berlin zu einer griffen. tionalstaatlichen Gründung 1871 scheint „Bilanz“ versammelt. Sie ist nieder- Seit der Vereinigung haben sich Deutschland unter den „Lehren der Ge- schmetternd. zwar die Einordnungen geändert, nicht schichte“ zu ächzen. Zu spät, zu klein, 7000 „fremdenfeindliche Übergriffe“ aber die Methode. Anstatt Freiheit zuwenig – Generationen hinken hinter hat Yüksel Pazarkaya gezählt, der beim Westdeutschen Rund- funk in Köln die türki- sche Redaktion leitet. Er hat wenig Zuver- sicht, daß sich die Si- tuation bessern könn- te, zumal sich die deutschen Politiker mehr über Kratzer auf dem Lack der „Ex- port-Nation“ sorgen als über die Verbre- chen selbst. „Seit der Vereinigung“, sagt Pazarkaya, „geht die Angst um in diesem Lande.“ Der „überhitzte Aggregatzustand“ des Landes bedrückt die Abgeordneten, Poli- tologen und Journali- sten auf dem Podium in der Berliner Kon- greßhalle, die sich zur Situation der Deut- schen austauschen sollen. Alle sind für Reichsgründung (1871), gewählter Präsident Herzog eine doppelte Staats- „Unverkrampft und ohne gefletschte Zähne“ bürgerschaft, die eine

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Zugehörigkeit zur Nation als Bürger- Kein Wunder, daß Wolfgang Schäub- komplexe Welt der Gegenwart mit recht garantieren würde. Keiner vertei- le findet: „Gerade in Zeiten der Unsi- simplen Nazi-Erklärungsmustern zu- digt das geltende Abstammungsprinzip. cherheit, der wachsenden Risiken und deckt? In Wahrheit ist selbst der real Alle aber drücken sich mit deutlichem Gefährdungen brauchen wir die natio- durch die Straßen grölende neue Fa- Unbehagen um das „dumme Prinzip der nale Gemeinschaft mit ihren wertebezo- schismus – folgt man dem Soziologen nationalen Zugehörigkeit herum“, wie genen und emotionalen Grundvoraus- Ulrich Beck – heute „ein hochgradig in- es die Politologin Gesine Schwan formu- setzungen als eine Schutzgemeinschaft dividualisiertes Publikum“. liert. Der SPD-Abgeordnete Freimut für Frieden und Freiheit nach innen und Zur Verständigung und Lösung Duve stellt gar unsere verbale Fähigkeit nach außen.“ Der Fraktionsvorsitzende der tatsächlichen Schwierigkeiten in in Frage, die gegenwärti- ge komplexe Situation „angemessen zu erfas- sen“. „Wir müssen ler- nen, uns von den Be- griffsfesseln der Sprache des 19. Jahrhunderts zu befreien.“ Tatsächlich verflüchti- gen sich Reden und De- batten über das deutsche Selbstverständnis gerade- zu zwanghaft in geister- hafte Weltanschauungs- gefechte. Von der Geschichte scheinen alle zunächst einmal zu lernen, daß man das Gegenteil ma- chen muß. Allerdings – allein aus der Tatsache, „daß jede neue Generati- on das Muster der gestri- gen haßt“, entstehe auch noch nichts Brauchbares, klagt der in Berlin aufge- wachsene Schriftsteller Revolution in Berlin (1848): Radikaldemokratisches Erbe der Republik Chaim Noll, nur ein Hin- undhertaumeln zwischen untauglichen der Union verschreibt, wie ein Arzt für Deutschland und in der Welt trägt die- Extremen. Gemütskranke, den Deutschen „emo- ser ideologische Kampf nichts bei. Wäre So belastend der Inhalt der Historie tionale Bindekräfte“, als da wären es nicht an der Zeit, daß alle ihre histori- den Deutschen ohnehin schon sein muß, „Liebe zur Heimat, Patriotismus, Natio- schen Magazine kritisch mustern? noch quälender ist die nimmermüde nalgefühl“. symbolische Ausschlachtung und Instru- Zu wissen und zu sagen, daß hier ei- mentalisierung der Vergangenheit für ner aus dem Requisiten-Gerümpel sei- lagend hallen die Worte des „Sol- aktuelle politische Ziele. So wie es die nes Elternhauses ein paar Schmuckstük- daten Hans“ durch die überdachte Union gerade wieder mit den Gedenk- ke aufmotzt und unter die Leute bringt, KRuine der 300 Jahre alten Parochi- feiern zum deutschen Widerstand am ist das eine. Mit den schweren Kanonen alkirche von Berlin: „Wenn ich es später 20. Juli 1944 in Plötzensee versucht, der der Ideologiekritik nach diesen Bis- mal erzähle, in welchem Zustand wir nachträglich von jeder kommunistischen marck-Spatzen zu schie- Teilnahme gereinigt werden soll. ßen, ein anderes. So wird redend Wirklichkeit verstüm- Geht es denn wirklich Die Progressiven haben die melt. Alte Realitäten verschwinden, um Inhalte? Eher scheint neue entstehen durch Beschwörung. es, als böte Schäuble ein lebenslange Sorge, das Land drohe im Und das Fernsehen liefert passende Bil- paar heimelig vertraute Traditionalismus zu versacken der. Orientierungspunkte an – Nach den Beobachtungen des Sozial- Schlagworte und Bilder, pädagogen Thomas Ziehe prägen über- Namen, Denkmäler und Lieder –, die hier leben, dann glaubt mir das kein holte Denk- und Wahrnehmungsmuster Halt und Ruhe vortäuschen im schwin- Mensch.“ Der Schauspieler Hermann unser Reden über das Land. Gerade die delerregenden Fliehtempo der Moderne. Lause liest aus einem Brief, den der Diskussion um die Nation signalisiere Ist das nicht, mehr als alles andere, deutsche Landser am 7. Januar 1943 aus einen auffälligen Mangel an begriffli- schlechte Folklore, die einen deutschen Stalingrad an seine „liebe Aggi“ daheim chen Kategorien zur Erfassung des rapi- Nationalstaat drapiert, den es so nie gab? geschrieben hat: „Es ist aber auch den und komplexen Weltwandels. Maskerade also. Ungefährlich ist das schrecklich mit der Ernährung. Man Die Menschen sehen, was sie gelernt gewiß nicht, zumal absichtsvoll insze- sieht noch kein Hund mehr herumlau- haben: Während etwa die Progressiven niert: nette Macht mit blauen Helmen, fen, alles wird gegessen.“ das Land mit der lebenslangen Sorge auftrumpfendes Biedermeier. Das bedauere natürlich auch „der wahrnehmen, es drohe im Traditionalis- Aber wird die Absicht dadurch ent- Führer“, trägt Mario Adorf aus dem Ta- mus zu versacken, treibt die Konservati- tarnt, daß man einen Gegenkostümball gebuch des Reichspropagandaministers ven unentwegt die Angst vor dem Zer- veranstaltet und immer gleich „Der Joseph Goebbels vor. Mit markiger fall um. Schoß ist fruchtbar noch“ zetert und die Stimme fährt er fort: „Andererseits

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Werbeseite müssen wir uns darüber Knochen“. Vielleicht klar sein, daß das Un- nehmen wir unsere Trau- glück, das über die Nati- mata aber auch gar nicht on hereinbrechen würde, wahr. wenn wir hier nachgä- Nach einem zehntägi- ben, ungleich viel schwe- gen gemeinsamen Aus- rer sein würde als das bildungsseminar von Unglück, das unsere dort Schweizer und deutschen eingeschlossenen Trup- Familientherapeuten pen betrifft.“ sind die Eidgenossen be- Viele der Hunderte stürzt darüber, wie sehr Zuhörer, die zwischen ihre deutschen Kollegin- den rohen Kirchenmau- nen und Kollegen, die sie ern mit verkohlten Putz- immer nur als Mitglieder resten in der Mitte Ber- Deutsche Heimkehrer (1946)*: „Opa kennt das ja“ einer Nation von Tätern lins sitzen, fröstelt bei gesehen haben, zugleich dieser Vorlesung. Je- auch Opfer waren. Das weils von mittags bis Mit- war noch vor der Wende. ternacht hocken an zwei Danach, berichtet der Tagen ein gutes Dutzend britische Historiker Ti- Schauspieler unter einem mothy Garton Ash, Schrottkreuz im Altar- stand über dem Altar ei- raum der am 24. Mai ner Ost-Berliner Kirche 1944 durch Brandbom- der Satz: „Ich war Kain ben zerstörten Kirche UND Abel.“ und lesen aus Walter Das ist nun gerade Kempowskis kollektivem nicht in dem einebnen- Tagebuch „Echolot“. den Sinne gemeint, wie Hier überwältigt nicht die auf Wunsch Helmut Historie die Gegenwart, Kohls zu wilhelminischer hier scheint ein Ort Ge- Fülle aufgeblähte Koll- schichte geradezu auszu- witz-Mutter im Schinkel- dünsten. Die Kirchenrui- schen Mahnmal der Neu- ne liegt direkt hinter dem Gedenkstätte Neue Wache in Berlin: „Voller Nachkriegsinvaliden“ en Wache Unter den ehemaligen Ministerrats- Linden suggeriert – daß gebäude der DDR, das heute der der Nation nichts zu schaffen haben wol- nämlich der Tod alle Unterscheidungen Bonner Regierung als Bürohaus dient. len. Geschichte ist auch ein Familien- verwische. Vielmehr spricht aus dieser Die Reste des Propagandaministeriums schicksal, bis ins dritte und vierte Glied. Haltung die Bereitschaft, die historisch des Joseph Goebbels, der seine Mitar- „In den ersten Jahrzehnten nach dem bedingten und persönlich zu ertragen- beiter anweist, ja „keine defensive Krieg mußten die jungen Deutschen mit den schmerzhaften Widersprüche in der Grundhaltung“ zu erzeugen und deshalb den Altnazis fertig werden, und sie ha- eigenen Biographie auszuhalten und an- verbietet, die Formel „Festung Europa“ ben es geschafft“, schreibt der Berliner zunehmen. zu benutzen, stehen ein paar Straßen Schriftsteller Bodo Morshäuser. Wie quälend das sein kann, haben entfernt. viele Linke erst unlängst erfahren, als Das ist nun ein halbes Jahrhundert Eine Generation später müssen wir mit ihnen beim Golfkrieg die Sicherheit ab- her. Gern fragen vor allem jüngere den alt gewordenen Nachkriegsjugend- handen kam, die Erfahrungen der Nazi- lichen fertig werden, mit Greuel hätten gewisse Orientierungen ihrer Fixiertheit aufs Drit- für alle Zeiten festgeschrieben. Denn Bewältigt? Vergessen? Deutschland ist te Reich. Ich finde es an- plötzlich fanden sie sich unter Berufung gebracht, über die Frem- auf dieselben Schlüsselerlebnisse in ein- auch denen zugestoßen, die mit der denliebenden zu lächeln ander radikal bekämpfenden Lagern Nation nichts zu schaffen haben wollen wie über die Apokalypse- wieder. „Mit einem Mal trat zwischen beschwörer, die sie zehn der Aufgabe, immer wieder neu aus Jahre vorher waren, oder Auschwitz zu lernen, und dem Wunsch, Deutsche, was es sie angehe. Die Ein- über die Systemveränderer, die sie vor für den Frieden zu wirken, eine Kluft schüsse des Endkampfes sind in Berlin zwanzig Jahren waren. Sie haben es al- auf“, bekennt der Schriftsteller Gert noch nicht vernarbt. Gerade jetzt berei- les nur für Papa getan, der nicht gere- Heidenreich: „Und nicht selten ging der ten die Siegermächte mit Volksfesten ih- det hat, und längst befinden sie sich Riß durch ein und dieselbe Person.“ ren endgültigen Abzug vor, auch die auf dem Gänsemarsch durch die Stel- Mit Recht haben Linke den Konser- Russen. Aus deren Heimat hat am 5. Ja- lenpläne der Institutionen. Deutsch- vativen in Deutschland eine penetrante nuar 1943 der „Soldat August“ seiner land war einmal voller Kriegsinvaliden. Neigung zu Schönfärberei und Verdrän- „liebsten Heti“ geschrieben, seine Ka- Jetzt ist Deutschland voller Nachkriegs- gung vorgeworfen, wenn sie allzu auf- meraden und er seien „noch am Bun- invaliden. dringlich die „Gnade der späten Ge- kerschaufeln. Sind aber bald fertig da- Vielleicht, hat George Bernard Shaw burt“ beanspruchten und unermüdlich mit, bis zum nächsten Stellungswechsel. einmal gemutmaßt, redet derjenige, der zum Ziehen von Schlußstrichen aufrie- Opa kennt das ja aus dem Weltkrieg“. ein gesundes Nationalgefühl hat, davon fen. Nun aber, da mit der DDR auch Bewältigt? Vergessen? Als könnte, so wenig „wie von seinen gesunden manche sozialistische Illusion gestorben wer hierzulande aufgewachsen ist, sei- ist, beklagt der unverdrossene Oskar ner Geschichte entkommen. Deutsch- * Aus russischer Gefangenschaft in einem Lager Negt auch Defizite bei den eigenen Ge- land ist auch denen zugestoßen, die mit bei Frankfurt/Oder entlassene Soldaten. nossen: „Da die Linke kein Verhältnis

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zur Geschichte, auch nicht zu ihrer eige- tität hingegen, die sei eher europäisch, nen Geschichte hat, nimmt sie teil an je- westlich eben. „Und die Nichtstabilität nem psychologischen Mechanismus, den dazwischen, die ist gefährlich.“ Mitscherlich als die Unfähigkeit zu trau- ern bezeichnete.“ Trauer tut weh. Sie will gelebt sein, ls das Gendarmerie-Musik-Corps nicht behauptet. Aber daß mit Erich Niederösterreich am vergangenen Honecker in der vergangenen Woche ADonnerstag in Wien die ersten auch ein Stück der eigenen Vergangen- Takte der deutschen Nationalhymne zu heit gestorben ist – obwohl man mit blasen beginnt, hallt das Ernst-Happel- „Erich nu würklich nüscht am Hut hat- Stadion wider von schrillen Pfiffen. te, politisch“, das sprechen nur noch we- Schon vor Beginn des Fußball-Länder- nige so unverblümt aus wie ein Ost-Ber- spiels wollen es die Österreicher den liner Student, als er die Nachricht im „Piefkes“ zeigen. Unbeeindruckt aber Radio hört. „Verrückt“, sagt er. Eher sind die Ostdeut- Von wegen gemeinsame Identität – schen in Versuchung, ihre widersprüchlichen deut- „wir haben eine Ost-Identität, schen Lebensläufe, die das ist so eine Abart des Deutschen“ millionenfachen Brüche, die Lügen, Ängste, Tap- ferkeiten, Unterwerfungen und kleinen schmettert der deutsche Torwart Bodo Rebellionen selbst abzuflachen oder ab- Illgner sein „Einigkeit und Recht und wickeln zu lassen in verblasenen State- Freiheit“ über den Rasen. ments. Zum zweitenmal in der jüngsten Keine Frage, die deutschen Fußball- Geschichte drohen sich Lebensschicksa- spieler stehen schon vor dem Anpfiff ih- le zu verflüchtigen zu Diplomarbeiten, ren Mann. Auf den grünen Trikots Dissertationen und Habilitationen. prangt knallig ein schwarz-rot-goldener Innere Einheit, weiß Rita Süssmuth, Rautenkranz über dem Bundesadler auf die Präsidentin des Deutschen Bundes- der Brust. Und wie jeder am Fernseh- tags, sei „zuallererst etwas Menschli- schirm den Männern von den Lippen ches“ und „dann erst etwas Nationales“. ablesen kann, haben alle ihren Text ge- In diesem Sinne hat Wolfgang Thierse lernt. Brav singt auch der Ostdeutsche einmal vorgeschlagen, die Deutschen Matthias Sammer sein Deutschland, ei- aus Ost und West sollten einander ihre nig Vaterland. Lebensgeschichte erzählen. Lange war das anders, nicht nur weil Lang ist es her. Erzählt noch einer? es zwei deutsche Teams gab. Während Und hört gar jemand zu? sich die Spieler anderer Länder, Süd- Von wegen gemeinsame Identität. amerikaner vor allem, mit dem Klang Am Tag der Präsidentenwahl fühlt sich ihrer Hymnen in Stimmung sangen, der Brandenburger Sozialdemokrat schien für die Deutschen diese Zeremo- Markus Meckel wieder einmal beson- nie ein Akt der Lähmung. ders fremd zwischen seinen Bonner Wiewohl zumindest im Westen die Bundestagskollegen. „Wir haben eine nationalen Embleme schon in den acht- Ost-Identität, das ist so eine Abart des ziger Jahren aufdringlicher zu werden Deutschen“, spottet er. Die West-Iden- begannen, hatten sich die Deutschen

Deutsche Nationalelf: Brav die Hymne schmettern

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nicht vor der ersten Weltmeisterschaft nach dem Fall der Mauer 1990 in Italien an die Weltspitze der nationalen Fuß- ball-Folklore herangearbeitet. Im Geschichte auf Samtpfoten schwarz-rot-goldenen Bus fuhren die deutsch-national gestylten Jungmillionä- Die Bonner Republik bekommt ein Museum re durchs Land, bejubelt von schwarz- rot-gold bemalten Fans, die so uner- roße Glasflächen lassen viel Die deutsche Nachkriegsgeschich- müdlich ihre Schals und Fahnen in den Licht in den wuchtigen Bau im te wird neutral und brav präsentiert. nationalen Farben schwenkten wie ihre GBonner Regierungsviertel flu- Bodo-Michael Baumunk, Historiker Rivalen aus Argentinien oder England. ten, heller Granit ziert die Wände der und Ausstellungsgestalter, fürchtet Der Sozialdemokrat Carlo Schmid riesigen Ausstellungsräume. Es wirkt auch weniger ein CDU-Museum als hätte daran seine Freude gehabt. Dem alles so geschmackvoll, hell und wohl- ein Haus, das sich „nach allen Rich- gewichtigen Professor, dessen Mutter habend wiedieRepublik, dievonhier tungen auf Samtpfötchen bewegt“. Französin war, erschienen Demokratie aus 40 Jahre lang regiert wurde. In der Bundesregierung ist umstrit- und Nationalstaat immer unzertrenn- Der Bau ist der Schlußstein der ten, wie es mit der Geschichtsschrei- lich, und seit der Gründung der Bundes- Bonner Republik: Das „Haus der Ge- bung weitergehen wird. Denn im republik Deutschland hat er davor ge- schichte“, das Bundeskanzler Hel- Osten Berlins gibt es mittlerweile ein warnt, das parlamentarische System all- mut Kohl am 14. Juni eröffnen will, zu karg mit dekorativer soll vorzeigen, was die Nachkriegsge- Symbolik auszustatten. schichte der Bundesrepublik an Spu- Im Bundestag sagte er ren hinterlassen hat. 1972: „Nation ist kein Wer das 116 Millionen Mark teure Wachstumsprodukt, Museum unterirdisch, durch den sondern ein Produkt des Tunnel einer U-Bahn-Station, be- Willens, Nation zusein.“ tritt, kommt bei der Stunde Null her- Die Feiern zur Wie- aus. Doch schon das erste Exponat dervereinigung 1990 zeigt, daß die Bundesrepublik in den sind in dieser Hinsicht Trümmern des Nazireichs keines- manches schuldig geblie- wegs bei Null angefangen hat. ben. Es gab keinen trä- Blankpoliert steht da der „Salon- nenreichen „National- wagen 10205“. Hermann Göring ließ rausch“ vor dem Reichs- ihn sich 1937 bauen. Und die ersten tag in Berlin, eher eine Kanzler des neuen Deutschland, biergesättigte Gelassen- Konrad Adenauer, Ludwig Erhard heit. Geschäftsmäßig und Kurt GeorgKiesinger,rollten mit überschrieben die Ge- dem „Prunkstück deutscher Eisen- sellschafter der Bonn bahngeschichte“ (Museumsdirektor GmbH & Co. KG auf Hermann Schäfer) durch die Lande, den neuen Staat ein de- Willy Brandt sogar, 1970, über die mokratisches System, deutsch-deutsche Grenze nach Er- das im Westen unter furt. günstigen ökonomi- Was hat die Geschichte der Bonner schen und sozialen Um- Republik geprägt? Im großen Fundus ständen alles in allem stehen die unvermeidlichen Szene- Collage im Haus der Geschichte* achtbar funktioniert hat- stücke der fünfziger Jahre: der Lloyd Historie brav präsentiert te. Seinen liberalen Traditionen, vor al- Alexander und der Messerschmitt- lem aber seinem prallen Wohlstand Kabinenroller, zwei Kleinwagen, die Konkurrenzprojekt: das Deutsche schlossen sich die Ostdeutschen vollin- den Beginn des Wirtschaftswunders Historische Museum im Zeughaus haltlich an. symbolisieren. Unter den Linden. Unbestritten, daß seit dem 3. Oktober Politisch anecken wird das vom Die Bonner haben den Berlinern 1990 die Bundesrepublik Deutschland Kanzler mit Verve vorangetriebene im Fundus noch einiges voraus: Reli- wieder ein deutscher Nationalstaat ist, Museumsprojekt kaum. Befürchtun- quien der Regenten wie etwa die wenngleich – in Länder aufgeteilt und in- gen wie die des SPD-Kulturexperten Strickjacke, in der Kanzler Kohl im tegriert in Bündnissysteme – keineswegs Freimut Duve, Kohl wolle sich mit Kaukasus mit Michail Gorbatschow identisch mit dem autonomen zentralen dem Museum „sein Denkmal“ set- die Einheit aushandelte. Unter all Typus des 19. Jahrhunderts. Es ließe sich zen, sind durch die Harmlosigkeit der den Exponaten zur deutschen Ver- ferner sagen, daß damit die deutsche Re- Exponate entkräftet. gangenheit hat die Museumsleitung publik im Europa der Vaterländer und Helmut, der Protagonist der gei- auch ein Stück Gegenwart installiert: beiden Vereinten Nationen keinUnikum stig-moralischen Wende, ist aller- Ein Fernschreiber der Deutschen mehr ist, Ende eines Sonderweges also. dings ebenso groß im Bild wie Hel- Presse-Agentur spuckt ständig die Neu ist auch, daß dieser deutsche Staat mut, der Wiedervereiniger. Klar, daß neuesten Nachrichten aus. über Grenzen verfügt, die von ihm selbst Peinlichkeiten seiner Amtszeit wie Will sagen: Die Geschichte geht und seinen Nachbarn vorbehaltlos aner- der Marsch mit US-Präsident Ronald weiter. In Bonn. kannt werden. Im Inneren entspricht die- Reagan entlang den Bitburger Grä- ser Situation die klare Entscheidung für bern der Waffen-SS mit dem Mantel * Plakate und Wahllokal Ende der vierziger eine pluralistische Demokratie nach der Geschichte zugedeckt wurden. Jahre. westlichen Vorgaben. Ist die Bundesrepublik Deutschland damit automatisch von einer Gesellschaft

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zur Nation geworden? hen sich solche Men- Und wenn der Trend so schen – die nicht nur, ist – muß das notwendi- aber auch daran zu er- gerweise nur Rückfall kennen sind, daß sie sich sein? Könnte sich nicht manchmal mit brennen- auch eine Chance zum den Kerzen auf den Stra- politischen Erwachsen- ßen versammeln – als werden darin verbergen? Subjekte der zivilen Ge- Keine Frage, daß viele sellschaft. Anderswo, in Westdeutsche fürchten, den USA etwa oder in ein Sog aus dem Osten Frankreich, wo nicht al- ziehe sie zurück in den len Begriffen zentner- alten deutschen Mief. schwer besudelte Ver- Keine Frage, daß wenige gangenheit anklebt, hei- Spaß am Teilen haben. ßen sie auch heute noch Doch daß die glücklichen „Patrioten“. Zeiten der gesellschaftli- So wie Willy Brandt. chen Unschuld vorbei Auch er verstand sich, sind, weiß ein jeder. wie die Mehrheit der von Alarmsignale sind ja den Nazis verfolgten po- unübersehbar: Vier Mil- litischen Emigranten und lionen Arbeitslose, rech- Widerständler, nicht nur te Gewalttäter auf den als Repräsentant eines Straßen, radikale Dem- „anderen Deutschland“. agogen in der Öffentlich- Mit Stolz zählte er sich keit und eine verzagte, bisweilen auch zu den einfallslose und selbstge- „wahren deutschen Pa- rechte politische Elite, trioten“. die sich einem verdrosse- Brandts Kniefall in Warschau (1970): „Wahre deutsche Patrioten“ Das ist die Sprache des nen Volk zu 19 Wahlen 19. Jahrhunderts, doch stellt – das stimmt niemanden heiter. Bündnissen? Auf dem Parteitag der Grü- sie verbirgt nicht die blutigen Erfahrun- Aber ist deshalb gleich Anlaß zur Pa- nen etwa? gen des Mißbrauchs im zwanzigsten. Das nik? Daß „das Deutschland der achtzig Mil- Lebensgefühl der Risikogesellschaft an Daß Deutschland schuld war am lionen für seine internationale Umwelt der Schwelle des Umbruchs zum Jahr Zweiten Weltkrieg, glauben heute 56 nur so lange erträglich ist, wie es in die 2000 mögen solche Begriffe nicht mehr Prozent der Bevölkerung; 64 Prozent Europäische Union eingebunden ist“, erfassen. Doch können sie–gekoppelt an finden es gut, daß ihre Eltern und Groß- wie der Historiker Hans-Ulrich Wehler Biographien, die sie legitimieren – sehr eltern den Krieg verloren haben. Nach mahnt, weißjeder, der nochhalbwegssei- wohl verdeutlichen, daß mit dem Begriff einer gerade in der Zeitschrift Die Wo- ner Verstandeskräfte mächtig ist. des Nationalen nicht nur Barbarei in un- che veröffentlichten Forsa-Umfrage ma- Gewiß, Johannes Rau hat als Präsi- sere Gegenwart hineinragt. chen 76 Prozent aller Deutschen heute dentschaftskandidat verloren. Aber Willy Brandt hat diesem Geist mit sei- nicht mehr nur den „Führer“ und eine macht diese Niederlage seine Faszination nem Kniefall in Warschau gültige Symbo- kleine Clique für die Nazi-Verbrechen für ein „Deutschland, in dem man ohne lik verliehen. Bertolt Brecht gab ihm, mit verantwortlich, sondern finden, daß Angst verschieden sein können muß“ et- seiner „Kinderhymne“, einen bescheide- „viele Bereiche der Bürokratie und der wa schon zur Spinnerei eines Außensei- nen Text: „Und weil wir dieses Land ver- Verwaltung eingebunden waren“. Und ters? Und: Spricht da einer von den Deut- bessern /Lieben und beschirmen wir’s / schen als Gesellschaft? Als Und das liebste mag’s uns scheinen /So Nation? wie andern Völkern ihrs.“ So sehr sich naives Nationalgefühl Als ließe sich das immer Und hat nicht Jürgen Habermas einen säuberlich voneinander Begriff aufgenommen, mit dem auch wir verbietet – so wenig geht es trennen. Sosehr sich ein Deutschen leben können in der neuen ganz ohne ein gewisses Nationalgefühl „naives Nationalgefühl“ in Republik? „Verfassungspatriotismus“ Deutschland verbietet, so- nannte er 1985 seinen Versuch, so etwas wenig geht esoffenbar ganz wie eine emotional angewärmte kollekti- nur 15 Prozent haben das Bedürfnis ohne ein gewisses Nationalgefühl. „Es zu ve Identität zu schaffen. nach einem neuen starken Mann. erzeugen“, glaubt der Historiker Christi- Geborgenheit verspricht dieser Patrio- Wenig – außer dem prahlerischen An- an Meier, „läuft fast auf die Quadratur tismus freilich nicht, im Gegenteil. Ein tiamerikanismus einiger junger Rechter des Kreises hinaus; es kann nur möglich „nicht institutionalisierbares Mißtrauen“ und weniger Linker – deutet überdies sein im engen Anschluß an die gelungene gegenüber der Nation und den Regieren- darauf hin, daß „die Westlichkeit des Nachkriegszeit.“ den – den eigenen, versteht sich – macht Landes im Abnehmen begriffen ist“, Und es fordert jedem Bürger die nüch- laut Habermas diese Form der politi- wie der Historiker Dan Diner argwöhnt. terne Fähigkeit ab, die an Widersprüchen schen Kultur erst rund. Gewiß, da ist eine Gruppe junger Hi- reiche Realität des ausgehenden 20.Jahr- Zu kühl? Zu kompliziert? Doch wüch- storiker um Karlheinz Weißmann, die hunderts zu ertragen und in ihrer Kom- se, sollte es funktionieren, auf diese Wei- sich mit provokativer Lust „rechts“ plexität positiv zu deuten. se eine Republik heran, auf die einer – so nennt und die sich „als das erste Mei- Eine unpathetische, riskante und af- er es denn braucht – zur Not auch ein nungslager des wiedervereinigten fektgeladene Aufgabe wäre das, die je- kleines bißchen stolz sein dürfte. So Deutschland“ aufspielt. Aber wo zielt dem einzelnen Bürger persönliche Wach- wie die Ossis auf ihre Montags- denn ein ernsthafter politischer Vorstoß samkeit, Mut zur Einmischung und demonstrationen und ihre Runden auf das Ausscheiden aus den westlichen Selbstvertrauen abverlangt. Bei uns se- Tische. Y

58 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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einen sicheren Listenplatz für den Spätestens die „Sportpalastrede“, mit Wahlen nächsten Landtag kosten. der Gauweiler am Aschermittwoch im Gauweilers Gegner in der CSU-Spit- Münchner Pschorrkeller seinen Rück- ze warten womöglich nur auf eine gün- tritt vollzog, habe die Jungen, so Wolf, stige Gelegenheit. „Gauweiler ist in aus dem Bund mit der Partei „herausge- Alles kaputt der Bevölkerung und in der Partei sehr trieben“. In ganz Bayern herrsche angeschlagen“, heißt es in einem inter- „Unmut“ über die Münchner CSU und Die Wiederholung der Stadtrats- nen Strategiepapier aus der Parteizen- darüber, „was hier an Problemen hoch- wahl in München droht zu einem trale. Bei einem „erheblichen Ein- köchelt“. bruch“ der CSU bei der Stadtratswahl Die Frondeure rechnen sich einen Debakel für die CSU und ihren sei damit zu rechnen, „daß es dann ei- Stimmenanteil von zehn Prozent aus. Chef Peter Gauweiler zu werden. ne wichtige Debatte um den Bezirks- Gleich nach ihrem Wahlerfolg wollen vorsitzenden gibt“. sie einen Sonderparteitag der Münchner „Die wollen den Peter abschlach- CSU mit „sofortigen Konsequenzen“ as papierene Monstrum ist viermal ten“, sagt ein Gauweiler-Vertrauter, (Wolf) verlangen – Gauweilers Kopf gefaltet, mißt aufgeklappt 63 mal „denen wäre eine Schlappe der soll rollen. D142 Zentimeter und ist mit über Münchner CSU grad recht.“ CSU-Landesleitung und Staatskanz- 1400 Namen bedruckt – der umfang- Gauweiler erzielte als Münchner lei halten sich aus den Münchner Que- reichste Stimmzettel, der je in der Bun- OB-Kandidat im September vergange- relen bislang heraus – Indiz dafür, desrepublik aufgelegt wurde. nen Jahres zwar ein achtbares Resultat daß Edmund Stoiber ein Einbruch Den Rekord stellen die Münchner für ihre Stadtratswahl am nächsten Sonntag auf, wenn gleichzeitig die Europa-Parla- mentarier gewählt werden. Fürs Stadt- parlament bewerben sich insgesamt 25 Parteien und Wählergruppen, so viele wie noch nie. Ins neugotische Münchner Rathaus streben, neben den etablierten Parteien, nicht nur rechte und linke Splittergrup- pen, Autofahrer, Ökologen und Bürger- rechtler. Angetreten ist auch eine Fülle skurriler Mini-Formationen, etwa eine „Naturgesetz-Partei“, die den „Auf- bruch zu neuem Bewußtsein“ verkün- det, und die Partei Bibeltreuer Christen (PBC) mit der Botschaft: „Ohne Gott geht alles kaputt.“ Den Bürgern eingebrockt hat das Spektakel der städtische Wahlausschuß: Bei den Ratswahlen 1990 hatte das Gre- mium die Junge Liste (JL), einen Able- ger der CSU-München und der Jungen Union, als „Tarnliste“ der Christsozia- len eingestuft und von der Wahl ausge- CSU-Politiker Gauweiler (r.), Freund Haider: Bald gemeinsam? schlossen. Dagegen klagte die JL, unter- stützt von der Mutterpartei, durch alle (43,3 Prozent) und bekam Beifall vom seines Intimfeindes Gauweiler sehr ge- Instanzen und gewann. Im vergangenen Parteioberen Theo Waigel wie von Mi- legen käme. Februar ordnete der Bayerische Verwal- nisterpräsident Edmund Stoiber. Freunde haben Gauweiler bereits ge- tungsgerichtshof die Wiederholung der Doch damals war er als Kabinettsmit- raten, er solle drohendem Ungemach Stadtratswahl an. glied noch in Amt und Würden. Zudem durch freiwilligen Rücktritt zuvorkom- Wenig Zweifel herrscht zwar, daß die könnte auf Gauweiler die heftige Debat- men. Doch der wies das Ansinnen brüsk vor vier Jahren zustande gekommene te der letzten Monate um seinen geisti- zurück: „Ich denke gar nicht daran.“ rot-grüne Mehrheit (44 von 80 Sitzen) gen Ziehvater Franz Josef Strauß zu- Den durch gemeinsame Auftritte mit unter SPD-Oberbürgermeister Christian rückschlagen, dessen Ansehen durch die dem österreichischen Rechtspopulisten Ude gewinnen wird. Offen jedoch ist, Zwick-Affäre gelitten hat. Jörg Haider genährten Verdacht, er pla- ob die CSU möglicherweise noch weiter Die ärgste Konkurrenz der Christso- ne eine Spaltung der CSU und eine Neu- absackt als bei der letzten Wahl. Damals zialen beim konservativen Publikum gründung nach dem Vorbild der italieni- bekam sie 30,1 Prozent und 25 Manda- stellt ausgerechnet der eigene Nach- schen Lega Nord, verspottet Gauweiler te. wuchs: Die Junge Liste stänkert gegen als „Wunschdenken“. Vom Abschneiden der CSU hängt das die Mutterpartei an, als sei die ihr Erz- Daß er dennoch Größeres im Sinn weitere Schicksal ihres Münchner Vor- feind. Die undankbaren JL-Kandidaten hat, trauen viele in der CSU ihrem Gau- sitzenden Peter Gauweiler, 44, ab. Im empfehlen sich als bessere Alternative: weiler schon zu. Ein Freund beobachtet Februar hatte Gauweiler wegen der so- „Statt CSU – Junge Liste“. Was sie von ihn gelegentlich, wie er auf seiner Ter- genannten Kanzlei-Affäre um die Ver- ihrem Parteichef halten, spricht JL-Vor- rasse am Starnberger See grübelnd auf pachtung seiner früheren Anwaltsklien- mann Aribert Wolf, 34, offen aus: und ab schreitet – „wie Napoleon auf El- tel als bayerischer Umweltminister zu- „Wenn Gauweiler nicht mehr würdig ba, der scheinbar die Aufzucht von Sei- rücktreten müssen. Ein Wahldebakel in war, Minister zu sein, dann darf er auch denspinnerraupen, in Wirklichkeit aber der Landeshauptstadt könnte ihn seinen keine führenden Parteiämter mehr be- das Übersetzen mit einer getarnten Ar- Job als Bezirkschef der Partei und auch kleiden.“ mada plante“. Y

DER SPIEGEL 23/1994 61 Werbeseite

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Köln, die keinen fertigen Werbefeldzug Den Agenturchef nervten etliche Be- Kirche präsentiert hatte, sondern ein Konzept, sonderheiten des „Kunden Kirche“. „40 wie sich eine Kampagne in Kooperation Pfarrer einer Projektgruppe liefern der mit den Kirchenleuten erarbeiten läßt. Agentur 40 Wahrheiten“, klagt der Resultat war schließlich eine klassische Agenturchef. Zu aktiver Mitarbeit sei Vierzig Werbeaktion – Plakate, Anzeigen und nur etwa ein Drittel der 62 Gemeinden Mundartslogans verbreiteten die Bot- des Kölner Stadtkirchenverbandes be- schaft: „Misch Dich ein.“ reit gewesen. Wahrheiten Die Resonanz war gewaltig. Das Pro- Einige Geistliche hielten die Kampa- jekt produzierte monatelang Schlagzei- gne schon im Ansatz für verfehlt. Der Um die Austrittswelle zu stoppen, len. Erregung erzeugte ein Plakatent- Kölner Pfarrer Hans Theodor Goebel hat die Kirche erstmals Werbe- wurf, der zwei nackte Männer in inniger etwa hätte es „gut gefunden“, wenn die Umarmung zeigte, dazu den Spruch: Kirche „das Geld in einen sozialen Not- profis eingesetzt. Es half nichts. „Gott ist Liebe . . . Auch wenn wir sie stand investiert hätte“. nicht verstehen.“ Grobe Fehler bescheinigt der Kölner ie Kirche nähert sich dem Volk im Die deutsche Werbewirtschaft krönte Pfarrer und PR-Experte Kurt-Werner öffentlichen Personennahverkehr. das Kölner Pionier-Unternehmen mit Pick den Werbestrategen. Zu den Pein- DKölsche Sprüche auf Bussen und der „Goldenen Brücke“, dem Oscar der lichkeiten zählt der Kritiker ein Plakat Bahnen markieren den Höhepunkt ei- PR-Schaffenden. Doch derlei Anerken- mit der Überschrift „Extraklasse“, das ner bislang einzigartigen Werbekampa- nung tröstet den Werbeprofi Matthias Randständige wie Rocker, Roma und gne des Evangelischen Stadtkirchenver- Lauk kaum darüber hinweg, daß das ei- Rollstuhlfahrer zeigt. bandes Köln: „Ärjert Dich jet? Maach gentliche Ziel verfehlt wurde. Durch solche Botschaften, meint de Mungk op!“, „Jlöck kanns Do nit Die Absicht, die Kirche durch perma- Pick, werde die Illusion erzeugt, auch kaufe“, „Bedde deit jot!“ nente Diskussionen so zu verändern, diese Menschen fänden in der Kirche Schon die bloße Ankündigung der daß die Auszehrung gestoppt werden Gehör. Tatsächlich seien sie lediglich fo- Kampagne vor einem Jahr hatte welt- kann, hält Lauk mittlerweile für zu hoch tografiert, honoriert und wieder fortge- weit Beachtung gefunden (SPIEGEL gesteckt: „Die Kirche ist nach meiner schickt worden: „Die auf dem Plakat ab- 10/1993). Jetzt ist ein Buch über den Einschätzung nicht beratungsfähig, da gebildeten Randgruppen haben in den kirchlichen Werbefeldzug erschienen, sie sämtliche Impulse zur Veränderung Gemeinden zumeist keinen Platz.“ das kritisch Bilanz zieht*. Resultat: in einer nicht hinreichend lernfähigen Auch Helga Blümel, Referentin Echo enorm, Ziel verfehlt. Organisation absorbiert.“ im Jugendpfarramt des Kölner Stadt- Aufgeschreckt durch an- kirchenverbandes, äußert haltende Kirchenaustritte, Skepsis: „Ich kann aus mei- hatte der Sprecher des Köl- nen Erfahrungen in der Ju- ner Stadtkirchenverbandes, gendarbeit schlicht nicht Günter Menne, einst selbst glauben, daß es gewünscht Werbetexter für Bayer und ist, daß sich Punks, Nut- VW, die Kirchenoberen im ten, Schläger, Esoteriker, Frühjahr vorigen Jahres für Schwule, Schwarze, Freaks eine revolutionäre Idee ge- wirklich einmischen und winnen können: Werbepro- diese Kirche dadurch verän- fis, erfahren in Kampagnen dern.“ für Babywindeln, Waschpul- Einige der Bedenken teilt ver und Deospray, sollten inzwischen auch Initiator versuchen, die Flucht aus Menne: „Das Wagnis eines den Gemeinden zu stoppen. Prozesses mit offenem Aus- Die Branche vernahm die gang war uns stets bewußt.“ Botschaft des Herrn mit Folgenlos bleibt die Köl- Frohlocken. Innerhalb kür- ner Initiative nicht. Die zester Zeit gingen 150 Ange- Evangelische Kirche in bote deutscher und interna- Deutschland plant eine tionaler Agenturen bei den „bundesweite Kommunika- rheinischen Protestanten tionsoffensive“ zum Thema ein. Die Werber spekulier- „Mitgliederschwund und ten nicht nur auf den ver- Profil der Evangelischen gleichsweise mageren Drei- Kirche“. In mehreren ka- Millionen-Etat, sondern vor tholischen Bistümern sind allem auf Anschlußaufträge; bereits eigene Kampagnen die deutschen Kirchen verfü- angelaufen. gen über jährliche Steuerein- In Köln stimmte derweil nahmen von rund 17 Milliar- die Verbandsvertretung, das den Mark. Kirchenparlament, gegen Den Zuschlag bekam eine Fortsetzung der Aktion schließlich die Agentur Lauk „Misch Dich ein“. Grund: & Partner aus Frechen bei Geldmangel. Der Etat schrumpft dieses Jahr we- * Evangelischer Stadtkirchenver- gen der Kürzung öffentli- band Köln (Hrsg.): „Misch Dich cher Mittel um fast 13 Mil- ein“. Eigenverlag (Vertrieb: Buch- handlung Roemke, Köln); 140 Sei- lionen Mark – ein Heiden- ten; 27,50 Mark. Umstrittene Kirchenwerbung: Ziel verfehlt geld. Y

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bisher bekannten Mausche- leien hinaus den Spendenetat aufgebläht (1992: 400 000 Mark) und mit dem Geld un- ter anderem Kunst-, Denk- mal- oder Sportvereine un- terstützt, denen er selbst oder andere Lotto-Verant- wortliche vorstehen. Des weiteren monieren die Rech- nungsprüfer „sachfremde Kostenerstattungen“ für Rei- sen der Lotto-Geschäftsfüh- rer und des Aufsichtsrats, dessen Vorsitzender Finanz- Touristen, Schiffsverkehr im Nationalpark Wattenmeer minister Gerhard Mayer- Vorfelder (CDU) ist. Die Naturschutz von der Bundesregierung, richt wegen des Verdachts Lotto-Gesellschaft habe Rei- den neuen Benzolwert wie- der Untreue und des Betru- sen von Familienangehörigen Tempolimit der fallenzulassen, weil er ges verantworten: Ein 150 finanziert und Theaterbesu- ungerechtfertigte „Handels- Seiten starker Bericht des che der Lotto-Funktionäre im Wattenmeer hemmnisse“ für Olivenöl in Landesrechnungshofs wirft bezahlt. Wetter hat für Ende Bundesumweltminister Klaus Europa aufbaue. Notfalls dem Chef der Toto-Lotto des Monats seinen Rücktritt Töpfer (CDU) will zusam- will die Kommission gegen GmbH vor, er habe über die angekündigt. men mit den Küstenländern Bonn vor Gericht ziehen. ein generelles Tempolimit im Der Bund-Länder-Ausschuß, Rauchender Osten norddeutschen Wattenmeer der den neuen Wert festge- Anteil der Zigarettenraucher an der bundesdeutschen 39 durchsetzen. Betroffen ist legt hat, will jedoch hart blei- Bevölkerung über 14 Jahre; Angaben in Prozent 37 ben. Die Regelung diene 36 das Naturschutzgebiet zwi- 34 schen der Nordspitze Sylts dem Gesundheitsschutz und Quelle: Marplan-Institut; 33 33 33 April 1994 31 und der Insel Borkum, das sei daher mit Europarecht 29 30 30 von zahlreichen Bundeswas- vereinbar. 28 26 27 27 serstraßen durchzogen ist, 25 viele davon in der Nähe von Lotto Vogelschutzgebieten wie der Insel Trischen vor der Elb- Neue Filz- mündung. Bundesverkehrs- minister Matthias Wissmann Vorwürfe (CDU) will dagegen die gel- Der baden-württembergische tenden Geschwindigkeits- Lotto-Chef Peter Wetter, 64, grenzen von bis zu 24 Knoten muß sich womöglich vor Ge- Bremen Bayern Rheinland-Pfalz Baden-Württemberg Hessen Saarland Sachsen Nordrhein-Westfalen Niedersachsen Schleswig-Holstein Hamburg Berlin Thüringen Brandenburg Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern (44 Stundenkilometer) beibe- halten. Die Küstenländer verlangen in einer vom Bun- Presserecht seines Umweltministeriums reagierte mit desrat unterstützten Initiati- einer Art Gegendarstellungsbericht zu un- ve ein Limit von zwölf Kno- serer Studie. ten. Begründung: Durch den Flucht vor Lafontaine SPIEGEL: Welcher Politiker läßt sich schon Einsatz immer schnellerer Martin von Hohnhorst, 28, ist Leiter der gern vorführen? Fähr- und Ausflugsschiffe Zeitschrift „Naturschutz im Saarland“. Hohnhorst: Es geht nicht ums Vorführen. werde sich sonst der Massen- Wir schreiben über Lafontaines Fehler in tourismus an den Küsten SPIEGEL: Sie wollen nach der Verschärfung der Umweltpolitik. Aber wenn uns die auch auf den Nationalpark des Landespressegesetzes durch Oskar La- Landesregierung ohne genaue Prüfungen ausdehnen. fontaine mit Ihrer Redaktion durch die Gerichte mit De- das Saarland verlassen. mentis bombardieren darf, Lebensmittel Fürchten Sie, daß Sie Ihr und das bewirkt ja das neue Blatt künftig mit Gegendar- Presserecht, dann können wir Euro-Testfall stellungen füllen müssen? unsere Zeitschrift zumachen. Hohnhorst: Wir haben SPIEGEL: Wohin gehen Sie Olivenöl schlechte Erfahrungen. Als denn ins Exil? Der neue Richtwert für das wir im letzten Jahr einen Be- Hohnhorst: Vielleicht ziehen Krebsgift Benzol, den die richt zur „Lage der Umwelt wir nach Frankreich, ein Bundesländer nach dem Oli- im Saarland“ vorgelegt ha- Weinörtchen in den Vogesen venölskandal im April einge- ben, schlug Lafontaine, ohne wäre mir ganz lieb. Die Pari- führt haben, (0,05 Milli- die Studie zu kennen, prompt ser Regierung ist zwar auch gramm pro Kilo), wird zu ei- zurück: Wir würden Wahl- nicht liberaler, aber um ein nem Testfall für den Ver- kampf für die CDU machen, Provinzblatt, das über das braucherschutz in der Euro- hieß es in einer Pressemittei- Saarland schreibt, werden die päischen Union: Die Brüsse- lung, und die Hauszeitung Hohnhorst sich kaum kümmern. ler EU-Kommission verlangt

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kaum gesicherten Deponie werden Fracht und Absender nicht verzeichnet, wenn es sich um inländische Entsorger handelt. „Gucken Papiere, alles in Ord- nung“, sagt die korpulente Deponiewär- terin. Nicht ganz. Denn mit Vertrag vom 19. März 1993 hatte sich die Firma Weska, Wertstoff Entsorgung Sortierung & Kunststoff-Aufbereitungs GmbH, aus dem niedersächsischen Ramelsloh ver- pflichtet, jährlich 3000 Tonnen „Misch- kunststoffe“ vom Dualen System Deutschland (DSD), der Muttergesell- schaftdes GrünenPunktes, inLettlandzu „verwerten“. Auf alten, aus der Bundes- republik importierten Recyclingmaschi- Sortieranlage für Verpackungen: „Der Frische wegen“ nen sollten in dem ehemaligen Chemie- kombinat Olaine südwestlich von Riga, Umwelt kennzeichnet. „Da hinten liegt das Ma- das heute unter dem Namen Plastmasu terial von den Deutschen“, sagt Andrejs alsStaatsbetrieb läuft, aus dem Müll neue Lasˇkovs, Umweltbeauftragter der letti- Produkte gefertigt werden. schen Regionalverwaltung. Zwischen Experten des Rheinisch-Westfälischen Schmutzige ausgedienten Kühlschränken, Kondo- Technischen Überwachungs-Vereins men, Küchenabfällen und teilweise ver- (TÜV) besuchten im Mai vergangenen traulich gestempelten Altpapieren der Jahres die Anlage. Sie empfahlen „eine Ware sowjetischen Streitkräfte führt ein stin- sofortige Freigabe und Belieferung mit kender Pfad an die Schüttkante. bis zu 24 000 Tonnen jährlich“. Grüner-Punkt-Abfall aus Deutsch- Obwohl weitgehend zugeschoben von Lastwagen, beladen mit jeweils 40 ge- land verschandelt nun der Planierraupe, sind immer noch die preßten Kunststoffballen, rollten ab bunten Kunststoffe zu erkennen. „Alles April 1993 von den Sortieranlagen in auch Müllkippen im Baltikum. Grüne Punkte“, sagt Lasˇkovs und hält Bayern, dem Ruhrgebiet und Hamburg eine Spülmittelflasche mit der Auf- via Polen in den Osten. Schon bald staute ie bunten Plastikabfälle auf der schrift „der Frische wegen“ hoch. sich das Plastikzeug vor den Werkstoren Zentraldeponie der baltischen Mil- Rund 60 Ballen deutsche Abfallware in Olaine. D lionenstadt Riga stammten eindeu- waren auf Lastwagen Anfang Mai ange- Die örtliche Partnerfirma der Weska, tig aus deutschen Landen, der Grüne liefert worden. Im Eingangsbuch der die Rigaer Firma J. V. Sanzˇeni, fand eine Punkt bewies es. Wie das Zeugs auf die Halde von Riga gelangte, ist unklar. Klar ist nur, daß es Grüner Punkt international dort nicht hingehört. Geplante Verwertung Offiziell liefert die Grüne-Punkt-Fir- Israel 2,0 China 66,0 ma DKR Gesellschaft für Kunststoffre- von gebrauchten Kunststoffverpackungen cycling mbH in über 25 Staaten in aller Vietnam 2,0 Welt alte Plasteverpackungen, die vor durch das Duale System Pakistan 20,0 Ort zu neuen Produkten aufgearbeitet Deutschland für 1994; Philippinen 6,0 werden. So entstehen aus deutschem Angaben in tausend Tonnen Müll in Indien Hartschalenkoffer, in Bul- Indonesien 17,5 garien Müllsäcke oder in Frankreich derzeit gesperrte Länder Zaunpfähle. Zwar sollen die globalen Plastiktrans- porte nach den Plänen der DKR bis Ende Dänemark 5,0 Lettland 8,5 des Jahrzehnts eingestellt werden – falls es bis dahin genügend „Verwertungska- Großbritannien 4,5 pazitäten im Inland“ für die dann jährlich anfallenden fast eine Million Tonnen Niederlande 5,0 Polen 2,5 Kunststoffverpackungen gibt. Belgien 5,0 Deutschland 200,0 DKR-Geschäftsführer Ulrich Volkert Slowakei/Tschechien 6,5 hat mit deutschen Müllausfuhren keine Ukraine 2,0 Probleme. Die ordentliche Verarbeitung Österreich 1,0 von derzeit jährlich über 220 000 Tonnen Schweiz 7,0 Ungarn 5,0 (Gesamtmenge 1994: 420 000 Tonnen) in Frankreich 5,0 Slowenien 1,0 ausländischen Betrieben, sagt er, sei „gut überwacht und lückenlos dokumentiert“. Italien 20,0 Bulgarien 10,0 Funde wie in Riga kommen in der DKR- Spanien 29,6 Theorie nicht vor. Mit einem roten Stoffetzen an einer Portugal 1,0 Türkei 2,9 Stange haben Deponiearbeiter auf der 70 Hektar großen Hausmülldeponie der let- tischen Hauptstadt ein großes Karree ge- Quelle: DKR, Köln

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Werbeseite DEUTSCHLAND unbürokratische Lösung: Die Lastwa- gen aus Deutschland wurden bei der Kunststoff auf der Kippe Ortschaft Baldone, nahe der Autobahn Nach der Verpackungsverordnung müssen jeweils nur bestimmte M 12, 30 Kilometer vor Riga, in ein ver- Anteile der Altstoffe verwertet werden steckt gelegenes Waldgebiet umdiri- geplant ab giert. Dort landete der Grüne-Punkt- seit 1. Januar 1993 1. Januar 1996 Müll erst einmal auf dem Freigelände ei- 100 % ner Wursträucherei. 40% Nachdem ein ZDF-Team im vergan- 70% Glas genen Jahr das illegale Lager entdeckt 30% hatte, versprach die DKR eine „sachge- 70% Weißblech rechte Verwertung“. 20% Die sah so aus: Ein Teil der Ware 70% Aluminium wurde zunächst auf einem herunterge- kommenen Industriegelände an der 20% 50% Straße Bukultu 10 im Rigaer Hafen un- Papier, Pappe ter sowjetischen Tarnnetzen gelagert 10 % und dann auf der städtischen Zentralde- 50% Kartonverbunde ponie abgekippt. 10 % Der Rest von über 500 Ballen landete 50% Kunststoff in einer landwirtschaftlichen Halle, groß wie ein Flugzeughangar und gesichert mit einem Vorhängeschloß. Sanzˇeni-In- Denn Plastmasu, sagt Vizedirektor im Vertragstext, sollten „ab Juli nicht haber und Weska-Partner Aleksandr Sergej Smirnow, verarbeite „keine ver- weniger als 500 Tonnen pro Monat“ Stavro, 36, ein ehemaliger sowjetischer schmutzte Ware aus Deutschland“. geliefert werden. Zehnkämpfer, lobt den Aufbewah- Gießkannen oder Waschschüsseln für Für die bunten Ballen gibt es gutes rungsort als „sehr gutes Zwischenlager“. den skandinavischen Markt stellt die Geld. „270 Mark“ werden an die östli- Die Halle ist wohl eher Endlager für Firma inzwischen aus billigeren russi- chen Abnehmer gezahlt, den Transport die Plaste und Elaste aus Deutschland. schen Kunststoffgranulaten her. nach Lettland vergibt die DKR an Das hinderte die hauseigene Spediteure. DKR-Manager nicht „Der Grüne Punkt“, sagt der SPD- daran, neue Verträge Umweltsprecher Michael Müller, „ist abzuschließen. Über die eine gigantische Geldmaschine.“ Und Firma Recycling Ver- die lockt clevere Geschäftsleute an. fahrens-Technik (RVT) Von der Firma Weska, die eine Mil- aus dem nordrhein- lion Mark ausgezahlt bekam, hat sich westfälischen Baeswei- das Duale System Deutschland inzwi- ler vereinbarte DKR am schen wegen „Vertragsuntreue“ ge- 17. März die Zustel- trennt. Doch Weska-Partner Stavro, lung mehrerer tausend der nichts von dem Geld gesehen ha- Tonnen „Folien“ und ben will, blieb im Geschäft. Mitte De- „Mischfraktion“ an zember bekam er von der DKR einen Plastmasu. Nach einer „Verwertungsvertrag“ über 2000 Ton- „korrekten und von der nen „Mischkunststoffe“. „Die Partei- Deutschen Botschaft en“, heißt es im Vertrag, „vereinbaren beglaubigten Einfuhrge- Vertraulichkeit.“ Illegales Müllager in Lettland: Gut überwacht? nehmigung“, so heißt es Inzwischen allerdings hat die DKR aus Furcht vor Ärger mit der Regie- rung in Riga einen Rückzieher ge- macht. Der lettische Umweltminister Indulis Emsis hat sich von Experten der Weltbank überzeugen lassen, daß der Aufbau einer eigenen Recycling- Industrie für den Plastikschrott aus dem Westen und dem eigenen Land zu teuer käme. „Das können und das wol- len wir uns nicht leisten“, sagt Emsis. Für die illegale Entsorgung deut- schen Mülls auf lettischen Kippen könnten, so fürchten die DKR-Mana- ger, die Letten DKR-Firmen zur Ver- antwortung ziehen. Mit Rundschreiben vom 17. Mai an die Umweltminister aller Bundesländer teilte die DKR mit, sie habe „mit so- fortiger Wirkung“ den Export von Pla- stikmüll in die „Staaten der ehemali- gen Sowjetunion, Ungarn, Rumänien, Bulgarien, ehemaliges Jugoslawien, Illegale Deponie in Riga, Umweltbeauftragter Lasˇkovs: Lückenlos dokumentiert? Slowakei und Polen“ vorübergehend

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Werbeseite DEUTSCHLAND eingestellt. Die DKR, so die Begrün- „lettischen Preisetiketten“. Bei dem desregierung lehnte die „thermische dung, könne nicht ausschließen, daß Müll habe es sich, so ein DSD-Sprecher, Verwertung“ nach Einführung des Dua- „ohne unsere Einwilligung fälschlicher- mithin um Überreste von Warenimpor- len Systems 1991 ab. Statt dessen sollte weise als DSD-Material deklarierte“ ten aus der Bundesrepublik gehandelt. sich die von den Chemie-Konzernen ge- Kunststoffe in den Osten verschoben Für deren Beseitigung aber seien die tragene Verwertungsgesellschaft ge- würden. „Konkrete Anhaltspunkte“, so Letten selbst verantwortlich. brauchter Kunststoffe (VGK) um diesen fügten die Müllmänner vorsorglich an, Seltsam nur, daß die Beamten des Müll kümmern. hätten sie für den illegalen Deal nicht. Ministers Emsis auf der Kippe „massen- Die DSD-Firma geriet jedoch bald In Riga befreite der TÜV die Deut- haft Preisschilder in D-Mark“ fanden. wegen dubioser Wertstoffexporte nach schen von allen Sorgen. Ein TÜV-Mit- „Das kommt“, so Emsis-Mitarbeiter Frankreich ins Gerede. Die Staatsan- arbeiter entdeckte laut „Begehungsbe- Dietrich Hahn, „eindeutig aus Deutsch- waltschaft in Frankfurt ermittelte wegen richt“ auf der Kippe lediglich Abfall mit land.“ Betruges. Nach der Finanzkrise des DSD-Systems im vergangenen Jahr wur- de die VGK liquidiert und durch die Fir- ma DKR ersetzt. Doch auch DKR hat Probleme, seriö- „Schon bedeppert“ se Partner zu finden. Jeden Monat kä- men „stapelweise höchst unseriöse“ An- Plaste und Elaste überrollen den Grünen Punkt gebote diverser Plastikverwerter, sagt DKR-Manager Ulrich Volkert. er Grüne Punkt weiß nicht mehr Ähnlich wie für Agrarprodukte in der Ärger gibt es immer wieder: Von den wohin mit dem Plastikmüll. Wäh- EU trägt bei der Müllverwertung der Philippinen etwa kamen Mitte April 45 Drend die Aufarbeitung von Altpa- Verbraucher die Kosten für nicht ver- Container nach Bremen zurück, ange- pier, Pappkartons, Flaschen oder Me- käufliche Waren. Für recycelte Park- füllt mit Grüner-Punkt-Verpackungen. talldosen mit dem Recyclingsymbol bänke oder Polderpfähle gibt es keinen Der Hallenser Spediteur Teuerkauf und funktioniert, häufen sich die Probleme Markt. „Ökologisch, aber auch ökono- die Münchner Müllmaklerfirma Univer- mit den Kunststoffen. Obwohl das Ge- misch ist das alles Unfug“, sagt Weß- sal Trading konnten den Behörden in setz bis 1996 nur die Wiederverwertung ling. Singapur und Manila nicht die entspre- von zehn Prozent aller Verpackungen Besonders kritisch ist die Entsorgung chenden Einfuhrpapiere präsentieren. vorschreibt, wachsen die Halden aus von High-Tech-Verpackungen. Folien Vor allem über Frankreich laufen Lie- Plaste und Elaste. „Es ist doch Wahn- und Verbundwerkstoffe würde der Ver- ferungen des Müllmultis Otto-Gruppe sinn“, klagt der schleswig-holsteinische band der Chemischen Industrie am lieb- nach Asien. So verschifft die im süd- Kunststoffunternehmer Bernhard Weß- sten einfach verbrennen. Doch die Bun- französischen Aix-en-Provence ansässi- ling, „auch noch die letzte alubeschich- ge Ge´ne´ral Industries tete Kaffeemilchdose zu recyceln.“ massenweise DSD-Abfäl- Tatsächlich kostet das Sammeln, Sor- le über Rotterdam nach tieren, Transportieren und Wiederver- China. werten der Kunststoffe weit mehr, als In Fernost landet eben- die daraus gewonnenen neuen Produkte falls via Rotterdam DSD- einbringen. Allein der Wasserverbrauch Schrott aus dem Stuttgar- für das Reinigen verschmutzter Verpak- ter Sortierbetrieb Remex. kungen sei ein „ökologischer Sünden- In einem ehemaligen fall“, sagt der Hamburger Umweltsena- Steinbruch unmittelbar tor Fritz Vahrenholt. Jeder Liter Öl, der hinter der Müllverbren- in neuen chemischen Großanlagen im nungsanlage am Neckar sachsen-anhaltinischen Leuna aus Pla- stapeln sich sogenannte stikverpackungen zurückgewonnen wer- Sortierreste in Viererla- den soll, verschlingt ein Mehrfaches an gen. Energie. Als Bumerang für die Auch die Ökobelastungen durch die Erfinder erweist sich in- Mülltransporte sind aberwitzig: Da wer- zwischen das mit einem den, zum Beispiel, Styropor-Verpak- Aufwand von sieben Milli- kungen im Gesamtgewicht eines Kartof- arden Mark eingeführte felsacks auf einem 20-Tonner durch die Recyclingsymbol Grüner halbe Republik zum Verwerter nach Punkt: Wie eine Visiten- Süddeutschland gekarrt. „Wir verdie- karte macht das Signet im nen damit unser Geld“, so ein Stuttgar- Ausland die deutschen ter Wertstoffhändler, „aber bedeppert Müllexporte kenntlich – al- ist das schon.“ lerdings nicht in jedem Der Plastikkreislauf lohnt sich nur für Fall. Nicht nur Abfälle aus die Verwerter – dank hoher Subventio- deutschen Landen sind nen der Firma Duales System Deutsch- vielfach mit dem Grünen land (DSD), die den Grünen Punkt ver- Punkt gezeichnet, sondern marktet. Trotz Rezession wächst die auch Warenimporte aus Entsorgungsbranche, in die große Kon- der Bundesrepublik. Für zerne wie Veba, RWE oder Ruhrkohle die Entsorgung dieser Ver- drängen, unaufhaltsam. Die monatli- packungen jedoch sind chen Müllgebühren, befürchtet der nicht die Deutschen, son- Deutsche Städtetag, werden weiter Grüner-Punkt-Reste in Stuttgart dern die örtlichen Behör- „kräftig steigen“. „Ökologischer Sündenfall“ den zuständig. Y

DER SPIEGEL 23/1994 73 Werbeseite

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Lasergerät zur Tempomessung: „Sehr beliebt“

Verkehr rät“, sagt die Hamburger Polizeihaupt- kommissarin Kerstin Zaar, 32, „ist bei unseren Beamten sehr beliebt.“ Selbst Radfahrer wurden in Ham- Teurer burg schon probeweise gelasert. „Da langt die Lenkstange“, sagt ein Beam- ter. Die niedersächsische Wasser- Bannstrahl schutzpolizei benutzt die Geräte, um Motorboote zu erwischen, die auf Flüs- Mit Laserkanonen beschießt die sen und Kanälen in Raserei verfallen. Polizei Temposünder in verkehrsbe- Wer schneller als mit Tempo 12 (6,5 Knoten) durch den Mittellandkanal ruhigten Zonen. Autofahrer sind pflügt, kann den Führerschein los sein. der Technik hilflos ausgeliefert. Allerdings muß die Polizei das Boot stoppen. Wer einfach durchfährt, muß nach Gesetzeslage nicht zahlen. ie Damen und Herren mit den Die Faustregel gilt, anders als bei handlichen Kanonen stehen dis- Radarfallen, auch zu Lande. Denn D kret am Straßenrand. Mit Licht- beim Lasern gibt es keine Fotos als geschwindigkeit schießen sie auf Ver- Beweis. Immer zwei Beamte, davon ei- kehrsteilnehmer. In 0,3 Sekunden ist ner als Zeuge, erläutern das fällige alles vorbei. Die Trefferquote ist hoch. Bußgeld und demonstrieren Ungläubi- Mit punktgenauen Geschwindigkeits- gen auf dem Display der Kanone den messungen durch neuartige Lasergerä- gespeicherten Tempowert. Dieses te macht die Polizei jetzt auch in Tem- „belehrende Gespräch“ habe, sagt po-30-Zonen Jagd auf Temposünder. Kommissarin Zaar, einen hohen päd- Teuer wird es in den verkehrsberuhig- agogischen Nutzwert. Es werde gerade ten Wohngebieten nach dem derzeit vor Schulen oder Kindergärten „sehr gültigen Bußgeldkatalog schon bei gut angenommen“. Der Allgemeine Tempo 31,5, der gute Kilome- ter zuviel kostet 30 Mark (sie- Schnelle Mark he Grafik). Tempo 61 bringt einen Monat Führerscheinent- Nach dem Bußgeldkatalog werden innerorts bei zug, 3 Punkte im Flensburger Tempoüberschreitungen folgende Beträge fällig: Kraftfahrt-Bundesamt und ei- km/h Mark nen Bußgeldbescheid über 200 30 Mark. bis 10 30 Mit der Laserkanone will die 11 bis 15 50 Polizei bundesweit vor allem 16 bis 20 75 Autofahrer disziplinieren, die sich im täglichen Berufsver- 21 bis 25 100 kehr ihren Schleichweg durch 26 bis 30 120 die Tempo-30-Viertel suchen. 31 bis 40 200 Mark und 1 Monat Führerscheinentzug „Das kleine, handliche Ge-

DER SPIEGEL 23/1994 77 Werbeseite

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Deutsche Automobil-Club (ADAC) arbeitet bereits an Gegenmaßnahmen: Medien Die ADAC-Techniker prüfen derzeit, ob die neue Lasertechnologie, die auch nachts einsetzbar ist, nicht irgend- wo Schwachstellen hat. „Wir sind Hallo sehr distanziert“, sagt Rüdiger Linde, Leiter der Abteilung Verkehrstech- nik. Röllchen Die ADAC-Prüfer bezweifeln zum Beispiel, daß die Meßabstände korrekt Tageszeitungen bekommen Konkur- sind. Tatsächlich sind je nach Geräte- renz: Mit Bildschirminseraten typ 20 bis 100 Meter Mindestabstand zum gemessenen Fahrzeug erforder- drängt der Sender Sat 1 ins lukrati- lich. Die maximale Reichweite beträgt ve Kleinanzeigengeschäft. 400 Meter. Ein Laserstrahl, der auf ei- ne glatte Oberfläche treffen muß, wird mit der Lichtgeschwindigkeit von ie Katze ist entlaufen, und der 300 000 Kilometer die Stunde reflek- Lover ist fort. Ein neuer Job soll tiert. Aus der Zeitdifferenz durch die D her, und der alte Wagen muß weg. Bewegung des Objektes errechnet der Für solche allfälligen Alltagssorgen gab Computer der Kanone durch einen es seit jeher eine ebenso einfache wie ef- zweiten Laserschuß die Geschwindig- fektive Lösung – ein Inserat in der Zei- keit. tung. Getestet werden auf Deutschlands Straßen zur Zeit Laser mehre- rer Hersteller. Die Fir- ma Jenoptik (Ge- schäftsführer: Lothar Späth) liefert ein feld- stecherähnliches Gerät für 13 000 Mark. Ein Tempomesser der österreichischen Firma Riegl (Stückpreis: 20 000 Mark) bekam unlängst von der Phy- sikalisch-Technischen Bundesanstalt in Braunschweig (PTB) die Betriebserlaubnis. Schäden durch den Laserstrahl, der die Stärke eines CD-Ab- tastsignals hat, sind für Leib und Blech nach Expertenmeinung Sat-1-Anzeigentext: „Völlig neue Dimension“ nicht zu befürchten. „Die Technik selbst scheint kaum an- Kleinanzeigen sind das Brot jeder Ta- greifbar“, urteilt Linde – es sei denn, gespublikation; allein das Hamburger das Fahrzeug ist schneller als 250 Stun- Abendblatt, größte Abonnementzeitung denkilometer; dann versagt der La- der Hansestadt, druckte vergangenes ser. Jahr 43 000 An- und Verkaufsgesuche. Trotzdem stellen sich die ADAC-Ju- Nun gibt es elektronische Konkurrenz: risten schon auf eine „Flut von Prozes- Als erster TV-Sender drängt Sat 1 in sen“ (ADAC-Rechtsexperte Christian den lukrativen Markt. Böhler) ein. Gerichtsträchtiger Ansatz- Seit dem 30. März bieten die Privat- punkt könnten zum Beispiel die Ver- funker Annoncen über Videotext an, wechslung der Temposünder bei dich- unterteilt in die gängigen Rubriken. Die tem Verkehr oder „Verwacklungen“ Aussicht, im Idealfall 15 Millionen sein. Haushalte via Bildschirm zu erreichen, Ein Anti-Laser ist noch nicht erfun- ist verlockend – so viele Fernseher ge- den. Weder Warngeräte noch Radar- ben neben dem TV- auch das Textpro- wellen abweisende Oberflächen kön- gramm wieder. nen vor dem Bannstrahl schützen. Im Sat 1 prahlt mit „einer völlig neuen Gegenteil. Wer sich Stanniolstreifen Dimension des Kleinanzeigenmarktes“. ins Autofenster hängt, hilft der Polizei. Doch Aufbau und Inhalt der Inserate „Da kommt der Strahl“, sagt ein Be- bieten nichts Neues: „VW, 4-Türer etc. amter, „um so besser zurück.“ Y abzugeben“, „Herzliche Glückwünsche

80 DER SPIEGEL 23/1994 für Murkel aus Halle“ oder humorige Grüße: „Hallo Röllchen!“ Als Stellen- anzeigen locken bislang noch vorwie- gend dubiose Karriere-Sonderangebote wie „Profis und Neueinsteiger im Multi Level Marketing gesucht“. Neu ist einzig die vollautomatische Anzeigenerfassung und die Reichweite der Kleinanzeigen. Der personelle Auf- wand für „Sat 1 Text“ ist gering. Sven Hoppvogel, zuständig für die gelb- schwarze Anzeigenwüste, kommt mit sechs Mitarbeitern aus. Inseriert wird im „interaktiven Dia- log“ per Telefon. Nach Anwählen der Sat-1-Anzeigenannahme muß für jeden Buchstaben des Textes eine Ziffernfolge eingetippt werden (A = 10, B = 11, und so weiter). Die Angaben werden auto- matisch erfaßt, entschlüsselt und dem Inserenten noch während der Eingabe auf den heimischen Bildschirm zurück- gespielt, damit er Eingabefehler oder mangelhafte Formulierungen ändern kann. Um zu verhindern, daß überaktive Teilnehmer Schweinkram verbreiten, wird jeder Text kontrolliert. Ist trotz Rücksprache mit dem Inserenten eine Klärung nicht möglich, behält sich der Sender vor, die Anzeige abzulehnen. Genehmigt sind Inserate aus der Welt des Unterleibs wie „Er, blond, ver- wöhnt charmante Dame“. Bezahlt wird per Kreditkarte oder Lastschriftverfahren, die Offerten blei- ben täglich von 6 bis 24 Uhr eine Woche im Videotext stehen. Sechs Zeilen a`37

Anzeigenleiter Hoppvogel Gelbschwarze Wüste

Zeichen, das Normalformat, kosten 50 Mark – Preise, die in etwa denen aufla- genstarker Blätter wie der Westdeut- schen Allgemeinen Zeitung oder der Frankfurter Rundschau entsprechen. Dafür erreichen die Sat-1-Text-Annon- cen jedoch täglich bis zu 1,43 Millionen Zuschauer. Das Studium der Annoncen ist aller- dings noch zeitraubend. Jede der 28 Ru- Werbeseite

Werbeseite DEUTSCHLAND briken gliedert sich in bis zu 20 Seiten, Schinzels Abgeordnetenpaß beein- und ein Blättern in diesem Wust mit- Abgeordnete druckte die Beamten nicht: Der Volks- tels Fernbedienung ist nicht möglich. vertreter war bei einem Falschgeldhan- Interessenten müssen stets den Umweg del erwischt worden, da nutzte ihm auch über den erneuten Programmstart ge- seine Immunität nichts. hen – ein Geduldspiel. Goldene Die Polizei stellte einen schwarzen Bislang hat Sat 1 die Kapazität auf Aktenkoffer mit gefälschten Schweizer jährlich 40 000 bis 60 000 Annoncen Franken im Nennwert von rund 5 Mil- begrenzt. Technisch wäre ein dreimal Krokodile lionen und 20 echten 1000-Franken- so hohes Aufkommen möglich. Der Scheinen sicher. Schinzels Verteidi- schwedische Sender TV 4 bringt bei- Ein Europa-Parlamentarier bringt gung, er habe von nichts gewußt und sei spielsweise schon 270 000 Inserate pro die SPD kurz vor der Wahl in von einem normalen „Geschäft mit Jahr. Kursgewinn“ ausgegangen, glaubte der Produziert wird Sat 1 Text vom Axel Verlegenheit. Er wurde beim Han- Untersuchungsrichter nicht. Er erließ Springer Verlag, der an dem Sender del mit Falschgeld ertappt. Haftbefehl. Für die Ermittlungsbehör- mit 20 Prozent beteiligt ist. Doch eine den ist der Abgeordnete aus Aachen, Interessenkollision mit dem Anzeigen- seit 15 Jahren für seine Partei in Straß- geschäft der Springerschen Drucker- er Mann hätte Modell stehen burg, „eindeutig der Haupttäter“. zeugnisse, vor allem der Regionalzei- können: groß, schlank, grau- So endete die Karriere eines Mannes tungen, mag Hoppvogel „nicht erken- Dmeliert und stets in feines Tuch mit vielen schillernden Seiten. nen“. gehüllt. Schinzel, der in der nordrhein-westfä- Auch Rüdiger Kruppa, stellvertre- Ein Kerl wie gemacht für die Europa- lischen SPD einen schnellen Aufstieg tender Anzeigenleiter der Hamburger wahl-Kampagne der Sozialdemokraten. absolvierte und mit 30 bereits in den Morgenpost, der Boulevardkonkurrenz Die plakatieren bundesweit ein großflä- Bundestag einrückte, wuchs in Sardi- zu Springers Bild, sieht der nien auf, was ihm unter Freunden den neuen Entwicklung gefaßt ent- Kosenamen „Angelo“ eintrug. Sein gegen und behauptet sogar, Bruder ist der zeitweise erfolgreiche „noch nie in Kleinanzeigenvi- Schlagersänger Christian Anders („Es deotext reingeschaut“ zu ha- fährt ein Zug nach Nirgendwo“), der ben. Noch sei die Tageszeitung, heute als selbsternannter Guru in Kali- bei der Leser das Anzeigen- fornien wirkt. Augenpulver schneller durch- In den achtziger Jahren baute der forsten und interessante An- quirlige Genosse, den Parteifreunde als noncen markieren können, brillanten Redner rühmen, exzellente „deutlich bedienerfreundli- Verbindungen zu den Botschaften und cher“ als das neue System. Ge- Regierungen vieler arabischer Staaten fahr drohe erst, so Kruppa, „in auf. Selbst Willy Brandt profitierte von zehn Jahren“. den Nahost-Kontakten des Diplomphy- Die aktuellen Zahlen, sagt Stefan Wiesmann vom Bonner Bundesverband Deutscher An- zeigenblätter, bestätigten die klassischen Annoncenblätter, die für 1993 ein Umsatzplus von insgesamt 7,7 Prozent mel- deten, in den neuen Bundeslän- dern sogar von 22,1 Prozent. Solche Medien, glaubt Jürgen Kalhöfer vom dickleibigen Hamburger Kleinanzeiger Avis, seien „derzeit nicht zu er- setzen“. Abgeordneter Schinzel bei der Festnahme Doch die Sat-1-Offensive ist Falsche Franken im Aktenkoffer lediglich Ouvertüre zum gro- ßen Shopping vom Fernsehsessel aus. chiges Foto: ein Mann im dunklen An- Wenn sich die neue Kommunikations- zug, die Hände mit Handschellen auf technik bewährt, will der Sender mit dem Rücken gefesselt. Darunter der verbesserter Technik die nächste Runde Text: „Die Mafia in Europa zerschla- einleiten, denn die Kapazitäten von Vi- gen! Sicherheit statt Angst. SPD“. deotext sind begrenzt. Doch der elegante Genosse Dieter In Zukunft soll der Kunde unmittel- Schinzel, 51, ist kein Werbegag, son- bar an große Datenbanken, etwa den dern sozialdemokratische Realität: Am bundesweiten Immobilien- oder Ge- Freitag nachmittag vorletzter Woche brauchtwagenmarkt, andocken und auf schlossen sich im Hotelrestaurant „Zur ein konkurrenzlos umfangreiches Ange- Post“ in Aschaffenburg Handschellen bot zugreifen können. um die Gelenke des langjährigen Euro- Langfristig, da ist Hoppvogel sicher, pa-Abgeordneten der SPD. Ein Trupp werden sich die Printmedien über die des Mobilen Einsatzkommandos Möglichkeiten von Videotext-Anzeigen (MEK) Bayern hatte die Gaststätte ge- Schinzel (r.), Bruder Christian Anders „noch gewaltig wundern“. Y stürmt. Zug nach Nirgendwo

DER SPIEGEL 23/1994 83 DEUTSCHLAND sikers. Schinzel fädelte den letzten gro- ßen politischen Triumph des SPD-Eh- renvorsitzenden ein: die Freilassung der deutschen Geiseln im Irak vor knapp vier Jahren. Privat ruinierten ein aufwendiger Le- bensstil und mißglückte Immobilienspe- kulationen den Sozialdemokraten. Das Einkommen (16 344 Mark monatlich) und die vielfältigen Privilegien eines Europa-Abgeordneten reichten nicht. Kenner schätzen Schinzels Schulden auf rund acht Millionen Mark. Bonität und Seriosität des Parlamen- tariers litten auch unter seiner Spiellei- denschaft. In seiner Partei galt Schinzel als „Zocker“, dem es schwerfiel, einen Bogen um Kasinos zu machen. In der niederländischen Spielbank Valkenburg soll Schinzel nach Zeugenaussagen an einem Abend mehrere zehntausend Mark verloren haben. Mit Charme und dem Hinweis auf sei- ne Arabien-Kontakte schwatzte er Be- kannten und Geschäftsleuten sechs- bis siebenstellige Summen ab. Weil viel Schwarzgeld im Spiel gewesen sein soll, hielten die Gläubiger still. Beim Amtsgericht Aachen waren Schinzels Probleme bekannt: Einen Ter- min zum Offenbarungseid im vergange- nen August ließ der Parlamentarier im letzten Moment platzen. Auf der ständigen Jagd nach Geld kam der Politiker auf skurrile Ideen. Dem Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, bot er an, ihm die Erlaubnis zur Hebung ei- nes sagenhaften jüdischen Schatzes in Das Falschgeld boten Komplizen einem verdeckten Ermittler an

Jordanien zu verschaffen. Doch der Ge- schäftsmann ließ sich nicht einmal durch Krokodile aus purem Gold locken, die angeblich in der Wüste vergraben lagen. Vor einem Jahr brüstete sich Schinzel mit einem Auftrag der kuweitischen Re- gierung: Er sei als Vermittler in die Frei- lassung kuweitischer Kriegsgefangener im Irak eingeschaltet. Daß er für seine Bemühungen mit ei- nem Prozent der Freikaufsumme von 600 Millionen Dollar entlohnt werde, dementierte Schinzel großspurig: „Das ist nicht einmal ein Bruchteil.“ Die Ku- weiter allerdings wußten nichts von dem Geschäft. In höchster Geldnot versuchte der Parlamentarier jetzt, nach den Erkennt- nissen der Ermittler, einen billigen Trick, der in Unterweltkreisen seit lan- gem im Schwange ist. In der Bundesrepublik dürfen Geld- scheine jeder Art nur mit Genehmigung der Bundesbank gedruckt werden. In Ländern wie Holland oder Italien kann sich dagegen jeder mit einer simplen Genehmigung der Ordnungsbehörden Geld in allen Währungen nachmachen lassen. Die Noten müssen lediglich den deutlichen Hinweis „Specimen“ (Mu- ster) tragen. Solche Muster werden als Werbegeschenke, Scherzartikel oder auch als Gutscheine für Restaurants ge- handelt. Gauner, die nicht über die Mittel oder die Geduld verfügen, um sich professio- nell nachgemachte Blüten zu beschaf- fen, lassen mit Vorliebe bei Muster-Ex- perten arbeiten. Die Kennzeichnung „Specimen“ wird auf die Mitte des Geldscheins gedruckt. Verziert mit ein paar echten Noten und einer Banderole, täuschen die Bündel beim schnellen Durchblättern zumindest Amateure. Ihre Kunden ködern die Anbieter mit dem Hinweis, es handle sich um Mafia- Geld, das gewaschen werden müsse. Deshalb koste es auch weit weniger, als es wert sei. Nach dieser Anleitung soll auch Die- ter Schinzel, so die Ermittler, das Ge- schäft von Aschaffenburg eingefädelt haben: Der Abgeordnete habe sich die Falsifikate vermutlich in Holland be- sorgt und Kontakt zu Mittelsmännern aufgenommen, unter anderen zu zwei Polen und drei Männern aus dem ehe- maligen Jugoslawien, die zusammen mit Schinzel verhaftet wurden. Die Kontaktleute boten die Millionen Schweizer Franken in der Szene zum Kauf an. Nachdem mehrere Treffen ab- gesagt worden waren, entschied sich der multikulturelle Falschgeldtrupp schließ- lich für einen Kunden in Aschaffenburg. Ihr Pech: Der Mann war ein verdeckter Ermittler der bayerischen Polizei. Die Genossen haben das böse Ende seit langem geahnt. In Vier-Augen-Ge- sprächen wurde Schinzel immer wieder eindringlich zu seinen Vermögensver- hältnissen befragt. „Schinzel“, so einer aus der Führung der NRW-SPD, „hat immer beteuert, es handele sich um Ge- rüchte politisch interessierter Kreise.“ Die Partei ging auf Distanz. Im ver- gangenen Jahr verlor Schinzel seinen Posten als stellvertretender Vorsitzen- der des SPD-Bezirks Mittelrhein und wurde als Kandidat für die Europawahl am kommenden Sonntag nicht mehr aufgestellt. Für die Zeit ohne Amt und Würden hatte der quicke Genosse bereits große Pläne. Mit einer Consulting-Gesell- schaft wollte er sich selbständig machen. Spezialgebiet: Nahost. Daraus wird wahrscheinlich erst ein- mal nichts: In Deutschland gilt auch der Verkauf von gekennzeichneten Blüten als Falschgeldhandel nach Paragraph 146 Strafgesetzbuch. Darauf stehen im Normalfall mindestens zwei Jahre Knast. Y Werbeseite

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schlag. In der Bundesanstalt Flugzeuge tig. Allerdings muß erst noch die Ge- für Arbeit wird unterdessen werkschaft zustimmen: Die City-Line-Pi- über Sanktionen für Baufir- loten dürfen nur Maschinen mit bis zu 70 men nachgedacht, die entge- Niederlage für Fokker Sitzen fliegen. Mit dieser Klausel sollen gen vertraglicher Abmachun- Der deutsch-niederländische Flugzeugher- die Arbeitsplätze der besser bezahlten gen Billigarbeiter beschäfti- steller Fokker hat den Kampf um einen Lufthansa-Piloten gesichert werden. Für gen. Möglicherweise werden lukrativen Auftrag der Lufthansa City Fokker ist der Mißerfolg bei der City solche Firmen künftig von öf- Line verloren. Die Dasa-Tochter wollte Line besonders schmerzlich. Die finan- fentlichen Ausschreibungen bis zu 15 Maschinen des Typs Fokker 70 ziell angeschlagene Firma zog auch bei ei- ausgeschlossen. liefern. Doch die Lufthansa-Manager ent- nem Großauftrag über 25 Flugzeuge bei schieden sich für den vierstrahligen Bri- Air Canada den kürzeren. Die Kanadier Computerindustrie tish-Aerospace-Jet Avro RJ 85, den bestellten statt der Fokker 100 den Air- Branchenkenner „Jumbolino“ nennen. bus A 319. Immer mehr British Aerospace bot den Deut- schen traumhafte Konditionen. Arbeitslose Die monatliche Leasing-Rate Ausgerechnet in der Wachs- liegt um 20 000 Dollar unter der tumsbranche der elektroni- für eine Fokker 70. Überdies schen Datenverarbeitung kann die Lufthansa die schwer wächst die Arbeitslosigkeit verkäuflichen Maschinen sofort am schnellsten. In den bei- bekommen. Die Briten, die für den vergangenen Jahren stieg den Regionalflugzeugbau einen die Zahl der Arbeitslosen um Partner suchen, haben genügend 50 Prozent und damit stärker Exemplare des 80-Sitzers vorrä- BA-Jet Jumbolino als in allen anderen Berufen. Das ergab eine Sondererhe- bung der Bundesanstalt für Telekom kann“. Am Rande des Tref- RWE-Tochter hat beim Bau Arbeit. Insgesamt registrier- fens wird die Schweizer Fir- eines neuen Dortmunder Ar- te die Nürnberger Behörde Geschädigte ma Swissphone erstmals ei- beitsamtes rund 50 portugie- fast 17 500 arbeitslose Com- nen Telefonrecorder demon- sische Bauarbeiter eingesetzt puterfachleute in West- mucken auf strieren, der sämtliche von – für fünf bis acht Mark pro deutschland, das sind 6000 Falsche und kraß überhöh- einem Telefon abgehenden Stunde. Dabei hatte die te Telefonrechnungen sind Gespräche registriert und be- Arbeitsverwaltung von Wegrationalisiert nicht etwa ein Einzelfall, wie rechnet. Der Erfinder des Hochtief die Zusage ver- es die Telekom immer wieder Geräts, das im Juli auf den langt, fremde Kräfte nur Arbeitslose EDV-Fachleute; behauptet. „Um die Brisanz Markt kommt, hofft auf ein mit ausdrücklicher Ge- Angaben in tausend des Problems deutlich zu ma- großes Geschäft. Jahr für nehmigung des Bauherrn 20 INSGESAMT chen“, hat der Essener Gün- Jahr beschweren sich mehr einzusetzen. Ursprüng- 20 ter Leppelt ein bundesweites als 400 000 Kunden über fal- lich hatte Hochtief ange- 15 15 10 Treffen der Telekom-Ge- sche Telefonrechnungen. boten, den Preis um 5 0 schädigten organisiert, das 500 000 Mark nachzulas- 1975 80 85 90 93 am 18. Juni in Essen stattfin- Bau sen, falls billige Osteuro- 10 den soll. Mit mehr als tau- päer eingesetzt werden send Betroffenen, die Rech- Streit um dürften. Das Arbeitsamt 5 MÄNNER nungen bis zu 240 000 Mark lehnte ab. Doch Anfang Billigarbeiter FRAUEN bezahlen sollten, will der Februar entdeckten Kon- 0 rührige Frührentner diskutie- Die Essener Baufirma Hoch- trolleure Billigarbeiter 1975 80 85 90 93 ren, „wie man dem Giganten tief hat Ärger mit der Bun- aus Portugal und wiesen Telekom auf den Leib rücken desanstalt für Arbeit. Die sie von der Baustelle. Bei Quelle: Bundesanstalt für Arbeit einem zweiten Kontroll- gang fanden sie den Trupp mehr als im Jahr zuvor. In wieder vor: als Beschäftigte Ostdeutschland sind weitere einer eigens gegründeten 6700 Computerfachleute auf portugiesischen Tochterfirma Jobsuche. Mit einer Arbeits- der Hochtief-Tochter Streif. losenquote von 6,6 Prozent Aus Mangel an geeigneten liegt die EDV-Branche in Bauarbeitern könne der Bau den alten Bundesländern ohne die Portugiesen nicht aber immer noch besser fristgerecht fertiggestellt wer- als andere Berufe (Durch- den, teilte die Firma Hoch- schnitt: 9 Prozent). Als tief dem düpierten Bauher- Hauptgrund für den starken ren mit, zur Bezahlung nach Anstieg sehen Experten den deutschem Tarif sei sie von härteren Wettbewerb. Die Rechts wegen nicht verpflich- einst üppigen Gewinne von tet. Am Dienstag dieser Wo- Soft- und Hardware-Herstel- che erwartet die Arbeitsver- lern werden immer dünner waltung vom Hochtief-Vor- und zwingen viele Firmen, Telekom-Vermittlungsstelle stand einen Einigungsvor- Personal abzubauen.

DER SPIEGEL 23/1994 87 WIRTSCHAFT

Ärzte ÜBERALL ILLEGALE GEWINNE Der Herzklappenskandal ist keine Ausnahme: Im deutschen Gesundheitswesen profitieren Industrie und Ärzte von einem für beide Seiten einträglichen Kartell. Ob direkte Zuwendungen in die Kasse der Ärzte oder groß- zügige Spenden für Forschung und Dienstreisen: Der Dumme ist immer der Beitragszahler der Krankenkassen.

ie Hochfrequenz-Ablation ist eine burger Professor habe „eine Woche der Spezialitäten des Hamburger Freizeit geopfert und bis zur physischen DProfessors Karl-Heinz Kuck. Mit Erschöpfung“ dort operiert. 150 chinesi- einem Katheter dringt der berühmte sche Mediziner hätten die Hochfre- Mediziner via Bauchschlagader bis ins quenz-Ablationen begeistert am Bild- Herz vor. Mit der Elektrosonde ist er in schirm verfolgt, „eine großartige Sa- der Lage, zusätzliche Erregungszentren che“. im Pumpmuskel auszuschalten, die zu Großartig, in der Tat, für alle Betei- lebensgefährlichen Herzrhythmusstö- ligten: Die Chinesen haben gelernt, der rungen führen können. Professor zumindest seinen Ruhm im Die nötige Ausrüstung liefert zu wich- Eliteklub der Weltmediziner gemehrt, tigen Teilen der Ingenieur Peter Osyp- die Firma einen neuen Markt erschlos- ka. Seine Firmen, die Gesellschaft für sen. Na und? Medizintechnik mbH und die Gesell- So läuft es eben im medizinisch-indu- schaft für Medizinelektronik mbH, sind striellen Komplex: Symbiotisch vereini- im badischen Grenzach-Wyhlen ange- gen sich die Interessen von Industrie siedelt, kleinere Produktionsanlagen in und Heilgewerbe – Geben und Nehmen Berlin, Malta und in den USA. zum beiderseitigen Vorteil. Osypka hilft auch sonst: Drängt es „Ich gebe viele Spenden“, brüstet sich den Hamburger Uni-Professor zu Vor- Medizinausrüster Osypka. Und für die trägen in die weite Welt, nach Chicago Krankenhäuser, die genügend bei ihm vielleicht, übernimmt der Ausrüster ordern, gibt es am Jahresende einen

Starke Mannschaft Zahl der Ärzte, Apotheker und Krankenhausbetten in Westdeutschland; Angaben in Tausend

ÄRZTE APOTHEKER BETTEN Kammerangehörige 37,1 729,8 insgesamt 268,6 35,1 242,6 31,1 707,7 27,7 24,7 199,1 683,3 686,0 20,4 674,7 164,1 667,2 130,2 104,0 ARZNEI- MiITTEL Herzoperation: Preisbrecher tun

vergangenen Woche melde- 1970 75 80 85 90 93 1970 75 80 85 90 93 1970 75 80 85 90 92 ten sich viele Betroffene. Oh- ne Schmiermittel auf Klinik- schon mal die Kosten. Im Gegenzug „fünfprozentigen Naturalrabatt“, falls und Ärztekonten, so der einhellige Te- demonstriert der Spitzenoperateur gewünscht, auch „in bar einzulösen“. nor der Anrufe und Zuschriften, laufe Osypkas Technik, etwa – im Herbst An Liquidem mangelt es dem gewief- kaum etwas bei den Medikalprodukten. 1992 – in China. „Genau“ kann sich ten Geschäftsmann nicht. Denn er ver- Aber fast alle Hinweise waren entwe- der Operateur zwar „nicht erinnern, langt, behauptet jedenfalls ein früherer der anonym oder mit der Bitte verse- wer das bezahlt hat“, aber es könne Partner, „Wahnsinnspreise“. Kuck be- hen, keine Namen zu veröffentlichen. schon die Firma aus Grenzach-Wyhlen stellt, Osypka liefert, die Kassen zahlen. „Wir wären sofort pleite“, so ein Liefe- gewesen sein. „Ich arbeite ja mit deren Daß aber einer so frank und frei über rant von Beatmungsgeräten, „wenn wir Schläuchen.“ die Usancen der Branche plaudert wie offen aufträten.“ „Na und“, sagt Osypka. „Flug und der Ingenieur Osypka ist eher die Aus- Kein Wunder, daß die Spitzenfunk- Übernachtung“ habe er „für eine Ent- nahme. Nach dem SPIEGEL-Bericht tionäre der Gesetzlichen Krankenkas- wicklungshilfereise“ bezahlt: Der Ham- über den Herzklappenskandal in der sen in Verlegenheit waren, als sie am

88 DER SPIEGEL 23/1994 Mittwoch vergangener Woche dem Ge- in den lukrativen Markt zu kommen su- Mit derselben Energie, die sie bei sundheitsausschuß des Bundestages Be- chen. den Herzklappen an den Tag legten, lege über Korruption an deutschen So wundert sich Joachim Gaede, Ge- könnten die Kassen den kompletten Herzzentren präsentieren sollten: Auch schäftsführer eines mit Entwicklung und medizinisch-industriellen Komplex ihre Informanten aus Industrie und Me- Produktion von nuklearmedizinischen durchleuchten. Denn, so Berlins kriti- dizin wollen anonym bleiben, weil sie Geräten beschäftigten Freiburger Un- scher Ärztekammerpräsident, Ellis Hu- andernfalls um ihre berufliche Existenz ternehmens, „schon seit Jahren“, war- ber, „überall, wo zur Behandlung fürchten müssen. um seine Firma trotz „günstiger Preise“ von Patienten High-Tech und Hilfs- Immerhin zwölf Fälle konnten die insbesondere „bei öffentlichen Aus- mittel eingesetzt werden, von der Kassen belegen: Mit Aktien und Lust- schreibungen von Kliniken nie zum Zu- Einmalspritze bis zum Verbandsmateri- reisen, Autos und Rabatten hatte die In- ge“ komme. al, vom Röntgenkontrastmittel bis zur dustrie deutsche Herzchirurgen ge- Als Grund vermutet Gaede in einem Pille, werden illegale Gewinne ge- schmiert. Die Namen der Betroffenen Brief an den SPIEGEL, „daß wir nicht macht“. blieben geschwärzt. Daß bei Rückver- nach der alten Mechanikerregel ,Was Aber in der Vergangenheit haben gütungen von 1000 Mark und mehr die laufen soll, muß geschmiert werden‘ ar- die Verwalter der Beitragsmilliarden Preise stark überhöht sein müssen, ist beiten“. sich für effektive Kostenkontrolle und günstige Preise nicht sonderlich inter- essiert. Auch die Kassen sind schließ- lich Teil des Gesundheitssystems mit seiner perversen Logik: Je höher die Ausgaben, desto mehr fällt für alle Be- teiligten ab. Die Prunkbauten in teu- ren Innenstadtlagen müssen ebenso fi- nanziert werden wie die 20 000-Mark- Monatsgehälter mancher Geschäftsfüh- rer. Und der Moloch Gesundheitswesen verschlingt jährlich mehr – allen Refor- mern, von Norbert Blüm bis Horst Seehofer, zum Trotz. Um über fünf Prozent je Mitglied stiegen die Ausgaben der Kassen seit dem Frühjahr vorigen Jahres, um über

Mehr für die Gesundheit in Monatliche Abzüge der Mark Krankenversicherung von einem Durchschnittsverdienst 1993 269,3 600 KRANKEN- KASSEN- 1990 220,6 BEITRÄGE 500

400 1985 174,0 1970 = 100

300 1980 141,0 INFLATIONS- RATE 200 1975 96,0

100 sich schwer im Netzwerk der Profiteure 1970 47,3 0 allerdings klar. Doch weil Zeugen zit- Möglicherweise hän- 1970 75 80 85 90 93 tern und Staatsanwälte trödeln, bleibt gen dem Diplomphysi- die Praxis, die jeder Insider kennt, amt- ker aber auch noch al- lich weiter „ohne konkrete Beweise“, te Verstöße gegen den Comment an. 15 Prozent seit Anfang 1991. Fast be- wie Ärzte-Funktionär Karsten Vilmar Schon 1980 hatte Gaede, damals Be- scheiden langten dabei noch die Ärzte vorige Woche jubelte. schäftigter der Freiburger Uni-Klinik, in zu. Steil nach oben trieben die Ausga- Ob das Kartellamt, das jetzt die Preis- einem Leserbrief an die Badische Zei- ben für Heil- und Hilfsmittel die Kosten gestaltung der Herzklappen prüfen will, tung das blühende Bakschischsystem an- und, stärker noch, für Kuren und Kran- erfolgreicher ermitteln kann, ist frag- geprangert: Es sei „überhaupt nicht im kentransporte. lich. Im Klappen-Geschäft herrscht, was Sinne mancher Professoren, preisgün- Die Gesundheitspolitiker, Seehofer in der gesamten Medizinbranche Usus stig einzukaufen“ – schließlich finanzier- immerhin erfolgreicher als seine Vor- ist: Schweigen. ten die Firmen über ihre „überhöhten gänger, konnten den ehernen Preistrend Mit ihrem Klarnamen treten allenfalls Preise Kongreßreisen, Betriebsausflüge, gelegentlich bremsen, aber bislang nicht diejenigen auf, die im Konkurrenz- Essen und zum Teil auch private Zu- nachhaltig verändern. Die Gesetze des kampf Probleme haben oder vergeblich wendungen“. medizinischen Geldvernichtungssystems

DER SPIEGEL 23/1994 89 WIRTSCHAFT

sundheitswesens besteht an kostengün- stigen Angeboten kein Interesse“, so Geschäftsführer Harald Hoffer. Das System funktioniert. Die Chefs der Herzzentren erweitern lieber ihre ei- genen Kapazitäten. Mancher schneidet und liquidiert auch selbst gern an den lu- krativen OP-Tischen der Nachbarlän- der, während daheim ihre Oberärzte das Programm abarbeiten. Eine grundlegende Reform ist längst überfällig, das weiß auch Horst Seeho- fer. „Mehr Transparenz“ will er schaf- fen, „mehr Einsatz von Datenverarbei- tung bei der Abrechnung von Leistun- gen“. Statt der Vergütung jedes ärztli- chen Handgriffs will Seehofer Pauschal- honorare einführen, die ein wirtschaftli-

Nicht kuriert Leistungsausgaben der Krankenkassen je Mitglied Zuwachsraten 1. Quartal 1994 gegenüber 1. Quartal 1991

Kuren + 38,65 % Reformer Seehofer, Funktionär Vilmar: Die Kunden haben nichts zu sagen blieben intakt. So kostet auch künftig triebssause für das Schwesternper- jeder neue Kassenarzt die Krankenkas- sonal wie die Karosse für den Heil- und Hilfsmittel + 26,81 % sen erfahrungsgemäß gut eine Million Oberarzt. Mark im Jahr an Honorar und Ver- Preisbrecher tun sich schwer im ordnungen. In den letzten zehn Jah- Netzwerk der Profiteure, wie das ren stieg die Zahl der Ärzte in Praxen Beispiel Herzchirurgie zeigt. Krankenhausbehandlung + 20,06 % und Krankenhäusern um rund 46 Pro- Rund 5000 Patienten werden jähr- zent. lich im europäischen Ausland am In den Kliniken gibt es jetzt schon offenen Herzen operiert. Das Ärztliche Behandlung + 15,06 % mehr Personal als Patienten: Mehr als bringt für überweisende Kardiolo- eine Million Vollerwerbskräfte versor- gen schöne Extrahonorare und ist gen die durchschnittlich 530 000 Kran- für Privatkliniken zwischen Genf ken. Und obwohl die Hospitäler jähr- und Kopenhagen, Wien und Lon- Chirurgische Behandlung + 10,01 % lich mehr von ihren Trägern – Stadt, don ein blendendes Geschäft. Land, Kirche – und von den Kassen Die deutschen Kassen zahlen abgreifen, wird das Geld immer knap- drauf. „In einer Schweizer Klinik Zahnersatz + 0,28 % per. kostet ein aortokoronarer Bypass „Drittmittel“, die Zuwendungen der 39 000 Franken, wir kriegen dafür Industrie für den Krankenhausbetrieb, 17 700 Mark“, sagt der Bad Nau- sind längst unverzichtbar geworden – heimer Herzchirurg Wolf-Peter Arzneimittel – 8,78 % nicht zuletzt auch vor dem Hinter- Klövekorn. grund gekappter Staatsmittel für For- An einer Änderung des profita- schung und Fortbildung. blen Patiententourismus hat offen- Wieder greift ein Rädchen ins ande- bar niemand Interesse. In Deutschland ches Verhalten der Krankheitsbekämp- re. Aus ihren „immensen Gewinnspan- willseitanderthalbJahren dieHolaKran- fer honorieren. nen“ (ein Herzklappenhändler) sub- kenhausbetriebsgesellschaft mbH ko- Das ist sinnvoll, gewiß, aber die Logik ventionieren Hersteller und Vertreiber stengünstige Kapazitäten aufbauen. In des Systems bleibt unverändert: Die den Medizinbetrieb und pflegen so die Kooperation mit bestehenden Großklini- Anbieter von Leistungen definieren, di- Abnehmer ihrer Produkte. Die Ge- ken wollen die Investoren Spezialeinhei- rekt oder mittelbar, die Nachfrage, die samtkosten des eingefahrenen Gebens ten für Eingriffe mit der Herz-Lungen- Kunden haben auch im transparenteren und Nehmens tragen die Beitragszahler Maschine – Operationstrakt, Intensiv- System nichts zu sagen. Die Normalität der Kassen. und Normalstation – errichten. des Gesundheitssystems ist das Pro- Obwohl ihre gesetzlich fixierte Auf- AlsGesamtpreis fürOperationinklusi- blem, nicht der kriminelle Einzelfall. gabe allein die Bezahlung der Krank- ve aller Implantate und 10tägigem Auf- Wie sich die Verschmelzung von Heil- heitskosten aus dem Beitragsaufkom- enthalt kalkuliert die Hola 22 000 bis gewerbe und Medizinindustrie optimie- men ist, finanzieren die Kassen so indi- 24 000 Mark gegenüber 30 000 bis 35 000 ren läßt, zeigt der Erlanger Professor rekt über die zu erstattenden Produkt- Mark an den bestehenden Herzzentren. Max Schaldach, Leiter des Zentralinsti- preise auch vieles andere: den Studien- Doch bisher ging niemand auf das Ange- tuts für Biomedizinische Technik der aufenthalt eines Assistenzarztes in bot ein. Von einem AOK-Funktionär fränkischen Uni-Klinik. Zugleich ist der Amerika wie den Kongreßtourismus wurde die Hola telefonisch sogar belehrt, staatlich bestellte Wissenschaftler Ge- der Professoren und Doktoren, die Be- im „planwirtschaftlichen System des Ge- schäftsführer der 1964 gegründeten Fir-

90 DER SPIEGEL 23/1994 ma „Biotronik Mess- und Therapiegerä- Mitte der achtziger Jahre reichte das Fast 500 Arbeitskräfte sind für den te GmbH“ Berlin. 1969 kam das eben- dem umtriebigen Hochschullehrer nicht Unternehmer-Professor inzwischen in falls von ihm geleitete Ingenieurbüro mehr. Er machte sich in der Produktion mehreren Niederlassungen tätig. Zu sei- „Biotronik“ in Berlin dazu. vom Partner ITT unabhängiger: Seine nen Kunden gehört auch die Erlanger Die Biotroniker komplettierten zum Micro-Systems-Engineering GmbH & Uni-Klinik: Für 120 000 Mark im Jahr, Beispiel ITT-Elektronik zu Herzschritt- Co KG in Berg bei Hof produziert und ohne Mehrwertsteuer, liefert Schal- machern. Der Erlanger Professor liefer- vertreibt seither, so der eingetragene dachs Firma Schrittmacher und Elektro- te die Verfahren, ITT produzierte, die Geschäftszweck, „elektronische Bauele- den. Firma des Professors baute das Gehäu- mente und Baugruppen, Halbleiter und Der Kanzler der Uni, Thomas se, wie sich ein ITT-Ingenieur erinnert, Software für Medizin-, Klima- und Mili- Schöck, hat vom geschäftlichen Treiben und verkaufte die Ware an Krankenhäu- tärtechnik“. Umsatz 1992: 15 Millionen des Kollegen Professors bislang „nur ge- ser im In- und Ausland. Mark. rüchteweise gehört“. „Lizenz zum Gelddrucken“ Die „Nebeneinnahmen“ der zumeist öffentlich besoldeten Chefärzte vervielfachen deren Gehalt. An Universitäten verdienen Klinikdirektoren häufig eine Million Mark nebenbei. Talentierte Mediziner erwirtschaften Nebeneinkünfte von zehn Millionen Mark pro Jahr, ganz legal. Dagegen sind Bestechungsgelder nur Peanuts.

Die Heilkunst ist eine der erhabensten und seit alters her einer aus Neid und Den römischen Medici reichten seiner- göttlichsten, indem ihre Ausübung durchaus Hochachtung erwachsenen Bewunde- zeit das Uringlas und ein Spatel als Hand- Selbstverläugnung und Erhebung des Gemüths über die gemeinen Rücksichten des Lebens er- rung. werkszeug. Die Harnschau ernährt noch fordert, und darin übt. Wer als Arzt arm bleibt, der muß mit immer ihren Mann. An das große Geld Christoph Wilhelm Hufeland, Arzt dem Schlimmsten rechnen: „Anargy- kommt der Mediziner heutzutage aber (1762 bis 1836) roi“, die Silberlosen, nannten die Kolle- nur, wenn er seinen Beruf als Gewerbe gen zu Zeiten des römischen Kaisers organisiert, am besten mit viel techni- igentlich, so haben die Mediziner in Diokletian die beiden Barfußärzte Kos- schem Gerät. Paragraph 1 ihrer Berufsordnung mas und Damian, die ihre Patienten er- Nicht so sehr die Chirurgen – auch Efestgeschrieben, ist der „ärztliche folgreich, aber gratis versorgten. Neidi- nicht solche Messerhelden, die für Herz- Beruf kein Gewerbe“. Er sei vielmehr sche Mediziner sorgten für einen Prozeß klappen, künstliche Gelenke oder sogar „seiner Natur nach ein freier Beruf“. samt Feuerfolter und Enthauptung. Fäden illegal abkassieren – sind ärztliche Andererseits erfreuen sich besonders Später sprach man die Märtyrer hei- Großverdiener, sondern Mediziner aus die Großverdiener der weißen Zunft lig, nun werden die beiden als Patrone anderen Fachrichtungen, die das ver- * Abbildung auf einem Schrein der Münchner Mi- aller katholischen Heilkünstler ver- schachtelte System des deutschen Ge- chaelskirche. ehrt. sundheitswesens ganz legal ausneh-

Ärzte-Heilige Kosmas und Damian*, Radiologe Felix: Ein fleißiger Mann bringt viel zusammen

DER SPIEGEL 23/1994 91 WIRTSCHAFT

Computertomograph: Mit Großgeräten üppige Honorare

men. Dazu muß man, wenn möglich, ein Die Röntgen-, Labor- und Narkose- Chefarzt sein. mediziner verdanken ihre fetten Neben- Chefärzte stehen an der Spitze der ärzt- einkünfte vor allem einem – für sie äu- lichen Hierarchie. An den Universitäten ßerst praktischen – Umstand beim Ab- sind sie Beamte auf Lebenszeit, ordentli- rechnungsmodus für Privatpatienten: che Professoren („Ordinarien“), deren der sogenannten Ärztekette, einer Art Gehalt jährlich mindestens 120 000 Mark automatischem Pfründensystem. beträgt. Auch an den meisten anderen Nach dem Prinzip „Einmal Chefarzt – Krankenhäusern ist der Chefarzt Beam- immer Chefarzt“ zahlt der Privatversi- ter oder unkündbarer Angestellter. cherte bei einer Krankenhausbehand- Über ihre Gehälter können Chefärzte lung jeweils die Chefarztleistungsklasse, meist nur müde lächeln. Der Beruf wird egal welche Abteilung er auch immer in nicht durch seine Einnahmen attraktiv, Anspruch nimmt. Bei jeder Röntgen- sondern durch die „Nebeneinnahmen“: aufnahme, bei jeder Blutuntersuchung, Sie betragen in der Regel ein Vielfaches bei jeder Narkose – der jeweils zuständi- der Bezüge, imDurchschnittjährlich eine ge Abteilungsdirektor kassiert immer halbe Million Mark. Spitzenverdiener mit, auch dann, wenn der Patient mit unter den Chefärzten kassieren von Pri- ihm gar nicht in Kontakt kommt. vatpatienten und Krankenkassen, sie er- Insbesondere bei den Anästhesisten statten teure Gutachten, beraten Phar- zeitigt das Ärztekette-Prinzip äußerst mafirmen und Gerätehersteller. lukrative Folgen: Nach einer Untersu- „An den Universitäten“, erläutert chung des baden-württembergischen Frank-Ulrich Montgomery, Oberarzt Landesrechnungshofes hatten die Chef- und Vorsitzender des Marburger Bun- ärzte von drei Unikliniken ein gewalti- des, „sind Jahreseinkommen bis zu zehn ges Narkose-Programm abgerechnet; in Millionen Mark keine Seltenheit.“ Er einem der drei Fälle wurde innerhalb schätzt die Zahl der begüterten Kollegen, von drei Wochen das Einschläfern von die rund zehn Millionen Mark pro Jahr 201 Privatpatienten (355 Narkosestun- verdienen, auf 50 bis 100. den) in Rechnung gestellt. Der betref- Solche Summen kassieren vor allem fende Professor war jedoch nur in acht die ordentlichen Professoren der eher pa- Fällen selbst dabeigewesen. So ist es die tientenfernen Fächer – Röntgen- und La- Regel: Selbst ihre Privatpatienten lassen borärzte, Gerichtsmediziner, Anästhesi- die Profs von Oberärzten oder sogar As- sten, Pathologen und Hygieniker. Diesen sistenten ohne abgeschlossene Facharzt- Herren (es sind ausnahmslos Männer) ausbildung behandeln. muß das Gehalt des deutschen Bundes- Berühmt für seinen Arbeitseifer war kanzlers (354 060 Mark pro Jahr) wie etwa der frühere Leitende Direktor der Peanuts vorkommen. Solches Sümm- Klinik für Anästhesiologie an der Uni- chen reicht ihnen gerade mal für die jähr- versitätsklinik Tübingen, Rudolf Scho- liche Kirchensteuer. rer. Der Chefanästhesist, seit Herbst

92 DER SPIEGEL 23/1994 letzten Jahres emeritiert, tauchte, wie Nach dem verlorenen Weltkrieg ge- sich ein früherer Mitarbeiter erinnert, in hörten Deutschlands Ärzte zu den Ge- den Jahren vor seiner Pensionierung et- winnern, nicht nur Sauerbruch, den die wa zweimal in der Woche am Klinikum Russen schon im Mai 1945 feierlich zum auf. „Dann fuhr er mit seinem blankpo- Berliner Stadtrat für Gesundheitswesen lierten Jaguar vor, lief einmal durch den ernannten. Im Westen organisierte die großen OP und fuhr wieder davon.“ Ge- ärztliche Standesführung das System des schätzte Jahresnebeneinkünfte des Pro- Geldverdienens neu. Bundeskanzler fessors: mehr als eine Million Mark. Adenauer akzeptierte die Zunftideen Ein wirklich fleißiger Mann bringt des „Sicherstellungsauftrages“ und der mehr zusammen: Professor Roland Fe- „Einzelleistungsvergütung“. lix, Radiologie-Ordinarius am Rudolf- Die regionalen Kassenärztlichen Ver- Virchow-Klinikum in Berlin, liquidiert einigungen (KV) garantierten eine flä- bei seinen Privatpatienten, wie das Krankenhaus mitteilt, pro Jahr rund vier Millionen Mark. Der Medicus, für Ein Mischkonzern, seinen Charme gerühmt, ist ein Organi- gespeist sationsgenie. Er hat 60 Ärzte unter sich und ist stets bemüht, wie Gottvater an aus vielen Töpfen mehreren Orten zugleich zu sein. Daß Krankenhausärzte „nebenbei“ chendeckende medizinische Versorgung Privatpatienten behandeln, in den Räu- in eigener Regie und als Monopolisten men der Klinik, mit den Geräten des („Sicherstellungsauftrag“), berechtigt, Hauses und dank der Arbeitskraft der jede ärztliche Verrichtung den Kranken- vom Staat besoldeten Helfer, hat eine kassen einzeln in Rechnung zu stel- lange Tradition. len. 1939 haben die Nazis die Nebentätig- Ob der Doktor spricht oder spritzt, keiten der Hochschullehrer nach dem zuhört oder nur „verweilt“, ob er den Führerprinzip geordnet: Nur die Ordi- Gips anrührt, die Rotlichtlampe in Be- narien und Klinikchefs durften fortan trieb setzt, nach Harn oder Blut schaut – neben ihrem Beamtengehalt auch noch jedesmal ist das eine geldwerte „Einzel- bei Privatpatienten liquidieren. leistung“, durchnumeriert bis Nummer Als Hitler 1944 am Geldsegen auch 9910 („Leichenschau und Ausstellung nachgeordnetes Personal teilhaben las- einer Todesbescheinigung“). sen wollte, rückte ihm der poltrige Chir- Viermal jährlich verteilt die KV an ih- urg (und Generalarzt) Ferdinand Sauer- re Doktoren das Honorar. An diesen bruch auf die Pelle. Falls solche Neue- Quartalsabrechnungen partizipieren im- rungen eingeführt würden, könne er mer mehr Chefärzte, denn die KVen nicht mehr für die Versorgung der Ver- „ermächtigen“ die großkopfeten Dokto- wundeten garantieren. Der Führer ren zur Teilnahme am Monopoly. So er- kuschte vor dem Arzt. schließt sich eine dritte Geldquelle: Ne- ben dem Beamtenge- halt und den Rechnun- gen („Liquidationen“) für die Privatpatienten sprudelt für viele Chef- ärzte noch die KV- Einzelleistungsvergü- tung: Kleinvieh macht auch Mist. Die einzelne Lei- stung – zum Beispiel ein kleines Blutbild a` 5,40 Mark, eine Rönt- genaufnahme der Hand a` 20 Mark, der Blick durchs Mikro- skop auf ein Gewebe- präparat (29,30 Mark) – ist mäßig bezahlt. Die Attraktivität des Systems liegt im Addi- tionseffekt. So kassierte der tüchtige Berliner Röntgenarzt Felix al- lein im Jahre 1992 von den RVO-Kassen rund 5,5 Millionen Mark Chirurg Sauerbruch (1944): Hitler auf die Pelle gerückt Honorar. RVO steht

DER SPIEGEL 23/1994 93 WIRTSCHAFT „Jeder hat seinen Wert“ SPIEGEL-Interview mit Professor Detlef Schlöndorff über die Ärzte und das Geld

Schlöndorff, 52, ist seit letztem Jahr 200 000 Dollar verdient. Das ist eine ordentlicher Professor in München und Folge von Angebot und Nachfrage. Direktor der Medizinischen Poliklinik. SPIEGEL: Würde eine Ethik-Kommissi- Er hat viele Jahre an amerikanischen on – also ein Ärztegremium, das sich mit Universitäten gearbeitet. den Fragen des Geldverdienens beschäf- tigt – Sinn machen? SPIEGEL: Die Ärzte sind wieder im Ge- Schlöndorff: Eine Ethik-Kommission rede. Diesmal wegen des Verdachts des sollte an jeder größeren Klinik vorhan- Betruges. Im weiteren Sinne geht es den sein. In den USA sind die Honorar- ums Geldverdienen in der Heilkunst. fragen an den großen Universitätsklini- Wie erklären Sie sich diese starke Fixie- ken und den angeschlossenen Kranken- rung der Ärzte auf das Geld? häusern gut geordnet. Was für ärztliche Schlöndorff: Ich bin nicht sicher, daß die Leistungen liquidiert wird, kommt mehr Ärzte mehr fixiert sind aufs Geld als der oder minder allen zugute. Rest der Gesellschaft. Ich weiß aber, SPIEGEL: Wie geht das vor sich? daß es innerhalb der Ärzteschaft beim Schlöndorff: Alles, was von Privatpa- Einkommen sehr große Spannen gibt. tienten in einer Abteilung, etwa der In- Sicherlich gibt es Kollegen, die mehrere neren Medizin, liquidiert wird, fließt zu- Millionen Mark pro Jahr verdienen. Im nächst in einen gemeinsamen Topf, die Durchschnitt ist es gar nicht so toll. sogenannte „faculty practice“. Die Ver- SPIEGEL: In Deutschland gibt es unge- teilung aus diesem gemeinsamen Pool fähr 10 000 Chefärzte, und die verdie- erfolgt nach einem Schlüssel, den der nen zusammen rund fünf Milliarden Chairman, also zum Beispiel der Lehr- Mark neben ihren Gehältern. Das sind Klinikchef Schlöndorff stuhlinhaber, aushandelt mit den einzel- pro Nase ungefähr 500 000 Mark im „Die Uni macht das mit ihren Leuten aus“ nen Fakultätsmitgliedern. Und da geht Jahr. Finden Sie das angemessen? es dann nicht allein danach, ob jemand Schlöndorff: Das kann ich schwer beur- Ärzte dürfen dort keinen finanziellen sehr viel Privatpraxis macht. Es kann teilen. Zum Teil muß man ja sagen, daß Nutzen von Einkäufen haben. Im ameri- auch sein, daß jemand, der viel For- die Chefarzt-Positionen vergleichbar kanischen System sind die Krankenhäu- schung betreibt und deshalb wenig Zeit sind denen von Managern in der Indu- ser eigenverantwortlich wirtschaftende für die Privatpraxis hat, aus dem Topf strie oder im Bankgewerbe. Und es Institutionen. Die Verwaltung kauft ein, eine Extra-Zuteilung bekommt. denkt sich niemand etwas dabei, wenn wo sie es am billigsten kriegt. SPIEGEL: Wieviel Ärzte sind denn in der ein Manager 500 000 Mark verdient. SPIEGEL: Wird die Verwaltung denn in Regel an einem solchen Pool beteiligt? SPIEGEL: In Feiertagslaune argumen- den USA nicht korrumpiert? Schlöndorff: Je nach Größe der Fakultä- tiert Ihre Standesführung, die ärztliche Schlöndorff: Die Kontrollen sind sehr ten sind das bei den Abteilungen, den Arbeit sei ethisch hochstehend und strikt. Außerdem sind die Krankenhäu- Departments, im allgemeinen um die schöpfe ihren Sinn aus sich selber. ser permanent vom Bankrott bedroht. 10, und bei einem gesamten Lehrstuhl Gleichzeitig gibt es aber, wie einer Ihrer Sie schließen sich deshalb für ihre Ein- um die 50 bis 100. Kollegen klagt, einen „Drift in materiel- käufe zu größeren Vereinigungen zu- SPIEGEL: Fänden Sie dieses Pool-Mo- le Güter“. sammen. Die kaufen zentral ein, um dell auch für Deutschland passend? Schlöndorff: Das ist keine Neuentwick- günstigere Preise zu erzielen. Außer- Schlöndorff: Die Universitätsklinik oder lung und auch nichts spezifisch Deut- dem erstatten dort die Krankenkassen ein großes Krankenhaus soll ja auch in sches. Was ich als etwas ungewöhnlicher den Kliniken nicht, wie in Deutschland, Deutschland nicht eine Vereinigung von ansehe, das sind – wenn sie zutreffen – den Preis, den die Kliniken angeben, Leuten sein, die möglichst viel Privat- die Vorwürfe, daß solche Kick- sondern nur den marktüblichen Preis. praxis betreiben. backs . . . Wenn die Kliniken schlecht eingekauft SPIEGEL: Aber es liefe auf eine Schmä- SPIEGEL: . . . Schmiergelder . . . haben, ist es ihr Verlust. Das Problem lerung der Spitzeneinkommen hinaus. Schlöndorff: . . . solche Schmiergelder ist, daß in Deutschland in manchen Kli- Schlöndorff: Wenn in den USA ein Kar- fließen. Das ist eine Sache, die – wenn niken der Chefarzt auch Chef der Ver- diologe eine Million Dollar reinbringt sie stimmt – auf das Fehlen einer Struk- waltung ist. durch seine Privatpraxis, hat er wahr- tur und auch auf das Fehlen von Stan- SPIEGEL: Sollten wir uns an den ameri- scheinlich von seinem Department her dards in der deutschen Klinik-Medizin kanischen Verhältnissen orientieren? eine Deckelung auf 250 000 Dollar zu zurückzuführen ist. Schlöndorff: Was die Struktur angeht erwarten. Das heißt, 750 000 Dollar SPIEGEL: Können Sie das präzisieren? und den „conflict of interest“, wäre das bleiben in diesem Pool drin und werden Schlöndorff: Es ist die fehlende Tren- ein Vorteil. Die großen Einkommens- zum Teil an andere Ärzte verteilt. Das nung zwischen ärztlicher und kaufmän- unterschiede bekommt man allerdings Geld wird aber auch benutzt, um zusätz- nischer Verwaltung an den Kranken- so nicht aus der Welt. Ein guter Herz- lich junge Leute einzustellen. häusern, die so etwas begünstigt. Ich chirurg an einer Universitätsklinik wird SPIEGEL: Akzeptierten amerikanische weiß aus den USA, daß man dort, um sich nicht unter einer Million Dollar ver- Klinik-Ärzte diesen Modus? solchen Interessenkonflikten vorzubeu- kaufen, während an der gleichen Klinik Schlöndorff: Ja. Wenn man mal die In- gen, ganz strenge Regeln eingeführt hat: vielleicht ein Professor für Pädiatrie nur nere Medizin nimmt als Beispiel, da gibt

94 DER SPIEGEL 23/1994 für die Reichsversicherungsordnung, die es Fachgebiete, in denen wird viel ver- das Prinzip der Pflichtmitgliedschaft für dient – Kardiologie, Gastroenterologie, Arbeiter und die ärmeren Sozialschich- Nephrologie, meistens noch durch die ten regelte. Die Allgemeinen Ortskran- Dialyse. Und es gibt andere Disziplinen, kenkassen (AOK), seit Jahren arm am da kann sehr wenig verdient werden – Beutel, gehören zu den RVO-Kassen. Endokrinologie oder Rheumatologie. Ersatzkassen, wie etwa die Barmer, ver- Und da ist es eben so, daß der Chairman sichern bisher vornehmlich Angestellte. des Departments das ausgleichen kann, Es versteht sich, daß Professor Felix indem er etwa Geld, das die Kardiolo- auch von den Ersatzkassen alle Jahre gen verdienen, umverteilt, damit die wieder ein paar Millionen liquidiert. Unterschiede nicht zu groß werden. Felix’ Mischkonzern, gespeist aus vie- SPIEGEL: Ist dieses Modell übertragbar? len Töpfen, spielt jeden Tag mindestens Schlöndorff: Man muß vorsichtig sein, 80 000 Mark ein – soviel, wie ein arbeit- denn in Deutschland wird so etwas ja samer RVO-Versicherter in zwei Jahren gleich per Gesetz geregelt, und dann kä- verdient. Felix’ radiologische Abtei- me es zum Gießkannenprinzip. Es wür- lung, sagt der Berliner Ärztekammer- de also das Geld nach einem gleichmäßi- präsident Erich („Ellis“) Huber, „das ist gen Schlüssel an alle verteilt, und dann hat man das Problem, daß die Faulen dafür be- lohnt werden, daß die Fleißigen was range- schafft haben. SPIEGEL: Es ist vorge- schlagen worden, in Deutschland die Privat- einkünfte der Ärzte bei einer bestimmten Obergrenze zu kappen oder ihnen höhere Festgehälter zu zahlen. Was halten Sie davon? Schlöndorff: Ich halte von der Idee, höhere Festgehälter zu geben, sehr viel. Wenn man den Leuten ein ihrer Leistung und ihrem Marktwert entspre- chendes Gehalt gibt, dann sind sie nicht dar- auf angewiesen, soviel Privatpraxis zu ma- chen. Die Weichen werden Richtung For- schung und Lehre ge- stellt. SPIEGEL: Wo würden Sie denn die Obergren- ze eines ärztlichen Festeinkommens se- Narkose-Einleitung hen? „Einmal Chefarzt, immer Chefarzt“ Schlöndorff: Das kann ich nicht sagen. wie eine Lizenz zum Gelddrucken“ – Denn das ist nun einmal „fact of life“, wobei der Staat wie immer mit von der daß ein Herzchirurg mehr verdient, Partie ist; denn Felix muß der Klinik ganz gleich in welchem Land, als mei- Abgaben leisten, und Einkommensteu- netwegen ein Pädiater. Also muß man er zahlt er am Ende auch. das individuell festlegen. In den USA Ganz grundsätzlich, ohne Blick auf macht das jede einzelne Universität mit den talentierten Röntgenarzt, meint der ihren Leuten aus, dort hat sozusagen je- standeskritische Huber, es sei doch ei- der seinen Wert an der Börse. Und die gentlich zu wünschen, daß sich „ein Gehälter sind auch ganz unterschied- Chefarzt charakterlich von einem Bau- lich, ob Sie im Mittelwesten sind oder spekulanten unterscheidet“. Zu Hubers ob Sie an der Westküste sind, je nach Kummer ist jedoch bei vielen seiner Lage und Lebenskosten. Standesherren der „Glaube an den frei- SPIEGEL: Sie waren 22 Jahre in Ameri- en Markt und das Prinzip der Profitma- ka. Sind Sie froh, wieder hier zu sein? ximierung“ stärker als die Bindung an Schlöndorff: (lacht) No comment. einst beschworene ethische Ideale. Hip- pokrates ist out, Raffke in. Nur halb im

DER SPIEGEL 23/1994 95 WIRTSCHAFT

„Spannend, spannend“ tz, München

Scherz reimen Hippokrates’ Jünger oft mehrere Millionen Mark. Die zahlt jetzt: „Die erste Ethik ist die Monetik.“ das Krankenhaus. Die Gebührenordnung für Ärzte Die mit Großgeräten erzielten Ho- (GOÄ) hat in der weißen Zunft den norare sind üppig; so kostet ein Com- Rang der Bibel. Das Geschäft mit der putertomogramm 567 Mark, die Herz- Krankheit floriert dann am besten, kathetisierung 245,70 Mark und eine wenn man die verschiedenen GOÄ-Po- Tumorbestrahlung 249,80 Mark. Diese sitionen wie ein Zauberkünstler mitein- Honorare kassiert bei den von draußen ander kombiniert. „Ich habe die GOÄ überwiesenen Patienten stets der Chef- sogar mit aufs Klo genommen“, berich- arzt. tet ein hessischer Chefarzt, „um sie in Gerade mal 20 Minuten dauerte eine Ruhe auswendig zu lernen.“ Der Medi- Herzkatheteruntersuchung, der sich cus ist jetzt, was die „Einzelleistungsver- der Bielefelder Diplomingenieur Gün- gütungen“ angeht, sein eigener, un- ther Schick unterziehen mußte. „Dafür schlagbarer Computer. werden seitens des nicht anwesenden Von der Einzelleistungsvergütung Chefarztes sage und schreibe 4500 wollen die deutschen Ärzte partout Mark in Rechnung gestellt“ – obwohl nicht lassen. Nur sie erlaubt die profita- schon eine „Pauschale von rund 1800 ble „Auslastung“ der Krankenscheine. Mark getrennt abgerechnet war“. Über Der Doktor kann ärztliche Leistungen ein Stundenhonorar von mindestens über das medizinisch Notwendige hin- 5000 Mark konnte der Maschinenkon- aus erbringen, er kann bevorzugt teure strukteur nur staunen. Schicks Diagno- Verrichtungen in Rechnung stellen, se: „Unser gesamtes Gesundheitssy- ganz wie es ihm beliebt. stem ist krebskrank, faul und marode.“ Eine „pauschale Honorierung“ etwa Um Mark und Pfennig der Chefärzte pro „Fall“ oder pro Patient – wie sie frü- kümmert sich in Berlin der Arzt Bernd her in Deutschland üblich war und heute noch in anderen westlichen Ländern üb- lich ist – sei „reinste Planwirtschaft“, Wer wagt es, warnt Winfried Schorre, Vorsitzender seinen künftigen Arzt der Kassenärztlichen Bundesvereini- gung. Mit pauschalen Honoraren gehe zu reizen? für den Arzt jeder „Anreiz für einen op- timalen Einsatz verloren“, und das sei Köppl, Abgeordneter des Bündnis „patientenfeindlich“. 90/Grüne. Im August 1993 richtete er an Besonders profitabel gestaltet sich für den Senat eine „kleine Anfrage“, die KV-ermächtigte Chefärzte die Ausla- reichen Kollegen betreffend. stung eines medizinisch-technischen Volle acht Monate gingen ins Land, „Großgerätes“ via Einzelleistungsvergü- bis Wissenschaftssenator Manfred Er- tung. Computer- und Kernspintomogra- hardt das brisante Material an Köppl phen, Linksherzkatheterlabore und die sandte – vorgeschrieben sind laut Parla- diversen Röntgenapparate zu Diagnose mentsordnung zwei Wochen. Erst als und Therapie kosten in der Anschaffung die Parlamentspräsidentin mit einer Rü-

96 DER SPIEGEL 23/1994 ge drohte, machte der Wissenschaftsse- nator seiner Verwaltung Beine. Jetzt hat es Köppl schriftlich, daß al- lein am Universitätsklinikum Rudolf Virchow (wo der Finanzakrobat Felix seine Millionen scheffelt) im Jahr 1992 weitere 67 Ärzte mehr als 800 000 Mark „Nebeneinnahmen“ kassierten. Nur sie- ben arme Würstchen müssen sich mit we- niger als 800 000 Mark zufriedengeben. Wie verläßlich solche Zahlen sind, ob sie die ganze Wirklichkeit spiegeln oder nur einen Teil, ist unter Verwaltungsex- perten und den Prüfern der Landesrech- nungshöfe umstritten. In der Regel liquidiert ein Klinikboß die Privatpatientenbehandlung über eine private Abrechnungsstelle. Da ist es dann Charakterfrage, was er davon sei- ner Uni angibt. „Die Stellung eines Ordi- narius an einer deutschen Universität gleicht der eines mittelalterlichen Poten- taten“, weiß ein leitender Oberarzt aus Freiburg, „eine Univerwaltung hat ihm da nicht dreinzureden.“ Ohnehin handeln jedes deutsche Bun- desland, jede Universität und viele Kom- munen nach eigenen Regeln, um wenig- stens einen Teil der Nebeneinkünfte den leitenden Ärzten wieder abzuknöpfen. Die Rechtslage ist so verworren, daß sich nicht einmal der Präsident des Baye- rischen Obersten Rechnungshofes damit auskennt: „Das ist alles so kompliziert“, stöhnt Walter Spaeth, daß man aus den vorgeschriebenen Nutzungsentgelten, Sonderabgaben und Mitbeteiligungen nicht auf die Höhe der Nebeneinnahmen „zurückrechnen kann“. Spaeth: „A paar Jahr brauch’ ma, dann woilln mia in die Sache einsteigen.“ Solche guten Vorsätze haben in den letzten Jahrzehnten weder in Bayern noch anderswo viel gefruchtet. Die Ne- beneinnahmen der weißgedreßten Be- amten steigen unaufhörlich. Harte Schnitte wagen die Politiker aus mehre- ren Gründen nicht: Die meisten sind Pa- tienten der Chefärzte, oder sie fürchten, es eines Tages zu werden. Wer will schon den Mann reizen, der voraussichtlich das Messer an die Prostata oder das schwa- che Herz legen wird? Was die Herren Doktoren im Halb- dunkel abzocken, ist zum allergrößten Teil Geld aus öffentlichen Kassen: Die Gehälter kommen aus dem Steuersäk- kel, die KV-Honorare aus den Zwangs- abgaben der Arbeitgeber und -nehmer an die gesetzlichen Krankenkassen, und selbst die Privathonorare zupft der Dok- tor nur zum kleineren Teil aus dem Portemonnaie des Patienten. Weil viele Privatpatienten wie die Chefärzte Beamte sind, bekommen sie jeweils mindestens die Hälfte der Rech- nung von ihrem Vater Staat und des- sen Öffentlicher Hand als „Beihilfe“ erstattet. Diese Hand schmiert viele andere. Y

DER SPIEGEL 23/1994 97 Werbeseite

Werbeseite WIRTSCHAFT

Agenturen „Da mögen sich zwei“ Werbeexperte Thomas Koch über die IBM-Entscheidung für Ogilvy & Mather

SPIEGEL: Seit Mitte vergangener Wo- SPIEGEL: Ist die Entscheidung von che soll Ogilvy & Mather (O&M) als IBM eine Ausnahme – oder signali- einzige Agentur weltweit für den Com- siert sie den Beginn eines neuen puterkonzern IBM werben. Wie hat Trends? Werden sich die großen multi- sich die Agentur den größten Etat der nationalen Konzerne bald nur noch Werbegeschichte geholt? von einer Agentur weltweit vertreten Koch: Der IBM-Chef Louis Gerstner lassen? Koch war früher beim Kreditkarten-Unter- Koch: Nein. Einige ganz große Marken nehmen American Express, für das wie Coca-Cola, Levi’s und Marlboro Der Werbeetat O&M lange Werbung gemacht hat. könnten es zwar, tun es aber nicht. Es Ganz eindeutig gibt es da eine persön- sind globale Marken, die mit einer ein- des Computerkonzerns IBM geht an liche Beziehung zwischen zwei Men- heitlichen Kommunikations-Strategie eine einzige Agentur: IBM-Chef Louis Gerstner hat sich für Ogilvy & schen, nämlich zwischen Gerstner und überall auftreten können. IBM dage- Mather entschieden; bisher wurde der O&M-Chefin Charlotte Beers; da gen kann das nicht. der Etat auf 43 verschiedene Agentu- kennen sich zwei und mögen sich. SPIEGEL: Warum? ren verteilt. Branchenkenner nennen SPIEGEL: Koch: Ein Etat von etwa 500 Mil- Weil sich der Coca-Cola-Trinker die Entscheidung Gerstnersdie„größ- lionen Dollar wurde nur aufgrund per- in New York nicht wesentlich vom te Etatbewegung der Geschichte“. sönlicher Beziehungen vergeben? Ogil- dem in Hamburg unterscheidet. IBM Der deutsche Werbeexperte Thomas vy & Mather soll doch, so sagen Bran- dagegen kann weltweit gar nicht mit Koch, 42, der heute für Firmen wie chenkenner, IBM richtige Discount- einer Strategie antreten, weil für Com- Dunlop, Minolta und Mannesmann- Preise gewähren. puter die Marktentwicklung überall an- Mobilfunk Anzeigen und Fernseh- Koch: Hier ging es nicht um Peanuts, ders ist. In bestimmten Ländern mag spots schaltet, hält die neue IBM- bei einem solchen Etat kann O&M IBM noch Marktprimus sein, woan- Werbestrategie für einen Fehler. Das Synergieeffekte nutzen und seine Dien- ders sind sie schon abgeschlagen, da Marketing der Computerfirma kennt ste billiger anbieten als 43 verschiede- muß man jeweils einen eigenen Wer- Koch: Von 1980 bis 1986 war er als ne Agenturen. Und deswegen haben beauftritt entwickeln. Im Grunde Geschäftsführer der GGK-Media für die sicher auch Nachlässe gegeben. Die kommen auch die großen Konzerne die Werbevergabe der deutschen IBM spart also ein wenig Geld, doch immer mehr zu der Einsicht: „All busi- IBM-Dependance verantwortlich. entscheidend war das Vitamin B; per- ness is local.“ IBM ist nach dieser Ent- sönliche Beziehungen spielen immer scheidung angreifbarer für den Wettbe- eine Rolle, Werbung ist nun mal ein werb. stens keine gute Werbung. Herr Gerst- People-business. SPIEGEL: In den nächsten Monaten ner zwingt IBM-Fürsten in über 140 werden auf der ganzen Welt die Mana- Ländern jetzt mit Ogilvy & Mather zu- ger des Computerkonzerns ganz sammen. Ich glaube sogar, daß dem- schnell die O&M-Werber in ihrem nächst viele regionale Manager in der Land kennenlernen müssen. IBM-Zentrale anrufen werden, weil sie Koch: Ja, und so gehen langjährige Ge- nicht mit O&M zusammenarbeiten wol- schäftsbeziehungen, in denen man sich len. kennen- und schätzengelernt hat, in SPIEGEL: Wie wird die IBM-Führung die Brüche. Ich kenne das aus eigener reagieren? Erfahrung: Plötzlich muß ein Kunde Koch: Wahrscheinlich mit Druck. Das mit einer Agentur zusammenarbeiten, führt nicht zu besseren Ergebnissen. Für die er gar nicht mag – da entsteht mei- eine Agentur ist es auch schwierig, wenn man einen Kunden von der Zentrale aufgedrückt be- kommt. Man mag sich viel- leicht nicht. SPIEGEL: War die IBM-Wer- bung in Deutschland schlecht? Koch: Hierzulande war die IBM-Werbung immer sehr laut und sehr großformatig. Die sind niemals mit Kleinigkeiten gekommen, sondern immer wie der Weltmarktführer – selbst wenn sie den Kunden spezielle Lösungen geboten haben und nicht nur Imagewerbung betrie- ben. Mal sehen, was jetzt Geschäftspartner Beers, Gerstner: „Hier ging es nicht um Peanuts“ kommt. Y

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Affären Kurs auf Casablanca Ein Helfer des flüchtigen Pleitiers Schneider wurde verhaftet. Packt er aus?

alf Matthias Graf Lambsdorff, Ex- Vorstand der Dr. Jürgen Schnei- Rder AG, hat etwas geahnt. Schon bald, so argwöhnte der enge Mitarbeiter des flüchtigen Pleite-Königs, ginge es dem Perser „an den Kragen“. Der Verdacht war begründet. Am Dienstag vergangener Woche wurde Mehdi Djawadi, 54, verhaftet. Bei einer Visite in Frankfurt griff die Polizei zu und schickte den Iraner in die Haftan- stalt nach Preungesheim. Schneider-Helfer Djawadi: Diskrete Dienste für den Freund Djawadi wird Beihilfe in einem be- sonders schweren Fall des Bankrotts Seine Firma Gefo Gesellschaft für ungewöhnlich, ein Mercedes der S-Klas- (Paragraph 283a StGB) vorgeworfen. Orienthandel liegt weitgehend still. Sie se. Er soll für seinen Freund Schneider handelt mit Waren aller Art aus den Nur einmal, vor elf Jahren, war Dja- knapp 250 Millionen Mark von Schwei- Ländern des Orients, vermerkt das wadi durch einen rätselhaften Kriminal- zer Konten abgeräumt und beiseite ge- Handelsregister, und beteiligt sich an fall in die Schlagzeilen geraten. Bei ei- schafft haben. Wegen Flucht- und Ver- „anderen Geschäften jedweder Art“. nem Raubüberfall auf sein Mainzer dunkelungsgefahr mußte er in Haft. Tatsächlich ist Djawadi ein unauffälli- Teppichgeschäft stürzte ein Neffe auf „So ein Quatsch“, sagt Ehefrau Ilse, ger Teppichhändler. Am Kaiser-Wil- ungeklärte Weise aus dem Fenster in das könne gar nicht wahr sein. „Ich helm-Ring in Köln gehört ihm das Roya den Tod. Die Nebenkläger im Verfah- glaube“, zürnt Frau Djawadi, „da wird Orient-Teppichhaus. Am Neuen Wall in ren gegen die Diebe vertrat Schneiders nur ein Opfer gesucht“. Hamburg, in einer Schneider-Immobi- jetziger Anwalt Horst Schneider. Der Iraner gehörte keineswegs zum lie, gibt es eine Filiale. Der Iraner wäre auch jetzt kaum auf- Führungszirkel des eingestürzten Bau- Die Nachbarn in Quadrath-Ichendorf gefallen, wenn der Baulöwe sein Notiz- imperiums. Bei Schneiders Managern haben den grauhaarigen Professor kaum buch nicht mit fünf Telefonnummern war sein Name bisher wenig bekannt. bemerkt, wenn er mit seinen Hunden von Djawadi gespickt hätte. Seine zahl- Djawadi, Doktor der Mathematik, ist durch den Flecken spazierte. Seit sechs reichen diskreten Dienste wären uner- angeblich Professor in Mainz. Doch an Monaten wohnt die Familie etwas kom- kannt geblieben, hätte er nicht den der Johannes-Gutenberg-Universität ist fortabler in Bingen am Rhein, in einer Strohmann für Schneider gespielt. nur der Doktorand aus dem Jahr 1974 Villa mit Park und Pool. Vor dem Haus So hielt der Professor Djawadi offi- bekannt. steht, für einen Teppichhändler nicht ziell nahezu das gesamte Kapital von 30 Millionen Mark der Atos Praxisklinik in Heidelberg. In Wahr- heit war er nur Treu- händer für das Schnei- der-Hospital mit dem atomsicheren Bunker. Noch wunderlicher ist seine Beteiligung an der Wiesbadener Gesellschaft mit dem schönen Namen Quicktulane („Auf und davon“) und ei- nem Kapital von 50 Millionen Mark. Djawadi kaufte den Firmenmantel von Ka- rin Volhard, der Ehe- frau eines Anwalts aus Bad Homburg. Die Djawadi-Geschäft (in Hamburg): Beste Kontakte zur iranischen Regierung State Link Institute In-

100 DER SPIEGEL 23/1994 corporation im US-Staat Delaware, al- Wechselweise geplagt von Durchfall land gesichtet, während die Times of In- lerdings mit Hauptsitz beim Notar Mark und schlechtem Gewissen, klammerte er dia ihn auf dem schmalen Grat zwischen Moroney auf der Isle of Man, wurde sich mal an den Koffer mit den Beute- Chirurgie und Tod vermutete: „Notope- Mehrheitsgesellschafter. millionen, mal an seine Erinnerungen: ration“, in Kalkutta. „Phantom Schnei- Derartige Firmen-Konstruktionen das Schloß in Königstein, der schöne der“, stöhnte die Frankfurter Neue Pres- sind sonst nur von schwarzen Geschäf- Mercedes des armen Hilmar Kopper, se, „ist überall.“ ten auf dem grauen Kapitalmarkt be- dem er die bankdirektoriale Würde ge- Wohl deshalb verfolgten die „Bild- kannt. Vier Wochen vor Schneiders nommen – nicht zu reden von den vielen Reporter auf der Suche nach Dr. Flucht löste der Anwalt Horst Schneider Handwerkern, die nun sehen müßten, Schneider“ gleich „drei heiße Spuren“ – Djawadi als Geschäftsführer ab. wie sie zu ihren Peanuts kämen. Dubai, Liechtenstein, Paraguay. Doch Pikant ist, daß die Firmenhülle aus „Ich fühle mich furchtbar hier“, flü- kaum hatte der Hessische Rundfunk der Frankfurter Kanzlei Pünder, Vol- sterte Schneider mit moroser Stimme. Anfang letzter Woche ein Team nach hard, Weber & Axter stammt. Just diese „Ich will nach Hause, nach Hessen, alles Südamerika entsandt, wechselte Bild Kanzlei hat im Auftrag der Deutschen wieder gutmachen.“ am vergangenen Donnerstag unverse- Bank Strafanzeige gegen Schneider ge- Leider wird sich kaum jemand dieser hens die Fährte: „Versteck vielleicht im stellt. Vorgänge entsinnen können. Schon aus Iran?“ Der „Komplize“ (Bild) könnte bei der Die Munkelrüben Polizei womöglich einiges über seinen von Focus hingegen flüchtigen Freund aussagen. Djawadi wähnten den „pfiffigen hat beste Kontakte zur Regierung im Baulöwen“ anfangs in Iran. Bei der Suche nach frischem Geld München, dann sahen hat er Schneider nach Teheran beglei- sie ihn, „meistens im tet, zuletzt erst Januar. Auto und mit gefälsch- Außerdem hält Schneiders Freund für tem Paß, rastlos von die Firma Quicktulane eine Vollmacht Ort zu Ort hetzen“. eines kanadischen Ingenieurs mit dem Er sei fortwährend landesuntypischen Namen Mostafa El auf der Flucht vor den Kastaui. Von dem Kanadier sind der Zielfahndern, „derzeit Polizei bisher zwei Postfächer am sechs, darunter eine Schweizer Bankenplatz in Genf be- attraktive Frau“ – aus- kannt. gezeichnete Idee, ein Womöglich weiß Djawadi sogar, wem Vollweib auf den der persische Lear Jet gehört, der, an- Flüchtigen anzusetzen: geblich für Schneider, zuletzt vor allem Wie via Bild am Sonn- in Spanien unterwegs war. Am Mitt- tag aus gewöhnlich gut woch vergangener Woche um 19.30 parfümierten Kreisen Uhr, kurz nach Djawadis endgültiger verlautete, findet der Festnahme, hob die Maschine mit zwei 60jährige offenbar gro- Passagieren vom Flughafen von Mallor- ßen Gefallen am au- ca ab mit Kurs auf Casablanca. Sie lan- Schneider-Schlagzeilen: „Das Phantom ist überall“ ßerehelichen Koital- dete in der spanischen Enklave Melilla vollzug. in Marokko. dem einen Grund: Auch in der letzten Mindestens einmal pro Woche, be- Woche blieb Schneider unauffindbar. richtete eine Lastermilbe namens Sina Doch Geschichten, die das Leben so dem Blatt in volksnahen Worten, habe Medien dramatisch schreibt wie die des Immobi- sie dem beleibten Spekulanten geldge- lien-Pleitiers Schneider, dürfen nicht fällige Mädchen zugeführt, ihn im Be- ohne Ende sein. Und wenn die mitleid- darfsfall aber auch selbst bedient – es lose Wirklichkeit den Handlungsfaden war kein schöner Anblick: „Sein Bauch Heiße unterbricht, so muß er weitergesponnen hing ihm über den Hosenbund, beim werden – das, weiß der Journalist, ver- Sex behielt er immer seine schwarzen langt das Publikum. Socken an. Einmal verlor er sein Tou- Spuren Scharenweise schwärmten deshalb in pet.“ den letzten Wochen die Reporter aus – Ohne Haarteil, folgerte Bild, sähe der Wohin ist Dr. Schneider, der erst in die weite Welt, und dann, als sie Mann ziemlich kahl aus – und richtig, Richard Kimble des Geldwesens, Dr. Jürgen Schneider dort nicht fanden, ein entsprechend retuschiertes Foto ver- ins Reich der Phantasie. Es gab kaum mochte die dokumentarische Beweislast entfleucht? Reporter ein Publikationsorgan, vom Amberger mühelos zu tragen. Im übrigen, so infor- fanden ihn – im Reich der Fabel. Volksblatt (Oberpfalz) bis zur South mierte das Blatt, sei der absolut fremd- China Morning Post (Hongkong), das sprachenfreie Pleitier völlig mit der See- sich keine Gedanken über den Aufent- le runter, weil er sich im Ausland nicht uß und Reu“, orgelte das Harmoni- haltsort des „smarten Toupet- und Bril- verständigen könne. um, „knirscht das Sündenherz ent- lenträgers“ (Focus) machte. Die heitere Variante hingegen malte Bzwei“ – Bachs schöne Weise, her- Mirakelhaft geführt vom Heiligen der amerikanische National Enquirer, vorgelockt von Dr. Jürgen Schneider, Anekdoteles, ihrem Schutzpatron, spür- der Schneider mit Lockentoupet und durchflutete den Anchorage Club. ten die Gerüchterstatter den Dr. Schnei- Ehefrau friedlich nach Feuerland ent- Dort, in Mallorcas bestbewachtem der an über 100 Orten auf. Mal wandel- springen ließ, wo er eine versteckte Millionärsrefugium, sank der weltweit te er in Äquinoktialländern unter Pal- Farm besitze, die nur zu Pferde erreich- gesuchte Bankrotteur am Freitag letzter men, dann fror er am Polarkreis, erst in bar sei – wunderbar, Gratulation: Erster Woche schluchzend über seinem Ta- Grönland, dann in Alaska; später wurde Preis im internationalen Schneider-Fa- steninstrument zusammen. er, vom Mourne Observer, in Nordir- beln. Y

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SPIEGEL-Gespräch „So geht’s nicht weiter“ Hoechst-Chef Jürgen Dormann über Versäumnisse des Managements und den Standort Deutschland

wirken, das Unternehmen sei unsensibel für Umweltbelange. Darunter hat unser Image gelit- ten. Im übrigen haben wir an der Uni Mainz eine Aufarbei- tung der Geschehnisse in Auf- trag gegeben. SPIEGEL: Mit „Geschehnissen“ meinen Sie Unfälle in Ihren Werken, die immer wieder be- schönigt und verniedlicht wur- den? Dormann: Ich meine die ganze Kausalitätskette, die zu dem von Ihnen erwähnten Anse- hensverlust geführt hat. Wir wollen noch einmal aufarbei- ten, was wir falsch gemacht ha- ben. Veränderung geht aber nicht per Knopfdruck oder ge- schweige denn nach der Melo- die „Hoppla, jetzt komm’ ich“, und es wird alles anders. SPIEGEL: Sie selbst fangen an Dormann (M.), SPIEGEL-Redakteure*: „Veränderung geht nicht per Knopfdruck“ der Spitze von Hoechst in einer wirtschaftlich sehr schwierigen SPIEGEL: Herr Dormann, mit Ihnen schutzes deutlich ausgeprägter, als das Zeit an. Der Konjunktureinbruch des steht zum erstenmal kein Chemiker an früher der Fall war. vergangenen Jahres hat die deutschen der Spitze von Hoechst. Ist das eine Re- SPIEGEL: Bei Image-Umfragen – etwa Manager in eine Krise gestürzt und sie volution? im Manager Magazin – ist Hoechst im ins Grübeln gebracht. Was kommt da- Dormann: Aber nein. Es kann in einem öffentlichen Ansehen abgestürzt wie sel- bei heraus? Unternehmen wie Hoechst zwar hilf- ten ein Unternehmen. Wie wollen Sie Dormann: Eine Krise hat immer auch et- reich sein, von chemisch-technischen den Schaden beseitigen? was Kreatives. Die Krise, das Nachden- Zusammenhängen etwas zu verstehen – Dormann: Die wissenschaftlich-techno- ken über eine veränderte Welt betrifft und das tue ich. Entscheidend für diese logische Kompetenz, die finanzielle So- aber nicht nur die Manager. Es ist nicht Position ist aber nicht der universitäre lidität des Unternehmens sind bei diesen allein eine Struktur – oder Konjunktur- Ausbildungsweg, sondern die Fähigkeit, Umfragen nicht in Frage gestellt wor- krise. Wir alle operieren ja im Denken auf Veränderungen in der Welt und in den. Wir haben es nur nicht geschafft, und in den Begriffen mit Etiketten des den Märkten zu reagieren. Den Job früh genug dem Eindruck entgegenzu- 20. Jahrhunderts, obwohl wir nur noch kann genausogut ein Chemiker aus- fünf oder sechs Jahre von einem neuen üben. Jahrtausend weg sind. Der Kalte Krieg SPIEGEL: Denkt ein Chemiker in der Jürgen Dormann ist beendet, das alte Klischee Ost gegen Unternehmensführung nicht wesentlich West ist wertlos – jetzt müssen alle neu anders als ein Volkswirt? löste im April dieses Jahres Konzern- nachdenken. Dormann: Nein. Im Vorstand sind wir chef Wolfgang Hilger ab, der wenig SPIEGEL: Sind die deutschen Unterneh- jetzt neun Kollegen, und wo die her- Sensibilität gezeigt hatte, wenn es mer und Manager nicht von den Verän- kommen und was für eine Ausbildung darum ging, zu Fragen des Umwelt- derungen in der Welt und der Wirt- die haben, ist eher zweitrangig. Die sind schutzes oder zu Betriebsunfällen schaftskrise überrascht und verunsi- nicht da, weil sie Chemiker oder Kauf- bei Hoechst Stellung zu nehmen. chert? leute sind, sondern die sind da, weil sie Volkswirt Dormann, 54, will den Kon- Dormann: Das sehe ich überhaupt nicht kompetente Manager sind. Da hat sich zern, in dem die Hoechst AG nur eine so. etwas verändert, die Anforderungen an unter vielen Gesellschaften ist, vor SPIEGEL: Ungetrübtes Selbstbewußt- einen Weltkonzern sind andere gewor- allem im Pharmageschäft voran- sein? den. Und bei der neuen Generation von bringen. Er beklagt bürokratische Dormann: Nein, reflektiertes Selbstbe- Managern ist der Sensus für Fragen der Hemmnisse in der Gen-Technologie. wußtsein. Ich vermute mal, daß bei Öffentlichkeit, Fragen des Umwelt- Die deutsche Chemie erwartet nach manchem zeitweilig vielleicht ein über- mehrjähriger Flaute 1994 wieder steigertes Selbstbewußtsein zu bemer- * Peter Bölke, Wolfgang Kaden auf dem Hoechst- steigende Gewinne. ken war und daß der jetzt die Quittung Gelände in Frankfurt. kriegt. Der eigene Beitrag zur wirt-

102 DER SPIEGEL 23/1994 schaftlichen Leistung wurde vielleicht ei- SPIEGEL: In Tsche- 130 ne Spur zu wichtig genommen. Und chien, in Polen oder in Abgehoben wenn’s dann runtergeht, wird die Kritik Ungarn wird maximal 125 Lohnstückkosten im um so härter. ein Zehntel der deut- DEUTSCHLAND 120 internationalen Vergleich SPIEGEL: Überall werden Leute entlas- schen Löhne gezahlt – 1985 = 100 sen, überall die Kosten gedrückt, die kann die deutsche Unternehmen umgebaut. Da scheinen Industrie überhaupt 115 doch Zweifel angebracht, ob das Ma- noch wettbewerbsfähig JAPAN 110 nagement immer alles richtig gemacht sein? hat. Dormann: Sie ist wett- 105 Dormann: Einverstanden. Ich gebe ohne bewerbsfähig, weil sie USA weiteres zu, daß wir als Manager auch einen hochmodernen 100 Fehler gemacht haben. Wir haben etwa Kapitalstock und gut Quelle: Morgan Guaranty Trust in der Lohn- und Einkommensentwick- ausgebildete Mitarbei- 95 lung, aber auch in der Arbeitszeitfrage ter hat. Beides kann 1984 1986 1988 1990 1992 1994 bestimmt nicht die Standhaftigkeit ge- nicht einfach woan- zeigt, die wir hätten zeigen müssen. Wir dershin transferiert werden. Die niedri- chen, dann brauchen wir für solch eine haben viel zuwenig die Grundsatzposi- gen Löhne in Osteuropa sind eine per- Anlage 50 Leute, 80 Leute. Das heißt, tionen verteidigt und haben akzeptiert, manente Herausforderung, die wir in die beschäftigungsintensiven Investitio- daß Probleme vor sich hin schwappen, der Form vor fünf Jahren nicht hatten, nen gehören aus technologischen Grün- bis es ganz offenkundig ist: So geht’s jedenfalls nicht vor unserer Haustür. den der Vergangenheit an. nicht weiter. Wenn man in den achtziger SPIEGEL: Das kann doch nicht heißen, SPIEGEL: Wenn über den Standort Jahren, den sieben guten biblischen Jah- daß die Löhne in Deutschland auf osteu- Deutschland geredet wird, gehört es zu ren, manche Dinge nicht durchgesetzt ropäisches Niveau heruntermüssen. den Standardklagen der Chemie, daß hat, weil es nicht opportun schien, Dormann: Wir möchten unsere Mitar- die Umweltauflagen in Deutschland zu braucht sich niemand zu wundern, wenn beiter nicht überfordern; aber alle müs- hart sind: Bestimmen Umweltauflagen es auf einmal blubb, blubb macht und ei- sen verstehen, daß sich vieles drama- auch Investitionsentscheidungen bei ne große Blase platzt. tisch geändert hat. Wir haben eine ge- Hoechst? SPIEGEL: Die Blase platzt ja zum ersten- meinsame Verantwortung, auch für das Dormann: Nein. Ich akzeptiere auch das mal auch bei der Chemie. schwere Problem der Arbeitslosen. Ich Wort Klage nicht. Wir stellen fest, daß Dormann: Ganz eindeutig. plädiere sehr dafür, daß der moderate wir bei den Aufwendungen zum Schutz SPIEGEL: Und weil das Management Tarifabschluß von 1993 für zwei, drei der Umwelt im internationalen Wettbe- falsch entschieden hat, bauen Sie jetzt Jahre gehalten wird. werb in einer Spitzenposition liegen . . . Arbeitsplätze ab. SPIEGEL: Wo investiert denn Hoechst? SPIEGEL: . . . das sind Kosten. Dormann: Wir bauen nicht ab, wir bauen Bauen Sie in Deutschland ab? Dormann: Das sind Kosten, die zum Teil um. Vor 20 Jahren beispielsweise haben Dormann: Nein. Wir investieren in beträchtlich sind. Ich sage nur: Wir müs- der damalige Vorstand und der Betriebs- Deutschland auf gleichbleibendem Ni- sen uns verdeutlichen, daß die Welt in rat eine Vereinbarung über ein Entgelt- veau über die Jahre. Das ist jedes Jahr alle Himmelsrichtungen offen geworden system getroffen, das eine erheblich über in der Größenordnung von 1,2 Milliar- ist. Jede zusätzliche Mark sollte dort Tarif liegende Bezahlung vorsah. Die den Mark. Ich sage gleich einschrän- eingesetzt werden, wo der größte Vereinbarung wollen wir kündigen. kend dazu: Wenn wir hier eine Grenznutzen ist. Ehe man jetzt zum SPIEGEL: Das heißt, die Leute kriegen 60-, 80-Millionen-Mark-Investition ma- Beispiel für eine Fabrik, die in Deutsch- weniger Geld. land steht, noch weitere 10 Millionen Dormann: Nein, aber sie kriegen nicht zur Zusatzreinigung der Luft, die zu 90 automatisch mehr. Die bisherigen Ein- Prozent sauber ist, aufbringt, laßt uns kommen bleiben, aber wir werden die doch lieber die 10 Millionen nehmen zukünftige Entgeltentwicklung bei den und zur Luftreinhaltung in Tschechien einzelnen Mitarbeitern stärker nach Lei- oder Polen investieren oder von mir aus stung differenzieren. Und was ist falsch auch in bestimmten Gebieten Italiens daran, in einer Marktwirtschaft lei- oder Griechenlands. Die Luft, die da stungsorientiert zu zahlen? vom Osten oder Süden kommt, bläst der SPIEGEL: Die Krise des vergangenen Wind nicht an der deutschen Grenze Jahres und die Debatte über den Stand- vorbei. ort haben dazu geführt, daß die Beschäf- SPIEGEL: Die Politik soll einheitliche tigten in den Tarifabschlüssen nicht ein- Bedingungen schaffen, oder die Chemie mal den Inflationsausgleich bekamen. investiert dort, wo sie die günstigeren Teilen Sie die Ansicht, daß die deutsche Voraussetzungen findet? Wirtschaft für die nächsten fünf Jahre Dormann: Nein. Wir können es uns nicht Abschlüsse wie 1994 braucht, wenn sie erlauben, eine Anlage in Bayern nach konkurrenzfähig werden soll? einem anderen Standard zu fahren als in Dormann: Ich teile den Ansatz und lasse Texas oder in Bahia. nur mal offen, ob fünf Jahre die Zeit- SPIEGEL: Sie verlangen aber, daß die spanne sind. Wenn Sie sich ansehen, wie Politik für gleiche Standards sorgt? sich die Lohnstückkosten entwickelt ha- Dormann: Ja, nur unser Investitionsver- ben, dann erkennen Sie leicht, daß es so halten ist davon nicht tangiert. nicht weitergehen konnte. Der Restruk- „Ich gebe zu, daß SPIEGEL: Also, wenn der Umweltmini- turierungsprozeß der amerikanischen ster ein neues Gesetz plant, dann sagen Industrie ist ein ganzes Stück weiter als wir Manager Sie: Laßt uns doch erst mal woanders bei uns in Europa und allemal weiter als Fehler gemacht haben“ was tun, wir brauchen hier nichts wei- in Deutschland. ter?

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Dormann: Ja, auf die Fährte geh’ ich, wands in Deutschland wirksam wird. und zwar ganz vehement. Mein Wunsch Das heißt: Meine Aussage, Hoechst sei an die Politik ist: Eine Legislaturperiode in der pharmazeutisch-chemischen In- kein neues Gesetz, kümmert euch um dustrie Weltspitze, bezieht sich sowohl Kultur, um Wissenschaft, um sonst was, auf Deutschland als auch auf unsere aber laßt uns in der Wirtschaft in Ruhe Forschungsprojekte in den USA und in mit neuen Gesetzen. Und ich meine Japan. nicht nur Umweltgesetze. SPIEGEL: Leidet die deutsche Industrie SPIEGEL: Wie sieht es in der Gen-Tech- unter Innovationsschwäche? nologie aus? Hoechst hat vor etlichen Dormann: Die Kreativität, die Innovati- Jahren Schlagzeilen damit gemacht, daß onsfähigkeit und der Gestaltungswille die Gen-Forschung nach Amerika verla- der deutschen Forscher und Entwickler gert wurde. Sind Sie inzwischen ver- in der Pharmazie und Chemie sind un- söhnt mit der deutschen Gesetzgebung? verändert gut. Und wenn überhaupt von Dormann: Wir haben vor zehn Jahren Innovationslücken gesprochen werden nicht entschieden, mit der Gen-Technik kann, dann ist das eher eine Frage des nach Amerika zu gehen, sondern einem Managements und der Umsetzung. renommierten amerikanischen For- Wenn Sie zehn Produkte haben, und Sie schungsinstitut einen dreistelligen Mil- haben nicht die Kapazität in den finan- lionen-Dollar-Betrag zur Verfügung ge- ziellen oder menschlichen Ressourcen, stellt. Da sollten Themen bearbeitet die umzusetzen, dann müssen sieben werden, die uns als Unternehmen inter- vom Tisch. Das bringt ein Forscher al- essieren; vor zehn Jahren war an deut- lein nicht fertig, das ist eine Manage- schen Hochschulen einfach die Infra- „Laßt uns in der mentaufgabe. struktur für diese Art von Fragestellun- Wirtschaft in Ruhe mit SPIEGEL: Die deutsche Wirtschaft, Herr gen noch nicht da. Wir wollten damit Dormann, scheint im Augenblick ja fest auch erreichen, daß hier in der länder- neuen Gesetzen“ entschlossen, den amtierenden Bundes- dominierten Kultur- und Hochschulpoli- kanzler und die christlich-liberale Re- tik in Richtung Gen-Technik mehr inve- haben ja trotzdem hier in Hoechst über gierung über den Wahltermin zu hieven. stiert wird und bessere Voraussetzungen 100 Millionen nachhaltig investiert, um Machen Sie mit? geschaffen werden. Das ist erfolgt. etwa auf gentechnischer Basis Insulin Dormann: Ich bin ein sehr sachorientier- SPIEGEL: Und die Gesetzgebung? herzustellen. Wir haben uns in dieser ter und politischer Mensch, ich bin auch Dormann: Da gibt es viele Schritte in die Frage ein wenig zu patriotisch verhal- in einer Partei, der CDU. Ich habe über richtige Richtung. Nur: Das sind ja ten. Wenn wir in Frankreich investiert viele Jahre Kommunalpolitik und Kreis- neuere Entwicklungen. Und dazwischen hätten, wären wir mit diesem Produkt tagspolitik gemacht. Ich habe mir die liegt natürlich eine leidvolle Geschichte. seit fünf Jahren im europäischen Markt. Parteiprogramme angesehen. Und da Die wachsende Einsicht, daß wir aus Wir haben für ein anderes neues Pro- sehe ich – im Hinblick auf die Bundes- Wettbewerbsgründen uns in Europa an- dukt – Hirudin, ein Präparat gegen Blut- tagswahl – keine Riesenunterschiede in nähern müssen an Rahmenbedingun- gerinnsel – nach der Erfahrung mit dem den Programmen der zwei großen gen, wie sie in Japan und USA üblich Insulin alternativ auch einen Antrag in Volksparteien. sind, wird von der Politik allerdings zu- Frankreich gestellt bei unserer Tochter- SPIEGEL: Eine Regierung unter einem nehmend erkannt. Aber allzu lange ist gesellschaft Roussel Uclaf. In Frank- Bundeskanzler Scharping wäre für Sie andersherum gepredigt worden. reich hatten wir in sechs Wochen die kein Unglück? SPIEGEL: Mit welchen Folgen? Genehmigung. Das heißt, wir haben in Dormann: Nein. Dormann: Das Umfeld für Bio- und Frankreich investiert. SPIEGEL: Und wenn Scharping nur mit Gen-Technologie ist in den USA nach SPIEGEL: Sie erhielten in Deutschland einer rot-grünen Mehrheit regieren wie vor sehr viel attraktiver. Aber wir die Genehmigung nicht schnell genug? könnte, würden Sie dann schnurstracks Dormann: So ist es. die Firmenzentrale nach Amerika verla- 4041 Beim Insulin haben gern? wir viele Jahre ge- Dormann: Nein. braucht, bis wir wirk- SPIEGEL: Nach Bayern? 3177 Verflüchtigt lich produzieren kön- Dormann: Nein, auch nicht. Die Firmen- Betriebsergebnis nen. Das können wir zentrale ist hier. Ich habe auf eine ähnli- HOECHST- 2781 in Millionen Mark uns nicht ein zweites che Frage dem Oberbürgermeister von KONZERN Mal erlauben. Frankfurt neulich gesagt . . . SPIEGEL: Hat SPIEGEL: . . . ach, der sorgt sich auch 2152 Deutschland sich in schon? moderner Technologie Dormann: . . . ich habe ihm gesagt: Wir von der Weltspitze ab- bleiben hier. Ich habe ihn allerdings erst 1476 gemeldet? ein bißchen gequält. 1237 Dormann: Für unseren SPIEGEL: Wie denn? Industriezweig gilt das Dormann: Ich hab’ gesagt, Höchst als 906 sicher nicht. Wir sind Stadtteil von Frankfurt bleibt für dieses 652 als Unternehmen mit Jahrtausend. HOECHST in der Weltspitze. SPIEGEL: Und das Unternehmen AG 234 Aber vergessen Sie bit- Hoechst? te nicht, daß nur noch Dormann: Bleibt ein Weltkonzern mit eine gute Hälfte un- deutschen Wurzeln. 1989 1990 1991 1992 1993 seres Forschungs- SPIEGEL: Herr Dormann, wir danken Quelle: Hoechst Geschäftsbericht 1993 – 217 und Entwicklungsauf- Ihnen für dieses Gespräch. Y

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bleibenden Markt beherrschen zuneh- Seinen bislang größten Flop leistete Unternehmen mend ausländische Großkonzerne wie sich der Racke-Filius mit dem Edelsekt der amerikanische Multi Bacardi oder Bricout. Mit der Premiummarke, be- der britische Getränkeriese Grand Met nannt nach dem gleichnamigen franzö- mit international eingeführten Marken sischen Champagnerhaus, wollte Mol- Schwarzer wie Bacardi-Rum oder Smirnoff-Wod- ler-Racke Marktrennern wie Mumm ka. und Fürst Metternich Konkurrenz ma- Viele einheimische Unternehmen, chen. Überzieher wie die Weinbrennerei Jacobi, haben Auf dem Etikett erweckten die sich deshalb längst großen Konzernen Rheinhessen den Eindruck, die Fla- Mit Dujardin und Pott-Rum sind angeschlossen. Nur Moller-Racke will schen kämen aus der Champagne. Da- keine Märkte zu erobern. nicht. Er möchte lieber neue Produkte bei wird der Sekt in Mainz hergestellt entwickeln und alten Marken wie Dujar- und abgefüllt. Die Firma Racke kämpft um din oder Pott ein neues Image verpas- Im vergangenen Jahr schickte der ihre Selbständigkeit. sen. Berliner Verbraucherschutzverein Rak- Bislang hatte er damit allerdings we- ke eine Abmahnung. Die meisten Ein- nig Glück. Bereits vor zwei Jahren be- zelhandelsketten nahmen den Sekt dar- om Schreibtisch seines Büros aus, aufhin aus den Regalen. Auch im rheinland-pfälzischen Bingen, der Bundesgerichtshof rügte Vhat Marcus Moller-Racke, 37, einen die irreführende Aufmachung herrlichen Blick auf Weinberge und der Flaschen. Fachwerkhäuschen. Inzwischen haben die Binger Doch der Chef des Spirituosenkon- das Etikett geändert. Genutzt zerns (Marken: Racke rauchzart, Kup- hat ihnen das nicht viel. Im ferberg, Pott-Rum) guckt lieber an die Handel ist der Sekt auch so gut Wand. Dort hängen Fotos aus einem wie nicht erhältlich. „Die Mar- Weingut in Kalifornien, das Moller- ke“, gesteht Moller-Racke „ist Racke bis Ende 1991 leitete. „Das war total kaputt.“ eine schöne Zeit“, sagt Moller-Racke Niemand weiß deshalb, wie wehmütig. der Spirituosen-Fabrikant den Seit er an die Spitze der väterlichen angepeilten Umsatz von einer Firma nach Bingen zurückgerufen wur- Milliarde Mark in den näch- de, trauert der Jungchef seinem früheren sten Jahren erreichen will. Fir- Arbeitsplatz nach. Nun müht er sich, der men, die er seinem Gemischt- bald 140 Jahre alten Firma in Bingen die warenladen einverleiben könn- Selbständigkeit zu erhalten. Das wird te, hat er bisher noch nicht ge- immer schwieriger. funden. Zwei Jahre hintereinander schrumpf- Bei den meisten Übernah- ten Umsatz und Gewinn. Im Manage- mekandidaten holte Moller- ment kriselt es. In zwölf Monaten schied Racke sich bislang allerdings ein halbes Dutzend Führungskräfte aus eine Abfuhr. „Den Firmen dem Unternehmen aus. Die meisten hat- muß es offenbar erst noch viel ten noch unter Moller-Rackes Vater schlechter gehen“, meint er re- Harro gearbeitet und kamen mit dem ei- signiert, „ehe sie bereit sind, genwilligen Junior nicht zurecht. sich mit einem Konkurrenten Der neue Chef, so streuen viele der zusammenzuschließen.“ Gebliebenen bei Geschäftspartnern, sei So setzt der Firmenchef sei- seinem Job nicht gewachsen und treibe ne ganze Hoffnung auf sein das Traditionsunternehmen in den Ruin. Spirituosenfabrikant Moller-Racke neuestes Produkt, den Wein- Die Gerüchte verfehlten ihre Wirkung Neues Image für alte Marken verschnitt Viala. Das Tafelge- nicht. Moller-Racke bekommt ständig tränk wird aus italienischen Anrufe von Großkonzernen wie dem schloß der gelernte Agraringenieur den Weinen zusammengemixt. Eine ausge- Schweizer Nahrungsmittelriesen Nestle´. Massensekt Kupferberg Gold aufzupep- klügelte Rezeptur sorgt für stets gleich- Die Schweizer würden das bekannte Un- pen. Der Juniorchef ließ den Zusatz bleibenden Geschmack. ternehmen (546 Millionen Mark Um- „Gold“ sowie den Kopf des Gründers Auf den Rot- und Weißwein mit dem satz, 700 Beschäftigte) gern überneh- vom Etikett tilgen und hob den Ver- poppigen Etikett entfällt inzwischen men. Doch der Racke-Chef wimmelt die kaufspreis um eine Mark an. schon rund ein Fünftel des gesamten Kaufinteressenten ab. Die Folgen waren fatal. Viele Ver- Weinumsatzes bei Racke. Künftig soll Die Probleme des Binger Spirituosen- braucher erkannten die Flaschen offen- der Anteil noch steigen. herstellers zeigen, wie schwer es die we- bar nicht wieder und griffen lieber zu ei- Moller-Racke möchte sein Lieblings- nigen noch verbliebenen Familienunter- nem Konkurrenzprodukt. Nun steht der produkt auch in Szenekneipen loswer- nehmen in der heißumkämpften Bran- Sekt wieder in gewohnter Aufmachung den. Wirte, die eine bestimmte Menge che haben. Der Spaß an körperlicher Fit- im Regal. Viala abnehmen, erhalten ein dickes Pa- neß hat auch die Trinkgewohnheiten Starke Einbußen mußten die Binger ket mit Dekorationsmaterial und Wer- verändert. Die Deutschen greifen ver- auch bei ihrer Renommiermarke Dujar- begeschenken. mehrt zu Saft und Mineralwasser. din hinnehmen. Vor gut einem Jahr füll- Am auffälligsten ist dabei ein schwar- Selbst in Ostdeutschland, wo „Weis- ten sie den Weinbrand in neue Flaschen zes Kondom. Den Überzieher dürfen se“ und „Braune“ traditionell stärker ge- mit modischem Etikett ab und verlang- Kneipenbesucher kostenlos mitnehmen. fragt sind, sinkt neuerdings der Ver- ten einen deutlich höheren Preis. Die Vorderseite der Verpackung ziert brauch von Korn und Cognac. Den ver- Prompt wurde weniger verkauft. das blau-weiß-rote Viala-Emblem. Y

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Negwer will den Ostdeutschen den Marken Gebrauch des Kürzels verbieten. Doch die wehren sich. „Das Warenzeichen wurde uns von der Treuhand eindeutig zugesprochen“, beteuert Ernst-Josef Rosa Stöpsel Strätling. Der ehemalige Ostmanager leitet die Ein west- und ein ostdeutsches Firma, seit sie 1992 vom VEB Anker- Unternehmen streiten werk abgespalten und reprivatisiert wur- de. Ihm gehören, zusammen mit einer sich um den Namen Ohropax. Verwandten und zwei westdeutschen Geschäftsleuten, auch die Anteile an er Jungunternehmer Michael Neg- Hofmann & Sommer. wer, 36, hat nicht nur ein florieren- Bislang konnten die Kontrahenten Ddes Unternehmen, sondern auch sich nicht einigen, wem die verkaufs- einen fast unschätzbaren Wert geerbt: trächtige Produktbezeichnung zusteht. einen weltweit bekannten Markenna- Deshalb überziehen sie sich gegenseitig men. mit Klageschriften und einstweiligen Negwers Pharmafirma Ohropax Verfügungen. Nun müssen die Gerichte GmbH produziert im Taunus-Städtchen entscheiden. Wehrheim die gleichnamigen Geräusch- Vom Ausgang des Rechtsstreits er- schützer. Die Marke ist zum Synonym hoffen sich auch andere Unternehmen geworden wie Uhu für Klebstoff oder Aufschlüsse. Seit der Wiedervereini- Tempo für Papiertaschentücher. gung häufen sich in der Bundesrepublik Doch neuerdings macht dem Millio- Auseinandersetzungen um Schutzrechte nenerben ein Konkurrent zu schaffen: und Markenzeichen. Das Unternehmen Hofmann & Sommer So kämpfen zum Beispiel die „Alten- im thüringischen Königsee stellt seit burger und Stralsunder Spielkarten-Fa- dem vergangenen Sommer auch Ohr- briken“(ASS) in Leinfelden-Echterdin- stöpsel her, ebenfalls unter dem Namen gen bei Stuttgart mit ihrem ostdeutschen Ohropax. Pendant, der Altenburger Spielkarten- Die ostdeutsche Firma hält das Wa- fabrik, um die angestammte Ortsbe- renzeichen seit 1969. Negwers Vater zeichnung. Wer die führen darf, ist noch verließ 1950 die DDR, um im Westen völlig offen. einen neuen Betrieb aufzubauen. Die Konflikte haben fast immer den- Der Markenname wurde von der selben Ursprung. Nach der Verstaatli- DDR-Regierung auf die thüringische chung ihrer Betriebe in der DDR wech- Firma Hofmann & Sommer übertragen. selten viele ostdeutsche Unternehmer in Das Unternehmen wurde einige Jahre den Westen und bauten ihre Firma dort später verstaatlicht und in den Pharma- erneut auf. Die vorhandenen Warenzei- betrieb VEB Ankerwerk eingegliedert. chen und Patente nahmen sie mit. Die Firma produzierte Ohropax fortan Im Osten nutzten volkseigene Betrie- für die DDR und andere Ostblockstaa- be die Markennamen weiter. Alle Ver- ten. suche, ihnen die Produktbezeichnungen

Ohropax-Hersteller Negwer: Klage gegen die Konkurrenz

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zu verbieten, scheiter- ten am Rechtssystem der DDR. Nach der Wende ei- nigten sich viele Fir- men auf Kompromis- se. Die Westler belie- fern seither exklusiv das Gebiet der alten Bundesländer. Die Schwesterfirma im Osten versorgt, wie ge- habt, das Gebiet der ehemaligen DDR. Konkurrenz machen sich die Unternehmen nur im Ausland. Im Fall Ohropax scheiterte eine solche gütliche Einigung. Verantwortlich sind die Treuhand und ihr nachgeordnete Behör- Ohropax-Hersteller Strätling: Von Hand gerollt den. Die Bürokraten stellten den Firmen widersprüchliche ger Pause in Ostdeutschland wieder. Im Bescheide aus. Nun fühlen sich beide Gebiet der ehemaligen DDR können Seiten in ihrer Position bestärkt. die Verbraucher nun wählen – zwischen Nach geltendem Recht können west- dem schwarz-gelben Ohropax-Döschen deutsche Alteigentümer in Ostdeutsch- aus westlicher Produktion und dem land in der Regel nur komplette Unter- weiß-blauen Ostpendant. nehmen zurückfordern. Durch die Vor- „Die Qualität ist bescheiden“, urteilt schrift wollte die Bundesregierung ver- West-Chef Negwer über das Ostpro- hindern, daß Ostfirmen ausgeschlachtet dukt. „Lassen wir doch den Markt ent- und noch mehr Arbeitsplätze abgebaut scheiden“, gibt Strätling zurück. werden. Besonders groß sind die Unterschiede Trotzdem beantragten Negwers An- zwischen den Ohrstöpseln aus Thürin- wälte nach der Wende lediglich die gen und dem Taunus in Wahrheit nicht. Rückgabe des Warenzeichens Ohropax Die Westler stellen ihre Kügelchen ma- ohne die dazugehörige Produktion. Der schinell her und überziehen sie mit einer ehemalige Betrieb im Osten, so begrün- Wattehülle. „Das ist hygienischer“, deten sie ihren Antrag, sei nach der meint Firmenchef Negwer. Übersiedlung der Alteigentümer in den Die Thüringer rollen ihre Wachs- propfen hingegen noch immer von Hand. Ihre Stöpsel sind ebenfalls rosa, Beide Seiten duften aber dezent nach Fenchel. „Das haben sich den Namen wirkt hygienischer“, sagt Strätling. Dem Richter im Streitfall Ohropax schützen lassen steht keine leichte Aufgabe bevor. Und womöglich ziehen am Ende gar beide Westen aufgelöst worden. Deshalb Seiten den kürzeren. Das Stuttgarter könnten die Nachfahren des Firmen- Landgericht muß unter anderem prüfen, gründers nur den Markennamen zurück- ob der Name Ohropax überhaupt fordern. schutzwürdig ist oder ob er vielmehr zu Die Bundesregierung gab der Westfir- den sogenannten Freizeichen wie ma recht. Beamte des Bundesjustizmini- „Weck-Gläser“ oder „Vaseline“ gehört. steriums änderten sogar eigens das Wa- Derlei Produktbezeichnungen sind so renzeichen- und Vermögensgesetz, um bekannt, daß sie nicht mehr patentiert eine Ausnahmeregelung für die Hessen werden können. Sollte das auch für Oh- zu ermöglichen. ropax zutreffen, wäre der Streit schnell Die Thüringer Konkurrenten beein- beendet. Dann könnte jedermann Wat- druckt das wenig. Sie berufen sich stur testöpsel unter der Bezeichnung Ohro- auf zwei Notarverträge der Treuhand. pax herstellen. In ihnen wird bestätigt, daß zum Ver- Vielleicht einigen sich die Stöpselher- mögen der reprivatisierten Firma Hof- steller unter diesen Umständen ja doch mann & Sommer auch das Warenzei- noch auf einen Kompromiß. Die West- chen Ohropax gehört. ler könnten ihre Kügelchen weiterhin Beide Seiten haben sich den umstrit- unter der angestammten Bezeichnung tenen Markennamen inzwischen schüt- Ohropax verkaufen. Die Thüringer zen lassen. Seit dem vergangenen Som- könnten eine eingedeutschte Variante mer läuft die Produktion nach zweijähri- verwenden: Ohrenfrieden. Y

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Dramaturgie und Optik an Musik- Werbung videos des Senders MTV: Schöne Menschen ziehen im Waschsalon ihre Jeans aus, als Soundtrack re- cycelt BBH Pop-Oldies aus den Sex und sechziger-Jahren. Die glatten Verkaufsvideos („Wir wollten Sex und Rebellion Rebellion darstellen“) kamen bei Europäern jeden Alters gut an; Levi’s konnte Mit einer unkonventionellen Ar- seinen Umsatz um rund 530 Pro- zent steigern, die Musik aus der beitsweise und originellen Werbung erreichte die Hitpara- Ideen hat die englische Agentur den. „Wir sind die erste Generation, BBH europaweit Erfolg. die in die Werbung gehen wollte und das nicht als Verlegenheits- ohn Hegarty hat eine ganz eigene karriere verstanden hat“, versucht Vorstellung davon, wie eine Werbe- Hegarty den Erfolg zu erklären. Jagentur auszusehen hat – wie eine 1965 schmiß er das Designstudium Kohlegrube aus den Zeiten des Manche- und begann sein Berufsleben als ster-Kapitalismus. Werbedesigner. Werber Hegarty Die englische Agentur BBH – die Bald traf er den Texter Charles Turnübungen für britische Zungen Kürzel stehen für die Anfangsbuchsta- Saatchi; mit ihm gründete er die ben der Gründer Bartle, Bogel und He- Beratungsfirma Cramer/Saatchi, aus der englischer Sonntagszeitungen. Und garty – kommt diesem Bild nahe: Das später einmal der weltgrößte Werbekon- während der Umsatz fast aller Luxusau- meist trübe Londoner Licht wird von zern Saatchi & Saatchi werden sollte. tos in England 1992 zurückging, ver- den schwarzen Wänden und Fußböden Weil Hegarty merkte, daß seinem kaufte Audi mehr Autos auf der Insel. fast völlig geschluckt, Neonlampen be- Partner Saatchi Wachstum wichtiger war Hegarty will das Publikum immer un- stimmen die Helligkeit. „Wir arbeiten als kreative Arbeit, verließ er das Unter- terhalten, sei es mit Witz oder außerge- hier wie in einem Braunrasierer aus dem nehmen nach drei Jahren. „Ichwill meine wöhnlichen optischen Einfällen. In ei- Jahre 1984“, klagt ein Mitarbeiter. Kunden immer durch meine Arbeit über- nem Bier-Spot ließ er die Parodie eines Hegartys Werbefabrik, „streng nach zeugen, nicht durch endlose Mittagessen englischen Upper-Class-Pärchens auf- industriellen Vorgaben“ organisiert, ist und Opernbesuche.“ treten; der pomadige Ehemann liebt sei- äußerst erfolgreich: Seit 1989 wählt das Die noch unbekannte Agentur gewann ne Frau, weil sie statt Chanel Bier- Fachblatt Marketing Week BBH jedes ihre ersten Kunden, immerhin so be- schaum als Parfüm verwendet: „Dar- Jahr zur kreativsten Agentur; die ling, du riechst heute wieder Prominenz der Warenwelt – dar- wunderbar.“ unter Boss, Levi’s, Sony und Au- Für die US-Eiscreme Häagen- di – beauftragt BBH mit der Dazs setzte BBH auf erotische Realisation ihrer Fernsehspots, Schwarzweißfotografie, die sich Plakate und Zeitschriftenanzei- sonst eher bei Anzeigen für Desi- gen. gner-Mode findet. „In beiden Die Kreativität erzeugen He- Fällen“, so Hegarty, „haben wir garty, 50, und seine fast 200 Mit- mit den Traditionen der Branche arbeiter am Fließband. Täglich gebrochen und waren deshalb er- müssen die Teams aus Textern folgreich.“ und Grafikern einer eigenen Ab- An dieses Motto erinnert He- teilung, intern „Denkpolizei“ ge- garty ständig ein schwarzes nannt, Rechenschaft über ihre Schaf, das seinen Auftritt in ei- Arbeit ablegen. Jeden Montag ner Levi’s-Reklame hatte und neun Uhr kontrolliert der Chef nun in seinem Büro steht. persönlich, was sich seine Talen- BBH-Werbung*: „Ideen, die alle Europäer verstehen“ „Wenn die Welt hü sagt“, so He- te in der vergangenen Woche ha- garty, „mußt du hott sagen.“ ben einfallen lassen. Wehe, ein Team kannte Unternehmen wie Levi’s und So leicht lassen sich natürlich hochbe- kommt mit dem Zeitplan in Verzug. Audi, ohne, wie in der Branche üblich, zahlte Manager aus der Industrie nicht „Dann erlebst du deine schwerste Stun- eine neue Kampagne zu präsentieren. überzeugen; die risikoscheuen Männer de“, sagt eine Grafikerin. „Wir haben keine Anzeigen oder Slo- mittleren Alters beeindruckt Hegarty Hegarty und seine Partner Nigel Bogle gans gezeigt, sondern analysiert, wer mit seiner „Konsum-Philosophie“. und John Bartle gründeten die Agentur die Produkte kauft und wie man die Im internationalen Wettbewerb sei 1982; heute ist aus der Dreimannfirma Kunden noch besser erreichen könn- das Image eines Produkts entscheidend, ein Werbeunternehmen mit über 350 te.“ nicht die Herstellung, erzählt er ihnen Millionen Mark Auftragsvolumen ge- Für Audi machte Hegarty in Eng- mit ernstem Gesicht: „Jeder kann heute worden. Mit den Ideen, die sich Hegarty land mit einem deutschen Slogan Wer- gute Waren produzieren, und wer eine und seine Teams ausdenken, werben die bung: „Vorsprung durch Technik“ – neue Erfindung macht, wird morgen ko- Kunden oft in ganz Europa. „Auf die für britische Zungen eine anstrengende piert.“ Idee kommt es an“, sagt Hegarty, „auf Turnübung. Inzwischen findet sich die Kreative Werbung, so Hegarty, wer- Ideen, die alle Europäer verstehen.“ Phrase sogar in Feuilleton-Artikeln de deshalb „zum entscheidenden Teil Die Spots für den amerikanischen der Güter“. Und diese Teile fertigt Jeanshersteller Levi’s orientieren sich in * Für Sony und die Brauerei Boddingtons. BBH, ganz folgerichtig, industriell. Y

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Frauen AUFSTIEG IM NÄHKRÄNZCHEN Ob Frühstücks-TV, Nachmittags-Talk oder Mitternachts-Show: In den Programmen privater und öffentlich- rechtlicher Sender konkurrieren Frauen mit Männern um Einschaltquoten, Traumjobs und Millionengagen. Täuscht der Bildschirm-Schein, oder wird das Fernsehen zum Medium des schöneren Geschlechts?

laus Bresser, 57, trägt die Haare ger, vom Frühstücksfernsehen durch bis Linda de Mol („Traumhochzeit“) und jetzt wie einst Rodolfo Valentino. zum Mitternachtstalk. Ulla Kock am Brink („100 000 Mark KMit der linken Hand streicht er an- Ob es um 100 000 Mark geht oder um Show“) albern sich locker auf das Niveau mutig die zurückgekämmte Frisur glatt, die Bilder des Tages; ob ein perverser männlicher Lipperts und Lippchens. Und denkt nach und legt aus diesem Anlaß die Blutsauger oder eine weinende Politi- wer Nachrichten guckt, egal in welchem Stirn in Falten. kergattin vorgeführt wird, ein Braut- Programm, kann den Eindruck gewin- Hat er das richtig in Erinnerung, daß paar zu bejubeln oder eine Sorgenrunde nen, Politik würde von Frauen gestaltet. sich für den jüngsten Volontärlehrgang mit dem Thema „Hilfe, ich brauche ein In kaum einem öffentlich-rechtlichen beim ZDF „wirklich mehr Frauen als Hörgerät“ zu moderieren ist: Je heftiger Funkhaus werden noch Stellen besetzt, Männer beworben“ haben? Doch, doch, private und öffentlich-rechtliche Sender ohne daß ein Frauenförderplan zu beach- der Chefredakteur ist sicher, er wird so um Quoten und Marktanteile kämpfen, ten wäre. Doch die Landesfürsten, das lebhaft, daß sich eine Strähne löst: „Die um so mehr setzen sie auf die Anzie- berichteten Teilnehmerinnen auf dem Bewerberinnen waren fast alle besser hungskraft der TV-Sirenen. Münchner Expertengespräch „Medien- ausgebildet, lockerer im Auftreten alsdie Bei ARD und ZDF drängen mittler- macht für Frauen nutzen“, legen derarti- männlichen Konkurrenten und“, fügt der weile 30 Prozent weibliche Redakteure ge Empfehlungen recht unterschiedlich schön graue Mainzelmann „mit allem Re- in die erste Reihe, in den Privatstatio- aus. spekt“ hinzu, „attraktiver sowieso.“ nen schiebt sich neben ein bis zwei Der Ostdeutsche Rundfunk Branden- „Rundum überlegen“, findet Inten- Männer jeweils eine Frau (Anteil: 40 burg (ORB), eine Wendetochter der dant Jobst Plog, 53, präsentieren sich an- Prozent). ARD, setzt seit dem Start die Dienstan- gehende Journalistinnen auch im Ham- Margarethe Schreinemakers, 35, weisung von Intendant Hansjürgen Ro- burger Funkhaus des NDR. Akademi- quäkt für Sat 1 wöchentlich über fünf senbauer um, Frauen „in allen berufli- sche Abschlüsse, Auslandsaufenthalte Millionen Leute vor die Geräte. „Ex- chen Bereichen, Vergütungsgruppen und parallel zum Studium praktische Be- plosiv“-Moderatorin Barbara Elig- und auf allen hierarchischen Ebenen“ so rufserfahrung – „am liebsten“, sagt Plog, mann, 30, befriedigt täglich mit ein biß- lange zu bevorzugen, bis sie mit Männern „würde ich die alle einstellen“. chen Info und viel Peep-Show die Sen- gleichauf sind. Beim Zahlenverhältnis Programmdirektor Marc Conrad be- sationslust eines Vier-Millionen-Publi- der Geschlechter haben sich die TV-Pio- kennt sich seinem Alter (33) und seinem kums. Und Beichtschwester Ilona Chri- niere von Null auf Platz eins aller deut- Sender (RTL) gemäß in Verzeiht-mir- sten, 43, versammelt zu ihrem Psycho- Pose rückhaltlos zu seiner Schwäche fürs kränzchen schon nachmittags zuweilen Feminine: „Ich liebe Frauen und beson- mehr Gäste im Heimkino (Spitzenwert: ders in den Medien und vor allem bei 2,8 Millionen) als Quotenkönig Hans mir.“ Meiser. Die Männer ganz oben bestätigen, was die Zuschauer schon lange beobachten: Im Fernsehen scheint sich schneller als irgendwo sonst in der Gesell- schaft die Gleichstel- lung, wenn nicht ein Machtwechsel der Ge- schlechter, zu vollzie- hen. Auf allen Kanä- len, in jeder Sparte lä- cheln und quasseln sich weibliche Modera- toren, Nachrichten- sprecher, Glücksbrin-

* Mit Double im Wachsfigu- ren-Kabinett von Madame Showstar de Mol*, Sprecherin Gerboth (r.) Tussaud in Amsterdam. „Wir Blondinen haben eine Ausstrahlung“

118 DER SPIEGEL 23/1994 Quoten-Königin Schreinemakers: Mehr Interesse für den Kontostand als für die Frauenbewegung schen Fernsehsender katapultiert: In Haben die Frauen wirklich mal mit Männern auch mal punkten, solche Babelsberg, wo in Containern produ- Schwein gehabt? Wird das Fernsehen Vor-Bilder bringen Zuschauerinnen wo- ziert wird, arbeiten fast zwei Drittel zum Medium des schöneren Ge- möglich auf aufmüpfige Gedanken. Frauen. schlechts? Kommen Frauen so explosiv, Doch mit Frauen auf dem Schirm ist es Eher folkloristisch gehen die Bayern daß sie Männer von angestammten hei- nicht getan. Erst wenn sie auch in den das Thema an. Reinhold Vöth, bis 1990 ßen Stühlen stoßen? Oder sind Frauen Chefetagen dahinter Macherjobs beset- Intendant des Bayerischen Rundfunks, auf der Mattscheibe nur eine optische zen, stellt die Münchner Psychologin Git- erklärte die Gleichstellung zu seiner Pri- Täuschung, die mittels Bildschirmprä- ta Mühlen-Achs in ihrer Studie „Von vatsache; er fühle sich als „idealer Frau- senz gewandelte Machtverhältnisse vor- Männern undMäuschen“fest,könne sich enbeauftragter“, schließlich sei er spiegeln? „der weibliche Blick – nicht zuletzt auf „Vater und Großvater von Töchtern Hätten die Frauen das Sagen – es wäre sich selbst – als eine dem männlichen und Enkelinnen“. Opas Nachfolger Al- ein Bildersturm mit weitreichenden Fol- gleichwertige Sicht etablieren“. bert Scharf will zwar auch keine Förder- gen. Falls Hierarchen wie Bresser, Plog Aber will das jemand? stelle, aber er hat immerhin in einem und Conrad (bundesweit gibt es nicht ei- Der weibliche Blick – Ulla Kock am Jahr 17 Frauen in die mittleren Gehalts- ne Intendantin) begabte Kolleginnen Brink kullert ihre Puppenaugen Rich- gruppen aufsteigen lassen. Schon grölt konsequent befördern, verändern sie tung Pony, „damit habe ichnun garnichts die Abendzeitung: „Die Powerfrauen nicht nur das Kräfteverhältnis in den Sen- am Hut“. Gewiß, sie findet es „ziemlich lassen im Fernsehen die S(ch)au raus.“ dern, sondern womöglich das Rollenver- bescheuert“, wenn in ihrer Show die Ge- ständnis beim Fernseh- winner-Autos mal wieder von dürftig be- volk. deckten Mädchen vorgeführt werden; Das Fernsehen, das einmal hat sie das Produzent John de Mol hat sich auch bis zum gesagt, der anderer Meinung war. „Aber Bundesministerium für wegen so was eine Kraftprobe? Nee.“ Frauen und Jugend Das ist es ihr nicht wert. herumgesprochen, Etwas anderes wäre, wenn die Hosen- könnte stärker als trägerin selbst im Rock moderieren soll- Gleichstellungsbeauf- te. Da wird die blonde Showmaid zur Suf- tragte und Quotenbe- fragette. „Dann würde ichstreiken, dafür schlüsse „dazu beitra- sind mir meine Beine zu kräftig.“ gen, den Weg zu mehr Eine Frau mit Sinn für Format. Voka- Partnerschaft zwischen beln aus der Zeit der Weltverbesserer wie Frau und Mann zu un- Bildungsfernsehen oder Aufklärung – da terstützen oder zu be- gähnen die Heroinen der Unterhaltungs- hindern“. Weibsbil- industrie (wiederen Brüder). Ihr Auftrag der, die in Spielserien lautet: Volksbelustigung, ihre Botschaft ihr Leben im Griff ha- liegt im Design. ben, Journalistinnen, Wo sich Qualität an Einschaltquoten Rock-Gegnerin Kock am Brink, Assistenten die Politik kommentie- mißt, gibt es keine Quotenfrauen. „Bei „Dafür sind mir meine Beine zu kräftig“ ren und in Interviews mir zählt nur Leistung“, sagt Ilona Chri-

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Werbeseite sten. In ihrem Team arbeiten 24 Frauen und 10 Männer, alle wichtigen Positio- nen sind weiblich besetzt. Ihren Mitar- beiterstab leitet die Privatstationsschwe- ster wie ihre Plauderstunden: mit reso- lutem Charme, der auf Blockabsätzen steht und ohne weibliche Waffen aus- kommt. „Ich bin völlig unpolitisch“, räumt die Chefin ein. Wenn sie in ihrer Sprech- stunde fragt: „Wo sind die Frauen im Elfer-Rat?“ braucht sich weder Großva- ter Vöth in Bayern noch Opa Normal- bürger zu fürchten – es geht um „Fa- schings-Feministinnen“. Macht ausüben heißt bei TV-Unter- nehmerinnen wie Schreinemakers, Chri- sten, Kock am Brink, de Mol und Co. Selbermachen. Nicht irgendwelche kol- lektiven Ziele, sondern sich selbst ver- wirklichen, ob es die Wahl jenes Brillen- ungetüms ist, das die Gastgeberin un- möglich nach ästhetischen Kriterien aus- gesucht haben kann, oder die Gelbnu- ance in der Christen-Arena. Seit die Talkerin, die als Cutterin begann, auf dem RTL-Produktionsgelände in Köln- Hürth Narrenfreiheit genießt, hat sich ihr Traum von Karriere erfüllt. Diese Macherinnen interessieren sich mehr für ihren Kontostand als für die Frauenbewegung. „Ab 45“, sagt Chri- sten, „ist für Frauen im Fernsehen die Zukunft vorbei.“ Bis dahin will sie ge- nug verdient haben, um mit Mann und Hund im Chalet am Vierwaldstätter See zu privatisieren. Entwarnung auf der ganzen Linie. Auch im öffentlich-rechtlichen System droht dem Patriarchat keine Gefahr. Die Schwestern von Dagmar Berghoff, ob im Studio oder in der Redaktion, sind nicht halb so einflußreich wie ihre Bildschirmpräsenz vermuten lassen könnte. Wo im Fernsehen über Pro- gramminhalte entschieden, wo die Wahrnehmung von Wirklichkeit mit Worten und Bildern beeinflußt, Perso- nal eingesetzt und außertariflich bezahlt wird, tragen 80 Prozent Männer die Verantwortung und 100 Prozent Frauen das Kaffeetablett. Hier und da eine Alibifrau – das gab es schon, als Julia Dingwort-Nusseck 1973 Chefredakteurin beim WDR wur- de. Abgesehen von solchen Schön- heitspflästerchen gilt noch heute, allen Gleichstellungsbeteuerungen zum Hohn, was der Politologe Erich Kü- chenhoff vor 20 Jahren in seiner Fern- sehstudie zusammenfaßte: „Männer handeln, Frauen kommen vor.“ Entsprechend selten finden weibliche Mitarbeiter sich in gutdotierten Positio- nen. Frauen, die bei der Einstellung mit den Kollegen noch fast gleichauf waren, „gehen in den ARD-Anstalten“, sagt Geri Nasarski, 49, Chefredakteurin in Brandenburg, „beim Aufstieg irgendwie verloren“. Selbst beim frauenfreundli- chen ORB arbeiten in den beiden höch-

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galt sie bald als „Politiker- Schreck“ (Stern); sie wirke, schrieb die Zeit, wie die „abgebrühte Kommandan- tin einer intergalaktischen Truppe“. Zweifellos, das räumen private und öffentlich- rechtliche TV-Herren uni- sono ein, komme „die De´- sire´e fabelhaft über den Schirm“, und auch ihr Handwerk beherrsche sie. Dabei sehen der Klaus und der Marc aber aus, als hät- ten sie auf Zitronen gebis- sen. Nach dem Wahlspruch: „Ich mach’ was Großes aus De´sire´e Bethge dir, Kleines“, sagt Bethge, „helfen Männer gern, so- lange wir Anfängerinnen sind“. Doch die Karriere- frau, das unberechenbare Brigitte Bastgen Wesen, halten sie im Medi- um wie im Leben von sich und ihresgleichen lieber fern. Moderatorin Bethge ist arbeitslos, seit der Köl- ner Sender Vox kollabiert ist. Gern gesehen sind dage- gen artig lächelnde Verkäu- ferinnen leicht konsumier- barer Ware. An die kann sich inhaltlich und äußerlich Sabine Christiansen kaum jemand erinnern, Karrierefrauen im Fernsehen weil sie wie nach Katalog „Ich mach’ was Großes aus dir, Kleines“ und im Dutzend eingekauft wirken. Weil diese Wahrnehmung der Ein- „Erstaunlich mutet die relativ geringe schaltquote guttut, locken die führen- Zahl gepflegt wirkender Männer an“, Lucretia Jochimsen den Networks der USA weibliche News- faßt eine Studie der Medienforscherin Stars ohne Rücksicht auf Alter und Monika Weiderer zusammen, die 1993 sten Einkommensklassen (17 Mitarbei- Schönheit, wie zuletzt Diane Sawyer, das Frauen- und Männerbild im deut- ter) gerade 5 Frauen. 48, auf Millionen-Dollar-Jobs. Von da schen Fernsehen untersucht hat. Dage- Ost-Expertin Nasarski ist sicher, daß aus bringen Moderatorinnen Selbstdar- gen entspreche fast ein Drittel der Pro- sie den Führungsjob vor allem deshalb steller jeder Profession und jeden Ge- tagonistinnen „dem gesellschaftlichen gekriegt hat, „weil Männer psycholo- schlechts mit einer Neugier ins Schwit- Schönheitsideal in hohem Maß“ – wenn gisch schwierige Arbeitssituationen wie zen, die allgemein als weiblich gilt und auch auf völlig enterotisierte Weise. hier, mit 97 Prozent Ossis, nicht gerade deren Biotop das Fettnäpfchen ist. Wer sich heute durch die Kanäle suchen“. Statt dessen, berichtet NDR- Ob er noch Jungfrau sei, wollte zappt, kann die Barbiepuppen der Sta- Intendant Plog, „springen männliche Oprah Winfrey, der Welt höchstbezahl- tionen kaum voneinander unterschei- Kollegen auf jede Stelle, die mit einem te Talknudel, von Michael Jackson wis- den. Während französische und italieni- Dienstwagen verbunden ist“. sen. Der errötete: „Wie können Sie so sche TV-Journalistinnen so typbewußt Wirklich zahlreich erscheinen Frauen etwas fragen.“ wie kompetent Informationen und Hin- in Programmen, in denen sie viel zu Im deutschen Fernsehen wird freches tergründe darbieten, ist die deutsche plappern, aber wenig zu sagen haben: in und direktes Angehen dagegen noch als Fernsehfrau laut Statistik „jung, den Nachrichtensendungen von Tages- respektlos gebrandmarkt, vor allem schlank, gepflegt, blond und annähernd schau bis n-tv. Zwar behaupten Medien- wenn es Frauen einfällt. gut gekleidet“. Selbst die Fernsehzeit- experten der englischen Aufsichtsbehör- De´sire´e Bethge, 42, führte beim schrift Hör zu diagnostiziert „beliebige de für Qualität im Fernsehen, telegene WDR jenen schnoddrigen Interview-Stil Austauschbarkeit“. Weiblichkeit sei für Informationspro- ein, der dem Magazin ZAK heute bun- Der Trend zur Blauäugigkeit verstellt gramme ungeeignet. Doch hierzulande desweit Zuschauer- und Kritikerauf- manchen Damen obendrein den Blick dominieren andere Einsichten. merksamkeit sichert. Weil die rotborsti- auf das, was die Fachzeitschrift Publizi- Sprechende Frauen, findet Rudi Car- ge Hessin Schwafelkönige in Verlegen- stik und Kunst unverändert als „Sexis- rell, „sind doch das Schönste“. Ein heit brachte, wenn sie etwa nach dem mus im Programm“ vermeldete: „Wir Schneewittchen wie Brigitte Bastgen, politischen Pflichtteil bemerkte, daß Blondinen haben eine Ausstrahlung“, 39, die seit vier Jahren beim ZDF die dem damaligen Bundesaußenminister stellt Pro-7-Moderatorin Christiane „heute“-Sendung präsentiert, mache Hans-Dietrich Genscher gewiß auch Gerboth, 28, treuherzig fest und hilft „sogar schlechte Nachrichten schön“. noch im Bett was zur Politik einfiele, mit Aufheller nach – die Beautys mer-

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Werbeseite GESELLSCHAFT ken nicht mal, „daß sie zu einem typi- das „auslandsjournal“ übernommen. Rentenalter ausgestellt – hinter der Ka- schen Produkt der Wegwerfgesellschaft Ansonsten sind auch in Mainz die Auf- mera, wo Falten keine Rolle spielen. degradiert werden“ (Hör zu). gaben nach Geschlechtern verteilt: Mä- Rund 30 Jahre lang hat Luc Jochim- Als Vertreterin der adretten Betuli- dels dürfen lesen, Jungens ordnen ein. sen beim Fernsehen alles gemacht, was chen schaffte nur eine deutsche TV-Frau „Eine eigene politische Meinung“, Ärger und Ehre einbringt. Sie prangerte den Aufstieg in jene Elite, die dem schau- sagt Brigitte Bastgen, „wird in unserem bei „Panorama“ die Scheinheiligkeit des lustigen Volk die Welt erklären darf: Job eher als störend empfunden.“ Was Vatikans an, kassierte 1971 einen Grim- „Tagesthemen“-Moderatorin Sabine wirklich wichtig scheint, teilen Männer me-Preis und war 1991 die erste Frau, Christiansen, 36, hat seit ihrem Fehlstart anderen Männern mit, fast so, sagt Bast- die ein mehrköpfiges ARD-Auslands- als Blondmaus neben Silberhäuptling gen, „als lebten wir noch zweigeteilt in büro übernahm. Hanns Joachim Friedrichs, 67, Routine Stammtisch und Nähkränzchen“. Daß es im Journalismus hinderlich ist, und Fans gewonnen; der Playboy erklär- Im Kölner RTL-Casino sieht es zur eine Frau zu sein, hat die cum laude pro- te die norddeutsche Kaufmannstochter Mittagspause zwar aus wie in einer Kan- movierte Soziologin früh kapiert; als sie hinter Ansagerin Birgit Schrowange zur tine der Abteilung Damenoberbeklei- zweiterotischsten Fernsehfrau. dung. Die weibliche Vormacht endet je- Mittlerweile bemüht sich die Ex-Ste- doch wie bei Sat 1 auf der Ressortleiter- „Die Frauenquote wardess, journalistisch zu rechtfertigen, Ebene. von gut 10 auf knapp was ihr qua Jugend, Geschlecht und Christiane Ruff, 33, ist eine von 15 CDU-Nähe zugefallen war. „Doch dem Bereichs- und Ressortleiterinnen, um- 20 Prozent erhöht“ Ansehen von Frauen in Führungspositio- geben von 61 Männern. Dennoch haben nen“, sagt eine ARD-Chefin, „hat dieda- weibliche Mitarbeiter bei den Privaten in den fünfziger Jahren erste Manu- malige Fehlbesetzung sehr geschadet.“ vergleichsweise gute Aufstiegschancen. skripte anbot, entsexualisierte Lucretia Die vielen anderen maskenhaft Schö- „In meiner Generation“, sagt Ruff, die ihren Vornamen zu Luc. nen in den Informationsressorts tragen glatt als Schwester des Komödienstars Obwohl ihre Qualifikation im Kolle- nur vordergründig zu dem Eindruck bei, Dirk Bach durchginge, „spielt das Ge- genkreis unbestritten war, „wäre es da- Frauen hätten das Medium erobert. schlecht nicht mehr die Rolle.“ Bei RTL mals undenkbar gewesen, einer Frau die Wenn sich die 15 Chefredakteure der liegt das Durchschnittsalter bei 33,1 Jah- Leitung der „Panorama“-Redaktion an- ARD mittags zur Konferenz zusammen- ren. Außerdem sind in den Kommerz- zubieten“ (Jochimsen). Den Korrespon- schalten, um Themen und Meinungsbei- sendern die Karrierezeiten kürzer. dentenposten in London hat sie Eigen- träge festzulegen, mischen sich gerade „Was ich hier in fünf Jahren geworden sinn und Ehrgeiz zu verdanken. An- mal drei Kolleginnen ein. Dementspre- bin“, sagt Ruff – Vice-president nennt fangs trauten ihr die Herren in der Chef- chend selten kommen Frauen abends vor sich das –, „dafür hätte ich im WDR 30 etage nur die Stellvertretung zu – für der Nation zu Wort: Von 264 „Tagesthe- Jahre gebraucht.“ sechs Monate, normal sind drei Jahre. men“-Kommentaren im vergangenen Die ehemalige „Tutti-Frutti“-Produ- „Zum erstenmal“, sagt Jochimsen, Jahr wurden 246 von Männern gespro- cerin Ruff erfindet 60 Wochenstunden „hat mir das Frau-Sein wohl jetzt gehol- chen. lang Lachprogramme von Hape Kerke- fen.“ Weibliche Rundfunk- und Verwal- Im ZDF leitet Barbara Friedrichs die ling bis „Stanglwirt“. Doch „solche tungsratsmitglieder fordern bei der Be- Hauptredaktion Innenpolitik, und Su- Jobs“, sagt sie, „sind nur für Singles ge- setzung von Führungspositionen neuer- sanne Gelhard, 36, die zuletzt von den macht“, wer Familie hat, hat kaum eine dings eine Erklärung, wenn keine Be- Kriegsfronten im früheren Jugoslawien Chance. Dementsprechend wird öffent- werberin durchkommt. Seit Anfang des berichtete, hat als erste Frau eine außen- lich-rechtlichen Frauen das Zeugnis der Jahres ist Luc Jochimsen Chefredakteu- politisch so bedeutende Redaktion wie Chef-Reife vorzugsweise kurz vorm rin des Hessischen Rundfunks. „Meine Berufung“, sagt die Nürnbergerin, „hat die Frauenquote in der obersten Etage auf einen Schlag von gut 10 auf knapp 20 Prozent erhöht.“ Unten steigen Frauen massenhaft ein, und wer durchkommt, macht von oben Druck. „Noch fünf Jahre“, warnt die Bild-Zeitung, „dann übernehmen Frau- en die Macht.“ Amerikas derzeit promi- nenteste Zukunftsforscherin, Faith Pop- corn, 46, sieht für Männer eine Horror- vision voraus. Auf den Führungsebenen werde es „zu einem gewaltigen Macht- kampf“ kommen, und: „Die Frauen werden siegen.“ Im Weißen Haus, prognostiziert die Sterndeuterin aufs Jahr genau, „wird 1998 zum erstenmal eine Frau zur US- Präsidentin gewählt – Hillary Clinton.“ Etwa zur selben Zeit steht im Funkhaus des Norddeutschen Rundfunks die Wahl eines neuen Intendanten an. Lu- cretia Jochimsen wäre dann 62 Jahre alt. Y

* NDR-Programmdirektor Jürgen Kellermeier, ARD-Programmdirektor Günter Struve, SFB-Inten- dant Günter von Lojewski, NDR-Intendant Jobst Männliche TV-Hierarchen*: „Jede Stelle mit Dienstwagen“ Plog.

126 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

Werbeseite GESELLSCHAFT

Pfarrer Tägliches Brot Mit Geschichten von Mord, Tot- schlag und menschlicher Niedertracht stürmt ein Zürcher Seelsorger die Bestenlisten.

n Sils Maria im Oberengadin, wo schon vor mehr als hundert Jahren Ider Professor Nietzsche seine Ruhe suchte, wirkt die Welt auch heute noch wie im Gleichgewicht. Die Klientel ist bürgerlich und betucht; zu den Stamm- gästen gehören Manager und Minister, Anwälte, Ärzte und Pastoren. Sie lieben Diskretion und gediegene Gastlichkeit; alles Laute und Schrille ist ihnen ein Greuel. Doch hinter den properen Fassaden, weiß der Zürcher Pfarrer Ulrich Knell- wolf, lauern wie überall Habgier und Ei- fersucht, Haß, Neid und Frust. Gele- gentlich brennen die Sicherungen durch. Dann gibt es Tote. Die landen in einem Eisloch des male- rischen Sees, liegen erdrosselt im Hotel- zimmer oder – paarweise – mit einge- schlagenen Schädeln in einem Stall. An- ders als im Kino gibt es in Sils aber kei- nen Kommissar, der Jagd auf die Täter macht; mit Sanktionen ist nur aus- nahmsweise zu rechnen. Das sei nicht weiter erstaunlich, fin- det Knellwolf, 52, Erfinder von „13 üblen Geschichten“ über den „Tod in Sils Maria“*: „Im wirklichen Leben ist es doch genauso.“ Der Mann muß es wissen. Als Pastor an der evangelisch-reformierten Predi- gerkirche ist er auch zuständig für das Rotlichtviertel in der Zürcher Altstadt. Dort, zwischen Sexshops und Strip- tease-Bars, kommen ihm Geschichten zu Ohren, „die ich gar nicht schreiben könnte. Schwarz auf weiß nähme sie mir niemand ab“. Der Engadiner Totentanz, vor Ort während Schlechtwetterferien kompo- niert, klingt dagegen vertraut, die Schauplätze sind echt, Opfer und Täter dem richtigen Leben nachmodelliert. Etwa so: Einem Stammgast gerät der allabendlich genossene „Drink des Ta- ges“ in den falschen Hals. Er beschwert sich bei Barmann Camillo über das un- genießbare Gesöff. Der, tief beleidigt, serviert einen neuen Cocktail. Jetzt

* Ulrich Knellwolf: „Tod in Sils Maria. 13 üble Ge- schichten“. Arche Verlag, Zürich; 140 Seiten; 28 Mark.

128 DER SPIEGEL 23/1994 scheint der Mann zufrieden. sandten des Genfer Weltkir- Doch Camillo lacht schal- chenrates Einfluß in einem lend: „Es ist dasselbe Glas. südamerikanischen Klein- Ich habe bloß ein wenig staat verschaffen. Am nachgefüllt.“ Am frühen Schluß entkommt er um Morgen schieben zwei Män- Haaresbreite einem An- ner vor dem Hoteleingang schlag, weil sich die einzige diskret einen Metallsarg in positive Figur des leicht einen Leichenwagen, und überdrehten Thrillers, ein abends hat der Barkeeper ei- aufrechter Erzbischof a`la nen neuen Drink im Ange- Helder Camara, bei ihrem bot: „Camillo’s Secret“. ersten und einzigen Auftritt Auch Walter und Esther, den Killern in die Schuß- erfolgreich, dynamisch und bahn wirft. exzellente Sportler, machen Die Lektorin, belustigt Urlaub im hochalpinen sich Knellwolf, habe den Reizklima. Sie wedeln am Roman zunächst nicht an- liebsten abseits der Piste. nehmen wollen, so abgrund- Hoch über dem Talgrund, tief unmoralisch sei er ihr auf einem weiten Firnfeld, vorgekommen. Doch das ist packt Walter unversehens gerade, was ihn reizt: „Es ist die Gelegenheit, seinem Le- mein tägliches Brot als Pfar- ben eine neue Richtung zu rer, zu sehen, daß die mei- geben. Als der Schnee plötz- sten Lebensgeschichten ir- lich ins Rutschen kommt, gendwann an Katastrophen übersieht er Esthers ausge- vorbeischrammen.“ streckte Hand, überhört ih- Der Autor wehrt sich ge- ren Hilfeschrei und läßt die gen die naheliegende Ver- Gattin sausen. mutung, er erfinde seine Schlegel dagegen, ein ei- bösartigen Storys nur, um fersüchtiger Zürcher Wirt- sich seinen allzeit von Aus- schaftsjurist, muß geduldig gleich, Harmonie und schö- auf günstiges Wetter warten. nen Worten bestimmten Job Endlich, im dichten Schnee- erträglicher zu machen. So gestöber, kann er Sir Geof- harmlos will er weder seine frey, 64, dem ebenso reichen Arbeit noch seine üblen Ge- wie kurzatmigen Verlobten schichten verstanden wissen. seiner geliebten Tochter Li- Bei Lesungen ist er im- lian, eine Abkürzung zeigen. mer wieder überrascht, wie „Die Schußfahrt schien ihm Krimi-Autor Knellwolf, Schauplatz Sils Maria schnell die Diskussion je- zu gefallen. Schlegel sah Tot im Eisloch, erdrosselt im Hotel weils zu theologischen Fra- noch, wie er verwegen die gen vorstößt – gerade mit Arme hob, und hörte einen grunzenden Friedrich Dürrenmatt mit seinem kei- Leuten, die nie daran denken, in einen Jauchzer. Dann kamen die Felsabstür- neswegs nur literarisch gemeinten Ge- Gottesdienst zu gehen. „Das beweist ze. Schlegel sah nichts mehr, hörte setz, daß eine Geschichte erst dann zu mir, wie sehr die Kirche in einem selbst- nichts. Kein Krachen, nichts. Alles war Ende ist, wenn sie die schlimmstmögli- verschuldeten Ghetto steckt. Vielleicht verschneit.“ che Wendung genommen hat. Gott ist ist das Predigtschreiben für mich eine Später, die Tochter zurück in Lon- für Pfarrer Knellwolf dabei nicht etwa Art Ghetto geworden – und meine don, die Leiche eingeäschert, zwicken tot, ganz im Gegenteil. Im vielgestalti- Schriftstellerei ist der Versuch, mich Schlegel Gewissensbißchen. Doch Lili- gen Schweizer Protestantismus vertritt daraus zu befreien.“ an überrascht den Vater per Fax: „Ich er die konservative, an Luther orientier- Knellwolf hat 1990 eine Dissertation danke Dir, daß Du für mich ein Problem te Position, daß Gnade wichtiger sei als über Jeremias Gotthelf vorgelegt. Auch gelöst hast. Ich war sicher, daß Du es alle Ethik. Knellwolf bündig: „Daß die dieser herausragende Realist in der tun würdest.“ Moral in meinem Beruf eine zentrale Schweizer Literatur des 19. Jahrhun- Was treibt einen Pastor dazu, einen Funktion hat, glaube ich nicht.“ derts verstand seine Romanproduktion Intellektuellen zumal, der mit größtem Ebensowenig wie die Geistlichen kön- als Ausweg aus einer Verkündigungskri- Ernst von seinem Beruf spricht, solche nen die Kirchen, weder die eigene noch se. In seinen Werken demonstrierte der Gemeinheiten unter die Leute zu brin- die katholische, noch alle anderen, als Pfarrer von Lützelflüh, so Knellwolf, gen? Bloße Lust an bösen Phantasien, Vorbild dienen. Vor zwei Jahren be- daß sich „das Amt der Verkündigung sagt Ulrich Knellwolf, sei es nicht. Wohl schrieb der Zürcher Pastor in seinem nicht auf der Kanzel abspielt, sondern möglich also, daß der Verkaufserfolg, Erstlingsroman „Roma Termini“ höch- auf dem Markt“. der die Silser Geschichten in den Spit- ste Würdenträger als korrupt und krimi- So möchte er das Bewußtsein fördern, zenrängen der Bestenlisten hält, auf ei- nell. daß „nicht Sündenverhinderung die er- nem Mißverständnis beruht. Der Theo- Held der Geschichte ist ein wendiger ste Aufgabe der Theologie ist. Viel loge Knellwolf will jedenfalls nicht un- Schweizer, der gelegentlich beiden Kon- spannender ist es doch herauszufinden, terhalten, sondern „zeigen – wenn auch fessionen als Geistlicher dient und sich was zu sagen ist, wenn ein Sündenfall ein wenig lachend –, daß die Welt in Un- auch als Drogendealer, Waffenhändler passiert ist“. ordnung ist und bleibt“. und Geldwäscher durchs Leben lügt. Aus der intellektuellen Einsicht wird Da grüßen Albert Camus, der Pro- Von allen Parteien umworben, soll er im nächsten Buch blutiger Ernst. Knell- phet des Absurden, und der große mal Klerikern des Vatikans, mal Abge- wolf sitzt an einem Dracula-Projekt. Y

DER SPIEGEL 23/1994 129 AUSLAND PANORAMA

vom ältesten Sohn Philip ge- Nahost führt, er habe ein reines Ge- wissen. Dennoch versuchte Reynolds’ Regierungspartei Terroristen Fianna Fail eine Parlaments- debatte über die umstrittene planen Rache Staatsbürgerschaftsverlei- Kämpfer der islamischen Wider- hung zu verhindern. Die Op- standsbewegung Hisb Allah position forderte den Kabi- (Partei Gottes) bereiten in Zu- nettschef bereits zum Rück- sammenarbeit mit Top-Terrori- tritt auf. Auch beim sozialde- sten Anschläge gegen israelische mokratischen Koalitions-Ju- Ziele im Ausland vor und wollen niorpartner Labour wächst dabei auch auf deutschem Boden der Unmut über den arg in operieren. Nach Erkenntnissen Bedrängnis geratenen Pre- arabischer Nachrichtendienste Islamische Widerstandskämpfer im Südlibanon mier. hat ein enger Mitarbeiter des le- gendären Terrorristen Carlos zur Vorbe- Deutschland eingeschleust. Die geplanten Europäische Union reitung von Aktionen bereits sein Versteck Terroraktionen sollen die Entführung des in Iran verlassen und ist in Beirut einge- islamischen Aktivisten Mustafa el-Dirani Wachsamkeit troffen. In der libanesischen Hauptstadt rächen. Den Chef der Gruppe „Gläubiger hat der Carlos-Helfer mit dem Chefkoordi- Widerstand“ hatten israelische Spezialein- bei Neofaschisten nator für Auslandsaktionen der iranischen heiten vergangenen Monat aus dem Liba- Auf teilweise schroffe Ableh- Hisb Allah den Aufbau von Terrorzellen non entführt, um so Informationen über nung stößt die Teilnahme abgesprochen, die auch in der Bundesrepu- das Schicksal des 1986 nach israelischen neofaschistischer Mitglieder blik aktiv sein sollen. Die Mitglieder rekru- Erkenntnissen in die Hände von Dirani- der italienischen Berlusconi- tieren sich vor allem Kämpfern gefallenen israelischen Kampf- Regierung an Sitzungen des aus der islamistischen fliegers Ron Arad zu erhalten. Während EU-Ministerrats in Brüssel. Bewegung in Tune- die Sicherheitsvorkehrungen für israelische Griechenlands Premier An- sien. Auch die be- Einrichtungen im Ausland erhöht wurden, dreas Papandreou, derzeit rüchtigte Terrororga- verstärkte Jerusalem den militärischen Vorsitzender des Rats, warn- nisation des Abu Ni- Kampf gegen die islamischen Extremisten. te vor einer „weichen Lan- dal hat bereits vier Bei einem Luftangriff auf Hisb-Allah-Stel- dung“ der Neofaschisten in Kämpfer mit ge- lungen im Libanon am vorigen Donnerstag den Gremien; Frankreichs fälschten Reisedoku- starben mindestens 25 Menschen. Die Got- Außenminister Alain Juppe´ menten von Beirut teskämpfer schlugen mit Raketenangriffen forderte verstärkte „Wach- Entführter el-Dirani über Zypern nach auf den Norden Israels zurück. samkeit“, damit der Faschis- mus durch die Präsenz von Rechtsextremen in Minister- Slowenien teidigungsminister Janez Jan- des Reynolds-Vertrauten sitzungen nicht wieder salon- sˇa war erst jüngst entlassen und Umweltministers Mi- fähig werde. Und der belgi- Kriminelle in worden, weil Mitglieder ei- chael Smith die irische sche Telekommunikations- ner Sondertruppe seines Res- Staatsbürgerschaft. Reynolds minister Elio di Rupo verwei- der Elitetruppe sorts einen angeblichen Spi- beteuert, er habe an dem gerte seinem rechtsextremen Der slowenische Innenmini- on auf offener Straße kran- Paß-Deal „nicht teilgenom- Kollegen aus Rom, Giuseppe ster Ivan Bizjak, 37, ist über kenhausreif geprügelt hatten. men“ und die Masri-Familie Tatarella, den Händedruck. die Affäre um eine Sonder- nicht gekannt. Um jegliche einheit seiner Polizei gestol- Irland Verquickung von Politik und Rußland pert, die den Verdacht nahe- Kommerz zu vermeiden, legt, daß die Sicherheitskräf- Paß-Affäre werde C & D Foods seit sei- Strahlung te kriminell durchsetzt sind. nem Eintritt in die Regierung Zu Pfingsten hatten fünf Slo- bedrängt Premier verseucht Fische wenen im benachbarten Irlands Premierminister Al- Die Karasee im Nordpolar- Österreich einen Raubüber- bert Reynolds, 58, steht im meer ist radioaktiv weitaus fall verübt, bei dem ein Täter Verdacht, Amts- mit Privat- stärker belastet als vermutet. gefaßt wurde. Im Verhör ent- geschäften vermischt zu ha- In den Gewässern um die In- puppte sich der Festgenom- ben. Der Regierungschef und selkette Nowaja Semlja hatte mene als Angehöriger der seine Frau sind Eigentümer die Sowjetunion unter Miß- Antiterroreinheit des slowe- der Firma C & D Foods, achtung völkerrechtlicher nischen Innenministeriums. Hersteller von Tiernahrung, Verträge und internationaler Der Truppe gehören auch vor allem Hundefutter Sicherheitsvorschriften seit seine inzwischen verhafteten (Markenname „Max“). Mit 1959 radioaktiven Müll ver- Komplizen an. Der Raubzug etwa 2,5 Millionen Mark wa- senkt, ehe das Riesenreich war nicht der erste Coup der ren 1992 die saudiarabische Ende 1991 selbst unterging. Polizisten, die mit Überfällen Geschäftsfrau Nadschwa Sa- Um eine Erforschung des ihr Gehalt aufbesserten. Der bih Masri und ihr Sohn in den größten Atomfriedhofs der Rücktritt des christdemokra- Reynolds-Betrieb eingestie- Welt zu verhindern, wurde tischen Innenministers folgt gen. Kurz darauf erhielten im Oktober 1992 ein Schiff einem anderen Skandal. Ver- die Investoren auf Vorschlag Premierminister Reynolds der Umweltschutzorganisati-

130 DER SPIEGEL 23/1994 on Greenpeace vom russi- schen Militär beschossen, die Besatzung verhaftet und länger als eine Woche fest- gehalten. Daß neben den be- kannten nuklearen Müllkip- pen, auf denen etwa 16 Atomreaktoren aus U-Boo- ten liegen, noch einiges zu entdecken ist, kann Nikolai Aibulatow, Direktor am Ozeanologischen Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften, jetzt bele- gen. Messungen ergaben nicht nur in der Nähe der of- fiziell bestätigten Lagerstät- ten bedrohliche Strahlungen. Weit draußen auf See wur- den noch weitaus höhere Werte des Radionuklids Cä- sium 137 gemessen. An die- sen Stellen sollen sich zu- mindest zwei weitere strah- lende Halden befinden.

n d Rußla

Bereits bekannte Atom-Müllkippen Radioaktiv belasteter Meeresgrund (Werte in Becquerel Cäsium 137 pro Kilogramm Meeresboden)

lja Barents- m e Karasee see S ja a w o N 149 59 245

0 100 200 45 Kilometer Amderma 95

Ob

Auch in Buchten nahe dem Festland und dem Hafen Amderma stießen die For- scher auf hohe radioaktive Konzentrationen. Fische sind bereits verseucht. Mit weite- ren Messungen will Aibula- tow nachweisen, daß zudem der Fluß Ob eine besondere nukleare Fracht in die Kara- see einspeist – Pluto- niumreste aus der Atomwaf- fenproduktion in Tomsk.

DER SPIEGEL 23/1994 131 Werbeseite

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Afrika SCHMÄHLICHES VERSAGEN Das Morden in Ruanda geht weiter, die Flüchtlingsströme destabilisieren die Nachbarstaaten. In der Region verschärft sich der Kampf um die spärlichen Ressourcen. Aber die Organisation Afrikanischer Einheit (OAU) bringt nicht einmal ein Krisentreffen zustande. Ihr Niedergang kennzeichnet den Zustand des Kontinents.

Bergung von Leichen am Victoriasee, ruandische Flüchtlinge in Tansania: Kontinent der negativen Weltrekorde

r versteckte die Kinder eines zuwenig und zu spät, zumal der Sicher- die spärlichen Ressourcen. Besonders ermordeten Politikers vor Todes- heitsrat im April in Kigali stationierte im gleichfalls von Hutu und Tutsi bevöl- Eschwadronen in seinem Hotelzim- Uno-Truppen abgezogen hatte. Begrün- kerten Burundi kann jederzeit offener mer. Er schleuste eine Tutsi-Familie dung: Als nach dem Tod von Präsident Bürgerkrieg ausbrechen. durch 24 Straßensperren blutdurstiger Habyarimana der Krieg neu ausbrach, Burundi gehört zu den 16 Staaten, die Hutu-Milizen. Er kurvte allein im Auto konnten die Blauhelme ihren Auftrag – sich nach dem neuesten Human Deve- durch Ruandas umkämpfte Hauptstadt, Observierung des Waffenstillstands zwi- lopment Report der Uno in „Richtung um zur Rettung von Zivilisten Feuer- schen der Regierung und den Rebellen Kollaps“ bewegen. Nicht weniger als 12 pausen zwischen Regierungstruppen der Ruandischen Patriotischen Front jener Länder liegen in Afrika, dem Kon- und Rebellen zu arrangieren: Haupt- (RPF) – nicht weiter erfüllen. tinent der negativen Weltrekorde: Dort mann Mbaye Diagne, 32, aus dem Sene- Inzwischen mutierte der Krieg zum gibt es die weitaus meisten Flüchtlinge, gal, galt als der tapferste Mann von Ki- Völkermord. Von der Regierung unter- die höchsten Schulden und die meisten gali. stützte Killerbanden jagen die Tutsi- Aidskranken; dazu kommen die höchste Diagne fiel in der vergangenen Wo- Minderheit (einst zehn Prozent der Ru- Kindersterblichkeit und die niedrigste che im Kreuzfeuer bei einer Vermitt- ander), weil sie mit der RPF sympathi- Alphabetenrate. lungsmission. Der westafrikanische Of- siert. Die Mörder zerhacken ihre Opfer Afrikas Anteil am Welthandel sinkt; fizier trug das blaue Barett der Uno – mit Macheten und besudeln Kirchen mit er fiel auf unter zwei Prozent; ganz und half damit, das Ansehen der Welt- Blut, in denen die Menschen vergebens Schwarzafrika erzeugt ein Bruttosozial- organisation zu retten. 456 Uno-Solda- Zuflucht suchen. Aus Ruandas Flüssen produkt wie Belgien. Private Investoren ten in Kigali konnten in den vergange- treiben Zehntausende Leichen über den legen ihr Geld lieber in Asien an. nen Tagen mehrere hundert Flüchtlinge Victoriasee in Nachbarländer. Was hat Afrika noch zu bieten? Die durch die Kampflinien in Sicherheit Die haben Hunderttausende von Ru- meisten Rohstoffe sind zu ersetzen oder bringen. Nun sollen 5000 weitere Blau- anda-Flüchtlingen aufgenommen, das anderswo zu beziehen. Und den Trumpf helme in das afrikanische Bürgerkriegs- bettelarme Tansania allein 350 000. Die seiner strategischen Lage hat der land geschickt werden. Menschenströme verändern die ethni- Schwarze Kontinent mit dem Ende des Das ist angesichts von Ruandas Kil- sche Zusammensetzung der Anrainer- Kalten Krieges verloren. Deshalb ling Fields mit wohl 500 000 Ermordeten staaten und verschärfen den Kampf um schrumpft die staatliche Entwicklungs-

134 DER SPIEGEL 23/1994 Issayas Afaworke, das letzte Gipfeltref- fen der Afrikaner vor Jahresfrist in Kai- ro. „30 Jahre nach der Gründung dieser Organisation“, so Afaworke, „bleibt un- ser Kontinent mit wachsender Armut und Rückständigkeit geschlagen.“ Afrikas unabhängige Staaten hatten die OAU 1963 als ihren Dachverband gegründet. In ihrer Charta formulierten sie die Prinzipien der postkolonialen Ordnung: Respektierung von Souverä- nität und territorialer Unverletzlichkeit der neuen Staaten; Nichteinmischung in deren innere Angelegenheiten. Damit schrieben die Afrikaner aller- dings die von den Kolonialmächten will- kürlich durch Stämme und Völker gezo- genen Grenzen fest. Und sie standen zu- sammen, wann immer Kräfte gegen die- se Ordnung angingen. So unterstützte die OAU Nigerias Re- gierung im Krieg gegen die Ostprovinz des Landes, die unter dem Namen Bia- fra einen neuen Staat bilden wollte. Bia- fra unterlag; etwa eine Million Men- schen starben – aber ein Erfolg der Se- paratisten hätte in Afrika wahrschein- lich eine Kettenreaktion ausgelöst. Die OAU zu führen galt als große Eh- re. Afrikas Staatschefs wechseln sich im Vorsitz jeweils für ein Jahr ab. Doch heute spiegelt die OAU den hoffnungs- losen Zustand Afrikas wider. Die für die Gipfeltreffen errichteten Gebäude sind Edwardsee in den meisten Ländern verkommen UGANDA Victoriasee oder – wie etwa im liberianischen Mon- rovia – im Bürgerkrieg zerstört worden. In den verlotterten Büros der OAU- Zentrale im äthiopischen Addis Abeba K a langweilen sich frustrierte Bürokraten. g ZAIRE era Afrikas Regierungen schuldeten ihrer Byumba Organisation 1993 rund 70 Millionen Dollar; nur 5 von 51 Mitgliedstaaten wa- RPF- RUANDA kontrolliertes mend ein Bild der Hoffnungs- ren beim letzten Gipfeltreffen mit ihren Kiwusee Gebiet losigkeit“ ab. Nun bestätigen Beiträgen auf dem laufenden. So bleibt Kigali die Massaker in Ruanda dieses der gegenwärtige OAU-Generalsekre- Gitarama Image, zumal Afrikas Führer tär Salim Ahmed Salim aus Tansania wie gelähmt reagieren und Hil- arm und machtlos. Benako fe nur von außen erwarten. Der noch bis zum Monatsende amtie- Flüchtlingslager „Weshalb, um Gottes Wil- rende OAU-Vorsitzende, Ägyptens TANSANIA len, verlangen wir, daß Ameri- Präsident Husni Mubarak, ist als Frie- kaner oder andere nach Ruan- densvermittler zwischen Palästinensern da Truppen entsenden“, ent- und Israelis voll ausgelastet; Afrikas BURUNDI rüstet sich der Literatur-No- Nöte kommen im Gespräch mit ihm RUANDA belpreisträger Wole Soyinka möglicherweise gar nicht auf. aus Nigeria, „wenn wir in Afri- Die OAU bringt heutzutage nicht ein- ka nicht hinreichend aufge- mal mehr symbolische Gesten zustande. Tanganjikasee wühlt sind, um selbst etwas ge- „Die afrikanischen Führer“, ärgert sich gen dieses schmähliche Versa- der Nigerianer Soyinka, „sind so sehr gen unserer Menschlichkeit zu damit beschäftigt, in den vom Kolonia- hilfe der westlichen Industrieländer unternehmen?“ Es sei unglaublich, daß lismus geschaffenen künstlichen Tei- (1990: 25,7 Milliarden Dollar; 1993: 21 die Organisation Afrikanischer Einheit chen ihre Macht zu sichern, daß sie kei- Milliarden); der ehemalige Ostblock fällt (OAU) zu Ruanda nicht einmal ein Kri- ne Zeit für die Nöte der Menschen fin- als Finanzier praktisch ganz aus. Die sentreffen einberufen habe. den, die in diesen Tümpeln festsitzen.“ USA schließen in den kommenden drei Ein afrikanischer Führungspolitiker Für solche Menschen in Ruanda op- Jahren 9 von 21 Entwicklungshilfe-Mis- denkt ähnlich kritisch wie der Intellek- ferte sich Hauptmann Diagne aus dem sionen. tuelle Soyinka. Die OAU gebe es nur Senegal. Seine Kameraden bedeckten In der neuen Weltordnung, sobeklagte noch auf dem Papier – mit dieser Fest- den Sarg mit einer blauen Uno-Fahne, Äthiopiens Präsident Meles Zenawi En- stellung schockierte der Präsident des als sie ihn zum Flug zurück nach West- de Januar, gebe „unser Kontinent zuneh- gerade unabhängig gewordenen Eritrea, afrika trugen. Y

DER SPIEGEL 23/1994 135 AUSLAND „Nur noch Menschenmagma“ SPIEGEL-Redakteurin Almut Hielscher über die Killing Fields in Ruanda

ppige Bananenwälder und ernterei- drei Kinderleichen. Im Schlafsaal der ihr Leben lang nicht vergessen“, sagt fe Hirse- und Süßkartoffelfelder Seminaristen waren dicht an dicht nahe- der Arzt Me´dard Rutijanwa. Er behan- Üziehen sich bis hoch hinauf in die zu hundert Leichen auf blutigrotes Stroh delt 250 Patienten in der Oberschule Bergketten. Vor den liebevoll ange- gepackt. von Byumba, die notdürftig zum Hos- malten Gehöften wachsen Sonnenblu- Ein grauenhafter Anblick bot sich in pital umgewandelt wurde. men und rote Kapuzinerkresse. Kra- dem überdachten kleinen Hof am äu- In den Klassenzimmern, an deren niche gleiten über glitzernde Weiher ßersten Ende des Klosterkomplexes: Wandtafeln noch Mathematikaufgaben im Tal, Marabus stelzen durch blühen- 400 Menschen hatten sich hierher ge- und französische Vokabeln stehen, rei- de Wiesen. So könnte das Paradies flüchtet, ohne zu realisieren, daß sie in hen sich dicht an dicht Betten und Ma- aussehen. eine Falle liefen. Die Killer machten tratzen. Rutijanwa muß sich zu seinen Vor knapp acht Wochen war die Re- Hackfleisch aus ihnen. Ein Augenzeuge Patienten hindurchzwängen. Behutsam gion am Mohasi-See noch ein Vorhof sagt: „Es war nur noch Menschenmag- hilft er einem kleinen Mädchen, das der Hölle. Aufgeputschte Killerbanden ma.“ mit starrem Blick auf seiner Decke der herrschenden Partei erstachen und Die Überlebenden flüchteten in pani- liegt, sich aufzurichten. „Das ist Meku- zerhackten Tausende Männer, Frauen scher Angst in Richtung Süden. „Wir se. Sie ist acht Jahre alt. Ihr Name be- und Kinder, überwiegend vom Minder- fanden kaum noch Menschen in vielen deutet in unserer Sprache Geschenk Gottes. Sie hat als ein- zige das Massaker an ihrer Familie über- lebt.“ Dr. Rutijanwa war Anfang April auf ei- nem medizinischen Fachkongreß in Kam- pala (Uganda), als die blutige Treibjagd auf Tutsi begann. Nach- barn, denen die Flucht gelungen war, berich- teten ihm später, daß seine Frau und seine drei kleinen Kinder von den Hutu-Mili- zen, den Interahamwe („jene, die gemeinsam zuschlagen“), ermor- det worden waren. Dr. Rutijanwa ist entschlossen, den Überlebenden zu hel- fen, so gut wie seine Flüchtlinge im Stadion von Kigali: „Wer heilt bloß die zerstörten Seelen?“ begrenzten Mittel es ihm gestatten. „Die heiten-Stamm der Tutsi. Auch Hutu, Gebieten, die wir einnahmen“, sagt Fir- Macheten-Wunden können wir behan- die im Verdacht standen, mit den Tutsi min Gatera, Offizier der „Ruandischen deln, doch wer heilt bloß die zerstörten zu sympathisieren, wurden abgeschlach- Patriotischen Front“ (RPF). In der Seelen!“ tet. Stadt Byumba hausen hinter der katho- Zum Volk der Ruander gehören auch Die Klosterkirche von Nyarubuye, lischen Missionsstation Tausende von jene, die den Völkermord begangen ha- nicht weit von der Grenzstation nach Flüchtlingen aus allen Teilen des Landes ben und die noch immer morden. Am Tansania, hat die Kriegshandlungen heil in Zelten und Laubhütten. Donnerstag werden in der RPF-Basis überstanden. Im Portal breitet ein Gips- „Wir haben die Leute befreit“, sagt Gahini, 80 Kilometer nordöstlich der Christus seine Arme aus, um die Gläu- Denis Karera, ein RPF-Militär, der jetzt Hauptstadt Kigali, acht Mitglieder der bigen zu segnen. Der Rest dahinter war für hunderttausend Flüchtlinge verant- Interahamwe vorgeführt: Die Männer – ein einziges Leichenschauhaus, nach- wortlich ist, „nun schützen wir sie und der jüngste 16, der älteste Mitte 70 – dem die Todesschwadronen der Hutu- versorgen sie mit Nahrungsmitteln.“ kriechen aus einer Hütte. Milizen darin gewütet hatten. Claire Rudasingwa, eine zierliche Polit- Ja, bestätigen drei von ihnen, sie hät- Nachrückende Tutsi-Flüchtlinge ha- Kommissarin in Blue Jeans, hält Vorträ- ten im Auftrag der Partei gemordet. Mit ben das Massaker beschrieben: Gleich ge über Hygiene und Babypflege, aber Speeren, Macheten und Messern. Ana- vorn, am Fuße einer Treppe, lag eine auch über die Geschichte Ruandas und stasi Nkundabagenzi, 28, sagt, er habe Nonne mit halb abgehackten Kopf, da- den Kampf um die Demokratie. sein Opfer gut gekannt: „Er war mein neben ein totes Kind. Hinten, nicht weit Am schlimmsten leiden die Kinder. Nachbar. Ich mußte ihn töten, sonst hät- vom Altar, weitere zehn Frauen- und „Was sie mitgemacht haben, werden sie te man mich getötet.“

136 DER SPIEGEL 23/1994 Die Landstraße von Gitarama zur Hauptstadt Kigali ist ein einziges 40 Kilometer langes Flüchtlingslager. Die Wälder links und rechts sind auf wei- ten Strecken abgeholzt. Die aus Laub und Zweigen geformten Hütten dienen den Menschen, die hier durchziehen, als Transitbehausung. Der Horror übertrifft alles, was die Welt seit dem Völkermord der Roten Khmer in Kambodscha erlebt hat. Die Killing Fields sind überall. Ein Uno- Offizier berichtet von einer Flücht- lingskolonne auf der Straße nach Kiga- Die Schlacht um die Hauptstadt ist noch nicht geschlagen li, deren Weg er und seine Männer un- terwegs kreuzten. Kurz nach der Be- gegnung schlagen die Interahamwe zu. Als die Blauhelme nach ein paar Stun- den dieselbe Straße zurückfuhren, wa- ren die Flüchtlinge alle tot. Der Offi- zier sagt, es seien mindestens tausend gewesen. Die Schlacht um die Hauptstadt Ki- gali ist noch nicht geschlagen. „Die Stadt der tausend Hügel“ (Touristen- werbung) grüßt mit großflächigen Schildern auf der Einfahrtsstraße vom Norden her ihre Besucher. Auf den Straßen liegen Schuhe, Kleidungsstük- ke, Papiere verstreut umher. An eini- gen Ecken verfaulen Kuhkadaver. Der Nordteil mit dem internationa- len Flughafen und der Prunkvilla des toten Diktators ist in der Hand der RPF, im Süden herrschen die Regie- rungstruppen. Rebellen und reguläre Truppen beschießen sich mit schweren Artilleriegeschützen. Vor dem großen Stadion im Nordteil der Stadt, in dem Ruanda 1962 seine Unabhängigkeit von der belgischen Kolonialherrschaft feierte, weht die grün-rot-gelbe Landesfahne auf halb- mast. Rund 7000 Flüchtlinge warten im halbwegs geschützten äußeren Rund- gang des Stadions mit ihren armseligen Habseligkeiten, mit Ziegen und ein paar Kühen auf das Ende der Kämpfe. Diese Flüchtlinge sind bis auf weite- res wenigstens ihres Lebens sicher. Die Tutsi, die sich in den belagerten Camps rings um die Regierungsgebäu- de verschanzt haben, müssen mit dem Schlimmsten rechnen, wenn der Krieg nicht bald entschieden wird. Sie können warten, bis alles vorbei ist – auf die Gefahr, hier zu verhun- gern. Oder sie können versuchen, aus- zubrechen – mit dem Risiko, einer Hu- tu-Killerstreife in die Arme zu laufen. Armee und Miliz schießen auf jeden, der das Lager verläßt. Y

DER SPIEGEL 23/1994 137 AUSLAND

SPIEGEL: Um Bürgerkrieg und den Völ- SPIEGEL-Gespräch kermord in Ruanda zu beenden, braucht die Weltorganisation Divisio- nen von Blauhelm-Soldaten. Nur: Wer soll die bereitstellen? „Das ist Völkermord“ Ghali: So viele sind gar nicht notwendig. Wenn wir 28 000 Soldaten nach Somalia Generalsekretär Butros Ghali über die Uno-Friedensmissionen und 20 000 nach Bosnien schicken konn- ten, dann sehe ich nicht ein, warum wir nicht 5000 für Ruanda bekommen kön- SPIEGEL: Herr Generalsekretär, Sie ha- Interesse für internationale Angelegen- nen. ben kürzlich eingestanden, daß die Ver- heiten zu zeigen. Rührte sich das eine SPIEGEL: Für den Golfkrieg gegen den einten Nationen und Sie selber versagt Lager nicht, drohte eine Intervention Irak wurden über eine halbe Million haben, weil Sie das Morden in Ruanda der anderen Supermacht. Dieser Soldaten aufgeboten. Warum ist das nicht stoppen konnten. Von einem Uno- Druck ist nun verschwunden. Dafür er- nicht mehr zu schaffen? Chef hat die Welt solche Worte noch nie leben wir einen Rückfall der meisten Ghali: Viele Staaten sind müde gewor- gehört. Staaten in eine, wie wir glaubten, den. Außerdem breitet sich überall ein Ghali: Nicht nur ich habe versagt und die längst überwundene ethnozentrische Neo-Nationalismus aus. Die Länder be- Vereinten Nationen, es war die ganze in- Haltung. schäftigen sich eher mit sich selber, mit ternationale Gemeinschaft. Für die ist es Doch ich will nicht einzelne Staaten ihren eigenen Problemen. Die Vielzahl beschämender als für mich. Ich habe alles anklagen, sondern die ganze interna- der Konflikte kompliziert die Sache wei- versucht, was in meiner Macht stand, um tionale Gemeinschaft, vor allem aber ter. Wir führen gegenwärtig 17 Frie- die Unterstützung der Mitglieder dieser jene unzähligen privaten internationa- densmissionen durch, aber auf der Welt Gemeinschaft zu bekommen. Aber die len Organisationen, die sonst viel gibt es mehr als 30 verschiedene militäri- haben nichts getan. Was sich in Ruanda Lärm um die Menschenrechte machen. sche Konflikte. abspielt, ist kein Massa- SPIEGEL: Wie wollen ker, dasistVölkermord. Sie die Gleichgültigkeit SPIEGEL: Und es ge- aufbrechen? schieht in Afrika, in der Ghali: Ich hoffe, daß Amtszeit des ersten Ge- wir dieses Handikap neralsekretärs afrikani- überwinden können, scher Herkunft, in den brauchen dazu aber die gerade die Menschen Hilfe der öffentlichen dieses Kontinents große Meinung in der Welt. Hoffnung setzten. SPIEGEL: Ist es nicht an Ghali: Es macht keinen der Zeit, daß die Welt- Unterschied, ob so et- organisation ihre Fä- was in Afrika geschieht higkeiten realistisch oder in irgendeiner an- einschätzt und der Öf- deren Gegend der Welt. fentlichkeit klarmacht, Ich war davon ausge- was sie erreichen kann gangen, daß jene Staa- und was nicht? ten, die immerzu für die Ghali: Was heißt hier Einhaltung der Men- die Weltorganisation? schenrechte eintreten, Das sind doch die Mit- uns hier unterstützen. gliedstaaten, die ent- Aber nichts ist gesche- scheiden müssen, was hen. sie tun wollen, und da- SPIEGEL: Sie haben das bei selber nicht genau als Skandal bezeichnet. wissen, was sie von der Ghali: Gewiß. Im ver- Ghali beim SPIEGEL-Gespräch*: „Die Staaten schauen einfach weg“ Uno erwarten können. gangenen Jahr hielten Wir leben in einer Zeit wir eine Menschenrechtskonferenz in Denn wir erleben einen Völkermord, des Übergangs, und die Spielregeln der Wien ab. Da haben wir uns etwa für und sie schauen einfach weg. Zukunft sind noch nicht erkennbar. Herrn A. eingesetzt, der im Gefängnis SPIEGEL: Was müßte die internationale SPIEGEL: Wie lange wird dieser Über- sitzt, oder für Herrn B., der keinen Gemeinschaft tun? gang wohl dauern? Kontakt mit der Außenwelt aufnehmen Ghali: Die Völkergemeinschaft ist zur Ghali: Ich gehe von etwa zehn Jahren darf. Da zeigten die Uno-Mitglieder humanitären Intervention in einem sol- aus, bis die internationale Gemeinschaft Aktivität. Aber hier, wo mehr als eine chen Fall verpflichtet. ein System von neuen Institutionen ge- Viertelmillion Menschen reinem Völ- SPIEGEL: Wenn sie das aber nicht schaffen haben wird. Wir wissen heute kermord zum Opfer fielen, da rührt sich schafft, muß das dann nicht Folgen für noch nicht, wie diese Einrichtungen aus- die internationale Gemeinschaft nicht. die Bedeutung der Uno haben? sehen, die innerhalb oder außerhalb der SPIEGEL: Wie erklären Sie das? Ghali: Ganz im Gegenteil, die Uno ist Uno geschaffen werden müssen, um die Ghali: Es gibt eine deutliche Erschlaf- nach wie vor die einzige Organisation, Vielzahl der ethnischen Konflikte dieser fung bei vielen Staaten in der Welt und, welche die Weltöffentlichkeit mobilisie- Welt einzudämmen. das ist neu, eine Haltung von Gleichgül- ren und das mangelnde internationale SPIEGEL: Denken Sie wegen dieser Per- tigkeit. Interesse anprangern kann. spektiven jetzt doch daran, für eine SPIEGEL: Was ist daran so neu? zweite Amtsperiode zu kandidieren? Ghali: Während des Kalten Krieges sa- * Mit Redakteuren Hans Gerhard Stephani, Volk- Ghali: Mir ist klargeworden, daß wir hen sich die Staaten gezwungen, stets hard Windfuhr im Uno-Hauptquartier in New York. mehr Zeit brauchen, daß der Übergang

138 DER SPIEGEL 23/1994 in einem halben Jahrzehnt nicht zu schaffen ist. Wenn ich in zwei Jahren Krisenherde der Welt immer noch zehn Stunden am Tag arbei- Länder, in denen zur Zeit Kriege, Bürgerkriege oder bewaffnete Konflikte stattfinden ten kann, werde ich mich bestimmt um eine Wiederwahl bemühen. Ich fühle 1 Afghanistan 23 Papua-Neuguinea 29 Somalia 32 Tadschikistan 2 Algerien 24 Peru 30 Sri Lanka 33 Tschad mich heute stärker als vor zweieinhalb 3 Angola 25 Ruanda 31 Sudan 34 Türkei Jahren, zu Beginn meiner Arbeit hier. 4 Aserbaidschan 26 Rußland 35 Uganda SPIEGEL: Demnach haben die Schwie- 5 Bangladesch 27 Senegal rigkeiten und Mißerfolge Ihrer bisheri- 6 Burma 28 Sierra gen Amtszeit Sie nicht entmutigt? 7 Georgien Leone Ghali: Von Ruanda einmal abgesehen, 8 Guatemala können wir einiges vorweisen. Wir sind 9 Indien in El Salvador, in Südafrika und in 10 Indonesien Kambodscha erfolgreich gewesen, sogar 11 Irak im früheren Jugoslawien. 12 Israel 22 13 Kambodscha SPIEGEL: Wo sehen Sie Erfolg in Kam- 14 Ex-Jugoslawien 26 bodscha? Selbst König Sihanouk hat der 15 Kolumbien 14 19 Uno einen Fehlschlag bescheinigt. 16 Libanon 4 2 7 32 Ghali: Das war sicher kein Pauschalur- 17 Liberia 34 4 2 12 18 Mali 16 1 teil, zumal es der Uno trotz immenser 17 11 19 Moldawien 16 9 6 Schwierigkeiten gelang, freie und saube- 18 12 9 20 Mosambik 5 8 5 13 re Wahlen durchzuführen und die Bil- 27 21 7 dung einer demokratisch legitimierten 21 Niger 28 22 Nordirland 33 31 Regierung zu ermöglichen. 17 30 SPIEGEL: Die Kämpfe mit den Roten 10 Khmer sind aber wieder aufgeflammt 35 29 10 und bedrohen das bisher Erreichte. 15 23 25 14 Ghali: Mit Rückschlägen muß jeder 13 rechnen. Andererseits unterstreichen 3 gerade Rückschläge die Notwendigkeit 1 20 UNO-BLAUHELM- UND von Uno-Interventionen, da es keine BEOBACHTERMISSIONEN andere Instanz mehr gibt. Selbst be- 11 1 Angola grenzte Erfolge bleiben Erfolge – vor al- 2 Bosnien/Kroatien/ lem, wenn kein Staat der Welt mehr be- Mazedonien reit ist, dem betroffenen Land zu helfen. 3 El Salvador SPIEGEL: Ihr Urteil über Ex-Jugosla- 4 Georgien wien überrascht uns. Dort gehen die 5 Golanhöhen 6 Haiti ethnischen Säuberungen doch weiter. 7 Indien/Pakistan Ghali: Zwei Millionen Flüchtlingen und 8 Irak/Kuweit Vertriebenen haben wir dort helfen 9 Libanon können, und es ist uns gelungen, die 6 10 Liberia Konfrontation auf die Grenzen des frü- 11 Mosambik heren Jugoslawien zu beschränken. Das 3 8 15 12 Nahost sind positive Elemente. 13 Ruanda SPIEGEL: Aber in Somalia sind die Ver- 14 Somalia einten Nationen doch gescheitert? 24 15 Uganda/Ruanda Ghali: Da muß ich widersprechen. Eine 16 Westsahara 17 Zypern halbe Million Kinder konnten wir imp- fen, es gibt keinen Hunger mehr, Hun- derttausende von Flüchtlingen wurden gerettet. In 36 Bezirken konnten wir lo- Tag mehrere Milliarden Dollar für die Zusammenarbeit zu bewältigen und kale Verwaltungen und eine Polizei auf- Rüstung ausgegeben. Ich bräuchte da- werden uns noch lange beschäftigen. bauen. Das ist doch kein Scheitern. von nur 0,01 Prozent für unsere Aufga- SPIEGEL: Kann die Uno in der heutigen SPIEGEL: Wie lange wird Somalia noch ben. Die Länder scheinen nicht einzuse- Form diese Aufgaben anpacken? auf die Hilfe der Uno angewiesen sein? hen, daß sie sich selber in den Fuß schie- Ghali: Der Übergang muß zu einer neu- Ghali: Probleme solcher Größenord- ßen, wenn sie der Uno nicht helfen. en Rolle der Uno führen. Wenn ihr das nung sind in ein paar Monaten nicht zu Wo ist denn das Land, das die Rolle ei- nicht gelingt, dann ist es an der Zeit, ei- lösen, das wird drei bis vier Jahre in An- nes Weltpolizisten übernehmen will? Es ne andere Organisation zu schaffen. spruch nehmen. Wir brauchen Geduld ist nicht zu sehen. Also bleiben nur die SPIEGEL: Wie müßten Struktur und Ent- und die Kraft zum Durchhalten. Den- Vereinten Nationen. Nur sie können die scheidungsprozesse der Vereinten Na- ken Sie doch daran, wie lange es gedau- Probleme der Menschheit lösen. tionen nach Ihren Vorstellungen verän- ert hat, die Probleme in Vietnam und im SPIEGEL: Welche sind das neben der Er- dert werden, damit sie die künftigen Libanon auszuräumen oder die deutsche haltung des Friedens? Aufgaben bewältigen können? Teilung zu überwinden. Ghali: Somalia oder Ruanda stellen Ghali: Dazu werde ich mich nicht äu- SPIEGEL: Sie haben immer wieder über langfristig gesehen eigentlich nur Unfäl- ßern, denn was ich mir vorstelle, ist Geldnot Ihrer Weltorganisation geklagt. le dar. Die wirklichen Probleme zeich- noch nicht zu verwirklichen. Änderun- Bekommen Sie denn jetzt genügend nen sich in der Umweltverschmutzung gen sind nur in Übereinstimmung mit al- Mittel von den Mitgliedstaaten? ab, liegen im Drogenmißbrauch und bei len Mitgliedsländern realistisch. Ghali: Da bin ich sehr enttäuscht. Wäh- der Ausbreitung der Immunschwäche- SPIEGEL: Herr Generalsekretär, wir rend des Kalten Krieges wurden jeden Krankheit Aids. Sie sind nur in globaler danken Ihnen für dieses Gespräch. Y

DER SPIEGEL 23/1994 139 Werbeseite

Werbeseite AUSLAND

Times) nicht einfach überrollen lassen. haene, der kein Mikrofon braucht, Europäische Union Die Auswahl des künftigen Kommissi- wenn er die Sitzung leitet“. onspräsidenten dürfe nicht allein von In Belgien gilt der erst seit zwei Jah- Paris und Bonn, sondern sie müsse von ren amtierende Regierungschef als Ar- allen Mitgliedern der EU entschieden chitekt der neuen föderativen Staats- Bereit werden. Lubbers kühn: „Ich bin be- struktur, die das durch den Sprachen- reit, meine Kandidatur bis zum letzten streit auseinanderdriftende Land zusam- durchzufechten.“ menhalten soll. Prompt argwöhnten zum Gefecht Zum erstenmal in der Geschichte denn auch die Briten, Dehaene werde der Europäischen Gemeinschaft ist um auch auf europäischer Ebene für einen Wer wird neuer Europa-Boß? Der das Amt des Kommissionspräsidenten Bundesstaat eintreten. Damit kommt Holländer Ruud Lubbers will ein offener Wettbewerb zwischen zwei der Belgier für Premier John Major als hochkarätigen Politikern entbrannt. EU-Oberer nicht in Frage. die Achse Bonn–Paris sprengen. Als der Franzose Jacques Delors, vor Während die halbjährige EU-Präsi- zehn Jahren ebenfalls von Kohl und dentschaft unter Dehaene allen Mitglie- m Dienstag schien alles klar: Bel- Mitterrand ausgekungelt, den Posten dern in guter Erinnerung ist, weil er für giens Premier Jean-Luc Dehaene, antrat, war er nicht viel mehr als der die Standortfrage der europäischen In- A53, sollte Nachfolger des Brüsseler Verwaltungschef einer Behörde. stitutionen einen Kompromiß fand, muß Kommissionspräsidenten Jacques De- Doch Delors machte aus dem Amt Lubbers seinen Vorsitz als Mißerfolg lors werden und der niederländische Re- in Brüssel ein Machtzentrum, das über verbuchen. Zwar war im niederländi- gierungschef Ruud Lubbers, 55, dem die Grenzen Europas hinaus aktiv in schen Maastricht der Unionsvertrag, die Deutschen Manfred Wörner als Gene- der Politik mitmischt. Wer auch immer Bibel Europas, verabschiedet worden, ralsekretär der Nato nachfolgen. sein Nachfolger wird, sitzt bei Wirt- doch Präsident Lubbers verärgerte eini-

Europa-Politiker Delors, Dehaene, Kommissions-Kandidat Lubbers: Entscheidung auf Korfu

So hatten es, beim Frühstück in Mül- schaftsgipfeln gleichberechtigt mit am ge Kollegen, weil er sich auf Sonderwün- hausen, Helmut Kohl und Franc¸ois Mit- Tisch. sche der Engländer eingelassen hatte. terrand verabredet. Obwohl beide ver- So unterschiedlich der Belgier und Dabei ist es für die Niederländer Zeit, mieden, Namen zu nennen – Mitter- der Holländer äußerlich wirken, im Ar- bei der Vergabe der Spitzenjobs in Euro- rand: „Wir sind uns einig, denselben beitsfanatismus und der Fähigkeit zu pa endlich auch wieder an der Reihe zu Kandidaten für den Kommissionspräsi- Kompromissen sind sie sich ähnlich. sein. Ihr aktuelles Kalkül: Die Dehaene- denten zu unterstützen“ –, konnte es „Bulldozer“ und „Panzer“ lauten die Begeisterung der Franzosen kann wo- sich bei dem gemeinsam auserkorenen Spitznamen des stiernackigen Flamen möglich nachlassen, wenn sich heraus- Euro-Boß nur um Dehaene handeln. Dehaene, der als Sohn eines Brügger stellen sollte, daß die Brüsseler Justiz zu Denn Lubbers gilt den Franzosen als au- Arztes eine Jesuitenschule absolvierte. Unrecht einen französischen Wirt- ßen- und sicherheitspolitisch zu sehr auf Auch der schlaksige Lubbers ist ehe- schafts-Tycoon eingebuchtet hat: Didier Amerika ausgerichtet. Und der deut- maliger Jesuitenzögling. Er hat, wie sein Pineau-Valencienne, Vorsitzender der sche Kanzler vergißt dem Niederländer Konkurrent, vor allem den Sinn fürs französischen Industriegruppe Schnei- nicht, daß der ihn nach der Wiederverei- Machbare entwickelt. Als 24jähriger der, sitzt im Gefängnis, weil belgische nigung ermahnt hatte, sich eindeutiger übernahm Lubbers mit seinen Brüdern Firmentöchter angeblich um drei Milli- zur Anerkennung der deutsch-polni- das familieneigene Bauunternehmen, arden belgische Francs betrogen wur- schen Grenze zu erklären. zehn Jahre später war er Wirtschaftsmi- den. Doch Kohl und Mitterrand schätzten nister und 1982 wechselte er ins Haager Noch hat Lubbers Zeit, die deutsch- den Kampfgeist des aus Rotterdam „Torentje“, seinem Amtssitz in Den französische Achse zu sprengen. Der Er- stammenden Lubbers falsch ein, wo ei- Haag. be Delors’ wird vom Europäischen Rat nem holländischen Schnack zufolge die Dehaene war Kohl beim EU-Gipfel in erst Ende Juni auf Korfu bestimmt, und Babys schon mit aufgekrempelten Brüssel aufgefallen. Der Kanzler lobte Lubbers setzt geschickt auf die Sympa- Hemdsärmeln zur Welt kommen. Lub- nicht nur die freundschaftliche Atmo- thien der anderen EU-Staaten. „Ich bers wollte sich von der „deutsch-fran- sphäre des Treffens, sondern auch „die bin“, sagt er selbstbewußt, „dem Kohl zösischen Dampfwalze“ (Financial sehr zupackende Art des Kollegen De- wohl zu unabhängig.“ Y

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Schriftsteller Solschenizyn bei seiner Ankunft in Wladiwostok: Späte Ernte für langes Leiden

Rußland Nah beim Herrn, fern dem Volk SPIEGEL-Reporter Walter Mayr über die Heimkehr von Alexander Solschenizyn

er Sommer ist nah auf der Popow- hen und zu hören. Als „unermüdliche Er hat alles schon einmal erfahren, al- Insel im Norden Rußlands. In und wachsame Beschützer der Revoluti- les gesagt, alles geschrieben. So hört DSackleinen gehüllt beladen Staats- on“ preist er die Geschundenen nach man ihn reden am Japanischen Meer, so feinde den Rumpf der „Gleb Boki“. Un- dem Lagerbesuch. „Jämmerlich“, befin- steht es geschrieben in den örtlichen vermutet erscheinen Vorboten der Gu- det Solschenizyn Jahrzehnte später. Blättern. Dennoch behauptet er, „zu- lag-Visite eines hohen Herrn. „Hinset- Wieder wird es Sommer in Rußland. hören und sehen“ zu wollen, dennoch zen“, ruft geistesgegenwärtig ein Aufse- Wieder reist ein lange verschollener ist er zurückgekehrt in sein „bis zur Un- her den Sträflingen zu: „Wer sich rührt, Dichter über Land, um ein Urteil zu kenntlichkeit entstelltes Land“, aus dem gnade Gott.“ Dann wirft er ihnen sprechen über die Verfassung der russi- dem ihn 20 Jahre zuvor Leonid Bre- eine Plane über die Köpfe. schen Seele und des zu ihrem Schutz be- schnew in Handschellen verjagt hat- „Potemkinscher Putz“ ist aufgetragen stimmten Gemeinwesens. Er kommt, te. worden, so beschrieb der Chronist Alex- anders als Gorki, nicht vom Mittelmeer „Ah, unser Held – Solschenizyn“, ander Solschenizyn, selbst ein Gulag- zurück in die Heimat. Er kreuzt von murmeln die Menschen, ein wenig ver- Häftling, den Besuch von Maxim Gorki Alaska aus die Beringsee. Am Ostrand legen, ein wenig spöttisch, als der Hoch- in Stalins Konzentrationslager 1929. Sibiriens bricht er auf zum langen dekorierte im Hafen von Wladiwostok Wurzellose Tannen stecken im Boden Marsch nach Moskau. altertümelnd wissen läßt, er „verneige“ der kahlen Insel. Einigen Häftlingen „Ex oriente lux“, es ist der National- sich vor seinen Landsleuten. Nur ein be- sind Zeitungen in die Hände gedrückt held persönlich, der Chefankläger wider scheidenes Häuflein von ihnen ver- worden. Sie halten sie seitenverkehrt, Gulag und Gesinnungsterror – Alexan- nimmt diese Botschaft. Der durch Gu- eine verzweifelte Botschaft an den grei- der Issajewitsch Solschenizyn. Mißgün- lag-Leiden und Nobelpreis Unanfecht- sen Gast. stige Moskauer schleudern ihm entge- bare, wegen lebensfremder Botschaften Gorki, der „Falke und Sturmvogel“ gen, außer der Sonne sei bisher wenig aus seiner amerikanischen Einsiedelei unter Rußlands Dichtern, ist die Hoff- Gutes vom Osten aus nach Rußland ge- aber Ungeliebte trifft im sowjetisch ge- nung der Todeskandidaten im Gulag. kommen. Doch der Dichter ist unbeirr- stimmten Wladiwostok den Kammerton Aber er ist nicht gekommen, um zu se- bar. nicht.

142 DER SPIEGEL 23/1994 Am Flughafen haben die Immer- führzwecken bewährt. Tausende von noch-Mächtigen den einstigen System- Kilometern östlich jener anderen Po- feind mit makelloser Protokollstrecke pow-Insel, auf der sich Gorkis Kniefall empfangen: Neben KGB-Leuten, die vor dem Gulag-Stalinismus zutrug, geht nicht mehr so heißen, aber weiter so Solschenizyn an Land. Unterwegs hat aussehen, stehen Abordnungen aus den er die Insel Russki passiert, Stützpunkt Sektionen Politik, Literatur und Meta- der russischen Flotte, Straflager bis vor physik Spalier, letztere angeführt vom kurzem und berüchtigte Drillanstalt für schwarzbärtigen Bischof Weniamin. Marinefunker. Dort sind in jüngster Jelena, ein russisches Trachtenmädel, Zeit Matrosen verhungert. Ein Ama- entbietet dem Heimkehrer, den es nach teurvideo über die Zustände auf Russki alten Bräuchen dürstet, Brot und Salz. wurde dem russischen Fernsehen zuge- Unter der Perücke, die altrussische spielt. Haarfülle vortäuscht, trägt sie die blon- Daß Solschenizyn davon erfährt, ist den Strähnen kurz. Der Dichter, dessen kaum zu erwarten. Er hat sich während Schönheits- wie Bildungsideal älter ist der Fahrt mit dem leitenden Meeresbio- als das Jahrhundert, muß das nicht wis- logen der Insel Popow eingeschlossen. sen. Sackartige Popelinjacke überm „Alexander Issajewitsch hat ein halbes Holzfällerhemd, das scheue Gesicht Heft vollgeschrieben“, verbreitet seine Bei der Begrüßung mit Salz und Brot vom Bart zersiedelt, den Blick prophe- Frau Natalja später mit andächtigem tisch in die Ferne gerichtet, zieht Sol- Tremolo. Gemeinsam mit zwei Söhnen, schenizyn los, um die verlorene Heimat die gelenkig Interview-Wünsche entge- zurückzuerobern, Stadt um Stadt. Er gennehmen, um sie wenig später abzu- nimmt für den Weg nach Moskau den schlagen, fungiert Natalja als Presse- Zug und somit einen Anlauf, der den sprecherin des Meisters. Napoleons von Elba um das Zwölffache Die Insel Popow mit ihren Fischern an Länge übertrifft und die Landnahme und Forschern, samt Familien an die des Ajatollah Chomeini an Presseprä- 2000 Menschen, ist seit Tagen im senz. Alarmzustand. Der Inselpolizist in Trai- Hat Alexander Issajewitsch heimlich ningshosen hat Gesellschaft aus den auf jubelnde Landsleute und überfüllte Reihen von Staatssicherheit und Innen- Bahnsteige gehofft? Es ist wenig wahr- ministerium bekommen. Die Breit- scheinlich. Noch immer wirkt der Ein- schultrigen tragen weiter Anzüge und siedler, der sich in den USA hinter Sta- Krawatten wie in den klassischen B- cheldraht verschanzt hielt, eher wie ei- Movies aus dem Reich des Bösen. Die ner, der gern im Schuppen wilden Honig alten Drahtzieher schleusen das KGB- schleudert und nachts noch in der Bibel Opfer Solschenizyn ins neue Rußland. Mit Bauernjungen auf der Popow-Insel blättert. Der die Kräuter kennt und mit Das Programm sieht vor: Picknick im den Tieren spricht. Nah beim Herrn und Wald unter lindgrünem Laubdach, Ge- fern dem Volk. spräche mit Wissenschaftlern, Besuch des Fischverarbeitungskombinats, da- zwischen mehrfach freies Schlendern. Staatsschützer schleusen Für die Tafel ist frühzeitig mit Dynamit das KGB-Opfer gefischt worden, da die See gewöhnlich nichts mehr hergibt. 90 Prozent der Un- ins neue Rußland terwasserfauna und -flora seien in den letzten fünf Jahren abgestorben, bilan- Das gilt in mehrerlei Hinsicht. Zwar ziert ein Meeresbiologe. vermeldet die Lokalpresse beinahe er- Der Maschinist Wiktor, der fernab leichtert, die „Reise des Weltberühm- vom Festmahl auf die Mole blickt, be- ten“ sei rein privat, „offizielle Organe“ ziffert seinen Monatslohn bei der Fisch- blieben unberührt. Auch betont der Ex- fangkooperative mit 100 000 Rubel. So- eget russischer Wesensart selbst, er wol- viel kosten zehn Kilo fettes Schweine- le die Lage der einfachen Leute kennen- fleisch oder fünf Fährtickets zum Fest- lernen. Doch dazu muß er den hinhal- land. Seit Januar hat er keine Kopeke tenden Widerstand der ostsibirischen mehr gesehen. Das geht vielen in der Organisationsmaschine brechen. Sie Gegend so. funktioniert weiter getreu der sowjeti- Ob Alexander Issajewitsch vom Di- schen Maxime: „Wir wollten es besser rektor der Kooperative, vom Chef der machen, doch es kam wie üblich.“ Verwaltung oder vom Gelehrten Ilji- Wie bei Staatsbesuchen üblich, muß tschow von den Sorgen des Inselvolks Folklore im Angebot sein: sauber gestri- erfahren hat? Für bohrende Fragen chene Holzhäuser, redliches Landvolk, bleibt wenig Zeit, der Fahrplan drängt. Picknick im Freien. Der Dichter soll das Immerhin, zwei blonden Dorfbuben, von ihm viel besungene einfache Leben die des Weges kommen, streichelt der sehen. Rund um den Kriegshafen von Patriarch noch das Haar und spricht würdig: „Die Zukunft gehört euch, mei- Wladiwostok mit seinen Atomanlagen Auf dem Markt mit Ehefrau Natalja und dem kupferroten Brackwasser ist ne Söhne.“ das nicht leicht. Die zwei Bootsstunden Daß da einer vor aufgepflanzten Heimkehrer Solschenizyn entfernte Popow-Insel hat sich zu Vor- Fernsehkameras am eigenen Denkmal Langer Marsch nach Moskau

DER SPIEGEL 23/1994 143 meißelt, sich beim Streicheln, Reden, ses, erträgt in seinem Quartier den Aus- Weissagen selbst zusieht, ist nicht be- fall warmen Wassers und den Einfall ei- weisbar. Daß Staatsbesucher nichts vom nes Schwarms Hotel-Huren. richtigen Leben erfahren, schon eher. Weiter im Programm, Alexander Is- Aber vielleicht hat er ja insgeheim sajewitsch! Alles ist vorbereitet. Der Si- doch anderes vor, der alte Alexander Is- cherheitschef war früh genug hier und sajewitsch. Mit 75 endlich Subjekt sein, hat das Nötige veranlaßt. Er ist ein nach all dem Dulden – Krieg, Gulag, Freund des örtlichen Gouverneurs, und Verbannung, Ausweisung – eine späte der Gouverneur ist ein Freund des ge- Ernte einfahren für langes Leiden? Legt scheiterten Putschisten Alexander Ruz- einer Kränze nieder, besteigt Salonwa- koi, aber das möchte er derzeit nicht gen der Regierung und läuft tapfer an mehr zugeben. Deshalb sagt er, sie seien der Leine der Protokollbeamten, wenn geschiedene Leute. er nicht an staatsmännischer Pose Gefal- Deshalb auch wird der Gouverneur len fände? sehr böse, wenn er kommentieren soll, Die ostsibirische Organisationsma- worüber andere in Wladiwostok höch- schine jedenfalls läuft tadellos. Vorbe- stens flüstern: Ruzkoi habe vor dem reitet für den Dichter sind unter ande- Putsch den hiesigen Flottenkomman- rem: Besuch des Bauernmarkts inklusi- deur besucht, um zu erfahren, was der ve Möglichkeit zum gezielten Gespräch zu tun gedenke, im Falle eines Falles.

Solschenizyn-Familie in Wladiwostok: „Die Zukunft gehört euch, meine Söhne“

mit Standbesitzern, Besuch des renom- Gut abgeschirmt sei Ruzkoi zum Pick- mierten Gymnasiums Nr. 1, Fahrt zum nick gelotst worden. Unter lindgrünem Kosakendorf mit Mittagessen beim Vor- Laub auf der Popow-Insel. zeigebauern. Warum erzählt niemand dem alten Und der große alte Mann akzeptiert Alexander Issajewitsch, wem er da lä- klaglos die Maskerade. Lobt Gurken chelnd die Hände schüttelt, mit seinem und Tomaten im Gewächshaus des Ko- Besuch und seinem Namen den Steigbü- sakenbauern. Lächelt den Schulkindern gel hält? zu, die am Sonntagsstaat als auserwählte Der Gouverneur Jewgenij Nasdraten- Gesprächspartner zu erkennen sind und ko, so heißt es im geheimen Bericht der dann prompt vortreten, um den aufop- Moskauer Kontrollkommission vom 25. ferungsvollen Einsatz ihrer Lehrer zu November 1993 an den „sehr geehrten preisen. Boris Nikolajewitsch“ Jelzin, tue nichts „Geändert hat sich wenig“, sagt einer gegen die Korruption und die tiefe Krise von ihnen, als der Zugereiste gegangen der Wirtschaft. Als Mitglied im Direkto- ist. „Die Lehrer sind dieselben geblie- renrat des Industriekartells „fakt“ sei er ben. Solschenizyn wird erst nächstes vielmehr der Steuerhinterziehung mit- Jahr auf den Lehrplan gesetzt. Seine verdächtig. In der Region verschwinde Bücher gibt es in der Bibliothek noch knapp die Hälfte des Sozialprodukts nicht.“ durch „negative Momente“ – geklaut. Alexander Issajewitsch erduldet eine Die reiche Provinz mit ihren Gold- Viertelstunde Gefangenschaft im stek- und Titanvorkommen, mit Holz, Fisch kengebliebenen Lift eines Krankenhau- und dem chinesischen Markt vor der

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Tür muß von Moskau alimentiert wer- den. Die Milch- und Fleischproduktion Ungarn ist auf das Niveau der fünfziger Jahre zu- rückgefallen. Er rege an, schreibt der Kommissionschef, „Jewgenij Nasdraten- ko vom Amt des Administrationschefs zu „Die rechten Parteien entbinden“. So weit ist es nicht gekom- men. Der Gouverneur hat mächtige Freunde inMoskau. Um diePflege dieser haben versagt“ Beziehungen bemüht er sich nach Kräf- ten. Nun darf er sich Hoffnungen auf ein Wahlsieger Gyula Horn über die Rückkehr der Sozialisten an die Macht Ministeramt machen. Und so sonnt er sich, fett lächelnd und gestützt auf knapp 100 Prozent der Stim- SPIEGEL: Herr Horn, men des Regional-Sowjet, neben dem Ri- Ihr schwerer Autoun- goristen Solschenizyn, der gerade an der fall macht Ihnen ganz Technischen Hochschule laut verkündet sichtbar noch zu schaf- hat, er halte nichts von Parteien und Pro- fen. grammen – entscheidend seien die Tu- Horn: Es geht mir genden des einzelnen Mannes: Ehrlich- schon besser, obwohl keit, Mut, Geist. mir dieser Apparat, Die von altrussischem Sittenkodex um- der sieben Kilo wiegt, wölkte Morallehre des Greises wirkt mit- doch gewisse Schwie- ten im Gründerzeitfieber der herunterge- rigkeiten bereitet, vor kommenen Stadt im Fernen Osten welt- allem beim Schlafen. fremd. Mag er gegen die „Verseuchung Aber lassen Sie uns der russischen Sprache“, gegen Porno- zum politischen The- graphie und die Gottlosigkeit seiner Zeit ma kommen. wettern – die Leute lauschen ihm unbe- SPIEGEL: Was der un- eindruckt. Sie sind der Predigten satt. garische Gulaschkom- Der Dichter, der seinem Ältesten den munismus in jahrzehn- altertümlichen Namen Jermolai gab und telanger Herrschaft ihnmitErmunterungen wie„recht getan“ nicht erreichte, schaff- oder „du Recke“ anspornt, Alexander Is- te in nur vier Jahren sajewitsch Solschenizyn reist im Salonwa- die erste frei gewählte gen 18 der russischen Regierung, bezahlt konservative Regie- von der BBC, vergebens gegen die Zeit rung: Die Ex-Kommu- an, als wandelnder Gen-Pool eines ver- nisten sind heute mit schollenen Rußland, durch Exil von so- ihrem Wahlsieg popu- wjetischer Mutation verschont. lärer als je zuvor. Als Mann aber, der die Wahrheit ge- Horn: Was ist daran sagt hat, als das noch Mut und meist die verwerflich, daß 54 Horn beim SPIEGEL-Interview: „Manche sagen wieder Genosse“ Freiheit kostete, hat er im Gedächtnis Prozent der Ungarn vieler Bestand. An jenem heißen Tag, als uns Sozialisten ihre Stimme gaben? Die ze zu Österreich durchtrennte und so der Dichter samt Entourage zum Fest- überwiegende Mehrzahl der Wähler Tausenden von geflohenen DDR-Bür- mahl auf der Popow-Insel verschwindet, sind ja Lohnempfänger und Arbeit- gern die Ausreise ermöglichte, aber macht vorn an der Mole eine Barkasse nehmer; im großen und ganzen spie- gleichzeitig an sozialistischen Ideen fest- fest. Am Steuer steht Wladimir Prichrod- gelt das Wahlergebnis die Realität hielt? ko, ein schmaler Mann mit feinen Zügen der ungarischen Gesellschaftsstruktur Horn: Mit solch einer Frage schließen und traurigem Lächeln. wider. Sie aus, daß der Mensch durch Erfah- Er ist einer, der dem vorwärtshasten- SPIEGEL: Spricht da nicht der alte Le- rung lernt. Mein Umdenkungsprozeß den Alexander Issajewitsch hätte berich- nin-Jünger Horn, der zwar im Septem- hat nicht erst gestern oder vorgestern ten können vom armseligen Leben im ber 1989 den Stacheldraht an der Gren- begonnen. Ich gehörte zu denjenigen, modernen Rußland. Wladimir ist nicht die bereits Mitte der immer mit kleinen Kähnen zwischen siebziger Jahre Kon- Wladiwostok und der Popow-Insel ge- takte zu den sozial- kreuzt. Er war Kapitän auf hoher See und demokratischen Par- lief schon zu Sowjet-Zeiten Japans Küste teien Westeuropas an. Das war damals lukrativ und wäre es suchten und fanden, heute noch viel mehr. Eine kleine Un- in erster Linie zur achtsamkeit hat ihn aus der Bahn gewor- SPD. Wir sind also fen. im Laufe der Jahre Auf der Rückfahrt von einer Japan- durch die Schule der Tour 1977 fanden Kommissare während einer Routinekontrolle auf dem Contai- * Im Juni 1989 mit dem ner-Schiff „Alexander Fadejew“beiWla- österreichischen Außen- dimir Prichrodko ein Buch, das es offi- minister Alois Mock beim ziell auf sowjetischem Boden nicht gab: Durchtrennen des Sta- cheldrahts an der öster- „Archipel Gulag“ von Alexander Sol- reichisch-ungarischen schenizyn. Y Grenzöffner Horn (r.)*: „Zuerst nach Bonn“ Grenze.

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Sozialdemokratie gegangen und haben trast noch größer zwischen dem, wofür Umwandlung des ehemaligen KP-Ver- die soziale Marktwirtschaft, die plurali- wir standen, und dem Anachronismus mögens habe es keine Unregelmäßigkei- stische Demokratie und das freie un- dieser Politiker. So versuchten die un- ten gegeben, und Sie hätten die morali- ternehmerische Denken in der Praxis garischen Rechten eine Nostalgie nach sche Legitimation, diese Machenschaf- studiert . . . dem erzkonservativen Horthy-Regime ten einzudämmen? SPIEGEL: . . . und dann das Vertrauen zu erwecken, anstatt sich den Heraus- Horn: Mit Verlaub – die Sozialistische bei der Bevölkerung verspielt. 1990 forderungen unserer Zeit zu stellen. Partei hat über das frühere Parteivermö- stimmten die Bürger gegen das alte SPIEGEL: Probleme mit Wendehälsen gen auf Heller und Pfennig Rechen- System, ohne das neue zu kennen. und alten Seilschaften kennen Sie schaft abgelegt. Das wurde uns sowohl Doch jetzt sehnen sich die Ungarn nicht? von der Staatsanwaltschaft als auch vom offenbar wieder nach den alten Zeiten Horn: Natürlich gibt es sie auch in Un- Staatlichen Rechnungshof bescheinigt. zurück. garn. Ich habe schon von Leuten ge- Darüber hinaus kann ich nur eins ver- Horn: Ich will nicht ausschließen, daß hört, die andere jetzt auf einmal wie- sprechen: Wir sind fest entschlossen, auch eine gewisse Sehnsucht nach der der mit Genosse anreden, während sie schonungslos gegen jegliche Form von früheren Existenzsicherheit unseren sich das vor einem Jahr noch verbeten Staatsfilz vorzugehen und jeden, der in Erfolg ausmacht. Aber die Menschen hätten. Doch zum Handel gehören im- den Reihen unserer Partei auch nur in wollen nicht das Volkseigentum oder mer zwei. Es hängt von der Partei ab, den leisesten Verdacht der Korruption das Einparteiensystem wiederhaben, ob wir ein Klientensystem zulassen und gerät, seines Amtes zu entheben. sie wollen nur endlich kompetente auf wen wir uns stützen. SPIEGEL: Die Konservativen verspra- Fachleute. Die bisherige Regierung hat SPIEGEL: Auch die Korruption ist in chen vor vier Jahren ähnliches; wenig durch ihre stupide Politik unseren Sieg Ungarn weit verbreitet. Können Sie später stockten die Reformen, Schatten- beschleunigt. Dadurch war der Kon- mit ruhigem Gewissen sagen, bei der wirtschaft und mafiose Strukturen domi- nierten im Alltag. Kann den Sozialisten nicht das gleiche widerfahren? Horn: Wir wollen trotz der absoluten Mehrheit in einer Koalition regieren. Schraubstock am Kopf Ich gehe davon aus, daß wir dem Bund Freier Demokraten ein entsprechendes Ein Stützkorsett schützt Gyula Horn vor Querschnittslähmung Angebot unterbreiten, da sich unsere Programme in vielen Punkten ähneln. Durch eine sozialliberale Koalition könnte eine breite demokratische Basis it 70 km/h war der Saab von Halo- geschaffen werden. Wir wollen einen Gyula Horn gegen einen unbe- lebhaften Dialog mit der Gesellschaft Mleuchteten, hinter einer Kurve Fixateur führen, einen neuen politischen Stil abgestellten Lkw gekracht. Nach dem Kopfring praktizieren. schweren Verkehrsunfall, der sich SPIEGEL: Wird sich auch die Beziehung zwei Tage vor der Parlamentswahl in Plastikweste Ungarns zu seinen Nachbarn ändern, Ungarn ereignete, kletterte der Chef mit Lamm- die wegen der ungarischen Minderhei- der Sozialistischen Partei noch aus fellpolster ten seit langem angespannt ist? dem Autowrack, dann verlor er das Horn: Woran wir in der Außenpolitik Bewußtsein. nichts ändern werden, das ist die westli- In der Klinik diagnostizierten die che Orientierung Ungarns, wobei ich Ärzte, neben einer Gehirnerschütte- den ungarisch-deutschen Beziehungen rung und Armverletzungen, den eine Priorität einräumen möchte. Sollte Bruch eines Halswirbels – eine Frak- ich Ministerpräsident werden, wird tur, die stets hohe Risiken birgt: Jede wohl meine erste Reise nach Bonn füh- kleinste Bewegung kann dazu führen, ren. Ungarns weitere Geschicke hängen daß sich die Bruch-Stücke des Wirbels in starkem Maße davon ab, ob es uns ge- verschieben und das Rückenmark be- lingt, die Beziehungen zu Deutschland schädigen; Horn, 61, würde quer- zu vertiefen. Außerdem brauchen wir spannt wie in einen Schraubstock schnittsgelähmt im Rollstuhl landen. einen besseren Assoziierungsvertrag mit vermag Horn weder zu nicken noch Mit einem Spezialgestell („Halo-Fi- der EU. Und dann müssen wir auch ei- seinen Kopf zur Seite zu wenden. xateur“) unterbinden Horns Ärzte nen neuen Anfang suchen in unseren seither jegliche Bewegung von Kopf Wenigstens vier Wochen muß der Beziehungen vor allem zu Rumänien und Hals, bis der Halswirbelbruch ungarische Politiker die sperrige und der Slowakei, mit denen sich die verheilt ist. Im Abstand von einem Montur noch tragen, auch wenn er Probleme wegen der ungarischen Min- Zentimeter von seinem Kopf haben schläft. Duschen kann sich Horn für derheiten verdichtet haben. einige Wochen nicht; das Lammfell- die Unfallchirurgen knapp oberhalb SPIEGEL: Gibt Budapest das Signal für der Augenbrauen einen aus kohlenfa- polster des Plastikkorsetts darf nicht weitere Siege der Wendekommunisten serverstärktem Material bestehenden naß werden. im einstigen Ostblock? Ring angebracht. Fixiert wird dieser „Das ist wie zu Zeiten von Ma- Horn: Ich glaube nicht, daß die Wähler Reifen mit Hilfe von Titanstiften, die dame Pompadour“, meint Karl- in irgendeinem Land danach schauen, dem Patienten unter örtlicher Betäu- Heinz Jungblut, Professor für Unfall- wie beim Nachbarn gewählt wird. Es bung in den Schädelknochen getrie- chirurgie an der Hamburger Unikli- gibt in Osteuropa keinen Linkstrend, es ben werden. nik. Für die Patienten sei der Halo- geht einfach nur darum, daß Vier Stangen verbinden den Schä- Fixateur trotzdem vergleichsweise die rechtskonservativen Parteien in delring mit einem Stützkorsett, das angenehm, so Jungblut: „Früher diesem Teil Europas überall versagt wie der Panzer einer Ritterrüstung mußten wir sie vom Kopf bis zum haben. Aber das soll nun deren Pro- fest um den Brustkorb liegt. Einge- Brustkorb eingipsen.“ blem sein. Y

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Palästina Einzige Quelle der Autorität Uri Avnery über Jassir Arafats Wandel vom Revolutionär zum Staatsmann

Der Publizist Avnery, 70, geboren in Der Widerwille, den Rabin und Ara- „Sabre“, ein im Lande geborener Israe- Beckum (Westfalen), war der erste Is- fat gegeneinander hegen, ist schon le- li, der andere ein im Exil aufgewachse- raeli, der sich über ein Regierungsver- gendär. Sie trennt mehr als persönliche ner Palästinenser. bot hinwegsetzte und Arafat 1982 in Animosität – zwischen ihnen klafft ein Araber haben eine besondere Bewun- Beirut aufsuchte. kultureller Abgrund. derung für persönlichen Mut, und Ara- Rabin hat nie gegen seine Eltern re- fat ist ein sehr mutiger Mensch. Viele ein Mensch ist in Israel so verhaßt belliert. Er hat die Ideologie der zioni- Male hat er sich mit Vorbedacht Gefah- wie Arafat. Es ist, als hätten sich stischen Gründergeneration vorbehalt- ren ausgesetzt. 1982 floh er nicht aus Khundert Jahre Feindschaft, Haß los übernommen. Sein ganzes Leben Beirut, als die Stadt von israelischen und Ängste auf diesen einen Mann kon- lang war er ein Vollstrecker. Arafat da- Truppen eingekreist wurde. Er blieb bei zentriert. gegen war immer ein Rebell, hat nie die seinen Kämpfern, obwohl er wußte, daß Vielen Israelis ist es rätselhaft, wieso Autorität anderer akzeptiert. Er hat ei- der israelische Verteidigungsminister gerade Arafat, der ihnen häßlich und ne neue Vision geschaffen und ist ihr Ariel Scharon ihn nicht lebend gefan- abstoßend vorkommt, von den Palästi- Symbol geworden. gengenommen hätte. nensern als Nationalheld gefeiert wird. Beide sind keine Intellektuellen. Ein Jahr später, als seine palästinensi- Die Palästinenser haben kein National- Aber während Rabin in Israel als „ana- schen Feinde die ihm ergebenen PLO- abzeichen wie die Juden den David- lytisches Gehirn“ gerühmt wird, ist Ara- Truppen im libanesischen Tripoli bela- stern. Statt dessen haben sie zwei Bil- fat ein Mensch der Intuition. Rabin ist gerten, verließ Arafat das sichere Genf der: den Felsendom von Jerusalem und kühl, trocken, sachlich, kontaktarm und und schlich sich in die umzingelte Stadt, das Porträt Arafats. Was hat dieser frei von jeder schöpferischen Einbil- um bei seinen Soldaten zu sein. Wie Mensch an sich, daß sein eigenes Volk dungskraft. Bei Arafat eilt die Phantasie in West-Beirut harrte er dort aus, bis er ihn so verehrt? der Wirklichkeit weit voraus. Er hat ein mit seinen Leuten über See evakuiert Eine Antwort ist, daß Arafat das Talent für warme, menschliche Bezie- wurde. Schicksal des palästinensischen Volkes hungen. Beide sind typische Repräsen- Er ist der „Vater der Nation“, weil er verkörpert. Seit seinem 19. Lebensjahr tanten ihrer Generation – der eine ein die wichtigste Tat in der Geschichte des ist er ein Flüchtling. Nie hatte er eine fe- ste Wohnstätte oder ein Privatleben. Seit 35 Jahren irrt er in der Welt umher, immer von einigen Geheimdiensten ge- jagt, in jedem Augenblick in Lebens- gefahr. Einige Male saß er angeblich in arabischen Gefängnissen. Unzählige Male ist er Attentaten mit Glück ent- gangen.

Einsatz israelischer Besatzungstruppen gegen Palästinenser, PLO-Führer Arafat, palästinensische Polizisten (in Jericho):

148 DER SPIEGEL 23/1994 palästinensischen Volkes seit der Kata- Kompromiß geführt – von der Forde- Samen und Gewürzen handelte. Seine strophe von 1948 vollbracht hat. Ende rung, daß beinahe alle Juden aus Palä- Energie und Geldmittel widmete er ei- der fünfziger Jahre, Arafat war ein jun- stina vertrieben werden müßten, wie die nem endlosen Prozeß um das Erbe sei- ger Ingenieur in Kuweit, brach er die Gründungscharta der PLO von 1964 ner ägyptischen Mutter. Vormundschaft der arabischen Staaten vorsah, bis zum Oslo-Abkommen. Im- Jassirs Mutter Sahwa stammte aus der über das palästinensische Volk. Das war mer war Arafat der Masse seines zer- Familie Abu Saud, die der Jerusalemer das Grundprinzip der neuen Fatah-Be- streuten Volkes weit voraus. Aber nur Aristokratie angehört. Einer der Vor- wegung – im Gegensatz zu anderen pa- wenige wußten das. steher dieses Clans war ein Mitarbeiter lästinensischen Organisationen, deren Sein größtes Verdienst ist, daß er des Großmuftis Hadsch Mohammed Führer, wie Georges Habasch, glaub- während mehr als 35 Jahren eine wider- Amin el-Husseini. ten, daß die panarabische Revolution ei- spenstige Nationalbewegung voll inne- Die Geburt Arafats ist von Sagen um- ne Vorbedingung zur Befreiung Palästi- rer Widersprüche weitgehend zusam- woben. Laut einer ägyptischen Urkunde nas sei. mengehalten hat. Das ist wenigen Revo- ist er am 24. August 1929 in Kairo gebo- Wie die zionistische Revolution, die lutionsführern gelungen, obwohl kaum ren. Nach der offiziellen palästinensi- die Juden gelehrt hat, ihr Schicksal eine Bewegung so schweren Spannun- selbst in die Hand zu nehmen, hat Ara- gen ausgesetzt war. In der PLO gibt es fat sein Volk gelehrt, sich nur auf sich Linke und Rechte, orthodoxe Religiöse Mahnung an selbst zu verlassen: sein erstes histori- und rabiate Atheisten, Moslems und Palästina mit Blut sches Verdienst. Christen, radikale Revolutionäre und Sein zweites war die Organisation der Konservative, Anhänger des bewaffne- geschrieben palästinensischen nationalen Bewegung. ten Kampfes und Befürworter der ge- Er hat einen sehr persönlichen, aber in mäßigten Diplomatie. schen Version kam er in Jerusalem am der arabischen Tradition verankerten Nur einmal wäre er beinahe von dem 4. August 1929 zur Welt, im Hause sei- Führungsstil. Er gibt sich große Mühe, Seil gestürzt, auf dem er schon so lange nes Onkels, neben der jüdischen Klage- Entscheidungen zu vermeiden, die auf tanzt. Als Staatspräsident Anwar el-Sa- mauer, zu Füßen der heiligen Aksa-Mo- der Abstimmungsniederlage einer Min- dat 1977 dem ägyptischen Parlament schee. Dieses Haus wurde, wie die an- derheit gründen. Wer in der Minderheit mitteilte, daß er im Begriff sei, nach Je- deren in dieser Umgebung, nach der Er- bleibt, wird ein Feind. Arafat zieht es rusalem zu fliegen, war Arafat im Saal oberung Jerusalems durch die israeli- vor, einen Konsens herzustellen im Sin- und klatschte mit. Wahrscheinlich sah er sche Armee im Juni 1967 abgerissen, um ne des islamischen „Idschmaa“ – Dis- in der Sadat-Initiative eine große Chan- den Platz vor der Mauer freizulegen. kussion, bis alle einer Meinung sind. ce für die palästinensische Sache. Aber Die Mutter starb, als Arafat vier Jah- Das hat westliche Partner oft irritiert. als Arafat nach Beirut zurückkam, er- re alt war, und damit begann seine Wan- Sie wollten klare und schnelle Entschei- wartete ihn eine offene Revolte. Seine derschaft. Er kam mit den Stiefmüttern dungen und mußten feststellen, daß Anhänger betrachteten Sadat als Verrä- nicht aus. Seit frühester Kindheit war er Arafat ein kompliziertes Spiel treibt; ter. Arafat beeilte sich zu erklären, daß ein besonderer Junge, rebellisch, domi- daß er verschiebt, verzögert, einen der Ägypter ihn überrumpelt habe. nierend und aktiv, der gern herumkom- Schritt vorwärts und dann auch wieder Wer ist der Mensch hinter der Fassa- mandierte. einen rückwärts macht. Viele, die ihm de? Es ist nicht ganz klar, wo er sich im heute vorwerfen, ein Diktator zu sein, Mohammed Abd el-Rauf Arafat el- Palästina-Krieg von 1948 befand. Einer haben ihn früher als beschlußunfähigen Kudwa, wie Arafats Geburtsname an- Version zufolge war er bei der Truppe Zauderer beschimpft. Aber was wie ein geblich lautet, war das sechste von sie- des legendären Abd el-Kadir el-Hussei- endloses Stocken aussah, war oft eine ben Kindern eines palästinensischen ni, eines entfernten Verwandten des unmerkliche Bewegung vorwärts. Händlers aus dem Gazastreifen. 1927 Großmuftis. Einer anderen Version Auf diese Art hat er die palästinensi- wurde der Vater von seinen Kompa- nach hielt er sich in der Nähe El-Ala- sche Bewegung Schritt für Schritt zum gnons nach Kairo geschickt, wo er mit meins auf, um bei den Beduinen für die Palästinenser deutsche Waffen zu kau- fen, die seit der großen Schlacht in der Wüste herumlagen. Nach dem Krieg studierte er Inge- nieurwissenschaften in Kairo. Dort ver- diente er sich den Spitznamen Jassir – etwa: „Der, dem alles leichtgemacht wird“. Aber mehr als in Mathematik zeichnete er sich in der stürmischen Stu- dentenpolitik aus. Eine seiner frühen Taten war, eine mit Blut geschriebene Petition an den damaligen ägyptischen Ministerpräsi- denten General Mohammed Nagib zu schicken mit der kurzen Mahnung: „Vergiß Palästina nicht!“ Diese drama- tische Aktion brachte ihm am 13. Januar 1953 die erste Meldung in einer Zeitung ein. Al-Ahram berichtete darüber in ei- nigen Zeilen auf Seite 8. Allerdings war sein Name falsch geschrieben: „Farhat“. Als Delegierter der Union palästinen- sischer Studenten nahm er an seiner er- sten Konferenz teil: einem Kongreß der „Den Arm umdrehen, aber nicht brechen“ internationalen Jugend im kommunisti-

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Werbeseite AUSLAND schen Prag. Dort gab er sich als „Mister Palestine“ aus und benutzte zum ersten- mal das palästinensische Kopftuch, die schwarz-weiße Kufija, so drapiert, daß sie entfernt an die Umrisse Palästinas erinnert. Schon in seiner Jugend hat Arafat, wie viele Führer, die Wichtigkeit von Symbolen erkannt. Die Kufija, die Kha- ki-Uniform, der spärliche Bart sind sei- ne Kennzeichen. Wie die weiße Mähne Ben-Gurions und die schwarze Augen- klappe Dajans geben sie ein Bild, das sich leicht einprägt. Arafat weiß sehr gut, daß ein nationaler Führer auch ein Schauspieler sein muß, und mehr als einmal hat er sich als solcher gerühmt. Wenn keine Kameras in der Nähe sind, hat er die Kufija nicht auf. Der barhäuptige, kahlköpfige Arafat ist eine andere Person als die Fernsehfigur. Plötzlich sieht er aus wie sein sanfterer Bruder Fathi. Er ist ruhelos wie Quecksilber, immer aktiv, mit schneller Auffassungsgabe und gutem Erinnerungsvermögen für Menschen und Situationen. Es sieht so aus, als ob er nie schliefe. Um zwei Uhr nachts ist er am besten. Er hat kein Zeit- Vor dem Absturz im Sandsturm noch einmal umarmt gefühl, und seine Unpünktlichkeit ist sa- genhaft. Im Gespräch mit Gästen hat er das Talent, schon im ersten Augenblick eine entspannte, warme Beziehung herzu- stellen. Es gibt in seiner Umgebung kei- ne äußeren Kennzeichen der Autorität. Seine Leute unterbrechen ihn freimütig, kritisieren ihn auch in Anwesenheit Fremder. Sein Büro gleicht manchmal mehr dem Hof eines chassidischen Rab- bis als dem Hauptquartier einer revolu- tionären Bewegung. Dennoch sahen selbst die wichtigsten Mitbegründer der Bewegung, etwa Abu Dschihad und Abu Ijad, in seiner Nähe wie zweitrangi- ge Figuren aus. Was am wichtigsten ist: Arafat hat Fortune. Das beweisen die Attentate, denen er entronnen ist, während seine besten Freunde und Mitarbeiter vom is- raelischen Mossad und von arabischen Sicherheitsdiensten umgebracht worden sind. Auch seine Rettung bei dem Flug- zeugunglück im April 1992 in Libyen sah wie ein Wunder aus. Seine kleine Maschine geriet in einen Sandsturm. Der Pilot meldete, daß er eine Notlan- dung versuchen müsse. Arafats Leib- wächter banden alle im Flugzeug vor- handenen Kissen und Polster um den Körper des Chefs, und dann umarmten sie ihn. Der Pilot und einige Insassen

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te, wurde Arafat schon überall in der Welt beschul- digt, die Probleme nicht ge- meistert zu haben. Die erste Aufgabe, gute Beamte für die neue palästi- nensische Verwaltung zu finden, ist beinahe unlös- bar. Veteranen der PLO, die jahrzehntelang den Kampf im Exil geführt ha- ben, konkurrieren mit den Palästinensern „von innen“, welche die Leiden der Be- satzung ertragen haben; würdige Notabeln mit jun- gen Burschen, die aus den Gefängnissen und aus dem Untergrund auftauchen; Kämpfer, die jahrelang täg- lich ihr Leben aufs Spiel ge- setzt haben, mit Fachleuten Guerilla-Führer Arafat, jugendliche Freischärler*: Mit Vorbedacht Gefahren ausgesetzt ihres Alters, die zur selben Zeit an den besten Univer- verloren ihr Leben, Arafat blieb so gut das Endziel definiert ist. Die „Selbstre- sitäten der Welt ausgebildet worden wie unversehrt. gierung“ hat kümmerliche Kompeten- sind. Arafat wird seine ganze Gewandt- „Ihr seht, Allah beschützt mich“, sag- zen, die fanatischen israelischen Siedler heit brauchen und noch viel mehr, um te er seinen Mitarbeitern und weigerte spuken weiterhin in den besetzten Ge- zwischen diesen widersprüchlichen An- sich weiterhin, endlich einen Stellvertre- bieten herum, und viele Paragraphen sprüchen zu lavieren. ter zu ernennen. des Autonomieabkommens sind für die All das muß getan werden, obwohl Auch politisch ist er anscheinend un- Palästinenser demütigend. die PLO praktisch bankrott ist. Seit dem zerstörbar. Er hat Fehler begangen, die Die palästinensische Verwaltung be- Golfkrieg haben arabische Regime die einen anderen Politiker vernichtet hät- ginnt mit nichts. Die israelische Herr- Organisation planmäßig erdrosselt. Es ten, zum Beispiel die Unterstützung schaft, wie die frühere jordanische, hat- ist kein Geld da, um die neue Polizei zu Saddam Husseins im Golfkrieg. Zwei te alle selbständigen palästinensischen ernähren und auszustatten, um den Wit- Jahre später war er wieder wen der „Märtyrer“ (gegen ein begehrter Partner. 1500 sind in der Intifada ge- Nun steht er vor der fallen) und den Invaliden schwersten Aufgabe seines (mehr als 10 000) die Pen- Lebens – dem Übergang sionen zu bezahlen. von seiner Rolle als Chef ei- Die Riesensummen, die ner revolutionären Bewe- von Amerika und anderen gung zur Rolle des De- Staaten großzügig verspro- facto-Chefs eines Staates im chen wurden, sind bisher Werden. Kann er das? nicht gezahlt worden. Sau- Niemals mußte ein Füh- di-Arabien hat die finan- rer einen neuen Staat unter zielle Blockade der PLO solchen Bedingungen schaf- immer noch nicht aufgeho- fen. Als David Ben-Gurion ben. Argwöhnische Palästi- im Jahre 1948 Israel grün- nenser sprechen schon von dete, war schon alles vor- einer weltweiten Verschwö- handen. Die Briten hatten rung gegen Arafat. ein gut organisiertes Land Wenn nicht innerhalb we- hinterlassen, und die selb- niger Monate eine grundle- ständigen zionistischen In- gende Veränderung der stitutionen funktionierten Absturzopfer Arafat*: „Ihr seht, Allah beschützt mich“ wirtschaftlichen Situation in seit 20 Jahren. Man brauch- Gaza und Jericho stattfin- te nur die Schilder an den Türen zu än- Institutionen untersagt und mit Gewalt det, wird der Anfang des Friedenspro- dern. zerschlagen. Im Westjordanland und im zesses zusammenbrechen. Nelson Mandela hat einen Staat über- Gazastreifen wurde jede palästinensi- Im Mittelpunkt des Minenfeldes steht nommen, der zwar unter blutigen Aus- sche Wirtschaftsinitiative verhindert, ein Mensch, der mehr und mehr dazu einandersetzungen gelitten hat, dessen um den Markt für israelische Produkte neigt, alle Entscheidungen selbst zu tref- Überlebensfähigkeit aber erprobt ist. zu sichern. Eine Infrastruktur besteht so fen. Und wie alle Politiker, die viele Zwischen Südafrika und Palästina gibt gut wie nicht. Jahre lang die Verantwortung getragen es noch einen anderen Unterschied: Aber noch bevor der erste palästinen- haben, ist er argwöhnischer, härter, un- Präsident Frederik Willem de Klerk sische Beamte sein Amt angetreten hat- geduldiger geworden, weniger bereit zu- übergab die Macht an Mandela in einem zuhören. Zug, während Arafat sich mit einem un- Heidar Abd el-Schafi, der würdige al- * Oben: 1969 in Jordanien; unten: 1992 mit glaublich komplizierten „Zwischenzu- dem libyschen Revolutionsführer Muammar el- te Vorsitzende der palästinensischen stand“ zufriedengeben muß, ohne daß Gaddafi. Verhandlungsdelegation in Madrid, ist

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Erst der Einmarsch palästinensischer Soldaten in Gaza und Jericho, mehr oder weniger als Polizisten verkleidet, hat wieder einen Sturm der Begeiste- rung ausgelöst. Aber Arafat weiß, daß damit nur der erste Schritt zum End- ziel getan ist – der Errichtung eines pa- lästinensischen Staates mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem. „Mister Pa- lestine“ ist dort noch lange nicht ange- langt. Y

Schweiz Reine Unkultur Friedenspartner Rabin, Arafat*: Jedes Zitat als Vertragsbruch verschrieen Neutralität oder Isolation? Rechte Patrioten kämpfen gegen eine erbost über die scheinbar willkürliche Das Problem Arafats besteht darin, Art, inderArafatjetztMenschenernennt daß er, ganz die arabische Art, eine eidgenössische Blauhelm-Einheit. und absetzt. Er verlangt, daß eine kollek- deutliche und kurze Antwort vermeidet. tive Führung die Verantwortung über- Klipp und klar zu sprechen gilt bei Ara- as Plakat, das Tod und Verlassen- nimmt. Aber auch er gibt zu, daß die bern als unhöflich, primitiv. Im westli- heit suggeriert, hängt derzeit Schuld bei den Kollegen Arafats liegt, die chen Fernsehen ist aber gerade so eine D20 000fach zwischen St. Gallen seit Jahren allen schweren Entscheidun- Antwort das Zeichen für Glaubwürdig- und Genf, Basel und Chiasso: „Blauhel- gen aus dem Weg gingen und froh waren, keit. me Nein“. Es ist beispielhaft für die Art sie Arafat überlassen zu können. Arafat macht das gleiche wie Rabin: des Meinungskampfes, der seit Wochen Viele der treuesten Anhänger Arafats, Er paktiert mit dem Gegner von ge- die Alpenrepublik erregt. die ihm überallhin gefolgt sind, verlangen stern, gibt aber öffentlich extreme Aus- Mit Angstparolen will die patriotische jetzt demokratische Institutionen. Aber sprüche von sich, um seine Opposition Rechte das Volk dafür gewinnen, am sogar die schärfsten Kritiker wissen, daß zu neutralisieren. Jeder Satz Rabins 12. Juni in einem Referendum die ge- Arafat jetzt eine unglaublich wichtige macht die Palästinenser wütend, jedes plante Aufstellung einer eidgenössi- Funktion hat: Er istdieeinzige Quelle der Zitat Arafats wird in Israel als „Ver- schen Blauhelm-Truppe aus 600 Solda- Autorität. Eine andere gibt es nicht. tragsbruch“ verschrieen. ten abzulehnen. Seit Wochen zerbrö- Das wird nicht dadurch erleichtert, daß Tatsächlich jedoch ist Arafat Rabin und seine Leute – mit Ausnahme seinen Verpflichtungen bislang von Schimon Peres – bei jeder Gelegen- nachgekommen. Das Hauptbei- heit Arafat mit Verachtung überschüt- spiel: Elf Monate vor dem Liba- ten. Sosagte Umweltminister Jossi Sarid, non-Krieg 1982 hat Israel mit ein Führer der linken Merez-Partei, vor der PLO indirekt (unter ame- dem Kairo-Abkommen: „Wir müssen rikanischer Vermittlung) ein Arafat den Arm umdrehen, aber nicht Waffenstillstandsabkommen brechen.“ Die endlosen Verhandlungen geschlossen. Arafat hat es ein- über Kleinigkeiten – ein Kilometer hier, gehalten und konnte sogar die ein Polizist da, die Hartnäckigkeit, mit Extremisten in seinen Reihen der auch die kleinsten, psychologisch bändigen. Aber Israels Vertei- wichtigen Zugeständnisse verweigert digungsminister Ariel Scharon werden – haben der anfänglichen Freude hat das Abkommen imJuni 1982 der Palästinenser ein Ende gesetzt. gebrochen und ist in den Liba- Ein Problem, das Arafat zudem inIsra- non einmarschiert, um Arafat el – und im Westen überhaupt – verfolgt, zu vernichten. Der Vorwand: betrifft seine „Unglaubwürdigkeit“. Die Terroristen Abu Nidals, In Wirklichkeit ist Arafat zwar so Todfeinde Arafats, hatten einen glaubwürdig – oder unglaubwürdig – wie Anschlag gegen den israelischen jeder andere Politiker. Aber es gibt eben Botschafter in London verübt. Politiker, denen man alles abnimmt –Ra- Seine arabischen Feinde be- bin zum Beispiel –, und andere, denen schreiben Arafat als einen mü- man einfach nichts glaubt, so etwa einst den alten Mann, einen palästi- Richard M. Nixon in Amerika („Würden nensischen Marschall Pe´tain, Sie von diesem Mann einen Gebraucht- der bereit sei, jedes Diktat des wagen kaufen?“). Feindes anzunehmen. Andere vergleichen das Kairo-Abkom- * Mit US-Präsident Bill Clinton am 13. September men mit dem Versailler Ver- 1993 in Washington. trag. Anti-Uno-Plakat: Biedermanns Zündeln

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Werbeseite AUSLAND selt, auch unter dem Eindruck der hilf- weniger als die Neutralität, ja gar die der Militärgegner aus der „Gruppe für losen Uno-Bemühungen in Bosnien- Unabhängigkeit der Heimat stehe auf eine Schweiz ohne Armee“ setzt sich für Herzegowina und Ruanda, die zunächst dem Spiel, so Villiger damals. das Blauhelm-Projekt ein. breite Zustimmung. In Meinungsumfra- Das biedermännische Zündeln mit Sie erkennen darin ein Zeichen inter- gen sind nur noch 46 Prozent für das nationalen Parolen machte die Isolatio- nationaler Solidarität. Ein Nein zu den Blauhelm-Gesetz, 35 Prozent sprechen nisten stark. Sie appellieren an alte In- Blauhelmen würde „die fortschrittlichen sich dagegen aus, 19 Prozent haben sich stinkte der Eidgenossen, an das seit Kräfte schwächen“. noch nicht entschieden. Jahrhunderten bewährte Prinzip, sich Das ist Blochers Ziel. Er weiß, daß Siegen die Neinsager, würden die rei- aus fremdem Streit herauszuhalten. auf die Zustimmung zu den Friedenssol- chen Eigenbrötler aus den Alpen, die Wieder wähnen sie das Vaterland in daten unweigerlich eine neue Debatte der Uno noch immer nicht angehören, Not, die Neutralität in Gefahr und die über den Uno-Beitritt folgen würde, der Welt wieder einmal vorführen, daß Jugend vom Tod auf fremden Schlacht- den das Volk letztmals 1986 verworfen sie sich internationaler Mitverantwor- feldern bedroht. hatte. tung verweigern. Nach der Absage an Der notorische Neinsager Christoph Die Angst vor einer Aushöhlung der die Europa-Integration hätte die Blocher, der schon den Widerstand ge- Neutralität sitzt indes tief, und durch Schweiz einen weiteren Schritt auf dem gen den Beitritt zum Europäischen Ungeschicklichkeiten verstärkte die Re- Weg in die Isolation getan. Wirtschaftsraum angeführt hatte, stellte gierung sie noch. So begeisterte sich der Vor einem Jahr, als das Parlament in sich an die Spitze der Patriotenfront und Verteidigungsminister öffentlich für das Bern der Aufstellung einer Friedens- erklärte die friedenstiftende Rolle von Nato-Angebot einer „Partnerschaft für truppe mit großer Mehrheit zustimmte, Uno-Soldaten für „dummes Zeug“. den Frieden“. Die Neutralitätspolitik bedürfe dringend der Modernisie- rung. Aus dem undurchdachten Gere- de lassen sich, wie Blocher und sein ebenso mitgliederstarker wie finanzkräftiger Kampftrupp, die „Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz“, jetzt zeigen, vortrefflich Argumente gegen die Regierungspläne schmieden. Sagt die Mehrheit nein, könnte das Land, wie Außenminister Fla- vio Cotti warnt, international un- glaubwürdig werden. Zudem wei- tet sich im Innern die Entfremdung zwischen alemannischem und wel- schem Landesteil aus. Wie schon beim EWR-Referendum, so zeigen die letzten Umfragen, verläuft der Graben auch diesmal entlang der Sprachgrenze. Jacques Pilet, Chefredakteur des Nouveau Quotidien und Lautspre- cher der französischsprachigen In- telligenz, flehte deshalb die Regie- Schweizer Sanitäter in der Sahara: An alte Instinkte appelliert rung noch vor kurzem an, die Ab- stimmung zu verschieben. „Aus ei- schienen alle Befürchtungen grundlos. „Unglaublich zynisch“ findet Vertei- ner zweitrangigen Frage wie den Blau- Die Bewahrung der Neutralität war im digungsminister Kaspar Villiger solche helmen einen Test für die Offenheit der Gesetz besonders berücksichtigt: Ihren Sprüche und weigert sich, mit Blocher Schweiz zu machen“, fand er, „ist unge- Dienst für die Uno sollen die Schweizer im Fernsehen aufzutreten. Das Sprach- schickt und gefährlich.“ Freiwilligen ausschließlich bei friedens- rohr des Bürgertums, die Neue Zürcher Doch die Regierung in Bern hofft erhaltenden Aktionen leisten. Die Zu- Zeitung, entsetzt sich über die „Stim- nach wie vor, eine Mehrheit zu gewin- stimmung der Konfliktparteien ist Be- mungsmache in reiner Unkultur“, wie nen. Sie setzt dabei auf die guten Erfah- dingung, ein Kampfauftrag ausge- sie das Wüsten-Plakat verbreite. Bisher rungen, die das Land, zum Teil gemein- schlossen. sei das Land immer stolz auf jene Bür- sam mit anderen Neutralen, schon in Doch mehrere rechte und ultrarechte ger gewesen, die humanitäre Aufgaben Uno-Diensten sammelte. In der Über- Gruppen – voran die populistische Lega übernahmen, obwohl sie wußten, daß es wachungskommission in Korea, bei un- dei Ticinesi, die Autopartei, die sich in- dabei auch Opfer gibt. bewaffneten Beobachtereinsätzen im zwischen Freiheits-Partei nennt, und die „Noch nie“, zürnt das Blatt, „wäre es Nahen Osten, in Bosnien und Georgien, fremdenfeindlichen Schweizer Demo- jemandem eingefallen, damit gezielt bei Hilfsleistungen von Sanitätspersonal kraten – begannen sogleich, Unterschrif- Stimmung gegen das Internationale Ko- in Namibia und in der Westsahara ten für ein Referendum zu sam- mitee vom Roten Kreuz, gegen ein der- machten bisher über 1100 Schweizer Ar- meln. artiges schweizerisches Engagement meeangehörige mit. Dabei profitierten sie von dem patrio- überhaupt zu machen.“ Für den Fall seiner Niederlage hat tischen Überschwang, den Verteidi- Anders als in Deutschland unterstüt- Blocher vorgesorgt. Ein Volksbegeh- gungsminister Kaspar Villiger hochge- zen Linke, Grüne und auch Pazifisten ren, das die Neutralität in der Verfas- puscht hatte, um in der Volksabstim- die Friedenstruppe als „ersten Schritt zu sung festschreibt, ist bereits formuliert. mung eine Mehrheit für die Anschaffung einer neuen schweizerischen Friedens- Es soll jeden weiteren Öffnungsversuch von 34 Kampfjets zu gewinnen. Nichts und Sicherheitspolitik“. Sogar ein Teil unmöglich machen. Y

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der Tasche ziehen kann, müssen noch Schlachten geschlagen werden, die keines- wegs nur nachgestellt sind. Rund 60 Bürger- gruppen wollen den Geschichtsunterricht mit Pluto und Donald notfalls vor Gericht aufhalten. Sie fürchten unkalkulierbare Um- weltbelastungen und beklagen, daß ein wei- ter Teil Virginias einbe- toniert werden soll, auch wenn Disney als Ausgleich für den tägli- chen Verkehrskollaps etwa 12 000 neue Ar- beitsplätze verspricht. Als Mitstreiter gegen die drohende Mäuse- Geplanter Freizeitpark (Modellzeichnung): „Ernsthafter Spaß“ und Touristeninvasion betätigen sich auch alte USA Beides, die Schlacht und der anschlie- Ostküstengeschlechter wie die Mellons ßende Verkehrsinfarkt, steht den Wa- und dieDuPonts, deren grüne Neigungen shingtonern von 1998 an erneut bevor – bislang nicht so recht zum Durchbruch und zwar täglich. Dann nämlich, wenn es kamen. Die Aussicht, daß bald Krethi Mickymaus der Walt Disney Company gelingt, einen und Plethi (und in deren Gefolge Tank- neuen Freizeitpark beim alten Schlacht- stellen, schummrige Bars und Fast-Food- feld zu errichten. Dort will der Micky- Schuppen) eine Idylle zerstören werden, für Patrioten maus-Konzern US-Geschichte aufarbei- die bislang ihren Gentlemanfarmen und ten – freilich nach Art des Hauses: Zu Gestüten vorbehalten war, konnte auch Der Disney-Konzern will einen festgelegten Zeiten sollen ein blau und einfache Millionäre auf die Barrikaden Geschichtspark bauen – und provo- ein grau gekleidetes Statistenheer die treiben. Schlachten des Bürgerkriegs nachspie- „Wir kämpfen den Kampf unseres Le- ziert die gelehrte Konkurrenz. len. Bei einer Wildwasserfahrt werden bens“, läßt der örtliche Piedmont-Um- bis zu 30 000 Besucher am Tag die simu- weltrat verlauten, dem bis zu ihrem Tode eingemacht hatte sich die feinere lierte Eroberung des Kontinents erleben, auch Jacqueline Onassis angehörte. Ein Gesellschaft der Hauptstadt Wa- komplett mit Indianerdorf und Siedler- Grund für den ungewöhnlichen Protest Fshington. Die Damen und Herren treck genau wie im Kino. der Reichen gegen Wirtschaftswachs- hatten anspannen lassen und sich mit Das Kapitel Industrialisierung kommt tum: Während es in der Umgebung kaum Picknickkörben versorgt. als Achterbahnfahrt durch ein Stahlwerk Arbeitslose gibt, die Disney mit den fir- Ihr Ziel an diesem 21. Juli des Jahres daher, auf dem Victory Field werden Tri- menüblichen Minimallöhnen locken 1861 war das Örtchen Manassas, wo in umphe der Streitkräfte gefeiert. „Wenn könnte, würde der Konzern in den Ar- Virginias sanft hügeliger menvierteln der nahen Hauptstadt genü- Landschaft die U. S. Army gend Arbeitswillige finden. Doch genau bereitstand, um die Rebel- die will man – aus Furcht vor Drogen und len des Südens zu vernich- Kriminalität – hier nicht sehen. ten. Die sichere Niederlage So läßt der „ernsthafte Spaß“, den Dis- der Abtrünnigen, die sich ney-Chef Michael Eisner versprochen gerade von der Union los- hat, einstweilen auf sich warten. Inzwi- gesagt hatten, wollte nie- schen ist der Streit um den Geschichts- mand verpassen. park zum veritablen Kulturkampf eska- Der Ausflug ins Grüne liert. Vorigen Monat gründete eine hoch- geriet zum Desaster. Er- karätige Historikerriege sogar einen stens löste sich die mit Vor- Trutzbund, um die Comic-Konkurrenz schußlorbeeren bedachte aufzuhalten. Unionsarmee im Feuer der „Das ist ein Kommerz-Blitzkrieg, der Südstaatler auf und ergriff Überfall auf Polen“, beschimpfte Ge- schmählich die Flucht. Das Unionssoldaten bei Manassas* schichtswissenschaftler David McCul- führte, zweitens, zu einem Tägliche Schlachten lough die potentielle Entweihung der ge- katastrophalen Verkehrs- schichtsträchtigen Erde Virginias. Sei- chaos, weil die Hauptstädter, nun die Leute den Park verlassen, sollen sie nen Kollegen Shelby Foote plagte dage- gleichfalls in Panik, mit ihren Kutschen stolz sein auf ihr Land“, verspricht Ro- gen der Alptraum, Disney könne „für die die Straße versperrten. bert Weis, einer der Chefentwickler für Geschichte Amerikas das gleiche bewir- „Disney’s America“. ken, waser imTierreich bereits angerich- * Im Juli 1861. Historisches Foto von Mathew Doch bevor Mickys Appell ans Pa- tet hat: die hemmungslose Sentimentali- Brady. triotenherz den Besuchern das Geld aus sierung“. Y

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„SCHLUSS MIT DEM KRIEG, IHR IDIOTEN“ SPIEGEL-Autor Wolfgang Malanowski über die Invasion in der Normandie (III)

is zum 20. Juli hatte die Wehr- machte sich nichts vor: „In diesen von macht an der Normandiefront Unheil bedrohten Abendstunden stan- B116 863 an Toten, Verwundeten, den die Fronten bei Caen und St. Loˆin Gefangenen und Vermißten verloren, einer Abwehrkrise.“ die Alliierten fast ebenso viele: 116 148. Binnen weniger Wochen wuchs sich Doch während Amerikaner, Briten und die Krise zu einer Katastrophe aus, die Kanadier tagtäglich, nach wie vor unbe- endgültig über Sieg und Niederlage ent- hindert, frische Truppen und neues schied. Hitler versank vollends in seinen Kriegsgerät anlandeten – inzwischen Hirngespinsten, faselte vom „Hunnen- insgesamt 1,5 Millionen Mann –, waren kampf“ im Westen, räsonierte von den die deutschen Reserven erschöpft; nur kriegsentscheidenden „Wunderwaffen“ 10 078 Mann Ersatz konnten noch auf- und „totalem Endsieg“ und warnte: getrieben werden. Verstärkungen von „Wer mir von Frieden ohne Sieg spricht, der Ostfront blieben ganz und gar aus. der verliert den Kopf.“ Zerstörter Lageraum im Führerhauptquartier: Seit Beginn der sowjetischen Großof- An diesem 20. Juli 1944, vor 50 Jah- fensive am 22. Juni hatte die Heeres- ren, explodierte gegen 12.50 Uhr klaffte ein Loch, 55 Zentimeter im gruppe Mitte bereits 28 Divisionen ein- im ostpreußischen Führerhauptquartier Durchmesser. Die Fenster waren aus gebüßt. „Wolfschanze“ die Bombe des Attentä- den Rahmen gerissen. Am 20. Juli hieß es im Kriegstage- ters Oberst Claus Schenk Graf von Hitler hatte an der Längsseite des Ti- buch des OB West, Hans Günther von Stauffenberg, die Hitler, den Tyrannen, sches gestanden, den Ellenbogen auf die Kluge: „An der gesamten Kampffront töten sollte. Platte, das Kinn in die Hand gestützt, keine größeren Kampfhandlungen“. Der Lageraum wurde verwüstet, der Stauffenberg zwei Meter neben ihm. Die bis dahin größte Panzerschlacht im wuchtige Tisch, auf dem die General- Aber es war dem Oberst nicht gelungen, Westen war, bei Caen, in schweren Ge- stabskarten ausgebreitet waren, krachte die Bombe zu Hitlers Füßen, an der In- wittern und Wolkenbrüchen steckenge- zusammen. Im Fußboden, da, wo der nenseite des dicken, eichenen Tischsok- blieben. Aber Generalleutnant Speidel Sprengstoff deponiert worden war, kels abzustellen, und so schützte der ausgerechnet den, dem der Anschlag galt. Außerdem war es heiß an diesem Tag, die Fenster waren weit geöffnet. Die gemauerte, mit einer Betondecke versehene Baracke hatte unter dem Fußboden einen 60 Zentimeter tiefen Hohlraum. Die Druckwelle konnte ent- weichen. Die meisten der 24 Männer, die sich in der Lagebaracke versammelt hatten, wurden zu Boden geschleudert, vielen, auch Hitler, platzten die Trommelfelle, manchen standen die Haare in Flam- men, etliche kamen ins Krankenhaus, vier wurden getötet oder starben an den Folgen ihrer Verletzungen. Aber Hitler lebte. Er trug nur einen Bluterguß am rechten Ellenbogen, Prel- lungen und leichte Hautabschürfungen am linken Handrücken davon. Die Uni- form hing ihm in Fetzen vom Leibe. Ei- ne zweite Bombe, die Stauffenberg und sein Adjutant, Oberleutnant Werner Normandie-Front bei Caen: „Von Unheil bedroht“ von Haeften, dabeihatten, nahmen sie

160 DER SPIEGEL 23/1994 die Straßenbahn nehmen, weil Lkw nicht zur Verfügung standen. Wichtige Funk- und Rundfunkanlagen, Gestapo- und Parteizentralen wurden nicht be- setzt, Hitler-Paladin Joseph Goebbels überstand den Tag unbehelligt in seiner Wohnung am Tiergarten. Es wurde den Verschwörern zum Verhängnis, voll und ganz nur auf ei- nen einzigen Mann, auf Stauffenberg, zu setzen – setzen zu können? –, der, als Stabsoffizier, nicht einmal Befehls- gewalt über Truppen hatte und durch verschiedene Verwundungen schwer behindert war. Der Oberst sollte in Ostpreußen Hit- ler töten und im 500 Kilometer ent- fernten Berlin den Staatsstreich leiten. Die Verschwörer in der Bendlerstraße, dem Sitz des Oberkommandos des Heeres – unter ihnen Generaloberst Ludwig Beck, Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, General Fried- rich Olbricht, Generaloberst Erich Hoepner –, wußten nicht einmal, ob der Attentäter davongekommen, ver- haftet oder getötet worden war. Sie

„Mein Führer, Sie leben, Sie leben“

nicht mit ins Lagezimmer. Wäre auch sie hochgegangen, hätte es, wie Exper- ten später errechneten, allen den Rest gegeben. „Wo ist der Führer?“ schrie OKW- Chef Keitel, und dann, erlöst: „Mein Führer, Sie leben, Sie leben.“ General Erich Fellgiebel, ein Mitverschwörer, empfand am Tatort: „Es ist etwas Furchtbares geschehen. Der Führer lebt.“ Der Verschwörer Generalmajor Hen- ning von Tresckow hatte schon Tage vor dem Bombenanschlag resigniert. Er for- mulierte den Klassiker, der in die Wi- derstandsliteratur eingegangen ist: „Das Attentat muß erfolgen, couˆte que couˆte. Es kommt nicht mehr auf den prakti- schen Zweck an, sondern darauf, daß Hitler nach dem Attentat*: „Es ist etwas Furchtbares geschehen, der Führer lebt“ der deutsche Widerstand vor der Welt und vor der Geschichte den entschei- mörderischen Regime und den Willen, warteten ab, viel zu lange. Olbricht ging denden Wurf gewagt hat. Alles andere das andere Deutschland zu retten. erst einmal zu Tisch, wohl auch, um sich ist daneben gleichgültig.“ Das Attentat scheiterte, der Attentä- bedeckt zu halten. Erst danach holte er Es waren Einzelgänger, konservative, ter war schnell enttarnt, und der Staats- endlich die Staatsstreich-Befehle aus liberale, sozialistische, aus Adel, Kir- streich brach, schon im Ansatz, zusam- dem Panzerschrank. chen, nationalem Bürgertum, Sozialde- men. Die putschenden Militärs machten Gegen 13.15 Uhr startete die Heinkel mokratie und Gewerkschaften, auch Fehler, die Generalstäblern einfach 111 im ostpreußischen Rastenburg mit Persönlichkeiten, die lange an Hitler ge- nicht unterlaufen sollten. dem Attentäter an Bord in Richtung glaubt hatten, die den Aufstand des Ge- Die lange vorbereiteten Befehle für Berlin. Zur gleichen Zeit gingen die er- wissens als patriotische Pflicht erkann- den Staatsstreich gingen zu spät raus, sten Meldungen von dem Anschlag auf ten. Sie wagten den Wurf, ohne Rück- erst am Nachmittag oder gegen Abend, Hitler in der Bendlerstraße ein. Aber halt zu einer Untergrundbewegung, die gar nach Dienstschluß in den Wehr- sofort stellte sich die Kardinalfrage, an gab es nicht, ohne Anbindung an das kreiskommandos. Soldaten wurden zu der sich bald überall, in Berlin wie in Volk, das, unterdrückt oder Hitler-hö- spät alarmiert, in Berlin mußten manche den anderen Wehrkreisen des Reiches rig, alles mit sich machen ließ, verbun- und der besetzten Gebiete – an der Nor- den allein durch den Abscheu vor einem * Mit Generaloberst Jodl (mit Kopfverband). mandiefront zumal –, die Gemüter er-

DER SPIEGEL 23/1994 161 hitzten und die Geister schieden. Ist Auch der inzwischen abgelöste OB Hitler tot oder lebendig? West, Rundstedt, wußte von den Um- Am Vormittag des 20. Juli war beim sturzplänen, war aber strikt dagegen, Militärbefehlshaber in Frankreich, Ge- aus Motiven, die viele seiner preußi- neral Karl-Heinrich von Stülpnagel, das schen Standesgenossen auch bewo- mit den Verschwörern in Berlin verab- gen. redete Stichwort „Übung“ eingegangen; „Auf solche Gedanken wäre ich nie es besagte, das Attentat stünde unmit- gekommen“, sagte er noch vor dem In- telbar bevor. Am Nachmittag folgte die ternationalen Militärtribunal in Nürn- Parole „Übung abgelaufen“, das Atten- berg: „Das wäre gemeiner, nackter tat sei ausgeführt. Verrat gewesen . . . Ich würde für alle In Paris nahm der Staatsstreich For- Zeiten als der Verräter meines Vater- men an. SS, SD und Gestapo wurden landes dastehen.“ Und Rommels überrumpelt und eingesperrt, ihre Stabschef, Speidel, der heftig mitkon- Quartiere besetzt. Standgerichte sollten spiriert hatte, hielt sich an jenem braune und schwarze Bonzen aburtei- Abend merklich zurück; er müsse sich len, Erschießungen wurden vorbereitet; um die Front kümmern. im Hof der E´ cole Militaire waren schon Wäre die Westfront zusammenge- brochen, den Alliierten der Durch- marsch nach Deutschland freigegeben „Alles hängt jetzt worden, hätte es, selbst bei einem ab von der Scheitern des Staatsstreichs im Reich, kein Halten mehr gegeben. Abertau- Armee im Westen“ sende Soldaten, hüben wie drüben, und Zivilisten wären nicht mehr ge- Sandsäcke als Kugelfang aufgeschichtet storben, zig Städte nicht mehr in worden. Asche versunken. Militärbefehlshaber von Stülpnagel, Alles kam jetzt auf den Oberbefehls- Oberstleutnant Cäsar von Hofacker, ein haber West, Generalfeldmarschall von Vetter Stauffenbergs, Rommels Stabs- Kluge, an; auf sein Kommando hörten chef, Speidel, und Oberquartiermeister die Truppen. Doch Kluge lavierte, bis West, Oberst Eberhard Finckh, zählten er keinen Ausweg mehr sah als den zu den eingeschworenen Rebellen. Sie Selbstmord. standen seit langem in engem Kontakt Der „kluge Hans“ hatte längst er- zu Beck, Stauffenberg und dem ehema- kannt, Hitler „dieses Schwein“ müsse ligen Leipziger Oberbürgermeister Carl getötet werden, doch gegen einen Hit- Goerdeler. ler, der womöglich doch noch lebte, Sie wollten Hitler verhaften und vor traute er sich nicht. Als ihm gemeldet ein deutsches Gericht stellen, das NS- wurde, in Berlin habe die Gestapo ge- Regime stürzen, den Krieg im Westen putscht, Hitler sei tot, Beck, Witzleben beenden, die Streitkräfte hinter den und Goerdeler hätten eine neue Regie- Westwall entlang der Reichsgrenze zu- rung gebildet, wartete er erst einmal rückziehen und die besetzten Westge- ab: „Ist das alles?“ biete räumen. Von den Alliierten erwar- Gegen 16.30 Uhr war Stauffenberg teten sie die Einstellung der Luftbom- im Bendlerblock erschienen. „Hitler ist bardements gegen die Zivilbevölkerung. Der Krieg im Osten, gegen die Sowjet- union, sollte jedoch weitergehen. Rommel war seit dem Frühjahr 1944 eingeweiht. Am 15. Juli hatte er gegen- über Vertrauten noch gedroht: „Ich ha- be Hitler jetzt die letzte Chance gege- ben. Wenn er keine Konsequenzen zieht, werden wir handeln.“ Aber vor dem Tyrannenmord schreckte er zu- rück. Der „Marschall des Führers“, der so lange von Hitler nicht lassen konnte, hatte letzten Endes den Glauben an ihn verloren. Welche Rolle Rommel in je- ner Nacht beim Putsch an der Westfront gespielt hätte, bleibt jedoch offen; er lag, schwer verwundet, in einem Laza- rett. Hätte er, auch bei einem lebendi- gen Hitler, alles auf eine Karte gesetzt? Von dem Attentat war er „stark erschüt- tert“, und er dankte „Gott . . . daß es so gut abgegangen ist.“ Oberst Stauffenberg (l.), Hitler* * Am 15. Juli 1944 im Führerhauptquartier. „Der entscheidende Wurf“

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Als die ersten Fernschreiben der Ver- tat.“ Dann bat er zu Tisch. Der Speise- schwörer bei der Truppe eingingen – sie saal war, wegen Stromausfalls, mit Fak- wurden, auch das eine schwere Panne, im keln erleuchtet. Während die Gäste be- Führerhauptquartier mitgelesen –, wa- treten schwiegen, plauderte der Gastge- ren die Gegenmaßnahmen bereits ange- ber scheinbar munter drauflos. Er erin- laufen. Abwarten und Lavieren war jetzt nerte sich an die Kämpfe in der Sowjet- vielfach die Parole, Mißtrauen und Unsi- union, wo er, bis zu einem Autounfall, cherheit breiteten sich aus. Befehlshaber die Heeresgruppe Mitte geführt hatte und Stabsoffiziere riefen in Berlin an und (die in diesen Tagen von der Roten Ar- erfuhren: „Hitler ist tot.“ Dann fragten mee zusammengeschossen wurde), und sie bei OKW-Chef Keitel nach und wur- an längst vergangene Garnisonszeiten. den vergattert: „Der Führer lebt.“ Inzwischen hatten Stülpnagels Stoß- Generalfeldmarschall von Witzleben, trupps 1200 SS-, SD- und Gestapo-Leu- der neuer Oberbefehlshaber der Wehr- te verhaftet und auf Lastwagen in das macht werden sollte, steckte schnell auf: Wehrmachtsgefängnis Fresne und in „Schöne Schweinerei, das.“ Während das alte Fort de l’Est in St. Denis brin- Stauffenberg in hektischen Telefonaten gen lassen. Ausgerechnet ein ganz alter noch zur Tat drängte: Nazi, Generalmajor Walther Brehmer, der schon beim Hitler-Putsch von 1923 Hier Stauffenberg . . . Jeder Widerstand dabeigewesen war, nahm den Höheren muß gebrochen werden . . . Es ist wahr- SS- und Polizeiführer, SS-Gruppenfüh- scheinlich, daß Gegenbefehle vom Füh- rer Carl-Albrecht Oberg, fest; er und rerhauptquartier gegeben werden . . . andere hohe SS-Chargen wurden im General von Stülpnagel Sie sind nicht glaubwürdig . . . nein . . . Hotel Continental unter Hausarrest ge- Hitlers Garde überrumpelt Die Wehrmacht hat die Vollzugsgewalt stellt. übernommen . . . Verstehen Sie . . . ja, Als Kluge von dem Handstreich er- tot“, behauptete er, „ich habe gesehen, das Reich ist in Gefahr, und wie immer fuhr, befahl er, die Aktion sofort abzu- wie man ihn hinausgetragen hat“, was übernimmt in der Stunde der Gefahr der brechen und alle Verhafteten freizulas- nicht stimmte. Glaubte er an den Erfolg Soldat das Komman- seiner Tat, oder tat er nur so (was anzu- do . . . Haben Sie verstan- nehmen ist), weil er genau wußte, daß den? Heil. zahlreiche Offiziere nur zu bewegen wa- ren, sei es zum Staatsstreich, sei es we- Gegen 19 Uhr rief Beck nigstens zur Ausführung der dubiosen Kluge an: „Es geht jetzt um Befehle aus der Bendlerstraße, wenn es Deutschland: Sie müssen keinen Hitler mehr gab? sich jetzt entscheiden, was In Berlin war auf den Befehlshaber Sie zu tun gedenken.“ des Ersatzheeres, Generaloberst Fried- Beck räumte ein, Hitlers rich Fromm, kein Verlaß, das wußten Tod sei wahrscheinlich, die Verschwörer, ebensowenig wie auf aber nicht absolut sicher, Kluge. In den Kommandostellen gab es der Staatsstreich sei jedoch zu wenige Befehlshaber, die erkannten, angelaufen und würde bis woran sie waren, als die Befehle der zum Ende durchgeführt: Verschwörer auf ihren Tischen lande- „Alles hängt jetzt ab von ten, und die bereit gewesen wären, sie der Armee im Westen, von bedingungslos auszuführen. Ihnen. Ich erwarte eine Und hätten überhaupt viel mehr mit- klare Antwort.“ gemacht? Der Eid auf Hitler, an den Da konnte er lange war- sich die meisten Offiziere gebunden ten, Kluge blieb dabei: fühlten und mit dem sich auch einige der „Hitler ist der Abgott der Verschwörer herumquälten, die preußi- Massen. Solange er lebt, ist sche Tradition bedingungslosen Gehor- nichts zu machen.“ sams, aber auch blinde Hingabe an den Am Abend erschienen Führer machten die Verschwörer von Stülpnagel und Hofacker vornherein und unabänderlich zu Au- im Hauptquartier des ßenseitern der deutschen Soldatenge- Oberbefehlshabers West. sellschaft. Stülpnagel versuchte, den Berliner Bendlerblock: „Es lebe das heilige Deutschland“ Inzwischen war auch, in Zivil, Gene- Feldmarschall umzustim- raloberst Beck – früher Generalstabs- men – er wisse doch wohl Bescheid . . . sen. Er setzte Stülpnagel ab und gab ihm chef des Heeres, seit 1938 a. D. – , der Darauf Kluge: „Nein, keine Ahnung ha- den gutgemeinten Rat: „Verschwinden nach dem Umsturz „Reichsverweser“ be ich.“ Hofacker beschwor ihn: „Tun Sie in Zivil, irgendwohin.“ Den Führer werden sollte, bei den Verschwörern im Sie das, was an Ihrer Stelle Rommel ge- hatte er schon hochleben lassen. Wie er Bendlerblock eingetroffen. „Für mich tan haben würde. Sagen Sie sich los von sich freue, „daß der von ruchloser Hand ist dieser Mann tot“, entschied er für Hitler, und übernehmen Sie die Füh- unternommene Anschlag auf Ihr Le- sich die offene Frage: „Davon lasse ich rung der Freiheitsaktion im Westen, in- ben“ mißlungen sei, „dank einer gütigen mein weiteres Handeln bestimmen.“ Er dem Sie Verhandlungen einleiten! Ma- Fügung der Vorsehung“. Er gelobte warnte aber auch: „Von dieser Linie chen Sie hier im Westen Schluß mit dem „unwandelbare Treue, was auch kom- dürfen wir nicht abweichen, sonst brin- blutigen Morden!“ men mag“. gen wir unsere eigenen Reihen in Ver- Kluge winkte ab: „Ja, ja, meine Her- Gegen Mitternacht war Oberst von wirrung.“ ren, es ist eben ein mißglücktes Atten- Stauffenberg am Ende. Meldete sich der

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Werbeseite SERIE lebendige Hitler zu Wort. Hatten te er nicht mehr über Reichsminister Goebbels und der den Weg. „Befehlen Kommandeur des Berliner Wachbatail- können wir alles“, äu- lons „Großdeutschland“, Major Otto ßerte er gegenüber Ernst Remer, leichtes Spiel, den dem Chef des Wehr- Staatsstreich der Hitler-Gegner kalt zu machtführungsstabes, liquidieren. In Paris endete der Putsch- Jodl, „aber gemacht versuch in einer schauerlichen Farce. kann in der Zeit gar Hitler sprach: „Eine ganz kleine Cli- nichts werden.“ Dabei que ehrgeiziger, gewissenloser und zu- konnte er mit den Ge- gleich verbrecherischer, dummer Offi- nerälen immer noch ziere hat ein Komplott geschmiedet, machen, was er wollte. um mich zu beseitigen und zugleich mit Insgeheim empörte mir den Stab der deutschen Wehr- sich mal einer: „Man machtsführung auszurotten.“ kann bloß laut lachen. Im Kasino des Militärbefehlshabers, Lesen die denn keine im Pariser Hotel Raphael, wurde Berichte von uns? Die Champagner ausgeschenkt, reichten leben anscheinend sich Freunde, Feinde und Todfeinde noch auf dem Mond“ die Hand. Sie hatten sich auf eine (Kluge). Aber Wider- „Sprachregelung“ geeinigt, die dem US-Bomber über der Invasionsfront worte wagte keiner, vermittelnden deutschen Botschafter in „Die Panzer waren stillgelegt . . . nicht einmal die weni- Paris, Otto Abetz, eingefallen war, um gen Hitler-Lieblinge zu kaschieren, was nicht mehr zu ret- mieren, verbrennen und die Asche ver- wie SS-Obergruppenführer Dietrich. ten war: Es habe sich in der vergange- streuen. „Wenn ich erschossen werden will“, nen Nacht um „ein militärisches General von Stülpnagel wurde sofort kniff der, „dann ist das der sicherste Übungsmanöver für die Einnahme von nach Berlin beordert, er konnte sich Weg.“ denken, warum. Unterwegs, bei Ver- „Es muß das Ziel bleiben“, tönte Hit- dun, ließ er den Pkw halten; er wolle ler in seinem ostpreußischen Bunker un- „Die Leute kämpfen sich das Schlachtfeld ansehen, wo er im entwegt, „den Feind an der Küste eng auch hier Ersten Weltkrieg gekämpft hatte. Er umschlossen zu halten, ihm dort schwe- schoß sich in den Kopf, stürzte in die re Verluste beizubringen, um ihn da- nicht mehr“ Maas, überlebte, erblindete jedoch. Sei- durch zu erschöpfen und schließlich nie- ne Begleitung zog ihn aus dem Wasser derzuzwingen.“ Häuserblocks im Falle von Straßen- und brachte den Schwerverletzten in ein 55 Tage nach Invasionsbeginn, 35 Ta- kämpfen“ gehandelt. Die SS-Führer Lazarett. ge später als geplant, brachen die Alli- schluckten die Version, Stülpnagel hät- Der Volksgerichtshof verurteilte ihn – ierten, keineswegs erschöpft, aus ihren te Gegenmaßnahmen gegen einen ver- und seine Getreuen Hofacker und Brückenköpfen aus, die Amerikaner bei muteten Gestapo-Putsch in Berlin tref- Finckh – zum Tode durch den Strang. Avranches, bald darauf Briten und Ka- fen müssen; so konnten sie vertuschen, Nach dem Attentat war Hitler miß- nadier bei Caen. Im Kessel von Falaise wie leicht Hitlers Garde zu überwälti- trauischer denn je, den Generälen trau- vernichteten sie große Teile der 7. Ar- gen war. Die Verschwörer wurden ge- deckt, vorübergehend. In der Reichshauptstadt umstellten zwei Kompanien des Wachbataillons „Großdeutschland“ den Bendlerblock. Maschinengewehre wurden in Stellung gebracht, aber es fiel kein Schuß. Nur drinnen kam es zu einer Schießerei. Ein Dutzend Hitler-treue Offiziere ging auf die Verschwörer los. Stauffen- berg: „Sie haben mich ja alle im Stich gelassen.“ Generaloberst Beck wollte aus „die- ser unglücklichen Situation die Konse- quenzen selbst ziehen“. Er schoß zwei- mal, war aber nicht tot. Ein Soldat des Wachbataillons gab ihm den Gnaden- schuß. Die Widerstandskämpfer Stauffen- berg, sein Adjutant Haeften, General Olbricht und Oberst Albrecht Mertz von Quirnheim wurden gegen 0.30 Uhr im Hof des Bendlerblocks erschossen. „Es lebe das heilige Deutschland“, sol- len Stauffenbergs letzte Worte gewesen sein. Nachts wurden die Toten auf dem Friedhof der Matthäikirche begra- ben. Aber der Reichsführer SS, Hein- rich Himmler, ließ die Leichen exhu- . . . und die Straßen unpassierbar“: Angreifende US-Soldaten

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mee und der 5. Panzerarmee (früher Meine Flak hatte kaum ihren Mund auf- ersten Tag schafften sie ganze 3,5 Kilo- Panzergruppe West). getan, als die Batterien schon direkte meter. Schon nach drei Tagen erkann- Der Durchbruch bei Avranches ver- Treffer erhielten, die die Hälfte der Ka- te OB West, Kluge, jedoch, „nun ist lief wie üblich. Ab 9.40 Uhr am 25. Juli nonen zerstörten und den Rest zum der Durchbruch nicht mehr zu verhin- beharkten Jagdbomber die deutschen Schweigen brachten. Nach einer Stun- dern“, die „ganze Westfront“ sei Stellungen, Panzer und Kolonnen, dann de hatte ich mit niemandem mehr Ver- „aufgerissen“, die „Infanterie völlig warfen Kampfflugzeuge 3341 Tonnen bindung, auch nicht durch Funk. Zu Mit- zerplatzt. Die Leute kämpfen auch Bomben auf einen nur 6,4 mal 2,5 Kilo- tag war außer Staub und Qualm nichts hier nicht mehr“. Und dennoch befahl meter breiten Gefechtsstreifen ab. „Die zu sehen. Alle meine vorderen Panzer er: „Avranches ist unter allen Umstän- Flugzeuge zogen ununterbrochen wie waren stillgelegt, und die Straßen wa- den zu nehmen und zu halten. Es ist ein Förderband über uns weg“, schilder- ren praktisch unpassierbar. der Angelpunkt unserer Verteidigung. te der Kommandeur der Panzerlehrdivi- Mit ihm steht und fällt die Entschei- sion, Generalleutnant Fritz Bayerlein, 15 US-Divisionen gingen mit Panzern dung im Westen.“ die Luftattacke: und Infanterie zum Angriff über. Am Als Generalleutnant Bayerlein die Durchhalteparole überbracht wurde, höhnte er: Verspätet am Ziel – Alliierter Durchbruch im August 1944 Draußen an der Front halten alle aus. Jeder einzelne. Meine Grenadiere und 6. Juni 1944 26. Juni 1944 meine Pioniere und meine Panzerbe- Cherbourg Cherbourg satzungen, sie halten alle ihre Stel- geplanter lungen. Kein einziger Mann verläßt Frontverlauf Le Havre Le Havre seinen Posten. Sie liegen still in ihren Bayeux Carentan Cabourg Carentan Cabourg Schützenlöchern, denn sie sind tot. von den Bayeux Caen Sie können dem Herrn Generalfeld- Caen Alliierten St. Lô St. Lô marschall melden, daß die Panzerlehr- eroberte Falaise division vernichtet ist. Gebiete Argentan Avranches Argentan Avranches Am 31. Juli eroberten die Amerika- ner Avranches, der Ausbruch aus dem 26. Juli 1944 Le Havre Cherbourg „Hunderte von Metern weit nur auf Carentan Caen Cabourg Atlantischer Ozean Seine St. Lô abgestorbenem Fleisch“ Normandie Falaise Brückenkopf an der Normandieküste, Avranches Argentan zugleich der Durchbruch in die Breta- gne waren gelungen. Aus dem Stel- Brest Chartres lungskrieg war jetzt ein Bewegungs- Bretagne krieg geworden. Nun konnte der Feind, konstatierte Kluge, „machen, Rennes Quimper was er will“. Le Mans „Ob der Feind an diesem Punkt noch aufgehalten werden kann, ist fraglich“, schönte Kluge einleitend noch, und dann kam es knüppeldick: 100 Kilometer Frank- Die gegnerische Luftüberlegenheit ist reich gewaltig und unterdrückt fast jede Be- Le Havre Cherbourg wegung unserer Truppen . . . Die Ver- luste an Menschen und Material sind Carentan Cabourg Atlantischer Ozean Caen 15. August 1944 außerordentlich groß. Der Kampfgeist unserer Truppe hat unter dem ständi- Normandie gen feindlichen Feuer erheblich gelit- Falaise ten, besonders seit alle Infanterieein- Avranches Argentan heiten nur noch aus zusammengewür- felten Gruppen bestehen, die keine Brest Chartres Truppe im eigentlichen Sinne mehr bilden. Bretagne Rennes Das alles kratzte Hitler nicht. Am 1. Quimper Le Mans August befahl er einen „Gegenangriff“ mit „sämtlichen Panzerverbänden“, um bis „Avranches durchzustoßen, den Angers durchgebrochenen Feind abzuschnei- den und zu vernichten“. Die Entschei- dung des „Feldzuges in Frankreich“, Nantes das hatte er inzwischen begriffen, „hängt von diesem Angriff ab“. Daß dieser Angriff bereits gescheitert war,

168 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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Der Versuch deutscher Einheiten, der drohenden Einschließung zu entkom- men, ging in „regellose Flucht über“, stellte Montgomery fest: „Die Divisio- nen waren hoffnungslos ineinander ver- keilt, und die Kommandanten konnten kaum mehr ihre eigenen Truppen füh- ren . . . Das Gelände war übersät mit den Trümmern deutscher Fahrzeuge und Waffen. Den alliierten Luftstreit- kräften boten sich Angriffsziele, die in diesem Krieg wohl ohne Beispiel daste- hen.“ 48 Stunden später bahnte sich US-Ge- neral Eisenhower den Weg über das Schlachtfeld, „buchstäblich Hunderte von Metern weit nur auf abgestorbenem und verwesendem Fleisch“. Er sah „Bilder, die nur ein Dante schildern könnte“: „Wege, Chausseen und Felder waren . . . mit Gefallenen und Tierka- Deutsche Gefangene, US-Soldaten*: „Die ganze Westfront ist aufgerissen“ davern übersät“ (Eisenhower). Eisenhowers Waffenbruder Montgo- nahm er wieder nicht zu Kenntnis. „Wir entgegenwarfen, die meist schon schwer mery zog Bilanz: „Das Ende der müssen blitzartig zuschlagen“, instruier- angeschlagen, kampfmüde und entmu- Schlacht in der Normandie kann man te er den OB West, „die gesamte Front tigt waren.“ auf den 19. August ansetzen, denn an des Feindes von hinten aufrollen“. Am 7. August hatten sich auf den Hö- diesem Tag räumten wir endgültig mit Hitler schickte den stellvertretenden hen südlich von Caen tausend britische den feindlichen Überbleibseln auf, die Chef des Wehrmachtführungsstabes, und kanadische Panzerfahrzeuge ver- noch im Kessel . . . eingeschlossen wa- Generalleutnant Walter Warlimont, ei- sammelt, auf engstem Raum, Bug am ren. Damit war der völlige und entschei- gens an die Westfront – der einzige aus Heck. Eine Stunde vor Mitternacht ka- dende Sieg erreicht.“ der Jasager-Clique im Führerhauptquar- men die Flieger, eine halbe Stunde spä- Vier Tage bevor sich der Kessel ge- tier, der je mit eigenen Augen sah, was ter setzte sich die Streitmacht in Marsch; schlossen hatte, irrte Generalfeldmar- sich dort abspielte –, um Kluge zu ver- Ziel Falaise. schall von Kluge zwischen den Fronten donnern, „er habe seine Augen aus- Aufgewirbelter Staub und eine künst- herum, unter feindlichem Beschuß schließlich nach vorn und auf den Feind liche Nebelwand von den Deutschen hockte er in einem Schützengraben, oh- zu richten und nicht nach hinten zu blik- hemmten den Vormarsch. „Das Chaos ne Verbindung zu seinem Gefechts- ken“. war unbeschreiblich“, berichtete ein bri- stand; sein Funkwagen war ausgefallen. Dem Oberbefehlshaber der alliierten tischer Oberstleutnant: „Jedem war ein- Zwölf Stunden galt OB West als ver- Landstreitkräfte, Briten-General Mont- geschärft worden, sich dicht aufge- schollen. Hitler argwöhnte schon, der gomery, konnte das nur recht sein; er schlossen zu halten und dem voranfah- Feldmarschall wollte „die ganze Westar- urteilte: „Die Deutschen spielten uns in renden Panzer zu folgen, aber jetzt war mee planmäßig in eine Kapitulation hin- die Hand, indem sie uns den Rest ihrer es klar, daß Blinde die Blinden führ- einführen und selber zum Gegner über- im Westen stehenden Panzerstreitkräfte ten.“ gehen.“ Und so war, sagte Hitler später, Bei Tagesanbruch standen die Kolon- nen fünf Kilometer tief in den deutschen Linien. Kluge erkannte: „Im übrigen haben wir bei Caen einen Einbruch, wie wir ihn bisher noch nicht gekannt ha- ben“, und Hitler witterte Verrat. Kluge, der mittlerweile verdächtigt wurde, ir- gendwie am Juli-Putsch beteiligt gewe- sen zu sein, habe „zu zeitig angegriffen. Er hat das absichtlich getan, um zu zei- gen, daß meine Befehle unausführbar sind“. Während Briten und Kanadier von Norden gegen Falaise vordrangen, Me- ter um Meter, näherten sich amerikani- sche Truppen, nach dem Durchbruch bei Avranches überraschend schnell, von Süden und Südwesten der Stadt. „Der Feind versucht mit allen Mitteln“, sah der OB West das Unheil kommen, „die Einschließung der Masse der 5. Panzerarmee und der 7. Armee anzu- streben.“

Generalfeldmarschall Kluge (r.)* * Oben: bei Avranches; unten: in der Kessel- US-General Eisenhower „Hitler ist der Abgott der Massen“ schlacht bei Falaise. „Der entscheidende Sieg“

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Werbeseite SERIE der 15. August – da waren die Alliierten Bei Verhören durch die Gestapo fiel „von diesem Menschen Hitler gehenkt auch an der französischen Mittelmeer- bald auch der Name Rommel. Er habe zu werden. Ich habe keinen Mord ge- küste gelandet – „der schlimmste Tag das „Schlimmste getan“, stand für Hitler plant. Ich versuche nur, meinem Volk meines Lebens“. Ende August fest, „was es in einem sol- zu dienen.“ Als Kluge in seinen Gefechtsstand zu- chen Falle überhaupt für einen Soldaten „In einer Viertelstunde bin ich tot“, rückkehrte, war sein Nachfolger, Gene- geben kann“ – Hochverrat. Rommel sagte Rommel seiner Frau beim Ab- ralfeldmarschall Walter Model, schon wurde ins Führerhauptquartier zitiert, schied: „Sie verdächtigen mich der da. „Infolge der Belastung in den vor- fuhr aber nicht. Er wußte sich in „ern- Teilnahme am Anschlag gegen Hitler.“ ausgegangenen Wochen“, hieß es in ei- ster Gefahr“, wie er einem Freund an- 25 Minuten später war er tot, angeblich nem Schreiben, das Model aus dem vertraut hatte: „Hitler läßt mich um- auf der Autofahrt nach Ulm an einer Führerhauptquartier mitgebracht hatte, bringen.“ Gehirnblutung gestorben. sei Kluge „den Anforderungen der Füh- SS-Hauptscharführer Heinrich Doo- rung gesundheitlich nicht mehr gewach- se, Fahrer des Wagens, in dem Rom- sen“. Der Führer befahl: „Feldmar- „Ich werde nicht erlauben, mel sich tötete, schilderte später die schall von Kluge hat zu melden, nach von diesem Menschen näheren Umstände: „Ich sah Rommel welcher Gegend Deutschlands er zu ge- hinten im Wagen sitzen, offenbar im hen gedenkt.“ gehenkt zu werden“ Sterben, besinnungslos, in sich zusam- Auf der Heimfahrt, am 19. August, mengesunken, schluchzend, nicht rö- murmelte der geschaßte OB West: „Das Am 14. Oktober erschienen zwei Ge- chelnd oder stöhnend, sondern schluch- überlebe ich nicht . . . jetzt, in dieser Si- neräle bei Rommel im schwäbischen zend. Die Mütze war ihm herunterge- tuation, von meiner Truppe weggehen Herrlingen; das Dorf war von SS-Posten fallen.“ zu müssen und sie ihrem Schicksal zu mit Maschinengewehren umzingelt. Sie Im Rathaus von Ulm wurde ein ma- überlassen.“ Während der Mittagsrast stellten ihn, im Namen des Führers, vor kabrer Staatsakt inszeniert – „eine poli- vergiftete er sich mit Zyankali. Er konn- die Wahl, vom berüchtigten Volksge- tische Leichenschändung ohne ge- te Hitlers Vorwurf, „das Schicksal des richtshof abgeurteilt zu werden oder schichtlichen Vorgang“ (Speidel). Ge- Westens durch falsche Maßnahmen be- sich das Leben zu nehmen. Das Gift hat- neralfeldmarschall von Rundstedt ver- siegelt zu haben, nicht ertragen“. ten sie gleich mitgebracht; es wirke in las die Trauerrede für Erwin Rommel: Einen Abschiedsbrief an Hitler hatte drei Sekunden. „Sein Herz gehörte dem Führer.“ er noch hinterlegt. „Das deutsche Volk Rommel wählte den Selbstmord. Ver- Bis zum bitteren Ende? Wenige Tage hat so namenlos gelitten, daß es Zeit ist, mutlich wollte er seine Frau und seinen vor seinem Tod hatte Rommel an Hit- dem Grauen ein Ende zu machen“, damals 15 Jahre alten Sohn Manfred ler geschrieben: „Mich beherrschte stand darin, aber auch: „Mein Führer, (heute Oberbürgermeister von Stutt- stets nur ein Gedanke – zu kämpfen ich habe stets Ihre Größe, Ihre Haltung gart) vor der „Sippenhaft“ der SS-Ter- und siegen für Ihr neues Deutschland. in diesem gigantischen Kampf und Ihren roristen bewahren. „Ich werde mir nie- Heil, mein Führer.“ eisernen Willen, sich und den Nationa- mals erlauben“, beschied er seinen Or- lismus zu erhalten, bewundert.“ donnanzoffizier Hauptmann Aldinger, ENDE

Staatsbegräbnis für Generalfeldmarschall Rommel: „Politische Leichenschändung ohne geschichtlichen Vorgang“

172 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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Werbeseite KULTUR SZENE

Musik Orchesterkampf im Kohlenpott Geldnot macht erfinderisch und Klangkörper zu Kampf- hähnen. Die Stadt Gelsenkir- chen will ihr Orchester auflö- sen, der Bund möchte nicht länger die Philharmonia Hungarica päppeln, die 1957 aus Ungarn-Flüchtigen gebil- det wurde und in der Nach- barstadt Marl residiert. Im Bonner Innenministerium wurde jetzt ein grotesker Sparplan ausgeheckt: Bonn wird seine Zuschüsse (1994: 10 Millionen Mark) für die 91 Marler Musiker stufenweise reduzieren, Gelsenkirchen seinen 77 Philharmonikern kündigen und ersatzweise die Werbeplakat der US-Marine, britische Deutschland-Karikatur Marler als bezahlte Gäste en- gagieren. Der Alarm der be- Ausstellungen „Die letzten Tage der Menschheit“, die an troffenen Musikanten aus der diesem Donnerstag im Berliner Alten Mu- Schalke-Stadt kommt wo- seum eröffnet wird. Die Schau zeigt, im möglich zu spät: Am 26. Juni Propaganda für den Krieg Kontrast, offizielles Propagandamaterial endet die Saison, „und nach Der Golfkrieg von 1991 gilt als die gewaltig- (Fotos, Postkarten, Plakate) und avantgar- den Ferien“, fürchtet Orche- ste Medienschlacht der Geschichte – als distische Antikriegskunst von George ster-Vorstand Tibor Bamber- perfekte Inszenierung aus Zensur und Pu- Grosz bis Marc Chagall. Vertreten ist auch ger, „finden wir alle die Kün- blic Relations. Doch diese List hat Traditi- die traditionsreiche Gilde dienstverpflichte- digung auf dem Tisch“. Die on. Schon im Ersten Weltkrieg erkannten ter Pinselführer, die den Krieg zuerst, wie muß, laut Bonner Protokoll, die Feldherren den Wert strategischer Öf- bestellt, auf Schlachten-Gemälden verherr- „tariflich bedingt bis zum 31. fentlichkeitsarbeit. Das dokumentiert nun lichten – und die dann oft im Schützengra- Juli 1994 erfolgen“. eine deutsch-britische Ausstellung über ben von Bellizisten zu Pazifisten wurden.

Kino kurzbeinigen Kerlchen zum dort mit ihrem Gefährten zu Detektiv auf Knuddeln (Steffen Schult), tun, einem bilderbuchmäßi- ist jenes Naturtalent zum gen Stinkstiefel, der das gute krummer Tour Mißgeschick ins Gesicht ge- Kind zum Stehlen zwingt. Es Früher mal war Adamski schrieben, das es nur bei Ko- braucht noch ein paar Run- Trompeter in einer Vopo- mödienfiguren gibt. Erwar- den bis zum Happy-End, Band, doch ein paar Jahre tungsgemäß gerät er rasch in doch „Adamski“, der erste nach der Wende darf er froh die Bredouillen der Pflicht- Kinofilm von Jens Becker, sein, daß er einen Job als vergessenheit: Er verfolgt ei- 31, der die Babelsberger Kaufhausdetektiv am Alex- ne junge Ladendiebin als ver- Filmhochschule absolviert anderplatz ergattert. Denn liebter Voyeur bis in ihre hat, zeigt – nun in deutschen Adamski, einem zarten, Wohnung und bekommt es Kinos – ein feines Talent fürs Poetisch-Verspielte: Becker empfiehlt sich als Ossi mit Ma´rquez Ironie. nischen Cartagena de Indias Autoren will der Autor („Die Liebe in den Zeiten der Cholera“) ei- Endstation ne „Werkstatt“ für den Schreibnachwuchs gründen. Sehnsucht Die praxisbezogene Ausbil- Er war einmal, bevor er zu li- dung soll begabten Zunftazu- terarischem Weltruhm kam, bis das dröge Universitätsstu- ein emsiger, kleiner Redak- dium ersparen. Ma´rquez’ teur. Und nun, auf seine al- Zöglinge lernen deshalb, ne- ten Tage, hat den Schriftstel- ben „viel Ethik“, erst mal, ler Gabriel Garcı´a Ma´rquez, wie der Reporter fehlerfrei 66, noch einmal eine „Sehn- mit seinem Werkzeug um- sucht nach dem Journalis- geht – mit Mikrofon und Becker-Film „Adamski“ mus“ gepackt. Im kolumbia- Tonbandgerät.

DER SPIEGEL 23/1994 175 Werbeseite

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Werbeseite KULTUR

Literatur „EIN LUMPIGES LEBEN“ Nach mehr als 40 Jahren lüftet der Schriftsteller Ernst Jünger ein Geheimnis: Hinter seinem Tagebuchporträt eines antisemitischen Franzosen aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs verbirgt sich der Autor Louis-Ferdinand Ce´line. Geniale Romane – und rassistische Tiraden hatten den zweifelhaften Ruhm Ce´lines begründet.

m Nachmittag des 7. Dezember würde wissen, was ich zu tun hät- ler, Jahrgang 1894 (Ce´line) und 1895 1941 traf Ernst Jünger im Deut- te.“ (Jünger), waren sich damals tatsächlich Aschen Institut in Paris auf einen Jünger notierte später in seinem Ta- in Paris begegnet – und die Abneigung Franzosen, den er als „groß, knochig, gebuch: „Es war mir lehrreich, ihn der- beruhte auf Gegenseitigkeit. stark, ein wenig plump“ empfand. art zwei Stunden wüten zu hören, weil Die Frage, ob Ce´line mit Merline Der Mann mit dem „in sich gekehr- die ungeheure Stärke des Nihilismus identisch ist, wird seit mehr als vier ten Blick der Manischen“ versetzte den durchleuchtete.“ Er gab den Namen des Jahrzehnten diskutiert. Sie beschäftigte Besatzungsoffizier mit wüsten antisemi- üblen Burschen mit Merline an und tat Anfang der fünfziger Jahre sogar fran- tischen Reden in Erstaunen: Warum seine Abscheu vor „solchen Menschen“ zösische Gerichte. Und kürzlich war sie die deutschen Soldaten die Juden nicht kund: „Ihre Sehnsucht treibt sie Bastio- Gegenstand diverser Gedenkartikel aus erschießen oder aufhängen würden? nen zu, von denen aus sich das Feuer auf Anlaß von Ce´lines 100. Geburtstag am „Wenn die Bolschewiken in Paris wä- große Menschenmengen eröffnen und 27. Mai: Während die Frankfurter ren“, so belehrte der Franzose den der Schrecken verbreiten läßt.“ Rundschau und andere Blätter Merline Deutschen, „sie würden Ihnen das vor- Wer verbarg sich hinter diesem Mer- für Ce´line hielten, nannte Die Woche machen, Ihnen zeigen, wie man Quar- line? War es der französische Roman- diese Gleichung ein bloßes Gerücht: tier für Quartier und Haus für Haus cier Louis-Ferdinand Ce´line, der schon „Merline“, so notierte der Ce´line-Ken- die Einwohnerschaft durchkämmt.“ zuvor mit antisemitischen Hetzschriften ner Manfred Ruppel, sei „Philippe Mer- Und: „Wenn ich Bajonette hätte, ich aufgefallen war? Die beiden Schriftstel- len, ein Ultrafaschist, der auch als „Neugierig auf Ce´line“ Ernst Jüngers Brief an Helmut Krausser (Auszüge)

Lieber Helmut Krausser, den Turbulenzen jener Jahre – sie ist Ihre Ce´line betreffende Frage be- mir lebhafter im Gedächtnis geblie- rührt wenig angenehme Erinnerun- ben als die Tatsachen. gen, die für mich mit diesem Namen Der Zweite Weltkrieg verlief für verbunden sind. ( . . .) mich anders, als ich gedacht hatte. Von Ce´line habe ich zum ersten Ich hatte einen langen Grabenkrieg Mal einige Jahre vor dem Zweiten erwartet, vielleicht sogar eine baldige Weltkrieg gehört, und zwar durch Niederlage, und deshalb auch einen Ernst Rowohlt, der mir sagte, daß er Overall im Gepäck. Statt dessen wur- „einen Super-Zola“ an Land gezogen de ich ( . . .), nicht nur aus militäri- habe – er meinte damit die Überset- schen Gründen, in den Pariser Stab zung von „Voyage au bout de la kommandiert. Dort kam ich mit den nuit“. französischen Autoren, die in der Ernst Rowohlt wußte, was sich gut Stadt geblieben waren und die ich verkauft, aber er hatte darüber hin- zum Teil schon vor dem Kriege ge- aus auch Fingerspitzengefühl. Das er- kannt hatte, in mehr oder minder an- klärt seine großen Erfolge, jedenfalls geregten Verkehr, so neben Morand, wurde ich neugierig. Der Roman hat Paulhan, Cocteau, Le´autaud, Jou- auch auf mich einen starken Eindruck handeau, Montherlant auch mit Ce´- gemacht. Da ich den Inhalt vergessen line, auf den ich natürlich neugierig habe, kann er nicht mehr als zeitge- war. mäß gewesen sein – das aber in ho- Die Bekanntschaft hat mich ent- hem Maß. Die Stimmung von Nihilis- täuscht. Ich habe sie hin und wieder mus, Pessimismus und De´cadence vor in meinem Tagebuch erwähnt. Die dem Hintergrund von Tropen, Dro- Notizen finden sich in „Strahlungen“, Autor Ce´line gen, Krieg und Bürgerkrieg entsprach und zwar in der Erstausgabe (1949, „Knochig, stark, ein wenig plump“

178 DER SPIEGEL 23/1994 Journalist unter diesem Namen tätig Roman des Arztes, seine „Reise ans En- haltenen unsäglichen antisemitischen war“. de der Nacht“, 1932 in Paris erschienen, Schmähungen. Nur einer weiß es genau. Und der mel- wurde beides: ein Riesenerfolg und ein Von der ersten dieser Schriften, dete sich nun aus seinem Altersruhesitz Riesenskandal. Nie zuvor war der Slang „Bagatelles pour un massacre“, wurden im schwäbischen Wilflingen zu Wort. der Straße so ungefiltert in die heiligen in Ce´lines Heimat immerhin mehr als ei- Ernst Jünger, 99, erklärt: „Ich habe Ce´li- Hallen der Literatur eingebrochen. So- ne halbe Million Exemplare verkauft, in ne als ,Merline‘ kaschiert.“ gar der deutsche Lyriker Gottfried Deutschland erschien schon bald eine Abgelegt hat Jünger dieses Bekenntnis Benn, nicht gerade zimperlich in der Übersetzung, aus der Der Stürmer Aus- in einem Brief an den Münchner Schrift- Wortwahl bei seinen Gedichten, hielt züge brachte. steller Helmut Krausser, 29. Der hatte den Franzosen für einen „primären „Wir entledigen uns der Juden, oder den greisen Autor kürzlich zum bevorste- Spucker u. Kotzer“. wir verrecken durch die Juden, durch henden Ce´line-Centenarium befragt – Dennoch – oder auch deswegen – Krieg, durch burleske Kreuzung, durch und, mit Datum vom 20. Mai, die überra- wurde Ce´line schnell zum gefeierten tödliche Vernegerung“, heißt es 1938 schend offene Antwort erhalten (siehe Romancier. Noch konnten sie alle etwas bei Ce´line. „Das Rassenproblem be- Kasten). Er habe in Paris viele französi- herrscht, entwertet, löscht alle anderen sche Schriftsteller getroffen, berichtet Probleme aus.“ Oder zuvor: „Ich will Jünger, wie Jean Cocteau, Henry de Kein Wort der Scham keinen Krieg für Hitler führen, das sag’ Montherlant, Jean Paulhan – und eben über seine ich euch, aber ich will auch keinen ge- auch Ce´line, auf den er neugierig gewe- gen ihn führen, für die Juden . . . Auch sen sei. Jedoch: „Die Bekanntschaft hat antisemitischen Schriften wenn man mich vollquatscht, es sind die mich enttäuscht.“ Juden und nur sie, die uns an die Ma- Jüngers nachgereichte Erklärung ist in seiner wunderbar unzivilisierten und schinengewehre drängen . . .“ ein Detail von literaturhistorischer Be- ungestüm-genialen Romanwelt für sich Die Opfer in der Täterrolle: ein altes deutung: An der Figur des französi- entdecken: die Linken ebenso wie die Rezept, aufgetischt von einem literari- schen Schriftstellers Louis-Ferdinand Rechten, die Pazifisten nicht minder als schen Amokläufer. Vergeblich jeder Ce´line, bürgerlich Louis-Ferdinand De- die Künstler. Der Dichter selbst, armer Versuch, Ce´line nachträglich zu ent- stouches, hat sich heftiger als bei jedem Leute Kind, als Arzt in der Welt weit schuldigen, das Desaster abzumildern – anderen Dichter dieses Jahrhunderts die herumgekommen, genoß es, ein Star zu auch wenn Ce´line-Anhänger es bis heu- Debatte über Kunst und Moral entzün- sein. te immer wieder versuchen. det. Nicht zuletzt deutsche Kritiker läßt Doch zwischen 1937 und 1941 veröf- Ce´line floh 1944, unmittelbar nach das Problem nicht los: Kann einer, der als fentlichte Ce´line eine Reihe von finste- der Invasion, aus Frankreich. Als Jün- politischer Kopf dermaßen versagt, ein ren Pamphleten, die sein Bild bis heute ger davon hörte, notierte er über „Mer- großer Künstler sein? prägen und verdüstern – die freilich nir- line“ ins Tagebuch: „Es bleibt doch Der Ärger mit Ce´line begann schon in gendwo mehr zugänglich sind: verboten merkwürdig, wie sehr Menschen, die den dreißiger Jahren. Gleich der erste und sekretiert wegen der in ihnen ent- kaltblütig die Köpfe von Millionen for-

Heliopolis-Verlag). Das ist zu erwäh- Übersetzung Merline durch Ce´line nen, weil ich in den folgenden Aufla- übersetzt worden war. Verantwortlich gen erhebliche Streichungen vorge- dafür war Banine: sie hatte den Text nommen habe, was ich bedauere. redigiert. Daß sie Ce´line nicht leiden Vielleicht habe ich in irgendeiner konnte, hatte sie mir oft genug ge- Kritik gelesen, das Buch sei zu dicklei- sagt. big. Inzwischen gewinnen die gestri- Ce´line, der sich zunächst nach Sig- chenen Passagen zwar nicht an literari- maringen und dann nach Dänemark schem, doch an historischem Rang. Je- abgesetzt hatte, war inzwischen nach denfalls ist es gut, daß es Antiquare Paris zurückgekehrt. Er erfuhr natür- gibt. lich sofort von den ihn betreffenden Ich sah Ce´line häufig, sowohl in der Passagen – ich war nun für ihn, wie deutschen Botschaft wie an den ich hörte, „une sorte de flic“. Er „Donnerstagen“ von Florence Gould. strengte eine Verleumdungsklage an. Der Botschafter Abetz hatte einen Ich wurde dazu in Ravensburg Narren an ihm gefressen – er meinte, ( . . .) verhört und sollte aussagen, ob Ce´line habe seit Rabelais die französi- ich das fatale Gespräch mit einem sche Sprache wiederbelebt. Das wäre Ce´line oder einem Merline geführt ein gewaltiger Sprung. Allerdings hätte, wie es in der deutschen Fas- scheint Abetz in dieser Ansicht nicht sung stand. Im ersten Fall war Ce´- isoliert zu sein. Zu meinem Erstaunen line, im zweiten Banine geschädigt – höre ich, daß Ce´line sogar in Israel ge- ich zog mich aus der Affäre: Es müs- druckt werden soll. ( . . .) se wohl ein Druckfehler vorliegen – Ich habe Ce´line nicht bei seinem Na- die Namen seien sich sehr ähnlich men, der übrigens auch schon Pseud- (was freilich nicht zufällig war). Mit onym ist, genannt, sondern, um ihn dieser höchst fragwürdigen Erklärung nicht zu gefährden, als „Merline“ ka- waren alle Beteiligten zufrieden – der schiert. Das entspricht meinem Prin- deutsche und der französische Verle- zip. Außerdem kommt es weniger auf ger, Banine – und Ce´line auch. den Namen als auf das Faktum an. Soviel in Kürze und mit guten Höchst ärgerlich war es mir nun, daß Wünschen für Ihre Arbeit ausgerechnet in der französischen Ihr Ernst Jünger Ce´line-Kollege Jünger (1942) „Ich lehne Ihre Ansichten ab“

DER SPIEGEL 23/1994 179 Werbeseite

Werbeseite KULTUR dern, für ihr eigenes lumpiges Leben in Sorge sind.“ Und er fügte noch hinzu: „Es muß da ein Zusammenhang beste- hen.“ Ce´line setzte sich – via Deutschland – nach Dänemark ab. Erst 1951 kehrte der Autor nach Frankreich zurück, nachdem er aufgrund seiner Verwun- dung im Ersten Weltkrieg amnestiert worden war. Bis zum Ende seines Lebens – er starb 1961 – trauerte Ce´- line seinem verlorenen Ruhm nach, ohne frei- lich je ein Wort der Reue oder der Scham über seine antisemiti- schen Schriften zu ver- lieren. Kurz vor seiner Rück- kehr war Jüngers 1949 in Deutschland publiziertes Tagebuch „Strahlungen“ in französischer Über- Autor Krausser, Jünger-Brief (Ausriß): Bekenntnis in der Post setzung erschienen. Das Journal aus den Jahren mehr Publizität zu ver- Dichters. Deren Existenz macht es 1941 bis 1945 enthielt schaffen. Doch seither schwer, ja unmöglich, den Auftritt Ce´- auch die Eintragungen war der Verdacht in der lines, wie Jünger ihn in seinem Tage- über „Merline“ – doch Welt, niemand anderes buch beschrieben hat, für pure Camou- auf wundersame Weise als er habe damals, 1941, flage oder Provokation zu halten. tauchte in der französi- so menschenverachtend Ce´line fristete seine letzten Jahre ein- schen Ausgabe nun plötzlich statt dessen über Bajonette schwadroniert – ein Ver- sam und verbittert. Nicht einmal in In- der Name Ce´line auf. dacht, den Jünger nun mehr als 50 Jahre terviews gab er sich Mühe, einen guten Verantwortlich dafür, so sagt Jünger später bestätigt. Eindruck zu machen. „Hätte ich mich heute, sei eine französische Freundin na- Noch 1988 hatte Ce´lines Biograph ganz und gar der Medizin gewidmet, mens Banine gewesen. Ce´line zog da- Fre´de´ric Vitoux eine höchst verwegene dann hätte ich nicht so viel Ärger ge- mals vor Gericht. Und Jünger beteuerte Ausrede verbreitet. Demnach habe Ce´- habt“, sagte er 1955 in einem Rundfunk- damals, 1951, an der ganzen Sache un- line Jünger nicht leiden können und ihn gespräch. Und: „Der Mensch ist mir schuldig zu sein. Er schrieb Ce´line sogar mit seinen Ausfällen nur provozieren gleichgültig.“ einen Brief, in dem er anbot, im Zwei- wollen. Für ihn müsse der deutsche Der Unbelehrbare hatte mittlerweile felsfall die „Merline“-Deckung zu bestä- Dichter ein Mann gewesen sein, der „all einen neuen Weltfeind ausgemacht: tigen: das repräsentierte, was Ce´line haßte“: nicht mehr die Sowjets, nicht mehr die Juden – nun waren es die Chinesen, die Sehr geehrter Monsieur Ce´line, ein „aristokratischen Militarismus, verfei- zur Bedrohung wurden: „Der Gelbe hat peinlicher Vorfall zwingt mich, Ihnen zu nerten Ästhetizismus“ – ein Mann, „der alle Voraussetzungen, um König der Er- schreiben. Bei Durchsicht der Überset- an Mineralogie und Botanik interessiert de zu werden.“ Für die „weiße Rasse“, zung meines Tagebuchs, das soeben in war, der verzückt über Rosen reden so Ce´line 1957, gebe es keine rosigen Paris veröffentlicht wurde, stoße ich auf Zukunftsaussichten mehr. Immerhin Ihren Namen – in einer Passage, wo in „Der Gelbe hat alles, sah er das dieser Spezies dräuende Los der deutschen Originalfassung der Na- nicht als völlig unverdient an: „Sie hat me „Merline“ auftaucht. Diese Ände- um König zu viele Schweinereien mit der Welt ge- rung, die ich zutiefst bedaure und deren der Erde zu werden“ macht, jetzt macht es die Welt umge- Gründe mir verborgen sind, geschah oh- kehrt!“ ne mein Wissen. Ich lehne Ihre Ansich- konnte und im nächsten Moment das ten ab, aber nichts steht mir ferner, als Seine großen Werke werden die fin- Schicksal der Juden beklagte, die in Ihnen schaden zu wollen. Sollten Sie steren Verlautbarungen überleben. Massen deportiert wurden“. Vitoux wei- aufgrund jener Passage angegriffen Selbst in Israel ist nun ein Ce´line-Ro- ter: werden, bitte ich Sie darum, sich auf man in hebräischer Übersetzung er- mich zu berufen. Ich werde dann ab- Es bereitete Ce´line Vergnügen (ähnlich schienen (begleitet freilich von großen streiten, daß es sich um Sie handelt. ging er nach dem Krieg oft mit Journali- Debatten): jene „Reise ans Ende der Mit besten Wünschen Ernst Jünger sten um), sich in Jüngers Gegenwart Nacht“, die den Ruhm einst begründe- die Hände künstlich mit Kohle zu te. Jüngers Hilfsbereitschaft läßt bei allen schwärzen, als wollte er ihm ausdrück- Auch Thomas Mann las das Buch vor Differenzen auch auf eine gewisse Nähe lich sagen: „Sie haben erwartet, ein 60 Jahren mit Faszination: „Ein wildes schließen: Der deutsche Autor, vielfach Monster zu sehen, einen blutrünstigen Produkt“ nannte er das Werk in seinem dekorierter Teilnehmer zweier Weltkrie- Kollaborateur, bitte sehr, ich gebe Ih- Tagebuch. Zehn Jahre später, im Mai ge und erklärter Gegner der Weimarer nen eine Vorstellung!“ Und er traf ihn 1944, notierte er im amerikanischen Republik, war den Nazis mit einer merk- ins Mark. Exil eine treffende Ferndiagnose über würdigen Mischung aus Abscheu und dessen Verfasser. Ce´line sei ein „wilder, Faszination begegnet. Doch der Biograph Ce´lines übersieht kranker, schäumender Mann“, und er Ce´line zog denn auch seine Klage zu- hier ein wesentliches Faktum: die anti- setzte hinzu: „heute wohl ausgespro- rück, um der Angelegenheit nicht noch semitischen Schriften des französischen chen verrückt“. Y

DER SPIEGEL 23/1994 181 Werbeseite

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Kulturgeschichte Fäßchen am Galgen Die Bundesbürger sind weltweit die fleißigsten Trinker. Nun gehen Kulturhistoriker dem deutschen Mordsdurst auf den Grund.

ief, abgrundtief haust seit Jahrtau- senden ein Dämon in der deutschen TSeele. Der „Sauffteufel“, Luther ahnte es, wütet „bis an den Jüngsten Tag“. Er hat, in grauer Vorzeit, die germa- nischen Stammesbrüder in den Rausch ekstatischer Met-Gelage getrieben und seither so manchen heillosen Schlucker „seiner sinnen unnd vernunfft berau- Festmahl im 17. Jahrhundert*: „Ich trink’ euch zu“ bet“. Sorgenschwer künden die alten Chroniken von Myriaden durstiger See- chen, zu „groß Gesäufte“ von Burg zu Liebevoll blicken die Kneipenkundler len, „die sich teglich fullsuffen und Burg. Ein pfälzischer Kurfürst bedrohte zurück auf die Urahnen all jener Zech- zangk anrichten“. Selbst die Drohung Gäste mit dem Tod, die sich seinen alko- gevattern, die nach Büro- oder Laden- ewiger Verdammnis hat den teutschen holischen Exzessen widersetzen wollten. schluß trockenschlundig in die Wirts- Trunkenbold nicht trockengelegt. Die gemeinen Saufsäcke in Stadt und häuser hecheln und mit dem Krächzruf: So waren die Deutschen, vor allem im Land becherten zügig mit. Ausländische „Harald, einen Halben!“ lechzend in die 16. und 17. Jahrhundert, ein einig Volk Reisende beobachteten mit Grauen die Bänke sinken. im Vollrausch. Mit beispielloser Lotte- wunderlichsten Rituale in reichsdeut- Aber – wenn auch noch mächtig gepi- rei ging ausgerechnet der Hochadel vor- schen Schankstuben: Die Trinker „sind chelt wird und eine betrübliche Statistik an. Friedrich III., Herzog von Liegnitz, am Zechtische selten sehr lustig und red- mehr als zwei Millionen Alkoholiker in wurde 1559 wegen chronischer Trun- seelig“, grölten aber beständig „Seid Deutschland verzeichnet – es hat sich kenheit aus dem Amt gejagt. Sein unbe- fröhlich!“, und jedes Gespräch ende mit doch, zum Segen der deutschen Leber, lehrbarer Sohn Heinrich XI. zog mit ei- dem Zuruf „Ich bring’s euch, ich trink’ manches geändert auf der Durststrecke nem landesweit gefürchteten Tunicht- euch zu!“ – ein Brauchtum, das sich mit ins 20. Jahrhundert. Während der gut, dem Junker Hans von Schweini- dem Frohsinns-Appell „Prost!“ bis ins Durchschnitts-Hamburger im 16. Jahr- 20. Jahrhundert erhalten hat. hundert noch 900 Liter Bier pro Jahr Denn ein ortsfester Saufteufel nistet durch die Gurgel jagte, vertilgten seine natürlich auch in der Prostmoderne. Die bundesdeutschen Nachfahren 1993 nur Deutschen sind Weltspitze im Alkohol- noch 150 Liter. verzehr, mit 12,1 Liter reinem Sprit pro Die Deutschen, so melden die Alko- Kopf und Jahr. Ein Fall nationaler Völle- holforscher erleichtert, gehen jetzt rei also, der nach dem nüchternen Blick mehrheitlich vernünftiger um mit dem kritischer Wissenschaft verlangt. Und so satanischen Gesöff. Sie sind vom wüsten haben sich jetzt –in zwei „Kultur- und So- Gelage-Säufer herangereift zum gezü- zialgeschichten des Alkohols“ – fürsorg- gelten Gelegenheitstrinker, auch wenn liche Soziologen des deutschen Erzübels der Augenschein dagegen spricht und angenommen. labile Quartalskräfte wie der Spirituo- Die eine, soeben erschienen, ist unter- sen-Buffo Harald Juhnke bisweilen zu- haltsam geschrieben und illustriert, heißt rücktaumeln in die Finsternis der Ära „Der deutsche Durst“ und stammt vom Schweinichen. ostdeutschen Forscher-Ehepaar Regina Es war ein weiter, beschwerlicher und Manfred Hübner. Die andere, „Die Weg zu den Ufern der Zivilisation. Bis Macht der Trunkenheit“ vom Berliner ins Spätmittelalter war der Suff ein so- Hasso Spode, gründelt streckenweise arg zialer Ritus, ein Gemeinschaftsereignis spröd und akademisch und hat als ergie- in Zunft- und Gildestuben, bei Hofe biges Tresen-Papier bislang zu wenig öf- und auf der Rittersburg. Die archai- fentliche Aufmerksamkeit gefunden**. schen Zecher tranken habituell, bis sie entseelt zu Boden stürzten; manierliche * Gemälde von Jakob Jordaens um 1665. Tafelsitten waren weithin unbekannt. ** Regina und Manfred Hübner: „Der deutsche Vergebens beschworen enragierte Durst“. Edition Leipzig; 264 Seiten; 54 Mark. Trinkgelage (um 1500) Hasso Spode: „Die Macht der Trunkenheit“. Ver- Kanzelprediger das Trunkvolk, bei Saufen bis zum Umfallen lag Leske + Budrich; 388 Seiten; 48 Mark. Tisch nicht „alsz ain swein“ zu wüten,

DER SPIEGEL 23/1994 183 Werbeseite

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Werbeseite KULTUR keinesfalls „die Winde des Leibes unten nen“, energische Philanthro- hinaus abzulassen“. Bei feierlichen pen wie der Danziger Pastor Gastmahlen kackten sogar feine Herren und Abstinenz-Ajatollah Wil- mitunter auf den Tisch, bewarfen die helm Rindfleisch oder das ehr- Nachbarn mit Nahrungsbrocken und würdige Fräulein Ottilie Hoff- schlugen ihr Wasser unterm Tisch ab, so mann vom „Bund abstinenter daß „ain grosen floz mitten im sal“ ent- Frauen“. sprang. Grobianische Schlucker schlürf- Die Widerstandsbewegung ten aus Hüten, Schuhen, sogar Nacht- traf naturgemäß auf das geball- töpfen. te Unverständnis des Trinker- Bei gar zu ungebührlichem Betragen Corps. Spott ergoß sich über schritt streng die Obrigkeit ein. Würde- die emsigen Moralisten, als ein los delirierende Frauen mußten mit der Häuflein oberschlesischer schimpflichen Anrede „versoffene Spritverächter in feierlicher Krugsurschel“ an den Schandpfahl. Prozession ein Fäßchen Rastlos warnten Sittlichkeitstraktate die Branntwein an den Galgen Söffer vor „schnuder, feule und Zipper- brachte und es anschließend lein“. Abstinenz-Pioniere reimten: unter furchtbaren Verwün- „Den menschen scheidet von dem thier, schungen zu Grabe trug. In das er bezwyngt sein boes begier.“ Hamburg stürmten Hunderte Solche erbaulichen Platitüden flossen unverbesserlicher Schnapsna- sittlich hochgestellten Herren leicht aus sen eine Versammlung und dem Gänsekiel, hartgesottenen Frevlern Mittelalterliche Badestube: „Boes begier“ traktierten die Mäßigkeitsapo- war damit natürlich nicht beizukom- stel mit „vandalischer Roh- men. Das widerborstige Landvolk etwa vom furzenden, rülpsenden Bierpöbel heit“. In den umliegenden Bordellen hielt eisern fest an der „boes begier“. der ordinären Schenken und Tavernen. brach der Verkehr zusammen, weil Bei Taufen waren häufig Paten, Muh- Der Kaffee wurde „zu einem Symbol auch Huren und Freier sich gegen die men und Oheime schon so früh am Tag bürgerlicher Nüchternheit und Emanzi- lustfeindlichen Mucker zusammenrotte- sturzknülle, daß der Täufling unterwegs pation“ (Hübner). Allmählich etablier- ten. verlorenging und in der Kirche alle „wie ten sich im 18. Jahrhundert die „neuzeit- Nein, Mummenschanz wirkte nicht die Säue schnarchten“. Und am Tag des lichen Trinkmuster“. An „die Stelle des gegen den deutschen Mordsdurst, und heiligen Martin, Schutzpatron aller archaischen Trinkzwangs trat der indivi- die Mäßigkeitserhebung versank rasch Trinker, sang der benebelte Nährstand duelle Genuß“. Der Schwips verdrängte im Gärprozeß der Weltgeschichte. Die inbrünstig: „Wer nich vull sick supen den Vollrausch, daran konnte auch ein entscheidende Wende im Umgang mit kann, de is ken rechte Martensmann.“ Rückfall in die alkoholische Völlerei dem Dämon Alkohol erzwang die indu- Derlei rustikale Bacchanalien, langfristig nichts ändern. strielle Revolution. Für die neuen Krugsurscheln und Muhmen des Bösen Denn zu Beginn des 19. Jahrhunderts Techniken, für die Bedienung der Prä- stießen bei den aufstrebenden, von pro- fuhr Luzifer noch einmal schrecklich ins zisionsmaschinen oder die gefährliche testantischem Pflichtgefühl vorangetrie- deutsche Trinkerheim. Billiger Brannt- Maloche in Gießereien und Bergwer- benen Städtern zunehmend auf Verach- wein aus Kartoffeln überschwemmte ken waren Tagelöhner ungeeignet, die tung. Zumal nun ein neues, fremdarti- den Markt, die Fusel-„Pest“ wurde zum vor Tag Hochprozenter hinter die Bin- ges Getränk die Geister beflügelte – der beliebtesten Rauschmittel der Unter- de kippten. Kaffee. In Leipzig, Hamburg oder Ber- schichten. Millionen von Depressions- Im „Prozeß der Zivilisation“, schreibt lin traf sich die kultivierte Bourgeoisie trinkern flohen aus ihrem sozialen Spode, wurde Trunkenheit endgültig in reinlichen Cafe´häusern, unbehelligt Elend ins barmherzige Delirium. Mütter „zum Atavismus und der Trinker ein wiegten ihre Kleinkinder Störfaktor“. Die Fabrik bewährte sich mit Branntwein in den unverhofft als wahre Trinkerheilstätte. Schlaf. Das klassenbewußte Proletariat, aber Doch der Rachenput- auch das Heer der kleinen Angestellten zer erwies sich zugleich und Beamten labten sich an dem mil- als gefährlicher Nähr- den, verträglicheren Bier – getreu der stoff für aufwieglerische Losung des sozialdemokratischen Chef- Elemente. Polizei und ideologen Karl Kautsky: „Der Schnaps, Justiz beklagten wach- das ist der Feind!“ Und so erblühte nun sende Mordkriminalität, in den Destillen, Kneipen, Weißbierstu- „Scandal, Vagabondage, ben und Biergärten jene „alkoholge- Widerspenstigkeit gegen stützte Geselligkeit“ (Hübner), die bis die Herrschaft“. Ernster heute, überwiegend, das deutsche Schaden drohte unüber- Trinkverhalten prägt: Disziplin an der sehbar sogar der Volks- Theke, Beachtung sozialverträglicher gesundheit. Trinkzeiten, Trockenheit am Arbeits- Alkoholismus, er- platz. kannte die Medizin, war Diese kollektive Bereitschaft zur Ent- nicht nur ein lästiges La- sagung preisen die Forscher als „unge- ster, sondern todbrin- heure kulturelle Leistung“. Die neoas- gendes Siechtum. Und ketischen Erben der Jungfer Ottilie und zum Kampf gegen die des Geistlichen Rindfleisch sollten aber elende Sucht organi- nicht zu früh frohlocken: Erst am Jüng- sierten sich, in zahlrei- sten Tag wird bekanntlich der Saufteu- Berliner Bierkneipe (1929): „Schnaps ist der Feind“ chen „Mäßigkeitsverei- fel verkatert zur Hölle fahren. Y

186 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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Designer Schmidt, Schmidt-Verpackungen: Mit Schachteln, Flaschen und Tüten Illusionen wecken

Design durchschauen und daher „nur schwer und der sanften Stimme, der in einer verführbar“ zu sein – ein Irrglaube zwar, Patriziervilla im Hamburger Stadtteil wie zahlreiche Konsumententests über- Harvestehude arbeitet. An seinem einstimmend belegen, aber dennoch stählernen Tisch vor japanischen Stell- Kuh von links sind viele Marketingexperten alarmiert. schirmen konzipiert der Star unter Intensiver denn je konzentrieren sie da- den deutschen Verpackungsdesignern Wer hat die Pause lila gefärbt? Der her ihre Verkaufsanstrengungen auf die Schachteln, Dosen, Tüten und Fla- Designer Peter Schmidt, der Star Verpackung, die als „stiller Verkäufer“ schen für so unterschiedliche Kunden den mit einer Vielzahl gleichartiger Pro- wie etwa Procter & Gamble, Katjes, unter den Verpackungsgestaltern. dukte konfrontierten Konsumenten zum Lancaster, Wella, AEG und die Kon- Erwerb einer bestimmten Ware animie- dommarke London. mmer wieder wiegt und wendet die ren soll. Etwa 18 Millionen Mark Umsatz zierliche Frau den Glasflakon in ih- machten er und sein 25-Mann-Team im Iren Händen, beäugt ihn mißtrauisch letzten Jahr aus dem, was der baye- von allen Seiten und fragt dann: „Pe- rischblütige Gärtnerssohn „einen Ba- terchen, die Flasche, bin das ich? Ist lanceakt zwischen zwei Stühlen“ nennt. das meine Welt?“ Auf dem einen sitzt der in seinem Ist es offenbar nicht. Denn sie Verhalten wie seinen Vorlieben oft schlägt vor, hier eine Ecke, dort eine launenhafte Verbraucher, auf dem an- Kante zu verändern. Oder sollte man, deren der deutsche Manager, der sinniert sie, vielleicht das Fläschchen Neuerungen skeptisch gegenübersteht völlig anders gestalten? und bisweilen nicht einsehen mag, was Der Mann, den sie Peterchen nennt, Schmidt ihm zu predigen nicht müde heißt mit Nachnamen Schmidt, und er wird: „Der Geist eines Unternehmens wird auch dafür bezahlt, daß er bei dif- ist an seiner Verpackung abzulesen. fizilen Kunden wie Jil Sander die Ge- Wenn da Strukturen erkennbar sind, duld behält: „Die braucht immer et- dann denkt auch das Management was, das sie erst mal ablehnen kann“, strukturiert.“ schmunzelt er. „Deswegen kriegt sie Zum Beispiel die „Bröselmonster von mir erst mal ein paar Vorschläge von Hannover“, wie Schmidt die Bahl- zum Ablehnen und ganz zum Schluß Parfüm-Verpackung (von Gaultier) sen-Manager nennt. Die beharren dar- dann den einen, den ich ihr wirklich „Schamlos funktionsuntüchtig“ auf, daß auf ihren Verpackungen ein machen will.“ unversehrter Keks abgebildet sein müs- Daß er sein Amüsement über die Ei- Was klingt wie eine Binsenweisheit, se – damit er, wie sie es formulieren, genheiten seiner Klientel schadlos zum ist inzwischen fast zu einer Wissenschaft „plakativ aussieht“. Schmidt dagegen besten geben kann, liegt vor allem dar- geworden, die Begriffe wie Corporate will, daß „der Keks lebt“ – mit abge- an, daß Schmidt zu den Erfolgreichen Identity und Corporate Design (CD) ge- brochenen Zacken. Erst war das Un- eines Gewerbes zählt, das inzwischen prägt hat und vor allem zeitfremde Ma- ternehmen zur Veränderung bereit, so wichtig geworden ist wie die Wer- nager je nach Temperament entweder doch jetzt, nach einem halben Jahr, bung – und das dennoch kaum einer ratlos oder wütend macht: „Sie machen „haben die alles wieder verwischt“. kennt: Über Verpackungsdesign, so mir meine schöne Krönung kaputt“, Schwer tun sich Manager auch mit das Ergebnis einer Befragung, haben keuchte empört ein Manager, als CD, dem gemeinsamen Erscheinungs- sich mehr als 90 Prozent der Deut- Schmidt in Bremen 1990 seine Desi- bild verschiedener Produktgruppen ei- schen „noch nie Gedanken ge- gnentwürfe für neue Jacobs-Kaffeepak- nes Unternehmens. macht“. kungen vorstellte. So ist etwa beim Schmidt-Kunden Rund 70 Prozent hingegen meinen, Solche Reaktionen kennt der 56jähri- Suchard das Milka-Sortiment vom die Tricks und Kniffe der Werbung zu ge mit dem scharfen Kurzhaarschnitt Schoko-Riegel bis zur Tafel durchge-

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Werbeseite KULTUR hend lila verpackt, Jil-San- werden – und zwar so, daß der Käufer der-Düfte sind stets an die Veränderung nicht bewußt wahr- den kühl gestalteten Fla- nimmt. Denn ansonsten reagiert er ver- kons zu erkennen. stimmt und könnte den Kauf verwei- Und weil Jacobs die gern. von Schmidt vorgeschlage So haben Marktforscher bei Tests Verpackung schließlich festgestellt, daß der Konsument es gar doch akzeptierte, präsen- nicht schätzt, wenn die Chappi-Dose tiert sich die Marke nun in plötzlich ein anderer Hund ziert als der der Verpackung mit dem gewohnte Setter; oder wenn die von der weißen Oberteil und dem Packung glotzende Milka-Kuh plötzlich goldenen Streifen darun- nach rechts statt nach links blickt. ter: Unter diesem neutra- „Wenn die blöde Kuh nicht mehr in die len Markendach sind alle richtige Richtung schaut, sind die Leute Jacobs-Kaffeesorten wie irritiert“, wundert sich Schmidt. „Aber „Night & Day“, „Edel wenn man Sarotti-Schokolade in eine Mocca“ oder die „Krö- Milka-Packung hüllen würde, täten sie nung“ in unterschiedli- wahrscheinlich nicht viel merken.“ chen Farben europaweit Design am Computer: Alle drei Jahre eine neue Hülle Bei keiner anderen Ware bestimmt vereint. die Verpackung in solchem Maße das Das Jacobs-Design könnte nach An- nalen Gebrauchswert“. Und der steigt Produkt wie beim Parfüm. Noch bevor sicht von Experten ein Verpackungs- gemäß sozio-psychologischer Lehrmei- es den Duft gibt, wird der Flakon kre- klassiker werden, der für lange Zeit kei- nung in dem Maße, „in der die in einer iert, der meist so teuer ist wie sein In- ner Veränderung bedarf – wie etwa die Verpackung symbolisierten Qualitäten halt. Kostenverhältnis zwischen Ware Marlboro-Packung, die Coca-Cola-Fla- und Werte sich mit den von der Ziel- und Behältnis laut Schmidt: „In Relatio- sche oder die quadratischen Blechdosen gruppe angestrebten decken“. nen gesehen kostet die Flasche in der der englischen Teefirma Twinings, die Den Altvorderen gelang dieses Vor- Herstellung, sagen wir mal, 3,80 Anfang des Jahrhunderts entstanden haben auch ohne theoretisch verquasten Mark, die Faltschachtel 2 Mark. Und und bis heute nahezu unverändert in Hintergrund, vor allem bei damaligen der Duft – na, vielleicht noch einmal 6 Gebrauch sind. Luxuswaren wie Zigaretten, Konfekt Mark.“ Um diese Zeit begann die Geschichte und Kosmetik: Da räkelt sich beispiels- Wie recht aber die Parfümhersteller des modernen Verpackungsdesigns, die weise im Jahre 1900 eine rauchende haben, ihre Düfte so aufwendig zu ver- von der Odol-Flasche mit dem Schwa- Ägypterin auf der Blechschachtel für 25 packen, beweist eine Erhebung unter nenhals (1900) und der Kartonpackung Dimitrino Luxor vor Nil und Pyrami- deutschen Frauen: Nicht einmal 40 Pro- für Bahlsens Hagenbeck-Paket (1905) den; 20 Jahre später hatte der Sarotti- zent erkannten ihren Lieblingsduft, bis zum Zahnpastaspender mit Pumpsy- Mohr mit dem Turban sein Debüt; und wenn er ihnen bei Riechtests ohne den dazugehörigen Flakon präsentiert wurde. Kein Wunder, daß die Duftstoff-Behälter immer ausgefallener werden – wie etwa der erste Gaul- tier-Flakon, der im letzten Jahr auf den Markt kam: in der Form eines Frauen- torsos mit Mieder und Strapsen, verpackt in ei- ner edel gestalteten Blech- büchse. „Das Ding ist in- sofern ein Leitobjekt“, mokiert sich Schmidt über das Erfolgsfläschchen ei- nes Konkurrenten, „als es schamlos funktionsun- Verpackungsklassiker Odol-Flasche, Zigaretten-Schachtel: Hoher emotionaler Gebrauchswert tüchtig und ökologisch ei- ne Katastrophe ist.“ stem und der zylinderförmigen Verpak- mit dem schmetterlingsförmigen Par- Dabei gestehen Verpackungsdesi- kung für Kartoffelchips reicht. füm-Behältnis für Dawamesk und dem gner, die entweder ehrlich sind oder die Obwohl meist von Glasbläsern, ausbauchend geformten „Mouson La- Debatte um den Grünen Punkt wahrge- Schriftsetzern oder Musterzeichnern ge- vendel“-Fläschchen begann in den drei- nommen haben, daß die allseits propa- staltet, erfüllten die Produkthüllen ßiger Jahren die Ästhetik des Flakons. gierte Öko-Hülle für Gebrauchsgüter ei- schon damals häufig das Anforderungs- Eine Generation, mindestens aber ein ne Schimäre ist. Ein Müllberg ist ein profil, an dem Profis auch heute gute Dutzend Jahre hielt damals ein Verpak- Müllberg, „nur daß er heute eben öko- Verpackungsgestaltung messen: Sie kungsdesign – wenn es nicht gerade der- gestylt ist“, konstatiert Wolfgang von muß das Auge aus der Ferne anziehen art daneben ging wie bei jener Bohner- Deuten, Leiter einer Hamburger De- und aus der Nähe informieren, muß sich wachsdose, deren Stülpdeckel ein auf al- signagentur. einprägen, Vertrauen schaffen und soll len Vieren gebeugtes Mädel über dem Für die nächste Zukunft prophezeit auch noch Illusionen wecken. Markennamen Wichsmädel zierte. von Deuten den von Gaultier entworfe- Statt von Illusionen sprechen moder- Heute hingegen muß nahezu jede nen Müllsack oder den Colani-Sammel- ne Verpackungsdesigner vom „emotio- Hülle alle drei bis vier Jahre umgestaltet container. Y

190 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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Kunsthandwerk Gewalt als Ornament Die Erfahrung des Krieges spiegelt sich in der Teppichkunst Afghani- stans: Neben traditionelle Muster treten Panzer und Granaten.

uf den flüchtigen ersten Blick scheint es sich um Orientteppiche Anach vertrauter Art zu handeln: ei- ne Reihe von Schmuckbändern rundum, die das innere Feld rahmen, und darin ein regelmäßiges Muster aus geometrisie- renden Figuren. Der erstaunte zweite Blick macht bewußt: Das gilt für die Form, aber nicht für den Inhalt. Statt der floralen, religiösen oder ab- strakten Embleme, die seit Generatio- nen das überlieferte Raster und Reper- toire der Teppiche bildeten, tauchen Handgranaten und Hubschrauber, Pan- zer und Kalaschnikows auf. Gelegentlich erreicht die Abstraktion der aktuellen Sujets einen Grad, wo sich nicht mehr entscheiden läßt, ob der traditionelle Le- bensbaum dargestellt ist oder ein schwer mit Raketen bestückter Jagdbomber als Symbol des Todes. Seit die Sowjetarmee Ende 1979 mit völkerfreundschaftlicher Brutalität in Afghanistan einfiel, hat die tägliche Ge- walt einer Besatzungstruppe, die mit dem Explosiv-Potential des späten 20. Jahrhunderts gegen ein noch fast mittel- alterlich gerüstetes Landvolk vorging, auch die afghanische Teppichfertigung für den Hausgebrauch beeinflußt. Ihre Panzerformationen oder Hubschrauber- geschwader widerlegen die Laienmei- nung, die orientalische Knüpferei sei ein längst in Schablonen erstarrtes Gewerbe. Dies sind Teppiche, die schreien. Für den Export waren diese Zeugnisse einer ziemlich einzigartigen Widerstands- Kunst aus armseligen Bergtälern, über die der Krieg wie ein Unwetter nieder- ging, nicht bestimmt; er war wohl sogar verboten. Dennoch hat das Teppichhaus Saladin in Wiesloch eine Sammlung afghanischer Kriegsteppiche zusammengetragen, wohl die einzige in Europa, und nun (im Selbstverlag) in einem farbigen Bildband eine Folge von 57 Beispiel-Stücken prä- sentiert: Die ganze Spanne im Spiel zwi- schen streng traditionellen Strukturvor- gaben und aktuellen Formerfindungen wird in ihnen sichtbar. Es gibt sie, weil ihr Besitz als Widerstands-Geste galt, ihre Kriegskunst aus Afghanistan: Bomben gegen Dromedare Schöpfer sind afghanische Frauen. Y

192 DER SPIEGEL 23/1994 Afghanische Widerstands-Teppiche: Rhythmus der Panzer, Choreographie der Hubschrauber

DER SPIEGEL 23/1994 193 Werbeseite

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Autoren Ein böses, blutiges Ringen SPIEGEL-Autor Andreas Zielcke über die Juristenschelte in John Grishams neuem Thriller „Der Klient“

Zielcke, 50, lebt als Rechtsanwalt in gen. Die Mafia mischt zwar kräftig mit folger zur Not über eine Leiche. Denn München. und sorgt für die unerläßliche Gewalt, die Mafia pflegt, wie wir wissen, an De- sie liefert aber nur den Zündstoff, nicht nunzianten gründlich Rache zu üben; m Grunde sind sie die Pest. Sie haben den Zünder für die Spannung. nicht umsonst wird der Killer des Sena- immer recht. Sind andere ratlos, ist Die Ausgangslage muß für Helden tors in seinen Kreisen „das Messer“ ge- Iihr nicht immer guter Rat teuer. Ih- hoffnungslos sein, das gehört zu ihrem nannt. rem Besserwissen ist kaum auszuwei- dramaturgischen Job, doch für Mark Also möchte der Junge das Geheim- chen. Wenn zwei sich streiten, leuchten Sway, die Hauptfigur in „Der Klient“, nis für sich behalten, ohne es freilich in ihre Augen. Sie treten dazwischen und ist sie besonders schlimm. Er ist erst elf seinem Grab hüten zu müssen. Doch sind in ihrem Element. Stets bleiben sie Jahre alt. Seine Kühnheit und Gerissen- Todesangst begreift der brachiale Er- die lachenden Dritten. Sie sitzen am län- heit können es schon mit den finsteren mittlungsbeamte nur als einen anderen geren Hebel, haben das letzte Wort und Schurkereien der Unterwelt aufneh- Ausdruck für Widerstand gegen die kassieren am Ende auch noch. men, doch gegenüber den Machenschaf- Staatsgewalt. Mit allen lauteren und un- Aufbegehren gegen sie ist zwecklos. ten des skrupellosen und karrieregeilen lauteren Mitteln versucht der Bundesan- Wo immer sie sich befinden, das Gesetz Bundesanwalts von New Orleans gerät walt daher, des Jungen und seines Wis- steht auf ihrer Seite. Sie haben das Mo- er übel ins Hintertreffen. sens habhaft zu werden. In seinen Au- nopol und waschen ihre Hände in Un- Zufällig war er zum Zeugen des gen gehört die Rücksicht auf das eigene schuld. Schon Shakespeare ahnte, daß Selbstmordes eines gescheiterten Win- Leben nicht zu den Pflichten eines Zeu- eigentlich nur ein Ausweg bleibt: „Das keladvokaten geworden, der in seinen gen. erste, was wir tun müssen“, ruft ein Re- letzten Atemzügen ein tödliches Ge- So nähme das Recht des Staatsan- bell in „Heinrich VI.“ aus, „ist, daß wir heimnis preisgegeben hatte. Der Junge walts oder das Unrecht des Berufsmör- alle Rechtsvertreter umbringen.“ ist plötzlich der einzige, der weiß, wo ders, was in diesem Fall nicht zufällig Ein folgerichtiger Vorschlag, wenn die Leiche eines von der Mafia ermorde- auf dasselbe hinausläuft, seinen Gang, man ein für allemal mit den Juristen auf- ten Senators versteckt wurde. Genauer würde der Junge nicht in höchster Be- räumen will. Freilich dürften dann auch gesagt, er ist der einzige neben dem Kil- drängnis eine überirdisch gute Anwältin Recht und Gerechtigkeit darunter lei- ler. finden. Sie ist allein, sie ist edel gesinnt, den, die unglücklicherweise, so scheint Zwei Jäger treiben das Kind nun in ei- und sie ist gewieft wie ein alter Fuchs, so es, nicht ohne ihr Mitwirken zu haben ner raschen Folge von Jagdszenen durch gewieft, daß ein ganzer Schwarm von sind. Eine mißliche Situation. John die Buchseiten. Der Mörder will es zum Behördenjuristen nicht mithalten kann. Grishams Romane halten sich deshalb Schweigen, der Staatsanwalt zum Reden Kurz, sie übernimmt die Rolle des wei- an eine elegantere Lösung. bringen. Dabei geht auch der Strafver- ßen Ritters, der draußen im wirklichen Sie funktioniert zwar nur auf dem Pa- pier, aber da hervorragend. Seine bishe- rigen Welterfolge „Die Firma“ und „Die Akte“ und auch sein neuester Roman „Der Klient“* dramatisieren allesamt eine einfache Formel: Du haßt Juristen mit gutem Grund, also schlage sie mit ihren eigenen Waffen. Allerdings, da niemand ihr Metier versteht außer ihnen selbst, muß auch der Held Jurist sein oder wenigstens ein besonders tüchtiges Exemplar dieser Gattung als rechte Hand haben. In allen drei Thrillern kämpfen daher vor allem Juristen gegen Juristen. Und da der Autor, Grisham, selbst einmal Anwalt war, bekommen seine Geschichten einen mächtigen neuroti- schen, wenn nicht paranoiden Drive. Seine Protagonisten werden in die Flucht vor ihrer eigenen pervers gewor- denen Zunft getrieben. Zwischen juristi- scher Moral und juristischer Kaltblütig- keit entbrennt ein böses, blutiges Rin-

* John Grisham: „Der Klient“. Aus dem Amerikani- schen von Christel Wiemken. Hoffmann und Cam- pe Verlag, Hamburg; 480 Seiten; 44 Mark. Thriller-Autor Grisham: Kampf gegen die Dunkelmänner

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Rechtsleben immer nur flüchtig in Stoß- gen juristische Dunkelmänner führen seufzern Gestalt gewinnt. können. Aber Grishams Pessimismus Sie macht seine verlorene Sache zu ih- geht noch einen Schritt weiter. Tatsäch- rer. Allerdings braucht es neben der ju- lich macht er klar, daß seine korrum- ristischen Bravour der Advokatin auch pierten Helden nur vorübergehende Er- noch die in den Straßen von New Or- scheinungen sind, märchenhafte Frem- leans trainierte Unerschrockenheit und de in ihrer beruflichen Umwelt. vorpubertäre Abgeklärtheit des elfjähri- Auf Dauer haben die Idealisten hier gen Fighters, damit beide dem sich bru- nichts zu suchen. Unter den Lawyers tal schließenden Zangengriff aus staats- sind sie die wahren Outlaws. In allen anwaltlichem Erfolgswahn und krimi- nellem Kalkül in letzter Sekunde ent- schlüpfen. Am Ende hat sich zwar nicht die tödli- BESTSELLER che Klammer geschlossen, dafür jedoch ein belletristischer Kreis. Es muß mit BELLETRISTIK seiner Haßliebe zur juristischen Profes- sion zusammenhängen, daß Grisham in Gaarder: Sofies Welt (1) seinen Romanen wie zwanghaft immer 1 Hanser; 39,80 Mark nur ein und dasselbe Schema der Verfol- gung und Rettung durchspielt: Høeg: Fräulein Smillas (2) Der Held, der gar nicht jung genug 2 Gespür für Schnee sein kann, damit das System ihn noch Hanser; 45 Mark nicht verdorben hat, wird von Juristen und Verbrechern zugleich gejagt, weil er über verbotenes Wissen verfügt, ge- 3 Grisham: Die Akte (3) winnt zum Schluß mit Glück, muß aber Hoffmann und Campe; dafür aus der juristischen Welt, ja aus 44 Mark der amerikanischen Realität auf irgend- eine unerreichbare Insel auf Nimmer- 4 Pilcher: Wilder Thymian (5) wiedersehen verschwinden. Wunderlich; 42 Mark In der „Firma“ ist der Held, der in die feine Sozietät eintritt und sie als Wasch- 5 Gordon: Der Schamane (4) anlage für Drogengelder entlarvt, ein Droemer; 44 Mark junger, frischgebackener Anwalt, ein blutiger Anfänger. In der nachfolgen- Brown: Ruhe in Fetzen (6) den „Akte“ ist die Heldin, die den Mord 6 Rowohlt; 34 Mark an zwei Richtern aufklärt, noch ein Stück jünger, eine Jurastudentin. Und Atwood: Die Räuberbraut (9) der „Klient“ ist schließlich der elfjährige 7 S. Fischer; 48 Mark Mark Sway. Damit der Held auch in die- sem Fall juristischen Sachverstand be- Zimmer Bradley: Die (7) 8 Wälder von Albion Verfangen in den W. Krüger; 49,80 Mark Fallstricken 9 Pirinc¸ci: Francis – Felidae II (8) der Doppelzüngigkeit Goldmann; 38 Mark Mayle: Hotel Pastis (12) sitzt, muß ihm in einem Kunstgriff die 10 Droemer; 39,80 Mark mütterliche Anwältin als gute und selbstlose Fee zur Seite gestellt werden. Pilcher: Die (11) Die rapide Verjüngung der Hauptrol- 11 Muschelsucher len beweist, wie besessen der Autor von Wunderlich; 45 Mark der Vorstellung ist, daß Anwälte einer kolossalen „de´formation professionelle“ Childress: Verrückt (10) ausgesetzt sind. In ihren Reihen über- 12 in Alabama lebt keine Unschuld. Wie jede gute Ver- Goldmann; 42 Mark leumdung ist auch diese nicht einfach von der Hand zu weisen. Welcher Jurist Walters: Im Eishaus (15) wüßte nicht, daß das Nebeneinander 13 Goldmann; 38 Mark von Gerechtigkeitsauftrag und kommer- ziellem Eigennutz beruflichen Zynismus Fischer: Aime´e & Jaguar (13) prämiert? Daß die Diener des Rechts 14 Kiepenheuer & Witsch; auch seine Herrscher sind, seine No- 39,80 Mark menklatura? Daß die Robe nur über das eigene Hemd gestreift wird? Hensel: Glück gehabt Dennoch handelt es sich um eine ver- (14) 15 Insel; 38 Mark wegene Unterstellung, daß deshalb nur noch Kinder einen sauberen Kampf ge-

196 DER SPIEGEL 23/1994 drei Thrillern setzen sie sich nach geta- auch eliminiert. Womöglich liegt darin ner Arbeit an irgendeine ferne Küste der Schlüssel für den außerordentlichen ab, um nie wieder in das Land ihrer Hel- Erfolg von Grishams Romanen. Man hat dentat zurückzukehren. Mark Sway, der viel darüber geschrieben, daß sie ledig- junge „Klient“, läßt sich sogar durch das lich die Filmtechnik kopieren und ihre FBI eine neue Identität verpassen, neu- besondere Spannung durch schnelle er Name, neues Gesicht, neues Land, Schnitte, kurze Hauptsatz-Dialoge und neue Zukunft und Vergangenheit. ständige Szenenwechsel beziehen. Das So gesehen triumphiert das Böse mag stimmen, erklärt aber nicht alles, doch. Der Held wird zwar gerettet, aber schon weil nach diesem Muster ein Heer von Kriminalromanen gestrickt ist. Die Beliebtheit seiner Romane könnte deshalb auch daher rühren, daß sie un- verhohlen eine verbreitete Aversion be- dienen: Die Politikverdrossenheit ist ei- SACHBÜCHER ne kurzfristige Mode im Vergleich zu dem, was sich an Widerwillen gegen Juri- Ogger: Das Kartell (1) sten und ihre Welt aufgestaut hat. Viel- 1 der Kassierer leicht können sieselbst zwischen Gerech- Droemer; 38 Mark tigkeit und Selbstgerechtigkeit, zwischen Rechthaben und Rechthaberei unter- N. E. Thing Enterprises: (2) 2 Das magische Auge scheiden, von außen gelingt dies häufig Ars Edition; 29,80 Mark nicht. Verfangen sie sich in den Fallstrik- ken ihrer eigenen Doppelzüngigkeit, ist Ogger: Nieten in (3) die Schadenfreude groß. 3 Nadelstreifen Grisham liefert diesen Genuß als In- Droemer; 38 Mark sider, was die Befriedigung enorm stei- Hartwig: Scientology – (4) gert, und er liefert ihn mit hemmungslo- 4 Ich klage an ser Undifferenziertheit. Alle seine Ge- Pattloch; 34 Mark schichten leben ausschließlich von Kli- schees. Der Killer schreckt als Killer mit 5 Carnegie: Sorge dich (5) Pomade im Haar, einem geschmacklosen nicht, lebe! Anzug und zusammengewachsenen Au- Scherz; 44 Mark genbrauen. Der alte Richter urteilt Wickert: Und Gott (6) streng und weise, der Bundesanwalt 6 schuf Paris kennt keine Gnade und hat nichts als sei- Hoffmann und Campe; 42 Mark nen Starauftritt vor den Medien im Kopf. In den Hinterzimmern angesehener 7 Schmidt: Das Jahr (7) Kanzleien geben sich die Amigos die der Entscheidung Klinke in die Hand. Und das Recht Rowohlt Berlin; 34 Mark kommt ohne Helden vor die Hunde. Kelder: Die Fünf „Tibeter“ (11) Doch mit dem großzügigen Einsatz 8 Integral; 19 Mark von Abziehbildern gewinnt Grisham mehr als nur die lustvolle Bestätigung Durrani: Mein Herr (10) 9 und Gebieter von Vorurteilen. Indem er Charaktere durch bloße Stereotypen ersetzt, macht Hoffmann und Campe; 44 Mark er den Weg frei für pure Handlung. Keine Filipovic´: Ich bin ein (8) Person steht mit Ecken und Kanten und 10 Mädchen aus Sarajevo Eigensinn im Weg, das Tempo der Aktio- Lübbe; 29,80 Mark nen kann beliebig beschleunigt werden, Zachert/Zachert: Wir (9) Angst, Verfolgung und die wilde Jagd 11 treffen uns wieder in nach der letzten Hoffnung dröhnen ra- meinem Paradies send am zuschauenden Leser vorbei. Lübbe; 29,80 Mark Handlung ohne Personen, das mag für Nichtjuristen paradox klingen, doch Juri- Sasson: Ich, Prinzessin (12) sten ist es wohlvertraut. Auch sie pflegen 12 Sultana, und meine Töchter inihren Schriftsätzen und Plädoyers reale C. Bertelsmann; 38 Mark Individuen problemlos in platte Kli- Tipler: Die Physik (13) schees als Täter oder Opfer, Schuldner 13 der Unsterblichkeit oder Gläubiger, Antragsteller und An- Piper; 49,80 Mark tragsgegner zu verwandeln. Die Redukti- on auf eine Rolle hat zwingende Gründe, 14 Hawking: Einsteins Traum (14) sagt die Rechtslehre, aber im Ergebnis Rowohlt; 36 Mark nähern sich Prozesse dadurch der Sicht- Wickert: Das Wetter weise solcher Trivialromane an. Nur 15 Transit; 24 Mark Tempo haben sie wirklich nicht. Und noch etwas fehlt ihnen im Vergleich zu Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Grishams Geschichten – die schöne Ge- Fachmagazin Buchreport wißheit, daß am Ende immer nur der, der im Recht ist, gewinnt. Y

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600 Jahre alten indischen Yogi aufzustö- Scharlatane bern. Der lebe, berichtet der Flieger, „in 4000 Meter Höhe unbekleidet bei minus 40 Grad“, esse nichts und trinke nur Wasser. Im Drüben fischen Wer nach all dem Buttlars Buch nicht kauft, verdient nicht, ewig jung zu blei- SPIEGEL-Autor Fritz Rumler über die Erfolge des Johannes von Buttlar ben. Wer es liest, wird, womöglich, plötzlich altern. Denn viele, viele Seiten könnten ihm sehr, sehr bekannt vor- ch, Italien, Wiege wonniger Worte. kommen, Wort für Wort, Zeile für Zei- „Ciarlatano“ ist so eines und meint le. Gab es so eine Unsterblichkeits- Aauf deutsch so vieles; Schwätzer et- Schwarte nicht schon mal vor 20 Jahren? wa, Schwindler, Hochstapler, Markt- Nun wird Cagliostro grün vor Neid: schreier, Quacksalber, kurzum ein Ge- Buttlar hat ein altes Buttlar-Buch – werbe mit hohem Unterhaltungswert. „Der Menschheitstraum“, Econ Verlag Auch die Erz-Inkarnation des „Ciar- – ein bißchen aufgemöbelt, ein paar No- latano“, des Scharlatans, entsprang Ita- vitäten eingeklinkt und jungfräulich ge- lien: Graf Alessandro di Cagliostro, der tauft. Und so wird er wahr, der alte Sensations-Guru Europas in der Goe- Traum der Alchimisten, aus Schnee von the-Zeit. Geheimnisvoll war seine Her- gestern Gold zu machen. kunft, okkultistisch sein Wirken, und Um derlei Streichen auf die Schliche seine „Arzeney“ versprach Gläubigen zu kommen, muß einer schon Sinnloses „Methusalems Alter“. Der Bube hieß wagen; nämlich Buttlars krauses Zeug Joseph Balsamo. bei vollem Bewußtsein lesen. Der „Flie- Unser Mann heißt Johannes Freiherr gerkamerad“, dem Buttlar das Methusa- Treusch von Buttlar-Brandenfels, im lem-Manuskript zum Checken zuschob, Alltag schlicht Johannes von Buttlar, hat es sicher nur überflogen. 54. Er präsentiert sich als „einer der fünf Ganz unter uns: Ungeniertes Abkup- erfolgreichsten Sachbuchautoren der fern, bei sich und vor allem bei anderen, Welt“, mit Studium von „Psychologie, war immer schon die Stärke des be- Philosophie, Astronomie, Physik und rühmten Mannes. Ewiglich wälzen sich Mathematik“; auf seiner tiefblauen Visi- dieselben spiritistischen Moorleichen tenkarte ist er „Fellow“ der „Royal und galaktischen Grusel durch Buttlars Astronomical Society“ und „Dr.“ mit Werke; er ist die wundersamste Wieder- Wohnsitz auf „Schloß Bartenstein“. aufarbeitungsanlage der Welt. Hut ab. Hat er sich, alljährlich, ein Doch dies allein kann nicht die „Welt- „Meisterwerk wissenschaftlicher Litera- auflage von 25 Millionen“ generiert ha- tur“ (Eigen-PR) abgerungen, dann ben, die der Edelmann sich nachsagen sprengt Buttlar, wie seinerzeit Caglio- läßt (womöglich, freilich, wurde nach stro, zu den Zentren der Kultur. Die extraterrestrischen Regeln addiert); Adelshöfe von einst heißen nun RTL, auch nicht seine Aura einer Winterkar- ZDF, ARD, und dort gibt er, als toffel und ein Charme, der jede Heide „Astrophysiker“ willkommen, Einblik- Buttlar-Beleg Uralt-Yogi welken läßt. ke in sein Forschen. 600 Jahre bei minus 40 Grad Das Design bestimmt das Bewußt- Cagliostro konzentrierte sich bei sei- sein, in Politiker- wie in Kornkreisen. nen Shows auf Gespenster, Kleinkram: be versteht: bei RTL, im Magazin Von denen, die im Drüben fischen, wir- Buttlar greift ins Kosmische. Ufos blin- „Explosiv“. ken jene besonders wuchtig, die sich in ken uns an, Außerirdische reichen die Cagliostro wäre nun wirklich erbli- den Weißkittel des Wissenschaftlers hül- Händchen, aus Kornkreisen steigen chen: Als „Schloßherr“ trat der Freiherr len; ein Adelskrönlein erhöht gewaltig, Menschheitsfragen; himmlisch. Nun da herfür, mit jenem Adlerblick, der dunkles Vorleben schafft Dämonie. aber bietet er – erblei- Kornfelder knickt; fau- Daran hat es unser Mann nicht man- che, Cagliostro – den stisch stochert er, zu Fü- geln lassen, getreu den Regeln seines „Schlüssel zur ewigen ßen gemalter Ahnen, in Gewerbes. Womit wir erneut das Land Jugend“, die „Methusa- einer bläulichen Tink- betreten, wo die Zitronen blühen und lemformel“*. tur; und gebannt verneh- die „Ciarlatani“. So heißt das jüngste men wir, das lebensver- Den „Dr. rer. nat.“, mit dem er hau- Buttlar-Buch; auf des- längernde Elixier (bis sierte, kann er sich mittlerweile in den sen Rücken reitet er 800 Jahre) werde be- Kamin von Schloß Bartenstein malen; die Frühjahrsoffensive reits, „unter dem Mar- das Etikett, erworben von einer obsku- durch die Medien. Und kennamen Duravital“, ren „University of Prague“, brachte ihm nirgendwo leuchtete ihm in Amerika erprobt. ein Verfahren ein („Mißbrauch von Ti- die Sonne von Austerlitz Nach „jahrelangen teln“). Der Kamin gehört ihm auch heller als in jenem Sen- Recherchen in For- nicht, denn der „Schloßherr“ wohnt, der, der so unendlich schungslabors in aller wie andere da, zur Miete. viel von Buttlars Gewer- Welt“ sei er auch – Butt- Gleichfalls in den Kamin paßt sein lars Piper rückt ins Bild „Fellow“ der Londoner „Royal Astro- * Johannes von Buttlar: „Die – „in das Himalaja-Ge- nomical Society“. Die ehrenwerte Ge- Methusalemformel“. Betten- dorf’sche Verlagsanstalt, Es- Autor Buttlar birge geflogen“, um da, sellschaft, die jeden Arglosen aufnimmt, sen; 256 Seiten; 39,80 Mark. Aura der Kartoffel Forscherglück, einen verstieß den „Fellow“ Buttlar wegen

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Nichtzahlens des Jahresbei- Wahl-Neuseeländer Krzysz- trags (rund 100 Mark). tof Starzynski der zweite „Astrophysiker“ hingegen Kronzeuge von Jens, sagt darf er sich nennen; wie je- zwar, Konsul Ranicki habe der, der schon mal den „mit dem polnischen Ge- Mond gesehen hat. heimdienst zusammengear- In tiefe Dunkelheit jedoch beitet“, weiß aber nicht ge- gerät der Buttlar-Biograph, nau, „in welcher Funktion“. will er des Meisters Jugend- Zu der Behauptung von spuren sichern; die verlaufen Jens, das Londoner Konsu- sich in Australien. Dort ha- lat – was ohne Mittäterschaft be er, beispielsweise, als des Konsuls kaum denkbar Freiwilliger im „Special Air ist – habe Exil-Polen in die Service“ gedient und zwei Heimat gelotst und dann an Jahre im Dschungel „Mann die Russen verraten, erklär- gegen Mann“ gekämpft; die te Leder letzte Woche dem Army kann sich seiner nicht SPIEGEL: „Mir ist kein ein- entsinnen. ziger Fall einer solchen Aus- Auch seine vielen Stu- lieferung bekannt.“ diengänge, in Australien Solche Fälle sind für die und England, sind bislang ersten Nachkriegsjahre auch nicht durch irgendwelche Kritiker Reich-Ranicki: „Kompletter Quatsch“ unwahrscheinlich. Das ge- Auffälligkeiten, etwa Ex- amina, dokumentiert. Aktenkundig wird nen Sonntag in der WDR-Sendung sein Drang zum Höheren am 28. März „Kulturweltspiegel“ nachzuweisen ver- 1969: Da verwandelt sich ein Johannes sucht, daß Reich-Ranicki als Kommunist Busacker aus Berlin, 28 Jahre alt, in den 1948/49 für den polnischen Geheimdienst Johannes Freiherr Treusch von Buttlar- gearbeitet habe; und daß er von London Brandenfels; durch Adoption. aus als polnischer Konsul daran beteiligt Bald darauf greift der geadelte Johan- gewesen sei, Exil-Polen über Warschau nes zur Feder und setzt die Welt in Er- in die mörderischen Hände des sowjeti- staunen, bis auf den heutigen Tag. Unru- schen Geheimdienstes zu locken. hig wälzt sich KollegeCagliostro; solange Was Jens, Sohn des Tübinger Rheto- hatte er nicht durchgehalten. Y rik-Professors Walter Jens, in Gesprä- chen mit zwei bejahrten polnischen Ge- heimdienstleuten zubelegen suchte, wur- Kritiker de „allerdings nicht so recht klar“ (taz) – den Verrat von Landsleuten an die Rus- sen hatte Jens nicht direkt dem Konsul, aber doch seiner Behörde unterstellt. Nur das Auch ging das Elaborat aus „juvenilem Fürwitz“ (Die Welt) über die Verbreitung von „Gerücht“ und „Verdacht“ (Frank- Beste furter Rundschau) kaum hinaus. Geheimdienstveteran Leder* Tilman Jens hat immerhin etwas ge- Entlastung für den Konsul War der Kritiker Marcel Reich-Ra- schafft: Reich-Ranicki, der gefürchtete nicki ein Mitarbeiter der polnischen Souverän des literarischen Fernseh- schundene Polen, unter dem National- „Quartetts“, sah sich genötigt, öffentlich kommunisten Wladyslaw Gomulka Stasi? Im Fernsehen wurde es – im ZDF – zu erklären, er sei kein Ge- noch keine Filiale sowjetischer Stalini- behauptet, aber nicht bewiesen. heimdienstknecht gewesen, habe aber als sten, umwarb damals zum Beispiel auch Konsul der polnischen Kommunisten den antikommunistischen Bauernführer „selbstverständlich“ mit den Leuten vom Stanislaw Mikolajczyk – der ging von arf, ohne Beleidigungsklage, fort- Staatssicherheitsministerium Kontakte London nach Warschau, ohne daß ihm an jedermann den Literaturkriti- gepflegt. ein Haar gekrümmt worden wäre. Bis Dker Marcel Reich-Ranicki, 74, ei- Wer so dementieren muß, an dem 1950 diente sogar der Dichter und späte- nen „Ex-Agenten“ schimpfen – und so bleibt leicht etwas hängen – war dies die re Nobelpreisträger Czeslaw Milosz in eine Reihe mit den Briten John le Absicht der Sendung? Daß Jens solch („Verführtes Denken“) dem Land als Carre´ und Graham Greene stellen? „skrupellose Methoden“ (FAZ) zuge- Diplomat, ohne Parteimitglied zu sein. Und darf, gleichfalls ohne gerichtliche traut werden, darf ihn nicht wundern – Reich-Ranicki, der von der Ausliefe- Folgen, künftig verbreitet werden, der unvergessen ist der Skandal, den er 1984 rungs-Story „nie etwas gehört“ haben Westdeutsche Rundfunk habe einem inszenierte. Damals brach er auf der Su- will, bestätigt, unter den etwa 40 Mitar- Ex-Einbrecher gestattet, das Ansehen che nach Intimem in das englische Wohn- beitern des Konsulats seien – wie in der eines Juden zu beschädigen, der in den haus des kurz zuvor verstorbenen Schrift- nahen polnischen Botschaft – Geheim- Konzentrationslagern der Nazis fast sei- stellers Uwe Johnson ein. Zudem ver- dienstleute gewesen, aber auch Parteilo- ne ganze Familie verlor? folgt Jens den „Stalinisten“ Reich-Ranik- se. Diktatorischer wurde die Personal- Fragen dieser Art, in denen Lächerli- ki seit langem – ein Rechthaber? politik erst nach Gomulkas Sturz – im ches und Ungeheures aneinandersto- Verdacht und Gegen-Verdacht, doch Spätherbst 1949. Da wurde ja auch ßen, ergeben sich aus einem Fall, der was ist die Wahrheit? Der polnische Ge- Reich-Ranicki aus der Partei gewor- die Feuilletons erregt: Fernseh-Autor heimdienstveteran und Übersetzer Wi- Tilman Jens, 40, hatte am vorvergange- told Leder, 80, neben dem dubiosen * 1994 in Warschau.

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Werbeseite KULTUR fen. Das Londoner Konsulat sei, sagt der andere Jens-Zeuge, den weder Reich-Ranicki noch Leder kennen wol- len, eine „Sektion“ der Staatssicherheit, demnach Reich-Ranicki örtlicher Chef- Agent gewesen. Dazu der Ex-Konsul: „Kompletter Quatsch“. Und Leder: „Von einer solchen Sektion weiß ich nichts.“ Leder muß es wissen, denn er war da- mals mitverantwortlich für den militäri- schen Abwehrdienst des Verteidigungs- ministeriums. Der unterhielt, wie das Si- cherheitsministerium, eigene Auslands- abteilungen, die auch die konkurrieren- den Meisterspione aus Warschau im Au- ge hatten. Leder ist Reich-Ranicki Ende der vierziger Jahre mehrfach begegnet. Hält er im Rückblick dessen angebliche Ge- heimdienstkontakte für bedeutend? Le- der zum SPIEGEL: „Kaum“. Diese entlastenden Aussagen seines Kronzeugen unterschlug Tilman Jens – Coen-Film „Hudsucker“ mit Robbins (2. v. l.): Verlorene Unschuld er hat erst gar nicht in dieser Richtung geforscht. Als der – von Jens befragte – rende Handlung hatten, sondern sich stet. Aus den Stars machten die genialen polnische Autor Jan Koprowski zusagte, dabei gleichzeitig in die Strukturen des Boßler und Bastler allerdings Kunstge- über Reich-Ranickis historische Rolle Kinos vorarbeiteten. schöpfe, die agieren, als seien sie für offen zu reden, und hinzufügte: „aber Alle bisherigen (vier) Filme der „Dick Tracy“ gezeichnet worden. Sie le- nur das Beste“, zeigte Jens kein Interes- Coens sind, so schrecklich sich das an- ben nur in groben Umrissen. se mehr an ihm. Das widerlegt ihn noch hören mag, Reflexionen über das Gen- Kaum hatten also die beiden Wunder- nicht. Aber es stützt Reich-Ranicki. re-Kino: Also ist beispielsweise „Mil- knaben (Joel, der in New York studier- Der Literaturkritiker wird dem WDR ler’s Crossing“ (1990) ein nostalgischer te, und zwar Film, ist inzwischen auch keine Beleidigungsklage ins Haus schik- Rückgriff auf den Gangsterfilm, dessen schon 40, Ethan, der ein Ivy- ken. Schon um den Sohn eines Vaters, (pseudo-)heroische Strukturen der Film League-Philosoph aus Princeton ist, im- mit dem Reich-Ranicki befreundet war mit der unbarmherzig gezeigten win- merhin 37 Jahre) das dicke Geld und die und nun politisch hadert, „nicht aufzu- selnden Todesangst der Opfer bloßlegt, großen Stars, schon ist ihnen auch das werten“. Jens junior ist unterdessen dessen Zeichen (Hüte, das harte Kinn, Beste in ihrer Karriere gelungen und zu- nach Polen gereist, um endlich Bewei- den Colt) er mit einer Kälte einsetzt wie gleich das Schlimmste widerfahren: se für seine Behauptungen aufzutrei- vor ihm nur der Franzose Jean-Pierre „Hudsucker – Der große Sprung“ ist ben. Y Melville in den sechziger Jahren. ein ausgeklügeltes, bestechend perfekt So ist „Barton Fink“ (1991) die kriti- gemachtes Glanzstück – aber der Film sche Persiflage auf den Hollywood-Film strahlt die Körpertemperatur einer Ei- Film Hollywoods, in dem sich die Filmindu- dechse bei Nacht aus, bestenfalls. Der strie selbst feierte und auch selbst (ein Film ist von glitzernder Bosheit und stel- wenig, aber mit viel Gefühl) kritisierte: lenweise zum Brüllen komisch – aber von „A Star is Born“ bis zum „Last Ty- man lacht über blutleere Konstrukte Temperatur coon“. Bei den Coens wurde Hollywood und fühlt sich in schlimmsten Augen- bis in den Wahn und Größenwahn der blicken in Barry Levinsons Sündenfall Wahrheit getrieben und verzerrt. Das „Toys“ zurückversetzt. einer Echse Kunststück war möglich, weil die Coens „Hudsucker“ beschreibt mit beißen- die Filmstadt als Alptraum eines aus der Ironie den ruinösen Umgang eines „Hudsucker – Der Große Sprung“. New York angereisten Drehbuchautors gigantischen Industriekonzerns mit den Spielfilm von Joel und Ethan Coen. zeigten, der auf Hollywoods bizarre Gi- Menschen, die er allesamt aushöhlt, ver- gantomanie mit einer Schreibblockade, dirbt, plattmacht – aber man wird das USA 1994. mit der Unfähigkeit, ein Drehbuch zu Gefühl nicht los, daß die Klage von ei- liefern, reagiert. nem Computer dieser Firma angestellt ie Brüder Joel und Ethan Coen „Barton Fink“ war bei der Kritik ein wird, so kalt und verwurstend geht der spielen seit ziemlich genau zehn großer Erfolg, heimste in Cannes 1991 Film mit seinen Geschöpfen um. DJahren (als sie ihren Erstling die Goldene Palme und zwei weitere Dabei liegt ihm eine der herzergrei- „Blood Simple“ drehten) die Rolle der Hauptpreise ein und fand auch beim Pu- fendsten Geschichten zugrunde: Frank innovativen und intellektuellen Außen- blikum eine beachtliche Resonanz. So Capras sentimentales Meisterwerk „Mr. seiter in der Breitwandsteppe und Popu- kamen die Coens jetzt an das große Deeds Goes To Town“ (1936) ist als laritätswüste Hollywoods. Ja, sie gelten Budget-Geld (40 Millionen Dollar) und parodiertes Vorbild im „Hudsucker“ als die mit der Kamera praktizierenden an die großen Hollywood-Stars (Tim förmlich mit den Händen zu greifen. Philosophen des US-Kinos. Robbins, Jennifer Jason Leigh und den Damals war es der von Gary Cooper Das hat vor allem damit zu tun, daß großen Kinoveteran Paul Newman). Mit schlaksig gespielte Hinterwäldler aus sie von Anfang an Filme schufen, die den 40 Millionen machten die gewitzten der heilen US-Provinz, der in New York nicht nur eine auf Erfolg, Zeitgenossen- Brüder einen Film, der aussieht, als ha- ein Millionenvermögen erbt und von ei- schaft, Wirkung und Mitgefühl spekulie- be er mindestens dreimal soviel geko- ner skrupellosen Klatschjournalistin

204 DER SPIEGEL 23/1994 dem Spott der Stadt ausgesetzt wird, die als „einflußreichster Gitarrist in der Ge- über seine Unschuld und Naivität lacht – Pop schichte des Rock’n’Roll“ (Los Angeles bis sich die Journalistin in den besseren Times) – auf seinen Konten allerdings Menschen verliebt. entdeckten die Nachlaßverwalter zu- Jetzt ist es der Neuling Norville nächst nur wenig mehr als 20 000 Barnes, der aus dem Kuhkaff Muncie in Krach mit Dollar. das New York des Jahres 1958 kommt Auch ein Testament hatte der bis heu- und dort, weil er ein infantiler und tum- te als Genie verehrte Musiker nicht hin- ber Tor zu sein scheint, zum Präsidenten Onkel Leo terlassen, wohl aber mehr als 200 Bän- eines Riesenkonzerns gemacht wird. der, unveröffentlichte Studioaufnah- Man braucht diesen Idioten, um die Ak- Rechtsstreit um das Erbe des men, für die der von ihm 1967 gegründe- tien in den Keller zu manipulieren. Auch Gitarrengurus Jimi Hendrix: te New Yorker Musikverlag Bella Godi- hier findet sich die karrieregeile Journa- va Music Inc. die Rechte besaß. James listin Amy Archer (Jennifer Jason Der Vater des Musikers glaubt, Allen Hendrix, der Vater, heute 74, war Leigh), die den Trottel als Trottel perfi- daß er ausgetrickst wurde. nun der Alleinerbe. Noch bis 1979 arbei- de in die Schlagzeilen bringt – bis auch tete Hendrix der Ältere in Seattle (US- sie sein reines Herz entdeckt, ihn liebt. Staat Washington) als Gärtner, in frühen Natürlich glauben die Coens anders n manchen Tagen mußte der Nach- Jahren hatte ihm Sohn Jimi zuweilen als Capra (Zyniker, die wir alle inzwi- wuchsmusiker seine Gitarre ins beim Umgraben geholfen. Leo Branton, schen geworden sind) nicht an diese APfandhaus tragen, weil er seine Anwalt des Sängers Nat „King“ Cole, herzerwärmende Geschichte von der Miete nicht bezahlen konnte. Selbst nahm sich des Seniors an und beriet ihn Kraft der Unschuld und der anstecken- nach den ersten Konzerten klagte er, et- bei der Nachlaßverwaltung. Der Alte, den Macht der Schlichtheit. wa im März 1967 bei einem Presse-Auf- der nach der siebten Klasse von der Das kann ihnen (und uns) niemand tritt im Hamburger Danny’s Pan Club, Schule abging, „vertraute ihm vollkom- verübeln. Nur eine Story herzbewegend men“, zumal er sich „mit zu verfilmen, an die man nicht glauben dem Vertragskram nicht kann und will, ist so schwierig wie die auskannte“. Quadratur des Kreises. Als „Onkel Leo“, wie er Und so haben die Coens die Stelle, an in der Hendrix-Familie ge- der in Capras Film das Herz schlug, mit nannt wurde, dem Musi- einer komplizierten Schrittmacherappa- kervater 1974 einen Ver- ratur ausgefüllt, die zu Bewunderung kaufsvertrag vorlegte, der nötigt, aber nie zur Anteilnahme. ihm zunächst über zehn Natürlich ist auch dieser Coen-Film Jahre jährlich 50 000 Dol- die Struktur-Untersuchung eines Film- lar zusicherte, unterschrieb Genres, nämlich der Screwball-Comedy Hendrix offenbar das Do- der dreißiger Jahre. Das beginnt mit kument, obgleich er sich dem Dekor. Die ehrwürdigen Wolken- heute, so behauptet er, kratzer in New Yorks feiner Madison „nicht mehr daran erinnern Avenue regen zu Art de´co an, deren er- kann“. Später wurde die lesener Staub sich über die Erfolgsge- Vereinbarung auf Lebens- schichte aus den Endfünfzigern legt: zeit verlängert, und Hen- Der zum Präsidenten gekürte Idiot drix zweifelte mehr als 20 nämlich erfindet den Hula-Hoop-Reifen Jahre lang nicht an seinem (Sie erinnern sich, das hüftwackelnde Vertrauten, der ihm ver- Schlankheits- und Gesellschaftsspiel, sprochen hatte: „Ich mache das damals die Menschen wie eine Epi- dich zum Multimillionär!“ demie befiel?) und katapultiert die Ak- Tatsächlich kassierte Va- tien statt in die Baisse in den Wertpa- ter Hendrix bisher nahezu pier-Himmel. zwei Millionen Dollar. Ir- Wer an der Kälte der Geschichte, an gendwann Ende 1992 aber den in blendende Stehaufmännchen-Ge- erfuhr er aus einer Zeit- sten und Zappelweibchen-Grimassen schrift, daß das Unterneh- getriebenen Schauspielern leidet, an den men MCA Music Enter- übergroßen Zigarren, die Newman zwi- tainment Group, eine schen den gefletschten Zähnen kauen Tochter des japanischen muß, kann sich in das Wiedererkennen Rockmusiker Hendrix (1965): „Kein Geld gesehen“ Elektronikkonzerns Mat- von Zitaten retten. sushita, das Hendrix-Erbe Die reichen von Mitchell Leisens über die kargen Honorare: „Ich habe aufkaufen wolle – für mehr als 30 Millio- „Easy Living“, Preston Sturges’ „Palm noch kein Geld gesehen, aber wenn nen Dollar. Hendrix Senior war, so sagt Beach Story“ über Howard Hawks’ ich’s sehe, dann hole ich meine Mutter er, „außer sich“. Die Rechte am Werk „Bringing Up Baby“ und Billy Wilders ins Leben zurück und kaufe meinem Va- seines Sohnes, der zu Lebzeiten nur drei „Apartment“ bis zu Terry Gilliams ter ein Haus.“ Studioalben veröffentlicht hatte, wähnte „Brazil“ usw. usf. – einem Filmhistori- Doch es war nicht besonders einträg- er in seinem Besitz. ker bietet der blendend gelaunte und lich, ein Gitarrengott zu sein: Als James Onkel Leo aber korrigierte ihn: Tat- kaltschnäuzig gemachte Film minde- Marshall Hendrix, genannt „Jimi“, im sächlich habe er das Copyright 1974 an stens soviel Vergnügen wie einem Zu- September 1970 in London an einer das in Panama registrierte Unterneh- schauer, der nur sein Vergnügen pur Lungenaspiration starb, zu der wohl ein men Presentaciones Musicales abgetre- sucht – und das ist schlecht. Gemisch aus Aufputsch- und Beruhi- ten und 1983 einen Vertrag mit dem auf Hellmuth Karasek gungsmitteln geführt hatte, galt er zwar den britischen Jungferninseln etablier-

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ten Musikverlag Interlit sowie dem nie- derländischen Bureau voor Muziekrech- ten Elber B. V. schriftlich bestätigt. In- terlit verdient an Hendrix international, Elber schöpft in den USA und Kanada ab und ist Besitzer von Bella Godiva. Die Geschäfte dieses verschachtelten Copyright-Kartells laufen offensichtlich prächtig: Seit sich 1992 der Geburtstag des toten Idols zum 50mal jährte, herrscht auf dem Plattenmarkt ein wah- rer Hendrix-Boom – geschickt angeheizt durch neue Hit-Zusammenstellungen und die Veröffentlichung diverser Rari- täten aus dem Nachlaß. Gerade erst ist unter dem Titel „Blues“ eine Sammlung bislang weitgehend unbekannter Auf- nahmen erschienen; auch die Tribute- CD „Stone Free“, auf der Hendrix-Be- geisterte wie Eric Clapton und Ice-T die Nummern des Meisters nachspielen, ge- riet zum Verkaufsschlager. Angesichts des nostalgischen Rum- mels glaubt sich James Hendrix mit Trinkgeldern abgespeist. Deshalb ver- klagte er seinen Anwalt sowie dessen Vertragspartner vor dem District Court von Seattle (Aktenzeichen C 93/537 Z) unter anderem wegen Betrugs und Ver- letzung der treuhänderischen Pflichten und forderte das Gericht auf festzustel- len, daß er – trotz der Unterschriften – noch immer rechtmäßiger Besitzer des Hendrix-Erbes sei. Er habe lediglich der Verwertung der Kompositionen seines Sohnes zugestimmt, und selbst dafür sei er unter Wert bezahlt worden. Vater Hendrix, heute so reich wie es sein berühmter Sohn nie war, geht es beim Kampf um die Dollar nicht um die Mehrung des eigenen Reichtums, sagt sein derzeitiger Anwalt Yale Lewis; er wolle für seine Kinder und Enkelkinder „die Zukunft sichern“. Die Verhandlungen der von Hendrix beschuldigten Musikverlage mit den MCA-Managern liegen seit Februar durch den Urteilsspruch eines US-Bun- desrichters vorläufig auf Eis. Überdies sind die Beklagten verpflichtet, dem Gericht in Seattle vierteljährlich über ih- re Hendrix-Umsätze und -Gewinne zu berichten. Mehr noch: Nach dem Beschluß des Bundesrichters muß ein Richterkollege nun entscheiden, ob und in welcher Weise das gesamte Hendrix-Paket unter Gerichtsaufsicht gestellt wird. Im Juni nächsten Jahres soll dann endgültig dar- über geurteilt werden, wer der rechtmä- ßige Besitzer der Hendrix-Musik ist. Eine Million Dollar soll Vater Hen- drix angeblich inzwischen nach Schwe- den überwiesen haben. Dort lebt ein un- ehelicher Sohn seines Sohnes, offenbar gezeugt im Januar 1969: Damals weilte der Mann, der „zum Monster wurde, wenn er seine Gitarre packte“ (Paul McCartney), während einer Konzert- tour für einen Tag in Stockholm. Y

206 DER SPIEGEL 23/1994 WISSENSCHAFT PRISMA

Fußball-WM Rasen plumpsen und messen seine Sprunghöhe und Roll- Genormter weite. Nach dem Standard des Endspielortes Pasadena Rasen wird der Rasen an den ande- Zwar ist nach der Lehre des ren Austragungsorten mit verstorbenen deutschen Fuß- Hilfe von Rasenmähern und ball-Weisen Sepp Herberger Walzen genormt. „der Ball rund“, aber er rollt noch lange nicht gleich gut MS-Medikament auf jedem Rasen. Das stellt die Ausrichter der Fußball- Ermutigende WM in den USA vor große Probleme. Noch nie fanden Verbesserungen die Spiele an so weit ausein- Im Selbstversuch erprobte ander liegenden Orten mit der an Multipler Sklerose völlig verschiedenen Rasen- (MS) erkrankte Münchner typen statt. Das „Bermuda Narkosearzt Professor Niels Grass“ im warmen Süden der Franke Ende der achtziger Wirbelsturmfolgen (in Florida) USA gleicht einem kurzge- Jahre eine in Japan entwik- kelte Substanz, von der man Naturkatastrophen sich ursprünglich eine Wir- kung gegen bestimmte Krebsarten versprochen hat- Mehr Opfer – größere Schäden te. In einem Buch und zahl- Die Zahl der durch Überflutungen, Wirbelstürme, Erd- reichen Artikeln berichtete beben, Dürrekatastrophen und Epidemien getöteten Franke über die positive Wir- oder vertriebenen Menschen ist seit 1963 jährlich um kung des Deoxyspergualin sechs Prozent angestiegen. Dies geht aus einer Uno-Stu- (DSG) bei sich und einigen die („Disasters around the world“) von Charles Kerpel- anderen MS-Kranken (SPIE- man hervor. Hauptursache für die steigende Zahl der Op- GEL 14/1993). Bei zwei kli- fer und die gleichzeitig beobachtete Zunahme der Sach- nischen Studien, die von den schäden ist jedoch nach Kerpelmans Meinung vor allem Marburger Behringwerken in die Zunahme der Bevölkerung in den katastrophenbe- Zusammenarbeit mit 13 neu- drohten Gebieten. So siedeln beispielsweise immer mehr rologischen Kliniken in der Menschen in den überflutungsgefährdeten Niederungen Schweiz, Deutschland und Bangladeschs. Durch Überschwemmungen wurden 26 Frankreich unternommen Prozent aller Katastrophenopfer getötet und 32 Prozent wurden, haben sich nach er- aller Sachschäden verursacht. 33 Prozent aller Opfer ver- sten Zwischenergebnissen hungerten infolge von Dürreperioden. Gerade die am Frankes Vermutungen bestä- stärksten betroffenen Länder in Asien, im südlichen Afri- tigt: DSG vermag die Krank- ka, in der Karibik sowie in Mittel- und Südamerika verfü- heit zwar nicht zu heilen, gen kaum über die finanziellen Mittel zur Katastrophen- aber offenbar den „klini- vorbeugung. Die Spenden aus den reichen Ländern aber, schen Verlauf“ günstig zu be- so Kerpelman, „sind leichter zu bekommen, wenn eine einflussen. Diese „ermuti- Katastrophe schon eingetreten ist“. genden Verbesserungen“ ha- ben die Behringwerke dazu Fußballrasen-Testgerät veranlaßt, beim Bundesge- Medizin tenden Sauerstoff erhält. Sol- sundheitsamt nun einen che Fehler sollen sich mit ei- schorenen Golfplatz-Green, „Antrag auf vorgezogene Zu- Leuchtfeuer nem verbesserten Tracheal- während das „Kentucky Blue- lassung der Substanz“ zur tubus verhindern lassen, der grass“ dem rollenden Ball ei- Behandlung der MS zu stel- zur Lunge von einem amerikanischen nen wesentlich höheren Wi- len. Einen Unfallverletzten oder Notfallmediziner und einem derstand entgegensetzt. Die einen Infarktpatienten zu Medizintechniker entwickelt Veranstalter haben nun die „intubieren“, ihm die gebo- wurde. An der Spitze des Rasenspezialisten Stephen gene Röhre eines Trachealtu- „Trachlight“ genannten Sy- Cockerham von der Universi- bus durch Mund und Rachen stems befindet sich eine win- ty of California und James in die Luftröhre zu schieben, zige Glühbirne; da die Luft- Watson von der Toro Corpo- damit er künstlich beatmet röhre relativ dicht unter der ration in Minneapolis damit werden kann, ist auch für er- Körperoberfläche verläuft, beauftragt, einen Weg zu fin- fahrene Notfallärzte schwie- kann der Intubierende sehen, den, der den Spielern auf allen rig: Der Tubus kann statt in ob der Schlauch richtig und Feldern ein vergleichbares die Atemwege in die Speise- nicht zu weit hinabgleitet. Ballgefühl vermittelt. Die Ra- röhre rutschen (so geschehen Dringt kein Licht nach au- senspezialisten entwickelten bei Franz Josef Strauß), oder ßen, steckt der Tubus in erst einmal den „Field Perfor- er gerät über die Gabelung der Speiseröhre. Kanadische mance Indicator“. Von dieser der Bronchialwege hinaus, so Ärzte haben das System be- 45Grad geneigten Rampe las- daß nur einer der beiden reits 4000mal erfolgreich ein- sen sie einen Fußball auf den Mediziner Franke Lungenflügel den lebensret- gesetzt.

DER SPIEGEL 23/1994 207 WISSENSCHAFT

Rinderseuche GRUSELKEIM IM FUTTER Leere Schlachterläden, Verkaufsabstürze bei Beef und Rouladen – der Rinderwahnsinn BSE schreckt die Verbraucher. Bei Hannover erkrankte eine Kuh an BSE. In Großbritannien sind 130 000 Tiere verendet. Doch alles bleibt beim alten, die Seucheninsel darf weiterhin Kadavermehl und Fleisch exportieren.

te Osterkamp, 32, ist die Fleisches- Triumphierend flog Landwirtschafts- eingegangen. „Die meisten Tiere“, sagt lust vergangen. Mit Nutella, Käse, ministerin Gillian Shephard heim nach der englische BSE-Epidemiologe John Uund Gemüse versorgt die Mutter London. Die Inselfarmer, denen letzte Wilesmith, „wurden kurz nach der Ge- ihre beiden kleinen Söhne. Der Ehe- Woche erneut knapp 650 Kühe wegstar- burt angesteckt.“ mann muß Fischsalat und Pizza Marghe- ben, dürfen weiter exportieren. Obwohl die Erregerinvasion in die rita essen. „Vorsorglicher Gesundheits- Tausende von Tonnen Fleisch, dazu Futtertröge seit Jahren bekannt ist, mag schutz“, begründet die Hausfrau ihr ve- lebende Kälber und Zuchtbullen verteilt Brüssel das Unheil nicht bei der Wurzel getarisches Küchenregime, „Rindfleisch das Inselreich rund um die Welt. Unter packen. Neuerdings verschiebt das Ver- kommt mir nicht auf den Tisch.“ 25 EU-Warentarifnummern gehen Ha- einigte Königreich die grau-braunen Mit ihrem Eßtabu steht die Frau aus xen von Schottischen Hochlandkälbern, Proteinklumpen in großen Mengen nach Hamburg nicht allein. Die Angst vor gefrorene Zungen oder walisische Rin- Südostasien. dem hirnzerstörenden BSE-Erreger hat derpansen bis nach Sierra Leone und Ein schier unglaublicher Leichtsinn. dem deutschen Esser den Appetit ver- Kirgisien – ein Milliardengeschäft (siehe Seit zwei Jahren läuft ein geheimer von dorben. Der Verband des Deutschen Grafik). der EU finanzierter Großversuch, der Groß- und Außenhandels mit Vieh und Auch der Export von Fleisch- und ermitteln soll, welche Techniken bei der Fleisch meldete „einen dramatischen Knochenmehl läuft schwunghaft. 27 Kadaververarbeitung nötig sind, um den Rückgang der Verkäufe“. Staaten importierten In einigen Großstädten ist der Rind- 1993 den britischen fleischabsatz um bis zu 60 Prozent zu- Protein-Fraß, der An- rückgegangen. Die Entwicklung, klagt fang der achtziger Jah- Antonius Nienhaus von der Centralen re die BSE-Epidemie Marketinggesellschaft der deutschen auslöste. Damals ge- Agrarwirtschaft, nehme langsam „dra- langten Schafe, die an matische Formen an“. Scrapie erkrankt wa- Fleischereien pappen neuerdings ren, indie Mahlschnek- Schilder in die Auslage „Garantiert von ken der Tierkörperbe- deutschen Bauern“, „Frisch aus Argen- seitigungsanstalten – tinien“. McDonald’s gibt an, seine der Scrapie-Erreger, Klopsberge allesamt von „süddeutschen mit dem BSE-Keim Familienbetrieben“ zu beziehen. identisch, wurde nicht Doch der Bürger ist verunsichert. totgekocht. Er konnte Vorletzte Woche brach bei Hannover im großen Stil die Ar- eine Kuh zusammen. Befund: Hirn- tenbarriere durchbre- schwamm. Nordrhein-Westfalen ver- chen. hängte daraufhin ein Schlachtverbot für Die kannibalischen die 200 im Rheinland weidenden Rind- Futterriten waren auch viecher britischen Ursprungs. in deutschen Maststäl- Während das infizierte Tier bei 1000 len üblich. Das nahr- Grad Celsius verbrannt wurde, wogte in hafte Fleischmehl dien- Brüssel der Kampf um eine Verschär- te vor allem als Mutter- fung der Exportbestimmungen für Bri- milchersatz für Kälber. ten-Beef. Um „das nicht zu verantwor- Bereits nach zwei Ta- tende Experiment am Menschen“ zu be- gen werden die Neuge- enden, fordert Gesundheitsminister borenen vom Euter Horst Seehofer rigorose Einfuhrbe- entwöhnt und erhalten schränkungen (SPIEGEL 18/1994). zerhäckselten Kada- Am Montag tagten die Agrarminister, verbrei. am Dienstag das wissenschaftliche Vete- Rund 130 000 Bri- rinärkomitee, am Donnerstag debattier- ten-Kühe sind seither ten die EU-Gesundheitsminister. Am Ende waren die Deutschen auf der gan- * In der Verbrennungsanla- zen Linie abgebürstet. Alles bleibt beim ge von Cambridge, Großbri- alten. tannien. BSE-verseuchtes Rind*, Fleischergeschäft in Bochum:

208 DER SPIEGEL 23/1994 Rindfleisch Großbritannien Lebende Rinder und Innereien (in Stück) (in Tonnen) Länder mit mehr als Irland 374 100 Tonnen Import Schweden 199 Belgien/ Länder mit weniger als Dänemark 853 Luxemburg 30828 100 Tonnen Import Irland 6521 Niederlande 135308 Deutschland 3792 Frankreich 142790 Niederlande 8120 Italien 994 Belgien/ Luxemburg 1949 Frankreich 89348 Italien 15331 Spanien 3053 Portugal 106 Angola 142 Zaire 535 Katar 209 Fleisch- und Knochenmehl (in Tonnen) Japan 211 Island 234 Haiti 108 Norwegen 144 Sierra Leone 216 Irland 252 Indien 278 Rinderwahn weltweit? Niederlande 152 Sri Lanka 1352 Italien 1699 Thailand 1964 Import von Rindern, Fleisch und Zypern 230 Südkorea 103 Fleischprodukten aus Großbritannien Israel 3745 Philippinen 105 (Januar bis November 1993) Jordanien 231 Indonesien 18517

Erreger abzutöten. Als am untauglich- Die enorme Widerstandskraft des Er- dächtige Gewebearten stehen auf dem sten erwiesen sich die in England übli- regers bringt die gesamte europäische Index: Augen, Milz, Thymus oder chen Aufbereitungsverfahren, die teil- Kadaverbeseitigungsindustrie in die Darm. weise mit Temperaturen von nur 80 Bredouille. Nur noch 50 Prozent des Echten Schutz bietet das Gefiesel Grad Celsius arbeiten. Der Experte Schlachtkörpers werden verspeist, der nicht. In Versuchslabors wurden Kälber des Bundesgesundheitsamtes (BGA) Rest – Millionen Tonnen Pansen, mit 60 verschiedenen Gewebearten infi- Wolfgang Mields: „Bei diesen Uraltan- Schwarten, Knochen oder Gedärm – ziert. Sogar Organteile, in denen der Er- lagen ist das fertige Mehl hernach ge- wird zu Schuhcreme, Kosmetika, Dün- reger in nicht mehr nachweisbarer Kon- nauso infektiös wie der Kadaver, der ger und Futter aufbereitet. zentration enthalten ist, haben ein in- vorne reingeschmissen wird.“ Allein in Deutschland stehen 43 riesi- fektiöses Potential. Doch auch die anderen in Europa ge Anlagen zum Zerraspeln von Selbst auf der Milch liegt der Schatten verwendeten Verfahren scheinen den Schlachtabfällen. „Wenn die alle umge- des Verdachts. Zumindest das menschli- Erreger nur ungenügend abzureichern. stellt werden müßten, stünden den Län- che Hirnschwamm-Pendant, der Erreger Exakte Zahlen rückt Brüssel nicht her- dern Milliardeninvestitionen ins Haus“, der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (CJK), aus. Laborversuche ergaben indes, daß sagt der Veterinärmediziner Mields. läßt sich durch Muttermilch übertragen: der Gruselkeim vier Stunden lang Die Briten schützen sich derzeit not- Einer jungen an CJK erkrankten Mutter bei 133 Grad Celsius erhitzt werden dürftig mit einer konfusen Sortiererei. wurde Kolostrum (die erste nach der muß, bis seine Infektionskraft auf Null Jeder Kuh wird der Kopf abgetrennt Schwangerschaft einschießende Mutter- ist. und verbrannt. Fast ein Dutzend ver- milch) abgesaugt und in Mäuse gespritzt. Jedes fünfte Versuchstier verendete. Die messerbewehrten Schlachthofar- beiter kämpfen gegen ein Phantom. Vie- le Rinder sind nur scheinbar gesund, wenn sie mit der Bandsäge zerschnitten werden. Schuld ist die lange Inkubations- zeit bei BSE. „Jedes tausendste in Groß- britannien geschlachtete Tier ist statisti- schen Hochrechnungen zufolge infi- ziert“, sagt der Veterinärmediziner Os- kar-Rüdiger Kaaden. Der Experte von der Tierärztlichen Fakultät der Universität München rät: „Von Kalbsbries würde ich die Finger lassen.“ Die deutschen Konsumenten folgen dem Speisetip. In der Hamburger Merce- des-Benz-Kantine ist Rindfleisch tabu. Studenten in der Uni-Mensa von Hanno- ver müssen auf Gulasch und Rouladen verzichten. Die läppischen Verhandlungsergeb- „Rindfleisch kommt mir nicht auf den Tisch“ nisse aus Brüssel dürften kaum Beruhi-

DER SPIEGEL 23/1994 209 WISSENSCHAFT gung an der Fleischfront bringen. „Wir kolossale Seuchenlawine im Königreich Krankenhäusern mit dem CJK-Erreger bräuchten einen Importstopp“, meint anzustoßen. Skepsis ist angebracht. angesteckt. Hamburgs oberster Fleischbeschauer Der Virologe Heino Diringer vom Die Hauptbetroffenen sind Zwerg- Klaus Schulze. BGA in Berlin glaubt, daß der Hirnzer- wüchsige, denen im Kindesalter ver- Wird Seehofer nun – kurz vor der Eu- störer in der Fauna seit Urzeiten ver- seuchte Wachstumspräparate in die ropawahl – zum nationalen Alleingang breitet war, aber nie entdeckt wurde. Blutbahn gespritzt wurden. Etwa 50 sol- blasen? Der Minister zögert. Noch hofft Seine These: „Es gibt einen unbekann- cher Fälle sind bekannt. er, daß Brüssel einlenkt. Für diese Wo- ten Seuchenpfad aus der Tierwelt.“ Die Der Grund des Desasters: Die Hor- che sind erneut drei EU-Sitzungen an- meisten CJK-Opfer hätten sich durch monmittel wurden aus den Hypophysen beraumt. Diesmal werden die Medizi- Fleischverzehr angesteckt. menschlicher Leichen hergestellt. Die ner, Veterinäre und Epidemiologen den Diringers Verdacht läßt sich begrün- Pharmakonzerne rührten dabei etliche Ton angeben – und der klingt weniger den: Nicht nur bei Schafen, auch bei Hypophysen in Pools zusammen. Ist nur sorglos. Ziegen wird der Hirnzerfall seit 200 Jah- eine Hirnanhangdrüse von einem CJK- Seit fast sechs Jahren ist der Kadaver- ren beobachtet. Amerikanische Wildhü- infizierten Toten dabei, wird die gesam- fraß aus den britischen Futtertrögen ver- ter fanden das Leiden unter Hirschen te Charge zum Todescocktail. bannt. Doch der große Knick in der und Elchen. In den westlichen Industrieländern Seuchenkurve bleibt aus. Jede dritte Auch in amerikanischen, russischen, werden die Präparate mittlerweile gen- BSE-Kuh, die derzeit stirbt, wurde erst finnischen und deutschen Nerzfarmen technisch hergestellt. Doch auch die nach dem Fütterungsverbot vom Juli ist der Keim endemisch („Transmissible Hypophysenzerstampfung ist noch 1988 geboren. Es scheint, als sei die Mink Encephalopathy“). Die Ausbrü- weit verbreitet. Zwischen 1983 und Seuche im Begriff, eine gespenstische che sind äußerst selten; der erste trat vor 1988 lieferten allein Bulgarien und Ru- Eigendynamik zu entwickeln: 45 Jahren auf und tötete alle Zuchttiere. mänien 60 000 Hirndrüsen in den We- sten. Das British Medical Journal berichte- te jüngst über ein „CJK-Risiko bei Bo- dybuildern“. Viele der Muskelmänner würden sich mit Wachstumscocktails aus „Untergrundlabors“ dopen. Dasselbe Problem löst das Fruchtbar- keitsmittel Gonadotropin aus. Allein in Australien starben drei Frauen nach der Hormonkur an CJK. Als weitere Risikogruppe nennt das Fachblatt Lancet Personen, die „Bluttransfusio- nen“ von CJK-infizierten Spendern er- hielten. Auch die moderne Gehirnchirurgie bietet dem Erreger Schlupflöcher. Min- destens 13 Patienten wurden CJK-ver- seuchte Transplantate übertragen. In weiteren zehn Fällen haftete der Erre- ger am Operationsbesteck oder den Sensoren von Elektroenzephalographen – sie waren zuvor CJK-Patienten in den Kälbermastbetrieb im Rheinland: Kadaverbrei statt Milch vom Muttertier Kopf versenkt und, ohne Wirkung, ste- rilisiert worden. i Auf der Versuchsfarm in Exmoor Mit der massenhaften Verbreitung Gefährdet ist auch das Gesundheits- starben vier Rinder an BSE. Die Tie- des Erregers auf britischen Weiden personal. Unter den weltweit dokumen- re fraßen nur Silage und Gras. könnte ein unberechenbares Experi- tierten CJK-Fällen befinden sich zwei i Im Londoner Zoo verendeten im ment begonnen haben. Erstmals ist es Ärzte, zwei Neurochirurgen, ein Patho- letzten Jahr drei Kudus. Keine der dem Exotenkeim gelungen, eine Tierart loge, drei Zahnärzte, zwei Histopatho- Antilopen hatte je Kontakt mit ver- massiv zu durchseuchen. Diese Dröh- logie-Assistenten und zwölf Kranken- seuchtem Futter. nung birgt unzählige Gefahren. schwestern. Auch aus der Schweiz (73 BSE-Fälle) Angesichts des konfusen BSE-Pan- Ständig kramen die Fachblätter neue kommt seltsame Kunde. Detektivisch oramas mahnt Kritiker Kaaden zur Vor- Schreckensfälle hervor. 1982 wurde ei- hat der Berner Experte Beat Hörnli- sicht: „Die bisherigen Schutzmaßnah- nem Mann aus Queensland/Australien mann bei jedem der Tiere nach den In- men reichen nicht aus.“ Auch der Ber- eine Hirnhaut eingepflanzt. Das Trans- fektionsursachen gefahndet. Futter- ner Biochemiker Alex Räber rät den plantat stammte von einem deutschen rechnungen der betroffenen Bauern Deutschen zur Fleischsperre: „Jeder Spender, in dem – unerkannt – der Mor- wurden aufgearbeitet, jeder Milchfar- Kompromiß ist unsinnig.“ bus Creutzfeldt-Jakob geschlummerte mer ins Kreuzverhör genommen. „Bei Wenn der Erreger auf den Menschen hatte. Fünf Jahre später lag der Austra- vier Tieren“, sagt Hörnlimann, „haben übertragbar ist, fürchtet Seehofer, lier im CJK-Koma. wir keine Ansteckungsquelle finden könnte der Menschheit „eine Katastro- Angesichts solch alarmierender Be- können.“ phe unvorstellbaren Ausmaßes“ ins richte nimmt sich die EU-Tarifnummer Seit Einführung der Scrapie-Melde- Haus stehen. 02062210 fast kurios aus. Unter dieser pflicht in England wissen die Forscher Ein Mini-GAU dieser Art hat sich be- Rubrik lieferten die Briten im letzten endlich, wie viele Schafe an Scrapie reits ereignet. Fernab der Viehweiden Jahr 56 Tonnen Rinderleber nach sterben. 1993 waren es 298 Tiere. Dem- konnte sich der Hirnschwamm-Keim in Deutschland. Verwendungszweck: zufolge müßten rund 30 Kilogramm der Hochleistungsmedizin breitmachen. „Herstellen von pharmazeutischen Er- Schafshirn ausgereicht haben, um die Dutzende von Menschen wurden in zeugnissen“. Y

210 DER SPIEGEL 23/1994 „Das Gleichgewicht zwi- Hirnforschung schen seinem Intellekt und seinen animalischen Nei- gungen ist aus dem Lot“, notierte damals sein Arzt Schuß durch John Harlow. 13 Jahre streunte Gage bindungslos und verwahrlost durch den die Seele Wilden Westen. 1861 starb er in San Francisco. Ein Unfall, bei dem eine Stahl- Den Hirndurchschuß, der Gages Charakter lösch- stange einem Arbeiter das Hirn te, haben jetzt Antonio durchbohrte, gibt Aufschluß Damasio, Chef der welt- größten Klinik für Neuro- über das Wesen des Menschen. logie, und seine Frau Han- na in Iowa City mit Hilfe hineas Gage war 25 Jahre alt und eines Computerprogramms ein zuverlässiger Vorarbeiter. Er rekonstruiert. Auf dem Pwar einer der Pioniere, die in den Bildschirm der beiden For- Bergen von Vermont eine Trasse für scher kreist ein gefurchtes, die Eisenbahn durch die zerklüftete lappiges Organ – ein detail- Landschaft sprengten. Seine Aufgabe genaues Abbild jenes Ge- war es, Löcher in den Fels zu bohren. hirns, das vor 146 Jahren Er füllte sie mit Explosivstoff, schüttete von der drei Zentimeter Sand darüber und stampfte die Spreng- dicken Stange durchbohrt sätze mit einer Stahlstange fest. Dann wurde. zündete er die Lunte und rannte in Anhand von Fotos und Deckung. Röntgenbildern vom Schä- An dem Unglückstag, es war der 13. del des Toten gelang es, die September 1848, hatte Gage vergessen, Bahn des Stahlgeschos- Sand in eines der Löcher zu füllen. Er ses exakt nachzuzeichnen: Computer-Rekonstruktion des Gage-Unfalls hämmerte mit der Stange direkt auf Zwischen Jochbein und „Gott spricht durch die Stirnlappen“ den Sprengstoff, ein Funke sprang Oberkiefer drang die Stan- über, die Stahlstange schoß dem Arbei- ge ins Gesicht, verletzte das linke Au- gen der grauen Substanz im Schä- ter durch Wange, Hirn, Schädel und ge und durchstieß rechts oberhalb der del. dann wieder ins Freie. Viele Meter ent- Nasenwurzel die Stirn. Der quirlige Damasio und seine Frau fernt schlug das stählerne Projektil auf Mit der Abspeicherung im Computer setzen damit ein wissenschaftliches den Fels. ist Phineas Gage damit zu einem von Großprojekt fort, mit dem ihre Vorgän- Zur Verblüffung der Männer in sei- mehr als 1500 Fällen geworden, die ger vor rund 150 Jahren begonnen ha- nem Bautrupp richtete sich ihr derart das amerikanische Forscher-Ehepaar ben, gerade zu jener Zeit, als John Har- durchbohrter Vormann wieder auf. Er untersucht und zu einer Art neurologi- low in einer amerikanischen Medizin- war benommen, aber er redete noch. schem Gruselkabinett versammelt hat. zeitschrift die Lebensgeschichte des Gestützt auf seine Leute, schaffte er es Jede der Krankenakten erzählt die Ge- Bahnarbeiters Gage veröffentlichte. bis in eine Schenke. Dort fiel er ins schichte einer ungewöhnlichen Verhal- Schon damals waren den Nervenärz- Bett. tensstörung, eines bizarren Sprachaus- ten Patienten mit Schäden im linken Nach einigen Wochen erholte sich falls, eines seltenen Sehfehlers – alle- Schläfenbereich aufgefallen: Sie konn- der Mann mit dem Loch im Schädel. samt zurückzuführen auf Beschädigun- ten redegewandt daherfabulieren, doch Doch bald mußten seine der Wortschwall ergab Freunde feststellen, daß der nichts als Unsinn. Lag die Genesene mit dem Phineas Verletzung etwas weiter Gage, den sie kannten, nicht vorn, konnten die Patienten viel mehr als das Äußere ge- nur noch mühsam radebre- mein hatte. chen, doch ihr Gestammel Er hörte, roch und fühlte hatte noch einen Sinn. wie ehedem. Ein Auge hatte Bald hatten die Hirnana- er bei dem Unfall verloren, tomen auf diese Weise ganze doch mit dem anderen konn- Seelenatlanten entworfen. te er sehen wie zuvor. Seine Das Sprachverständnis orte- Intelligenz hatte nicht gelit- ten sie im linken Schläfen- ten, er sprach flüssig und lappen, die Spracherzeu- klar, er verstand alles, sein gung hingegen im linken Gedächtnis war unbeein- Stirnlappen; das Sehen im trächtigt. Aber aus dem ver- Hinterkopf, Bewegen und antwortungsbewußten Vor- Fühlen unter dem Schädel- arbeiter, einem umgängli- dach, das Hören hinter der chen und beliebten Kerl, Schläfe. war ein unflätig schimpfen- Je weiter sich die Forscher der, launischer Zeitgenosse jedoch in Richtung Stirn vor- geworden. Forscher-Ehepaar Damasio: Fahndung nach dem Sitz der Liebe tasteten, um so komplexer

DER SPIEGEL 23/1994 211 WISSENSCHAFT und verworrener wurden die Aufgaben, Menschen läßt sich als schrittweise Ver- Dadurch seien jene Teile des Fron- die dort verborgen lagen. Fälle wie die stirnung darstellen. „Falls Gott zum talhirns unversehrt geblieben, die beim des Bahnarbeiters Gage zeigten, daß Menschen spricht“, so meinte die US- Menschen für komplexe Verarbeitun- sich hier offenbar Zentren befanden, die Neurobiologin Candace Pert, „dann ge- gen von Sprache, komplizierte logische mit schwer definierbaren Eigenschaften schieht es durch die Stirnlappen.“ Schlußfolgerungen und räumliche wie sozialem Verhalten und Charakter Fälle wie derjenige des Bahnarbeiters Wahrnehmung zuständig sind. zu tun hatten. Hier schienen Pläne ge- Gage zeigen, daß das Geheimnis des Der eng umgrenzte Schaden in Ga- schmiedet und Entscheidungen gefällt Stirnhirns weder in der Intelligenz noch ges Kopf betraf genau die Stelle, an der zu werden – doch klare Trennlinien zwi- in der Sprache liegt. Das Wesen des Emotionen aus tiefer gelegenen Hirnre- schen diesen Funktionen waren nicht zu Menschen, so läßt sich schließen, liegt gionen (dem limbischen System und finden. in seinen sozialen Fähigkeiten. dem Hypothalamus) in die Großhirn- Gerade dieser Teil des Hirns gilt in- Jetzt ist es das Ziel des Forscher- rinde eingespeist werden. Wenn diese zwischen als Inbegriff des Menschli- Ehepaars aus Iowa, im Stirnhirn ver- Vermutung sich bestätigt, wäre das chen: Das Stirnhirn von Ratten ist win- schiedene Funktionen voneinander ab- Forscherpaar dem Zentrum des Men- zig. Bei Katzen macht es gerade 3,5 Pro- zugrenzen. Die Rekonstruktion von schenwesens auf der Spur: dort, wo zent der gesamten Großhirnrinde (Cor- Gages Kopfdurchschuß soll dabei ein menschliche Regungen wie Liebe, Ver- tex) aus. Bei Schimpansen steigt sein Schlüssel sein: Durch Zufall, so glau- läßlichkeit und Scham ihren Ursprung Anteil auf 17 Prozent. ben die Damasios herausgefunden zu haben. Y Hinter der hohen Stirn des Menschen haben, wurde bei dem Unglück nur ei- schließlich verbergen sich 29 Prozent ne kleine Rindenregion ganz vorn im des Gesamtcortex: Die Evolution des Hirn zerstört. Raumfahrt Tochter der Erde Europas Raumfahrtmanager planen eine bemannte Mondstation – warum nur?

er kleine Hopser, mit dem Neil Armstrong am 20. Juli 1969 von D der unteren Sprosse der Ausstiegs- leiter den Mond betrat, von ihm selbst als „großer Schritt für die Menschheit“ apostrophiert, ging ziemlich folgenlos in die Annalen der Weltraumfahrt ein. Zehn weitere amerikanische Astro- nauten sind Armstrong und seinem Ko- Hirnregionen Areale, in denen sich Radioaktivität piloten Edwin Aldrin nachgefolgt. Sie anreichert, läßt sich in Computer- sammelten Staub und Steine auf dem bildern sichtbar machen, welchen Erdtrabanten, brachten Bohrlöcher nie- Teil seines Gehirns der Proband je- der und installierten Meßinstrumente. Lichtblitze weils aktiviert. Mit dem „Mondrover“ kurvten sie Mit dieser sogenannten Positro- durch lunare Landschaften und verknip- nen-Emissions-Tomographie konnte sten Hunderte von Filmmetern – das im Kopf Grafman zeigen, daß sich ein letzte Mal im Dezember 1972, als das Schach-Spielzug in drei verschiede- Astronautenduo Eugene Cernan und registrierte der amerikanische Neu- ne Phasen aufteilen läßt. Erst flak- Harrison Schmitt über den Mond rologe Jordan Grafman auf seinem kern die Areale der Sehrinde auf: hüpfte. Computer: Mit einem speziellen Der Spieler nimmt die Figuren, ihre In den 22 Jahren seither hat keines Verfahren gelang es ihm, sichtbar Farben und ihre Positionen im Menschen Fuß mehr den Erdtrabanten zu machen, welche Regionen des Raum wahr. betreten. Erst jetzt wird das Interesse Gehirns bei einem Schachspieler Im linken Schläfenlappen sind die wieder wach. Diesmal sind es die Euro- nacheinander in Aktion treten, Spielregeln gespeichert, die im päer, die von der Eroberung des Mon- während er auf einen gegnerischen zweiten Schritt aufgerufen werden. des träumen. Zug reagiert. Für das Experiment, Dann beginnt die dritte und an- Anfang vergangener Woche trafen über das Grafman im Fachblatt Na- spruchsvollste Phase des Zugs: Die sich im schweizerischen Kurort Beaten- ture berichtete, wurde zehn turnier- Planung etwa von Abzugsmatt, berg Experten der Europäischen Welt- reifen Schachspielern radioaktiv die vorausschauende Abschätzung raumorganisation Esa mit Kollegen aus markierter Zucker injiziert. Der der Gefahr durch die feindliche Rußland, Japan und den USA. Vier Ta- Blutstrom transportiert den Zucker Dame oder die Vorbereitung einer ge lang erörterten die 140 Wissenschaft- je nach Bedarf in verschiedene Rochade vollziehen sich im Stirn- ler das Esa-Programm für den Bau einer Hirnregionen. Durch Messung der hirn. bemannten Mondbasis. In drei Schritten, so glauben die Esa- Planer, könne bis zum Jahr 2020 die

212 DER SPIEGEL 23/1994 TECHNIK

Esa-Entwurf für Mondstation: Sauerstoff aus dem Gestein?

„erste Außenstelle des Menschen“ auf staaten, möchten sich die Esa-Manager dem Mond vorbereitet werden: ihre Pläne und den dafür notwendigen i Zunächst sollen mondumkreisende Etat absegnen lassen. Stimmen die Mit- Satelliten und fernsteuerbare Mond- gliedsländer zu, könnte nach einer Vor- fahrzeuge die auf dem Mond vorhan- bereitungszeit von weiteren acht Jahren denen Rohstoffe erkunden; der erste europäische Mondorbiter ge- i in der zweiten Phase würden Mehr- startet werden. zweckroboter auf dem Mond abge- 25 Milliarden Dollar haben die USA setzt. Sie sollen Gesteinsproben ent- in den sechziger und siebziger Jahren für nehmen und chemisch analysieren, das Programm der bemannten Mondflü- ferner die Oberfläche des Mondes ge („Projekt Apollo“) ausgegeben, an vermessen und erste lunare Radio- dem zeitweise rund eine halbe Million astronomiestationen einrichten; Techniker beteiligt waren. Doch der i danach sollen andere Roboter, zum Rückblick auf diese gigantische An- Beispiel indem sie Sauerstoff aus dem strengung schreckt die europäischen Mondgestein freisetzen, die Voraus- Raumfahrtmanager nicht. setzung für den späteren Dauerauf- Die neuen Mondvorhaben, so versi- enthalt von Menschen auf dem Erd- cherte Esa-Wissenschaftsdirektor Ro- trabanten schaffen. ger Bonnet in Beatenberg, ließen sich Mitte nächsten Jahres, bei der dann mit der in Europa verfügbaren Raum- fälligen Ministertagung der Mitglieds- fahrttechnologie und im finanziellen Rahmen „des regulären wissenschaftlichen Esa- Programms“ ansteuern. Bonnet: „Wir können schon morgen mit der er- sten Phase beginnen.“ Aber warum sollten die Europäer aufbrechen zu jenem „langweiligen und staubigen Ort bar jeder außerirdischen Lebens- form“, als den auch Bonnet den Erdtrabanten identifiziert hat? Mit der Rechtfertigung der neuen Mondsucht tat sich der Esa-Direktor schwer. In blumigen Worten be- schwor er kosmische Ent- deckerleidenschaft und er- hob den Mond zu einer „Tochter der Erde“, deren weitere Erforschung – diesmal durch die Europä- er – den „kulturellen und

* Beim Verlassen der Mondfäh- US-Astronaut Aldrin*: Folgenlos für die Menschheit? re im Juli 1969.

DER SPIEGEL 23/1994 213 TECHNIK wirtschaftlichen Standard aller Erdbe- tige, aggressive Kre- wohner“ erhöhen werde. sollösung ins Erdreich Nach dem Willen der Esa-Manager sickerte, kamen den sollten die ersten fünf Jahre des näch- Beamten die Tränen. sten Jahrtausends gar zu „Internationa- Einige von ihnen muß- len Mondjahren“ erklärt werden – eine ten mit Schleimhaut- Art Pausenfüller zwischen dem Ausset- reizungen ins Kran- zen einer internationalen Raumstation kenhaus gebracht wer- (deren Bau mangels Konzept und Fi- den. nanzierung allerdings zunehmend fragli- Leichtsinn und Pro- cher wird) und der geplanten Landung fitgier hatten den Jam- von Menschen auf dem Mars. mer programmiert, Doch die dürftigen praktischen Er- dem am 17. Mai ver- gebnisse, die Dutzende von Apollo-, So- gangenen Jahres eine jus-, Mir- und Shuttle-Besatzungen bis- lokale Umweltver- lang von ihren Weltraum-Ausflügen zu- seuchung und eine rückbrachten, lassen am verheißenen stundenlange Sperrung wissenschaftlichen und wirtschaftlichen der Autobahn Berlin– Wert der Esa-Mondfahrt zweifeln. Hamburg folgte. Nutznießer eines solchen Programms Schnellen Gewinn wit- wäre einzig die – derzeit von weiteren ternd, hatte der Spedi- Lkw-Unfall, Zyankali-Fässer*: Gift sickert ins Erdreich Budgetstreichungen bedrohte – europäi- teur 80 in einen für 72 sche Raumfahrtindustrie. Würde ihr Fässer ausgelegten Container laden las- bärchen und überschwemmt den Lade- Wunsch nach neuerlichen Mondexpedi- sen. Um die überzähligen Behälter un- raum. Wenig später zieht der unschein- tionen erfüllt, deren Gesamtkosten bis- terzubringen, war an der polsternden bare Mischtransport eine farbige Spur her niemand abschätzen kann, ließen Umpackung gespart worden. Dermaßen über den Asphalt. sich auf Jahre hinaus die jetzt gefährde- unprofessionell verstaut, sollte die ge- Um solche Ärgernisse zu vermeiden, ten Arbeitsplätze sichern. Y fährliche Ladung zum Hamburger Ha- stellen die Kögel-Fahrzeugwerke in Ulm fen und von dort mit dem Schiff weiter jetzt den ersten Lkw für Stückguttrans- nach Syrien gelangen. Doch die Reise porte her, der im Notfall dicht hält. So- Automobile endete nach wenigen Stunden. Die Fäs- gar wenn er umkippt, läßt der allseitig ser stießen während der Fahrt aneinan- geschlossene Auflieger laut Hersteller- der und schlugen teilweise leck. angaben keine Flüssigkeit ins Freie. Schlechte Überwachung der ohnehin Damit innen auch hoch aufgetürmte Farbige Spur nicht allzu strengen Vorschriften macht Ladung nicht umherkugelt wie der In- solchen Unfug möglich. Viele Spediteu- halt einer Lottomaschine, wurden vier Ein neuer Lkw soll Stückguttrans- re müssen nur dann einen „Gefahrgut- verstellbare Trennwände aus Leichtme- porte sicherer machen. Noch beauftragten“ einstellen, wenn sie pro tall eingezogen, die sich mit wenigen Jahr mehr als 50 Tonnen Risikofracht Handgriffen so um die Ladung schließen immer fehlen strenge Richtlinien durchs Land bewegen. lassen, daß sogar übereinandergestapel- vom Gesetzgeber. Noch immer dürfen gefährliche te Fässer nicht umkippen können. Stückgüter, etwa Fässer mit giftigen Läuft trotzdem giftige Soße aus den Lacken, neben Lakritztüten in Blech- Fässern, wird sie nach dem Prinzip man- chlecht gerüstet erreichten die Poli- containern oder auf gewöhnlichen Pla- cher Herrentoiletten in seitlichen Rin- zisten den Parkplatz. Bei Gudow, nenlastwagen einherrollen. Hauptsache nen aufgefangen. Feuchtigkeitssensoren Snahe dem ehemaligen Grenzüber- die jeweiligen Güter sind getrennt ver- schlagen darauf Alarm. Dem Fahrer gang zwischen der Ex-DDR und Schles- packt. Mancher Bottich mit toxischem bleibt genug Zeit, die Feuerwehr mit wig-Holstein, standen zwei Container- Inhalt purzelt dann bei einem unvermit- der Entsorgung zu beauftragen. lastwagen und verloren einen Teil ihrer telten Bremsmanöver in die Kartons, flüssigen Ladung. Während die hochgif- zerquetscht eine Kolonie von Gummi- * Auf der Autobahn Münster–Bremen.

Neuer Sicherheits-Lkw, mobile Trennwände: „Die wenigsten Spediteure sind Verbrecher“

214 DER SPIEGEL 23/1994 WISSENSCHAFT

Erdacht und konzipiert wurde der Rätsel: Fu Manchu brach die Tür zum Stunden bringen die eigenbrötleri- wasserdichte Auflieger von dem Krefel- Affenkäfig nie gewaltsam auf, das schen Tiere damit zu, in Vorhänge- der Spediteur Ulrich Bönders, 49, der Schloß war unversehrt. Bei der Durch- schlössern herumzustochern oder seit 30 Jahren Chemikalien der Bayer suchung des Käfigs wurde nichts ent- Schrauben aus der Wand zu pulen; sie AG transportiert. In einem vierjährigen deckt, womit Fu Manchu das Schloß geben erst Ruhe, wenn sie alles, was Praxistest erprobte seine Spedition auch hätte knacken können. Hier sei, meinte sich auseinandernehmen läßt, zerlegt den ersten Prototyp, gebaut von den entnervt ein Wärter, „der Entfesse- haben. Kässbohrer-Werken in Ulm, deren lungskünstler Houdini in Affengestalt In deutschen Tiergärten werden die Nutzfahrzeugprogramm mittlerweile wiedergeboren worden“. Behausungen der Menschenaffen des- weitgehend im Besitz der Fahrzeugwer- Erst eine Leibesvisitation brachte ans halb mit Sicherheitsschlössern verrie- ke Kögel ist. Licht, wie der Dauerflüchtling ins Freie gelt. Von Ausbrüchen ist bislang nichts Scheitern kann das einleuchtende gelangt war: Zwischen Lippe und Zahn- bekannt. Die US-Zoos hingegen errich- Konzept allenfalls am Preis. Knapp fleisch verbarg der Affe ein Stück ten immer spektakulärere Freigehege, 100 000 Mark wird Kögel für den Sicher- Draht, das er zu einem Dietrich zurecht- die den natürlichen Lebensraum der heitsauflieger verlangen, fast doppelt gebogen hatte. Fu Manchu (der vor eini- Tiere imitieren sollen; damit wachsen soviel wie für ein gewöhnliches Gefährt gen Monaten an Altersschwäche starb) die Chancen der findigen Affen, eine gleicher Größe. Von staatlichen Vor- war keine Ausnahme. Orang-Utans gel- Lücke in der Absperrung aufzuspüren. schriften wird der Wagen in absehba- ten als Ausbrecherkönige in den Zoos. Im letzten Sommer entkam ein rer Zeit nicht profitieren. Hoffen kann Vor allem in amerikanischen Tiergärten Orang-Utan-Weibchen aus dem Zoo Kögel nur auf Initiativen der Indu- von San Diego, indem es strie. eine künstlich angelegte Weil Gefahrgut-Unfälle auch den Ruf Felswand emporkraxelte. der Chemiebranche besudeln, will Bay- Im Zoo von Oklahoma er seinen Spediteuren die Benutzung wurden Bergsteiger ange- der Kögel-Wagen vorschreiben. „Unse- heuert: Die Klettermaxen re Logistikpartner werden bei Neuan- sollten probehalber versu- schaffungen auf dieses Fahrzeug zurück- chen, die steilen Absperr- greifen müssen, wenn sie auch morgen mauern zu überwinden (sie noch unsere Partner sein wollen“, er- scheiterten). klärte Bayer-Verkehrsexperte Alfred Orang-Utans bauen sich Endlicher vergangenen Mittwoch bei Brücken aus Ästen, um der Präsentation des Aufliegers in breite Wassergräben zu Bonn. überqueren. Manche Affen Eingeschworenen Lastwagenfreun- testen routinemäßig, ob die den kommt das neue dichte Fuhrwerk Elektrozäune, mit denen gerade recht, um den Ruf der vielge- ihre Freigehege umspannt scholtenen Brummi-Branche aufzubes- sind, wirklich unter Span- sern. So wetterte der Kölner Schriftstel- nung stehen; einen Strom- ler und Lkw-Journalist Jan Bergrath, ausfall nutzen sie sofort für 36, anläßlich der Kögel-Premiere vehe- einen Abgang. ment gegen Pauschalattacken auf das Im Zoo von Atlanta gab Transportwesen: „Die wenigsten Spedi- es einen offenbar masochi- teure sind Verbrecher“, behauptet der stisch veranlagten Orang- rheinische Schwerlast-Poet, „und die Utan, der die Stromschläge wenigsten Fahrer Idioten.“ Y sogar genoß. „Als er den Draht berührte, signalisier- te sein Gesichtsausdruck: Tiere Ja, ich mag es, mehr da- von“, berichtet Zoodirek- tor Terry Maple. „Mit ei- Orang-Utan im Zoo: „Echt clever“ nem solchen Orang-Utan Gnadenlose hat man ein Problem.“ häufen sich, wie das Wall Street Journal Während zum Beispiel ausgebroche- kürzlich berichtete, Fälle, bei denen die ne Löwen unsicher und verängstigt um- Geduld Menschenaffen aus den „Tier-Knästen“ herirren, gelten männliche Orang-Utans (so radikale Tierschützer) trickreich das in der Freiheit als unberechenbar. Sie Die Wärter im Zoo fürchten Weite suchen. greifen gelegentlich die Tierpfleger und ihn als König der Ausbrecher: „Die Brüder sind echt clever“, bestä- womöglich auch Unbeteiligte an, mit ih- tigt der Direktor des Dresdner Zoos ren Kiefern können sie kraftvoll zubei- den Orang-Utan. Hubert Lücker, „ich kenne Orang- ßen. Auch werfen die wilden Affen Utans, die können traumwandlerisch Stöcke und Steine auf jeden, der ihnen u Manchu war ein Nachtschwärmer. mit Schlüsseln umgehen.“ zu nahe kommt. In aller Ruhe wartete er ab, bis die Auch Schimpansen hantieren ge- Zwecklos, sich auf einen Kampf ein- FWärter ihren abendlichen Rund- schickt mit Werkzeugen; doch die hekti- zulassen. Die 80 Kilogramm schweren gang beendet hatten; dann ging der schen Fummler verlieren schnell die Ge- Tiere hangeln sich in ihren heimatlichen Orang-Utan stiften. Erst am Morgen duld. Ihre rotbepelzten Vettern hinge- Regenwäldern auf Borneo und Sumatra wurde der haarige Herumtreiber wieder gen sind bedächtige Gemütsaffen: mühelos von Ast zu Ast. Für diesen eingefangen. So ging das tagelang. „Orang-Utans haben eine gnadenlose Kraftakt sind sie mit Oberarmen ausge- Die Tierpfleger im Zoo von Omaha Geduld“, beobachtete Bernd Schildger, stattet, wie Arnold Schwarzenegger sie (US-Staat Nebraska) standen vor einem der Tierarzt des Frankfurter Zoos. besitzt. Y

DER SPIEGEL 23/1994 215 SPORT

Formel 1 IM NETZWERK DER GESCHÄFTE Überlegen steuert Michael Schumacher in seinem Benetton-Rennwagen auf die Weltmeisterschaft zu. Die Dominanz des Teams ist das Ergebnis einer kühlen Marketingstrategie. Die Rennsiege, glaubt , verleihen seinem expandierenden Sport- und Modekonzern technologische Kompetenz.

agerfeld hat Claudia Schiffer, Lan- hoher Preis“, doch die daraus coˆme hat Isabella Rossellini, und Be- gezogenen Konsequenzen Lnetton hat Michael Schumacher. würden die Rennen noch si- Den schönen Frauen gleich gilt auch der cherer machen. Er persönlich schnelle Mann aus Kerpen alsIdealbeset- sehe eine „lange und fruchtba- zung in der Verkaufsförderung. re Zukunft in der Formel 1“. Wie der Rennfahrer auf dem Siegerpo- Die Gefahr, erklärt Teamma- dest seine Freude zu zeigen versteht, nager Flavio Briatore, 43, la- schwärmt die PR-Chefin seines Arbeitge- konisch, liege in der Natur der bers, decke sich perfekt mit dem Mar- Sache: „Wer mit Tempo 300 in kenimage: „Er ist jung und glücklich, ag- eine Mauer fährt, stirbt. Die gressiv und enthusiastisch, und er ist ein Fahrer kennen das Risiko. Sie Winner.“ Kurzum: Er ist so, wie sich der werden dafür bezahlt.“ Benetton-Kunde angeblich fühlt, wenn Die Benettons, die sich so er die Strickmode übergestreift hat. gern als Apostel wider die Daß Schumacher, 25, nicht nur von Heuchelei gerieren, können Sieg zu Sieg eilt, sondern auch als Inter- sich ihre brutale Ehrlichkeit pret einer gewinnorientierten Weltan- leisten. Für eine Firma, die mit schauung taugt, fügt sich trefflich in die Friedhofskreuzen, Mafia-Op- Strategie des ungewöhnlichsten Renn- fern und dem elektrischen stalls der Formel 1: „Wir wollen kommu- Stuhl wirbt, bedeuten die To- nizieren.“ ten von Imola sogar eine un- Hilflos müssen etablierte Teams wie freiwillige Fortsetzung ihrer Ferrari, McLaren oder Williams zuse- Schockkampagnen. Hausfoto- hen, wie sie von einem Textilfabrikanten graf Oliviero Toscani habe im- geschlagen werden. Die Dominanz des mer nur die Realität abgebil- himmelblauen Gefährts, Schumacher det, nie die Illusion. Auch in steuert unangefochten die Weltmeister- der Formel 1 bedeute der Tod schaft an, kommt einer wirtschaftlichen Realität, „Hundert Prozent Si- Grand-Prix-Sieger Schumacher Revolution gleich – so als würde eine cherheit“, so Briatore, „ist ei- „Jung, glücklich, aggressiv“ Großmolkerei plötzlich Videokameras ne Illusion.“ produzieren und die Marktführerschaft Der Verbleib in der Formel 1 war für Rennstall und nannte ihn Benetton For- übernehmen. Benetton mithin ethisch unbedenklich mula Limited. Publizistisch war der Mit anderem Denken und neuen Me- und wirtschaftlich notwendig – viel zu Konzern damit nicht mehr einer von vie- thoden hat Benetton die Formel-1-Kon- eng ist die Rennerei ins Netzwerk der len Sponsoren, sondern ein Hersteller, kurrenz überholt. Nicht Rennfieber, son- (Umsatz 1993: 2,8 Mil- der fortan in allen Ergebnismeldungen dern Ratio bestimmt das Handeln; das liarden Mark) eingebunden. Toscanis genannt wurde. Team dient als Marketinginstrument ei- Bilder wollen Kommunikation sein, In der Branche galt die bunte Truppe nes weltweit operierenden Sport- und als Popteam, in dessen Box während der Modekonzerns. Arbeit immer laute Musik aus Ghetto- Sogar die Sinnkrise, in die der Grand- „Die Fahrer kennen blastern hallte. Der nach der Philoso- Prix-Zirkus nach zwei tödlich verun- das Risiko. Sie phie der Textilshops maßgeschneiderte glückten Rennfahrern zuletzt stürzte, Rennstall mußte von der Konkurrenz kann dem Unternehmen nichts anhaben. werden dafür bezahlt“ nicht ernstgenommen werden; für Lu- Was in anderen Vorstandsetagen betei- ciano Benetton war er der unrentabelste ligter Firmen zu beträchtlichen Irritatio- „pur und simpel“. Schumachers Auto Geschäftszweig seines Imperiums. nen führte, wurde bei Benetton mit smar- kann viel mehr. Als Motorenlieferant Ford dem er- ter Diplomatie zu einer kleinen Betriebs- Gewöhnliche Reklame war es nur am folglosen Partner androhte, für seine bis störung heruntergeredet. Es ist Ernte- Anfang. 1983 fuhr erstmals ein Rennwa- dahin kostenfreien Maschinen künftig zeit, da will man sich durch nichts vom Er- gen mit dem Benetton-Logo. Nach drei Rechnungen zu schreiben, reagierte der folgsweg abbringen lassen. Jahren stoppte Firmenchef Luciano Be- Patron: Er feuerte den rennverliebten „Die Tragödie von Imola“, kommen- netton die teure Werbung. Er kaufte Teammanager Peter Collins und ersetz- tiert Alessandro Benetton, sei zwar „ein den maroden englischen Toleman- te ihn 1989 durch einen Kaufmann: Fla-

216 DER SPIEGEL 23/1994 hohen gelben Backöfen, sogenannten Autoklavs, erhalten sie jene Steifigkeit, die viele Piloten, zuletzt Ayrton Senna und Roland Ratzenberger, mit einer Überlebensgarantie verwechselten. Im Obergeschoß entwerfen allein 35 Ingenieure am Zeichenbrett oder im Computer ständig neue Rennwagentei- le. Abteilungsleiter Ross Brawn, 39, führt die momentane Überlegenheit des Benetton-Fahrzeugs auf „die hohe Inge- nieurskapazität und die klare Organisa- tionsstruktur“ zurück: „Es gibt keine Entschuldigung. Wir sind mit allen Res- sourcen ausgestattet, um Weltmeister werden zu können.“ Daß der enorme Aufwand absurd ist, weiß jeder in Enstone. Und doch fällt es Briatore leichter, die Investitionen zu rechtfertigen, als den Chefs von McLa- ren oder Williams, für die der Technolo- gieprotz Selbstzweck ist: „Formel 1 ist der härteste Sport der Welt“, sagt Bria- tore, „wenn wir in diesem für uns frem- den Geschäft wettbewerbsfähig sind, er- kennt der Kunde: Alles was Benetton anpackt, funktioniert.“

Rennwagenfabrik in Enstone, Teammanager Briatore: „Alles, was Benetton anpackt, funktioniert“ vio Briatore. Der Lehrersohn aus Cu- wurden angeworben und schließlich der Technische Kompetenz zu beweisen, neo bei Turin hatte zwar keinen Schim- Nachwuchspilot Schumacher. gilt als gebotene Strategie, seit der Tex- mer vom Motorsport, jedoch eine Tu- Die technische Aufrüstung fand Ende tilgigant in die industrielle Sportwelt gend, so bemerkte das Ford-Manage- 1992 mit dem Bezug eines 20 Millionen eingedrungen ist. Elf Firmen, darunter ment, die in der Formel 1 selten sei, Mark teuren High-Tech-Neubaus in En- Prince (Tennisschläger), Kästle (Ski, „gesunden Menschenverstand“. stone nahe Oxford ein vorläufiges Ende. Fahrräder) und Nordica (Skischuhe), Briatore war Skilehrer, Kellner und Dort sind knapp 200 Angestellte mit sind unter dem Dach der Benetton Restaurantchef, ehe er für Luciano An- nichts anderem befaßt, als zwei Renn- Sportsystem inzwischen vereint. Umsatz fang der achtziger Jahre das Benetton- wagen zu entwickeln und zu bauen: 1993: eine Milliarde Mark. Vertriebsnetz in den USA aufbaute. Bis Kein Ölfleck stört die klinische Ästhetik Das ehrgeizige Unternehmensziel, heute hält er die Formel 1 „für ein Ge- dieses Silicon Valley in den englischen 1995 der fünftgrößte Sportartikelanbie- schäft wie jedes andere“, das er „ohne Midlands: Alle Techniker tragen blüten- ter zu sein, verkündet Benetton mit der Emotion“ betreibe. Der Unterschied: weiße Kittel, für die Ingenieure gilt Kra- offensivsten PR-Politik aller Rennställe. Statt in Vierteljahresbilanzen müsse er wattenzwang. Auf den Büroschränken Während sich die Konkurrenz auf dürre über seine Arbeit bei jedem Rennen Re- stehen die schönen Fotos der multi-kul- Kommuniques beschränkt und ihre chenschaft ablegen. ti-kids aus der hauseigenen Textilwer- technischen Heiligtümer von Body- Unter Briatore wurde der Etat jedes bung; die Bilder des mit Öl verklebten guards abschirmen läßt, sind Fotografen Jahr um 20 Prozent aufgestockt, vor al- Vogels oder des Aids-Kranken haben bei Benetton stets willkommen. lem personell stärkte er das Team. Erst hier keinen Platz. Mit immer neuen Aktionen werden kam Ex-Weltmeister als Im Clean Room, einem staubfreien scheinbare Nachrichten arrangiert: Am Fahrer, dann der ehemalige Jaguar- Labor, das mit konstant 18 Grad tempe- nächsten Wochenende veranstaltet die Rennleiter Tom Walkinshaw als Techni- riert ist, werden die Autoteile aus Koh- Benetton-Tochter Ektelon am Rande scher Direktor, vier Top-Ingenieure lefaser und Kevlar geformt. In manns- des Grand Prix von Kanada ein

DER SPIEGEL 23/1994 217 Racquetball-Turnier, in Silverstone startet zum Wohle von Kästle ein Rad- rennen, in Estoril gibt es Beachvolley- ball (Killer-Loop-Sportbrillen), in Mon- za wird mit Prince-Schlägern Tennis ge- spielt. Und immer dabei: Michael Schu- macher. Die damit praktizierte Entfernung vom Motorsport geschieht mit Absicht. „Mich interessieren nicht die 30 000 Rennfreaks eines Autoblattes“, sagt Briatore, „ich will die Leser der großen Wirtschafts-, Lifestyle- und Frauenma- gazine erreichen.“ Etwa 3 Millionen Pfund (7,4 Millio- nen Mark) zahlt Benetton Sportsystem als Team-Sponsor. Neben publizisti- scher Schützenhilfe können die Marken auch Synergieeffekte nutzen. Immer häufiger holen sich Nordica- oder Käst- le-Techniker in Enstone Rat. Für den nächsten Winter kündigt Kästle einen „revolutionären Ski“ an, der dank For- mel-1-Materialien Schläge besser absor- bieren soll. „Nur so amortisiert sich das Investment“, sagt Briatore. Statt wie üblich den Etat zu steigern, will der graumelierte Piemonteser, der sich täglich von seinem Chauffeur in ei- nem dunklen S-Klasse-Mercedes von London ins Werk bringen läßt, 1994 erstmals die Kosten des Rennstalls um fünf Prozent auf nunmehr 25 Millionen Pfund (62 Millionen Mark) senken. Mehr als die Hälfte davon steuert der Hauptsponsor, eine japanische Zigaret- tenmarke, bei. Wenn er erklären soll, wie er ausge- rechnet Formel-1-Ingenieuren das Spa- ren beigebracht hat („Es gibt vier Teams, die mehr Geld als wir ausge- ben“), greift Briatore zu einer Kladde, in der jeder Arbeitsschritt auf den Tag genau geplant ist. „Warum muß ein Au- to erst wenige Wochen vor dem Start fertig werden?“ fragte er seine Techni- ker und verlangte ein Umdenken. „Ein Teil“, so Briatore, „für das ein Zuliefe- rer drei Wochen Zeit hat, kostet 5 Pfund. Wenn er bis übermorgen fertig sein muß, verlangt er einen Formel-1- Express-Zuschlag – von 25 Pfund.“ Nur bei Schumacher mußte der Fi- nanzchef seine Leitlinie verlassen. Der Deutsche, von mehreren Teams umwor- ben, verdient in den nächsten drei Jah- ren rund 30 Millionen Mark. Einen Teil des Fahrergehalts hofft Briatore durch antizyklisches Verhalten zu verdienen. In Zeiten, in denen ande- re an der Formel 1 zweifeln, setzt er auf Expansion. „Ein Getriebe entwickeln kostet zwei Millionen Pfund.“ Warum, fragte er, sollen von diesem Geld nicht zwei Teams profitieren? Als gehe es um die Kapazitätsausla- stung einer Strickfabrik, erwarb Briato- re jetzt auch den französischen Renn- stall Ligier: „Einmal zahlen und doppelt kommunizieren.“ Y

218 DER SPIEGEL 23/1994 SPORT

Schwimmen „Wir waren Versuchskaninchen“ Interview mit Rica Reinisch und Catherine Menschner über Spätfolgen von Doping und Trainingsqual

SPIEGEL: Frau Reinisch, Frau Men- schner, wie geht es Ihnen? Reinisch: Nicht besonders. Ich muß in wenigen Tagen wegen einer Zyste ins Krankenhaus. Sie muß so schnell wie möglich entfernt werden, weil sie auf sechs Zentimeter angewachsen ist. Menschner: Erst heute habe ich eine komplizierte Untersuchung hinter mich gebracht. Dabei wurde festgestellt, daß die Lungenflügel übermäßig vergrößert sind. Ich habe bis jetzt sieben Lungen- entzündungen gehabt und ich muß mit weiteren rechnen. Außerdem ist vor ein paar Wochen mein Immunsystem zum zweitenmal zusammengebro- chen. SPIEGEL: Vermuten Sie einen Zusam- menhang mit Ihrem Hochleistungstrai- ning? Reinisch: Unbedingt. Mit 14 Jahren litt ich unter chronischen Eierstockentzün- dungen. Die wurden mit Antibiotika behandelt, damit ich fix wieder trainie- ren konnte. Schon ein Jahr zuvor hatte Sportopfer Reinisch, Menschner: „Da geht dir die Galle über“ ich die Anti-Baby-Pille schlucken müs- sen, damit sich die Menstruation regel- Die Karrieren stieg auf zu „Honeckers Goldfisch“ mäßig einstellte. Frauenärzte, die ich (Bild). Bei den Olympischen Spielen heute aufsuche, sehen einen eindeuti- von Rica Reinisch und Catherine Men- 1980 in Moskau gewann die damals gen Zusammenhang zwischen den da- schner begannen Anfang der siebziger 15jährige Rückenspezialistin drei maligen Maßnahmen und meinen heu- Jahre in der Kinder- und Jugendsport- Goldmedaillen. Bald danach erklärte tigen Problemen. schule „Arthur Becker“ in Dresden. sie wegen gesundheitlicher Probleme Menschner: Meine Lungenprobleme Catherine Menschner, mehrfache und ihres Unbehagens über die Do- begannen noch früher. Schon mit zwölf Spartakiade-Siegerin über die Rücken- pingpraxis ihren Rücktritt. Rica Rei- Jahren hatte ich akute Erstickungsan- disziplinen sowie über 800 Meter nisch, 29, Mutter von zwei Kindern, fälle. Ursächlich dafür war, daß ich Kraul, beendete mit 14 Jahren nach lebt heute in Köln. Catherine Men- meinen übertrainierten Körper nach ei- einer plötzlich aufgetretenen Läh- schner, 30, wohnt mit ihrem Sohn in nem Zusammenbruch im Schwimmbad mung ihre Laufbahn. Rica Reinisch Hamburg. nicht abtrainieren konnte. SPIEGEL: Sie sind am Beckenrand zur Sportinvalidin geworden? ner haben meinen Eltern nur gesagt, Menschner: Jeder von uns hatte sein na- Menschner: Genauer: im Becken. Ich daß mein Körper total ausgebrannt sei. mentlich gekennzeichnetes Tabletten- bin ins Wasser gesprungen und konnte Mehrmals habe ich meine Krankenun- kästchen. Da waren jeden Tag bis zu plötzlich meine Arme nicht mehr be- terlagen angefordert. Erhalten habe ich acht Tabletten drin. Irgendwann kamen wegen, ich wäre fast abgesoffen. In der sie bis heute nicht. auch die bekannten blauen dazu, das Halle habe ich sofort eine Spritze in SPIEGEL: Warum haben die Sportmedi- DDR-Hausmittel Oral-Turinabol. Ich den Rücken bekommen. Ich erinnere ziner so ein Geheimnis aus den Akten vermute, daß man an uns ausprobieren mich, daß sie höllisch schmerzte. An- gemacht? wollte, wie früh Mädchen mit Anaboli- schließend bin ich bestimmt 30mal ge- Menschner: Wir waren in Dresden eine ka angefüttert werden können, ähnliche spritzt worden, doch die Lähmung ließ Art Experimentierklasse. Mit uns hat Tests sind auch aus der Leichtathletik erst nach einem Dreivierteljahr nach. man allerhand Sachen angestellt, um zu bekannt. Die Folgen des Kinderdopings Noch über fünf Jahre lang mußte ich testen, wie hoch Kinder belastet werden sind massiv: Ich habe fünf Fehlgeburten ein Stützkorsett tragen. können. Ich habe mit acht Jahren beim gehabt. Und ich bin sicher, daß die Ma- SPIEGEL: Haben die Ärzte den Grund Krafttraining Gewichte gestemmt, die nipulation meines Hormonhaushaltes für die Lähmung finden können? ich heute nicht mehr hochbekäme. Das dafür verantwortlich ist. Menschner: Ich weiß nicht, jedenfalls alles durfte wohl nicht an die Öffentlich- Reinisch: Du warst Versuchskaninchen, wurde er mir nie mitgeteilt. Vermut- keit dringen. damit ich Olympiasiegerin werden lich war es eine Nerveneinklemmung SPIEGEL: Waren Sie auch Testperson konnte – wie eine Vorkosterin im alten im Bereich der Halswirbel. Die Trai- für Doping? Rom. Ich kann mich genau erinnern,

DER SPIEGEL 23/1994 219 daß ich 14 Jahre alt war, als mein Trai- ner Uwe Neumann mir erstmals Oral- Turinabol verabreichte. SPIEGEL: Waren Sie nicht über die Einnahme der vielen Tabletten be- sorgt? Reinisch: Kurz vor den Olympischen Spielen in Moskau bin ich stutzig ge- worden. Ich habe damals ältere Schwimmerinnen wie Andrea Pollack oder Barbara Krause darauf angespro- chen. Ich vermute, daß sie wußten, was wir schluckten. Aufgeregt hat das keine. SPIEGEL: Haben Sie damals schon Ver- änderungen an sich festgestellt? Reinisch: Zunächst bekam ich nur eini- ge Pickel. Doch nach den Spielen bin ich körperlich nicht mehr auf die Beine gekommen. Ich hatte einen grippalen Infekt nach dem anderen. Aber mein Trainer Neumann wollte mich sogar wieder ins Wasser schicken, wenn ich geradewegs vom Arzt kam, der mir verboten hatte, weiter zu trainieren. Ich bin schließlich in eine andere Gruppe gekommen, doch da war es nicht anders. Selbst als zweite Garnitur mußten wir das Zeug nehmen. SPIEGEL: Was hat Sie mißtrauisch ge- macht? Reinisch: Als meine Eierstockentzün- dungen im Krankenhaus behandelt wurden, stellten die Ärzte einen Über- schuß an männlichen Hormonen fest. Um mich heilen zu können, spritzten sie mir auch Östrogene. Durch diese Kur bin ich aufgegangen wie ein Hefe- kuchen. Bestärkt in meinem Mißtrauen wurde ich durch die Heimlichtuerei. Da habe ich gesagt, nun ist Schluß. SPIEGEL: Und damit haben sich die Betreuer zufriedengegeben? Reinisch: In diesem Moment blieb ih- nen nichts mehr übrig. Zuvor, bei den Spielen in Moskau, war das noch an- ders. Da wollte ich mich weigern, vor dem Start gespritzt zu werden. Mein Trainer schnauzte mich an: „Mädel, entweder du nimmst das jetzt, oder du hast vier Jahre umsonst trainiert.“ Menschner: Die Trainer waren psycho- logisch bestens ausgebildet. Sie haben unheimlichen Druck ausgeübt, oft ha- ben wir Kinder das gar nicht so ver- spürt. Das war eine perfekte Manipu- lationsmaschinerie. Uns wurde gesagt, du bist hier auf einer besonderen Schu- le, das kostet den Staat viel Geld, jetzt tu’ mal was dafür. Zurückgestuft zu werden, war für uns Kinder eine Schmach. SPIEGEL: Frau Reinisch, Sie haben 1991 ein Comeback versucht. Sollte das eine nachträgliche Rechtfertigung Ihrer Olympiasiege werden? Reinisch: Nein, ich wollte sehen, wie weit ich ohne Doping komme. An Rechtfertigung habe ich nie gedacht. Dafür gibt es für mich auch keinen Grund, wir haben ja tatsächlich täglich

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bis an die Grenze der körperlichen Be- Neumann hatte vor mir andere Olym- lastbarkeit gearbeitet. Deshalb kann ich piasiegerinnen hingetrimmt. Glauben nicht nachvollziehen, wenn andere Sie, das kommt alles von ungefähr? Olympiasiegerinnen durch permanentes SPIEGEL: Welche Reaktionen haben Sie Abstreiten ihre Lebenslüge aufrechthal- nach Ihren Doping-Geständnissen er- ten wollen.Es istabsolut lächerlich,wenn fahren? sie behaupten, sie hätten von ihrem eige- Reinisch: Viele Ost-Journalisten sagen, nen Doping auch mit über 20 Jahren ich sei eine Verräterin. Einige Trainer nichts gewußt. schimpften, ich würde durch meine Aus- SPIEGEL: DenkenSiedabeian KristinOt- sagen ihre Existenz gefährden. Auch die to, die sechsmalige Olympiasiegerin von Frau meines Trainers Neumann hat Seoul? schon angerufen. Reinisch: Unter anderen auch. Gerade Menschner: Aber was ist mit unserer bei ihr kann ich mir nicht vorstellen, daß Existenz? Für mich ist es auch nicht lu- sie als intelligente Frau nicht einmal stig, wenn ich mich in regelmäßigen Ab- Zweifel hegte. Mich erstaunt, wie wenig ständen krankschreiben lassen muß. ausgeprägt die Fähigkeit ist, sich mit der SPIEGEL: Warum gehen die Sportopfer Vergangenheit ehrlich auseinanderzu- der Ex-DDR nicht gemeinsam gegen ih- setzen. re ehemaligen Peiniger vor? Reinisch: Es gibt ein- fach keine Solidarität. Ob bei Kristin Otto oder Daniela Hunger, die heute sogar Akti- vensprecherin ist – überall nur Schweigen im Walde. Menschner: Viele ehe- malige Sportler wer- den heute noch von ih- ren Klubs unterstützt. Das Geld ist schon ein wunderbares Druck- mittel für dauerhaftes Schweigen. Reinisch: Dabei weiß ich von zahlreichen Athleten mit ange- schlagener Gesund- heit. Schon zur ak- tiven Zeit hatten Auswahl-Schwimmer- innen Nierenkoliken, Olympiasiegerin Reinisch (1980): „Wie ein Hefekuchen“ Asthmaanfälle oder wie ich Eierstockent- SPIEGEL: Wie begegnen Sie denn heu- zündungen. Andere haben Kinder mit te Ihren ehemaligen Zuchtmeistern? Klumpfüßen oder gestörter Motorik zur Reinisch: Vor zwei Jahren traf ich bei Welt gebracht. Olympia in Barcelona den ehemaligen Menschner: Um einen konkreteren DDR-Cheftrainer Wolfgang Richter, Überblick über Schäden zu bekommen, der heute als Nachwuchstrainer in versuche ich zur Zeit, unsere alte Dres- Katalonien arbeitet. Der kam dener Versuchsklasse an einen Tisch zu ganz freundlich auf mich zu. Aber ich bekommen. Ich verspreche mir mit ei- konnte nicht mit dem reden. Ich ner größeren Gruppe von Sportopfern mußte mich umdrehen und wegge- mehr Durchschlagskraft. hen. Ich hoffe, daß es solchen Men- SPIEGEL: Was wollen Sie damit errei- schen irgendwann einmal an den chen? Kragen geht. Menschner: Neben lückenloser Aufklä- Menschner: Auf Ricas Hochzeit war rung meiner persönlichen Geschichte auch unsere gemeinsame Trainerin hoffe ich, daß Eltern, wenn sie von un- Karla Heitmann – ekelig und schein- seren Erfahrungen hören, ihre Kinder heilig, da geht einem schon die Galle nicht mehr zum Hochleistungssport an- über. halten. Reinisch: Eigentlich müßten die doch Reinisch: Die alten DDR-Trainer wer- ein furchtbar schlechtes Gewissen ha- den überall wieder mit Kußhand genom- ben. men. Garantie für einen sauberen Sport Wenn ich öffentlich über die damalige bietet das nicht. Sobald ich handfeste Dopingpraxis spreche, behauptet der Beweise habe, überlege ich mir, juri- Neumann frech, ich würde unter Ge- stisch gegen die Clique der Berufs-Do- dächtnisschwund leiden. Wirke ich so? per vorzugehen. Y

DER SPIEGEL 23/1994 221 PERSONALIEN

arl Otto Pöhl, 64, Ex-Bun- nne Melton, 49, gerade erst zur Kdesbankchef, versuchte APriesterin der Anglikanischen seinem SPD-Parteifreund Kirche ordinierte ehemalige briti- Manfred Lahnstein, 56, Trost sche Schullehrerin, schockierte Tra- zu spenden. Bertelsmann- ditionalisten. Nach der Priesterwei- Vorstand Lahnstein hat sei- he von 38 Frauen in der Kathedrale nen Job verloren, weil er die von Durham, trugen sich die Damen Verluste (630 Millionen in ein Buch ein, das an den hohen Mark) des in Liquidation be- Tag erinnern soll und zu erwerben findlichen TV-Senders Vox ist. Während 37Seelenhirtinnen sich verantworten muß. Er wird mit einigen Zeilen samt eingefügtem mit einem Aufsichtsratspo- Paßfoto als Beitrag begnügten, sten abgefunden, den Pöhl bei machte Anne Melton ihrer priester- Bertelsmann aus Altersgrün- lichen Freude Luft. Sie klebte das den frei macht. Der Bankier Bild einer nackten Frau ein, die sich erinnerte Lahnstein jetzt dar- hintenüber auf ein Kirchendach an, daß dieser ihm schon beugt, das rechte Bein himmelwärts mehrmals nachgefolgt sei – gestreckt. Die Zeichnung huldige während der Siebziger als Ab- „dem Feminismus“, interpretiert die teilungsleiter und Staatsse- Priesterin, „und der Rolle der Frau- kretär im Finanzministerium en in der Schöpfung“. Der Erzdia- und später im Kanzleramt. kon von York fragt sich nun verbit- Das könne „ja nun auch so tert: „Was versteht sie denn unter weitergehen“, juxte der Ex- Priesterschaft?“ Und der Sprecher Bundesbankpräsident, der der Kirche von England kann es ein- derzeit als Gesellschafter der fach nicht glauben: „Rückwärts über Privatbank Oppenheim sein eine Kirche? Das ist doch unmög- persönliches Vermögen Melton-Bild lich, wie alles andere auch.“ mehrt. „Allerdings“, so Pöhl zu Lahnstein, „garantieren kann ich das nicht.“ die ich immer als den Grund- Düsseldorfer Handelsblatt los seinen Dienstgeschäften pfeiler des europäischen über den geplanten Arbeits- nachgehenden Hausmeister elmut Schmidt, 75, Alt- Baus betrachtet habe“. platzwechsel von Lo´pez be- des ab 15. Juni geöffneten Hkanzler und Herausgeber JCDecaux hat vor zwölf Jah- richtet, der von VW flugs de- Museums, den 40jährigen der Wochenzeitung Die Zeit, ren den Hanseaten gläserne mentiert wurde. Walter Schmitz. Er und ein wirbt für ein großes französi- Wartehäuschen für das Bus- vor dem Gebäude tätiger sches Unternehmen. In halb- netz spendiert und verdient uane Hanson, 69, ameri- kroatischer Pflasterer stan- seitigen Anzeigen in französi- seitdem mit der Vermietung Dkanischer Künstler mit den in Hansons Atelier in schen Zeitungen, „auf Emp- der Werbefläche. Eingefä- Sinn für hyperrealistische Fi- Florida Modell für eine All- delt hatte damals das Ge- gurengestaltung, modellierte tagssituation am Bau: Der schäft der Schmidt-Freund für das Bonner „Haus der Hausmeister lehnt an einer Volker Lange, SPD-Bause- Geschichte“ den typisch Leiter, der Pflasterer sitzt da- nator, heute Unternehmens- deutschen Arbeiter. Zwar neben, keiner arbeitet. Mit berater. präsentierte ihm die Muse- der Intuition eines Künstlers umsleitung zur Auswahl eine suchte sich der Amerikaner ans-Hermann Tiedje, 45, Schar von Männern aus der den typischen Arbeiter aus: Hehemaliger Chefredak- gesamten Bundesrepublik, Der Hausmeister besitzt ein teur der Bild-Zeitung, der- die einen Querschnitt des Eigenheim mit Hühnerstall, zeit mit der Entwicklung ei- werktätigen Volkes darstel- ist Torwart eines Fußball- ner neuen Illustrierten len sollten. Hanson aber ent- klubs und wirkt mit im Elfer- (Arbeitstitel Tango) beschäf- schied sich für den ahnungs- rat eines Karnevalvereins. tigt, produziert bereits Luft- JCDecaux-Anzeige nachrichten. Als Exklusiv- meldung verbreitete das fehlung durch einen hambur- Tiedje-Blatt, das noch gar gischen Freund“ zustande ge- nicht auf dem Markt ist, VW- kommen, preist Schmidt sei- Manager „Lo´pez solle nach ne Geburtsstadt Hamburg Spanien zur VW-Tochter Se- („eine der schönsten Städte at versetzt werden“. Tango- Europas“) und die Erzeug- Tiedje ist über seine Nach- nisse („sie bereichern die ur- richt aus dem medialen Off bane Landschaft meiner Hei- begeistert: „Das ist Pressege- matstadt“) der Firma JCDe- schichte, hervorragend.“ Die caux. Schließlich feiert der Geschichte hat nur einen Ma- Weltökonom die französi- kel: Sowenig es eine Zeit- schen Produkte in der Hanse- schrift Tango am Kiosk gibt, stadt als „ein erfolgreiches so wenig exklusiv ist die Mel- Beispiel der französisch- dung. Bereits fünf Tage frü- deutschen Zusammenarbeit, her, am 25. Mai, hatte das Hanson, Schmitz, Schmitz-Figur

222 DER SPIEGEL 23/1994 ighard Härdtl, 51, Staats- Wsekretär im Bonner Ent- wicklungsressort, legte sich Geheimnisvolle auf der Konferenz „Global Coalition for Africa“ in Ha- Toilettenbrille rare (Simbabwe) mit dem Ex-Präsidenten von Tansania Julius Nyerere an. Der Poli- tiker hatte jeglichen Zu- sammenhang zwischen Ent- wicklungshilfe einerseits, Menschenrechten, Markt- wirtschaft und Demokratie andererseits abgelehnt. Nye- rere: „Dann streichen Sie uns doch die Entwicklungshilfe, wenn wir unsere Frauen ver- prügeln.“ Tosender Beifall der Afrikaner. Härdtl be- harrte und fragte die Afrika- ner, ob sie nicht selbst dafür verantwortlich seien, daß Pri- vatinvestitionen in andere Teile der Welt flössen. Eisi- ges Schweigen. Werbeplakat für „Das Maria-Syndrom“ atti Davis, 41, amerikani- ichael Schmidt-Salomon, 27, Psche Autorin und Tochter M Dozent an der Universität Trier, des ehemaligen US-Präsiden- darf in seiner Heimatstadt dem ten Ronald Reagan, stürzt ih- Pop-Star Frank Zappa kein musika- re stockkonservativen Eltern lisches Denkmal setzen. Der Päd- von einer Verlegenheit in die agoge wollte am 28. Mai ein „Rock- nächste. Zunächst ließ sich Comical“ mit dem Titel „Das Maria- die Dame für das Juliheft Syndrom“ („Dedicated to the Balls des amerikanischen Playboy of Frank Zappa“) als Hommage an nackt fotografieren; auf die den verstorbenen Künstler zur Ur- neunseitige Bildsequenz folgt aufführung bringen. In weitläufiger Anspielung auf die unbefleckte Empfängnis der Gottesmutter wird in dem Stück eine der Darstellerin- nen mit „keusch-klerikalen Novizin- nen-Arsch“ durch Sperma auf einer Toilettenbrille geschwängert. Die Stadt Trier erließ gegen die Auffüh- rung eine Ordnungsverfügung. Es sei „Gefahr im Verzuge“ und es dro- he eine „bösartig-satirische Ver- fremdung der dem katholischen Glauben eigenen Marienvereh- rung“. Die Darstellung „Gottes in Gestalt einer geheimnisvoll illumi- nierten Toilettenbrille“ könne, so Davis die Stadtväter, aus Gründen der öf- fentlichen Sicherheit nicht hinge- „Eine erotische Phantasie nommen werden. Hierfür spreche von Patti Davis“, in der ein auch „daß das Bistum Trier...be- heißer Stuhl eine zentrale reits ein Ersuchen um präventives Rolle spielt. Doch nun gibt es Eingreifen . . . gestellt hat“. Autor eine weitere Überraschung Schmidt-Salomon fühlt sich mißver- für die Reagans. Patti Davis standen. Die vom Ordnungsamt in- räkelt sich auch noch für Peta kriminierten Textpassagen in der (People for the Ethical Treat- Gossensprache dienten der „über- ment of Animals) und deren spitzten Charakterisierung“ einer weltweite „Ich gehe lieber Bühnenfigur, die „nicht eben durch nackt, als daß ich einen Pelz besondere intellektuelle Fähigkei- trage“-Kampagne. Den voy- ten glänzen soll“. euristischen Blick auf die Reagan-Tochter verstellt ein Hund, den sie umarmt.

DER SPIEGEL 23/1994 223 REGISTER

Gestorben Carlos Onetti, den man einen „Kafka vom Rio de la Plata“ genannt hat, einem Leberleiden. George W. Ball, 84. Vielseitigkeit cha- Ezra Taft Benson, 94. Er mehrte weltli- rakterisierte ihn: Er chen Einfluß und Reichtum seiner Glau- war Jurist, Ökonom, bensgemeinschaft, aber stemmte sich Investment-Banker, vehement gegen jede Annäherung an Diplomat, Trouble- die moderne Zeit. Unter seiner Führung Shooter und graue entwickelte sich die Kirche Jesu Christi Eminenz der Präsi- der Heiligen der Letzten Tage zu einer denten Kennedy und der am schnellsten wachsenden Religio- Johnson. Gleichzei- nen der Erde. Bienenfleißig bei der Ar- tig war er ein Träumer, überzeugt da- beit, aber asketisch in der Lebensfüh- von, den Weg gefunden zu haben, der rung, gelang seinen Mormonen der dem ganzen Erdball Frieden und Wohl- Wandel von einer eher hinterwäldleri- stand bescheren könnte. Notwendig da- schen Sekte zur ge- für, glaubte Ball, sei ein geeintes West- achteten politischen europa, das als Mittler zwischen USA Kraft auf dem rech- und Sowjetunion den Kalten Krieg be- ten Flügel der US- enden und später einen Ausgleich her- Republikaner. Bei beiführen sollte. Aus diesem Grund sah Liberalen war die er das wirkliche Interesse der USA in Mormonen-Mafia Europa – und nicht in Asien. So kämpf- von Präsident Rea- te er schon zu Kennedys Zeiten dage- gan zu Recht ge- gen, Soldaten nach Vietnam zu entsen- fürchtet: Benson den, und sprach sich lange vor Nixon hatte die Kirche in und Kissinger für die Anerkennung ein starres dogmati- Chinas aus. Weltpolitik machte er als sches Korsett ge- enger Vertrauter Kennedys während zwängt. Der ehemalige Agrarminister der Kuba-Krise. Er empfahl den Kurs, hielt sogar seinen Dienstherrn, US-Prä- den der Präsident dann einschlug: Blok- sident Dwight D. Eisenhower, später kade der Karibikinsel und Forderung für einen heimlichen Sozialisten. Ezra nach Abzug der sowjetischen Raketen. Taft Benson starb vergangenen Montag George W. Ball starb am vorletzten in Salt Lake City an Herzversagen. Donnerstag in New York an Magen- krebs. Baron Marcel Bich, 79. In ihren gefühli- gen Nachrufen auf diesen „Howard Juan Carlos Onetti, 84. Unter den Klas- Hughes a` la franc¸aise“ übergingen Poli- sikern der Gegenwartsliteratur blieb er tiker und Presse Frankreichs geflissent- ein Leben lang der Scheueste: Seine lich, was Tüftlerge- Gleichgültigkeit gegenüber dem Erfolg nialität und hochent- war legendär. 1939 veröffentlichte der wickelter Geschäfts- Schulabbrecher, Gelegenheitsarbeiter sinn dieses Apostels und Journalist Onetti ein kartoniertes, der Einwegphiloso- auf grauem Packpapier gedrucktes phie der Umwelt an- Buch. Unter dem Titel „Der Schacht“ getan haben: Milli- revolutionierte es die Literatur seines arden von durchsich- Kontinents und begründete den moder- tigen Kugelschrei- nen lateinamerikanischen Roman. Mit bern, Feuerzeugen dem Helden Eladio Linacero formte der und Naßrasierern Autor seinen geistigen Zwilling: den Ur- aus Plastik der Mar- einwohner eines literarischen Univer- ke „Bic“, die nach sums. Von einer Militärdiktatur in sei- Gebrauch nur noch wegzuwerfen sind – ner uruguayischen Heimat 1976 ins Ma- irgendwohin. Der in Turin geborene drider Exil getrieben, wurde der Außen- „Baron Bich“ begann seine Karriere als seiter Onetti 1980 mit dem „Premio Cer- Haus-zu-Haus-Vertreter und brachte es vantes“ geehrt, der mit seinen zunächst bespöttelten Weg- als „Nobelpreis der werf-Erfindungen zum Chef eines welt- spanischsprachigen weitenImperiums, das selbstdem US-Gi- Welt“ gilt. Im Exil ganten Gillette standhielt. Zwei Nacken- schrieb er lakonische schläge verschmerzte der Firmenpatri- und vieldeutige Ro- arch nur schwer: Der Versuch, die Welt mane – und zog sich mit einem Billigparfum zu überschwem- immer mehr zurück, men, scheiterte ebenso wie vier Anläufe, igelte sich ein in sei- mit Rennjachten der Nation den „Ameri- nem Bett. Am Mon- ca’s Cup“ neben den „Bics“ zu Füßen zu tag vergangener Wo- legen. Marcel Bich starb vergangenen che erlag Juan Montag in Neuilly bei Paris.

224 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

Werbeseite 6. bis 12. Juni FERNSEHEN

MONTAG werden bald umgebracht, 20.40 – 21.45 Uhr Arte durch den Weg zu einem 14.00 – 15.00 Uhr Pro 7 und die transplantierten Tei- Transit einstmals vertrauten Men- 20.15 – 21.00 Uhr West III le fehlen an den Leichen. Die schen wiederzufinden. Idee von der mörderischen Das Magazin von Daniel Le- Arabella Kiesbauer /U 30 Rückholaktion stammt nicht conte widmet sich mit Repor- Nicht nur die kommerziellen, von den deutschen Herzklap- tagen und Gesprächen dem MITTWOCH Thema Japan. Geklärt wer- auch die öffentlich-rechtli- pen-Händlern, sondern von 18.55 – 19.57 ARD chen Sender errichten image- den soll, ob der Modernis- und werbebeflissen immer mus auch an der Familientra- Blankenese mehr Jugendherbergen in ih- dition nagt. Eine Reportage Blanker Käse. rem Programm. Der Kirch- zeigt, wie 40jährige Ange- stellte den Job verlieren – bis Sender Pro 7 schickt die ge- 20.15 – 22.30 Uhr ARD bürtige Wienerin und ehema- vor kurzem noch undenkbar. lige Ansagerin Arabella Fußball: Deutschland – Kiesbauer, 28, ins Rennen, 22.20 – 22.50 Uhr ZDF Kanada die sich vornehmlich um Ju- Nachdem die Berti-Buben niors Nöte kümmern soll. Reggae der Armen vorletzten Sonntag erst zu Auf West III hat eine Diskus- Jamaika ist alles andere als Irish-Stew verkocht wurden, sionssendung Premiere, wel- eine Tourismus-Idylle. Wer- sich dann aber vergangenen che die Altenabschreckung ner Kaltefleiter, Autor dieses Donnerstag Schlagobers auf im Titel trägt, der mehr nach Berichts, vergleicht die österreichischen Kaiser- Fußball als nach Fernsehen Hauptstadt Kingston mit schmarrn legten, soll in To- klingt: U 30. Kalkutta. In diesem Chaos ronto gegen Kanada ein Sieg aus Elend und Gewalt be- gelingen. hauptet sich Pater Richard 20.15 – 21.15 Uhr RTL Ho Lung, der Lepra-Kranke Matchball pflegt und Friedfertigkeit 23.10 – 0.45 Uhr ARD Im Grand-Schlamm-Turnier Szenenfoto predigt. Der Klang der Stille des Serienschwachsinns er- Ein polnischer Musikstudent weist sich diese Howard-Car- den französischen Kriminal- 0.55 – 2.35 Uhr ARD (Lothaire Bluteau) findet in pendale-Soap nach der neun- autoren Pierre Boileau und dem ungarischen Komponi- ten Folge als wirklich un- Thomas Narcejac. Eric Red Die Rückkehr des sten Kesdi (Max von Sydow) schlagbar. verfilmte den Krimi (USA Soldaten den lange gesuchten Schöp- 1991) mit Jeff Fahey und Captain Baldry (Alan Bates), fer einer Melodie, die den 20.40 – 22.20 Uhr Arte Lindsay Duncan. äußerlich unversehrt, hat sich jungen Mann nicht losgelas- in den Schützengräben des sen hat. Der Alte lebt, nach- Vogelfrei Ersten Weltkriegs psychische dem er seine erste Frau im Der äußerst gelungene Film DIENSTAG Verletzungen zugezogen: Holocaust verloren hatte, von Agne`s Varda (Frank- 19.25 – 20.15 Uhr ZDF reich 1985) bietet eine geball- te Ladung Depression. Er Elbflorenz zeichnet die letzten Wochen „Mutter Elbe, Vater Rhein“ einer Streunerin (Sandrine heißt die neunte Folge dieses Bonnaire) nach: ihre Bewe- deutsch-deutschen Epos von gungen auf den Tod hin, ihre Hotellerie und allerlei Allo- trotzige, zunehmend auch tria. Das Serienleben ist ein verzweifelte Einsamkeit, die langer, breiter Stuß. sie als Freiheit versteht, ihr Sich-treiben-Lassen, rastlos, 19.40 – 20.15 Uhr RTL ziellos, oft querfeldein durch eine Landschaft, die unter Gute Zeiten, schlechte dem frostigen Licht des Pro- Zeiten vence-Winters nackt, stumpf Aber immer gute Weiten. und schmutzig erscheint. Obwohl selbst Bild das ju- gendliche Laienspiel als jam- 21.15 – 22.05 Sat 1 mervoll kritisierte, erzielt die Glenda Jackson, Christie, Ann-Margret Endlosserie mit vier bis fünf Erben gesucht Millionen Zuschauern glän- Sein Erinnerungsvermögen völlig zurückgezogen im dä- Jetzt, Jörg Wontorra, melde zende Quoten. ist verschüttet. Seine Frau nischen Exil und hat das ich mich. (Julie Christie) ist eine Frem- Komponieren aufgegeben. 20.15 – 21.00 Uhr ZDF de für ihn, seine insgeheim Mit Hilfe einer blutjungen 22.25 – 24.00 Uhr Pro 7 verehrte Cousine (Ann-Mar- Sekretärin (Sofie Grabol) Naturzeit gret) eine Vertrauensperson. will der Student die Schaf- Body Parts Arme Fiffis: Mathias Welp Der Film (England 1982, Re- fenskraft des Meisters wie- Ein Mörder als Gliedmaßen- berichtet über extreme Hun- gie: Alan Bridges) zeigt ein- dererwecken. Der Film Depot: Eine dubiose Ärztin dezüchtungen, deren Ergeb- drucksvoll, wie schwer der (1992) des polnischen Regis- bedient Bedürftige mit Ar- nisse unter körperlichen und Weg für die Frauen ist, durch seurs Krzysztof Zanussi ge- men und Beinen eines Kil- seelischen Schäden leiden. gesellschaftliche Konventio- langte hierzulande nie ins lers, doch die Empfänger Für Hunde ab 18. nen und Erinnerungen hin- Kino.

226 DER SPIEGEL 23/1994 DONNERSTAG Charme von Land und Leu- den Händen der Ausländer- 20.15 – 20.59 Uhr ARD ten. Seinem als Aufpasser polizei befreien. Dabei lie- MEDIEN hinterhergereisten Boß (Burt fern sie sich ein Duell mit Pro & Contra Lancaster) ergeht es nicht an- zwei kaputten Polizisten. Die Sommerloch: Gnade oder Thema: Weniger Geld für ders. Süddeutsche Zeitung schrieb schade – im Sommer Brüssel? über Lars Beckers Stück nimmt das Fernsehen (Deutschland 1992): „Sein seine Zugpferde aus dem 21.15 – 23.25 Uhr Sat 1 FREITAG Film handelt auch von der Rennen um die Zuschau- 20.15 – 21.15 Uhr ARD Asylproblematik, aber zuerst ergunst. Denn die durch- Schreinemakers live von Freundschaft und Ein- schnittliche Verweildauer Zum 100. Mal. „Sie ist für Salut für Harald Juhnke samkeit . . . Keine der Figu- vor der Glotze sinkt in der mich der entfesselte Stamm- Zu seinem 65. Geburtstag ren in ,Schattenboxer‘ wird schönen Jahreszeit um tisch. Im Sex verkniffen, im plättet der veritable Schau- verraten oder platt ironisch ein Viertel. Im Juni be- Politischen dubios, im Jour- spieler und Entertainer sein gezeigt.“ trägt sie 150, im Dezem- nalistischen häufig haltlos – ber dagegen 200 Minu- das ertrage ich nicht“, urteilt ten. Bei der ARD pausie- der feinnervige Talker Roger ren „Schmidteinander“, Willemsen über die rheini- „Boulevard Bio“, der Sati- sche Strohnatur. Frau Mar- re-„Nachschlag“ und garethe gab das negative Talk-Moderator „Fliege“. Kompliment auf ihre Art zu- Das ZDF schickt „Wetten, rück: „Was will denn der daß . . .?“ und „Frontal“ Willemsen? Wir kennen uns mit den Doppelköpfen doch gar nicht.“

22.15 – 23.15 Uhr RTL Spurlos Schölermann-Sohn Heinz, Manfred-Krug-Adlatus – endlich hat Charles Brauer einen TV-Job gefunden, in Juhnke dem er wie Ede Zimmer- mann spuren kann. Image glatt: „Trotz meiner 22.00 – 23.05 Uhr RTL 2 hohen Jugend habe ich doch Frank Zanders Kanalratten Kienzle, Hauser 23.00 – 0.50 Uhr Arte soviel Dampf wie ein Bügel- eisen, nur entkalken kann ich . . . wollen alles satirisch an- Bodo H. Hauser und Ul- Local Hero mich nicht mehr.“ knabbern, was es an Game- rich Kienzle auf Urlaub. Bill Forsyths Komödie aus Shows im Fernsehen gibt. RTL verzichtet auf „Wie Produzent und Erfinder der dem Jahre 1982 beweist, daß 20.40 – 21.55 Uhr Arte bitte?!“ und auf Thomas selbst im härtesten Industrie- neuen Show ist Frank Zan- Gottschalk, den Thomas manager ein weicher Kern Schattenboxer der, 52. Hochgenommen Koschwitz in „Late Night“ steckt. Mac (Peter Riegert) Drei Musketiere der Ham- wird beispielsweise ein sehr bereits seit einiger Zeit entdeckt den, als er im Auf- burger Hinterhöfe, der Ex- bekannt klingendes Frauen- würdig vertritt. Auch die trag eines texanischen Ölba- Knackie Eddie (Diego Wall- magazin namens „Lona Mi- Talk-Dauertröten Ilona rons an die schottische Küste raff), der gutmütige Türke sa“, in dem eine Moderatorin Christen und Hans Mei- reist, um dort Land für eine Tayfun und der Zuhälter und wissen will, welche 15 Bakte- ser verschwinden im neue Raffinerie zu kaufen. Kickboxer Guido wollen den rienarten man auf drei Jahre Sommerloch. Selbst Har- Schon bald erliegt er dem Schwarzafrikaner Festus aus alten Lebkuchenherzen fin- ry Wijnvoords „Der Preis det. ist heiß“ wird von Juni bis August kaltgestellt: Nur 22.35 – 0.30 Uhr Sat 1 Wiederholungen sind ge- plant – der Durch- Der Augenzeuge schnittsseher wird’s Ein Hausmeister (William kaum merken. Sat 1 gibt Hurt), der im Vietnamkrieg „Schreinemakers live“ Ur- als Kriegsheld ausgezeichnet laub und bringt sieben worden war, tut sich, um ei- Wochen lang Spielfilme ner Reporterin zu imponie- auf diesem Sendeplatz. ren, mit einer Zeugenaussage Jörg Wontorra schließlich in einem Mordfall dicke und verstößt ferienhalber ge- bekommt Ärger mit der Ma- gen den Titel seiner Sen- fia. Peter Yates, gebürtiger dung „Bitte melde dich!“, Brite, der seit Jahren in Hol- bleibt aber als „Erben ge- lywood inszeniert, verschenkt sucht“-Moderator auf in dem Film (USA 1980) viele dem Sender. gute Ideen, weil er zuviel Tiefgang und zuwenig Witz in „Local Hero“-Stars Riegert (M.), Lancaster (r.) die Geschichte legt.

DER SPIEGEL 23/1994 227 FERNSEHEN

SAMSTAG 19.25 – 20.15 Uhr ZDF DIENSTAG 23.10 – 0.10 Uhr Sat 1 Walter und Nina SPIEGEL TV Aus der Werbung direkt ins REPORTAGE Programm: Egon Wellen- brink, der kauzige Kaffee- Drei Kamerateams beglei- Onkel aus der Melitta-Rekla- ten amerikanische, briti- me, spielt in diesem Vor- sche und deutsche D-Day- abendfilmchen einen allein- Kriegsveteranen. So sag- erziehenden Vater, den seine ten 50 ehemalige deut- Tochter (Wellenbrink-Toch- sche Fallschirmjäger: „Wir ter Susanna) jeden Morgen werden allein auf uns ge- ins Büro treiben muß. Dreh- stellt sein.“ Trotzdem wol- buchautor Charles Lewinsky len sie „das Ansehen der hat auf Wellenbrink, den Ex- deutschen Frontsoldaten Wetterfrosch von Radio Bre- festigen“. men ohne jede Schauspiel- ausbildung, Rücksicht ge- „Conan“-Darsteller Schwarzenegger MITTWOCH nommen und die Rollen 22.05 – 22.50 Uhr Vox nicht allzu weit vom Leben er seine Stirn denkerisch in schnitten, sein Partner konnte SPIEGEL TV THEMA entfernt. Falten. Und sofort weht ein ihn nicht bändigen, die beiden Ist das Erziehungssystem Hauch von Selbstironie wurden gefaßt, doch die Stra- am Ende? Im Studio: Gün- durch das Fantasy-Spekta- fewar mild. Der Sheriff (Gene 20.15 – 21.45 Uhr ZDF ther Jensen (Deutsch- kel. Hackman) verurteilt die bei- lands faulster Lehrer), Pe- den Männer zu der empörend Rotlicht ter Struck (Erziehungswis- geringen Strafe, dem Zuhälter TV-Thriller aus dem Ost- senschaftler), Wolfgang SONNTAG für den Wertverlust des zer- Berliner Rotlichtmilieu, 1992 Zirk (Kripo Berlin), Mischa schnittenen Gesichts ein paar an Originalschauplätzen ge- 20.15 – 22.20 Uhr Premiere Erhardt (Schülersprecher) Pferde zu bringen. Die Huren dreht (Buch: Hartmann und die ausgestiegene Erbarmungslos empfinden das als Hohn, und Schmige). Ein Polizist wird Lehrerin Gisela Pauly. bei einer Razzia erschos- Clint Eastwoods Meister- Clint Eastwood sorgt – der sen, der „Wessi“-Kommissar Western (USA 1992, mit vier Westernheld in der seltenen FREITAG (Helmut Zierl) vermutet, Oscars ausgezeichnet). Bill Rolle eines Feministen – für 22.00 – 22.30 Uhr Vox daß das Opfer von der Krimi- Munny (Eastwood) ist ein Gerechtigkeit. nellen-Szene bestochen wur- Killer im Ruhestand. Einst SPIEGEL TV de. Lange bleibt er mit hat er Menschen gegen Geld 21.00 Uhr ARD/ZDF/RTL INTERVIEW abgeknallt, dann traf er das seinem Verdacht allein, Europawahl Sandra Maischberger be- bis er an eine attraktive Mädchen, das ihn liebte, und gleitete Annemarie Madi- Lehrerin (Barbara Rudnik) er setzte sich zur Ruhe, grün- 567Abgeordnete (49 mehr als son bei ihrer Arbeit im gerät. dete auf einer Farm eine klei- im alten) sitzen im neuen Eu- Schwulenviertel von San ne Familie. Nun aber ist die ropaparlament, davon 99 Francisco. Die 69jährige Frau gestorben, die Farm (vorher 81) aus Deutschland. Sterbehelferin kümmert 20.15 – 22.25 Uhr RTL 2 steht vor dem Ruin, die Re- Nach den Berichten über die sich um Aids-Kranke bis La Boum II – Die Fete volver rosten langsam. Der Ergebnisse gibt es bei ARD zu deren Tod. geht weiter Mann, der fast alles verloren und ZDF eine Bundestags- hat, nimmt noch einmal ei- runde (22.30 Uhr). Bei Gast- Claude Pinoteaus Komödie nen Auftrag an. Irgendwo in geber Klaus Bresser sind die SAMSTAG über das erste Liebesleid ei- Wyoming hat ein Cowboy Vorsitzenden der Fraktion zu 21.45 – 23.30 Uhr Vox ner 13jährigen, geschickt ver- seiner Hure das Gesicht zer- Gast. SPIEGEL TV SPECIAL zahnt mit der Ehekrise der Eltern, war ein flott-witziger Hintergründe über den Film. Diese Fortsetzung Rückzug frustrierter See- (Frankreich 1982) geriet len in das Geschäft mit „höchst langatmig-belanglos“ der Selbsterfahrung. (Frankfurter Rundschau). SONNTAG 21.55 – 22.35 Uhr RTL 22.00 – 23.55 Uhr Pro 7 SPIEGEL TV MAGAZIN Conan der Zerstörer Kinderschänder im Kin- Arnold Schwarzenegger als dergarten? – Ein Gerichts- prähistorischer Barbar auf verfahren und seine Fol- der Suche nach einem wun- gen / Die Wahlkampfloko- dertätigen Horn (USA 1984, motive – mit Rudolf Regie: Richard Fleischer). Scharping im Sonderzug / Im Gegensatz zum ersten Ehre oder Leben? – Hin- bierernsten und hyperreali- tergründe eines türki- stischen „Conan“ legt der schen Familiendramas. Held in diesem Kinoabenteu- Eastwood

228 DER SPIEGEL 23/1994 Werbeseite

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Aus dem Kölner Express: „Der Ghana- Zitat er brauchte nur noch einzuschießen. Stepi sprang einen halben Meter in die Die Zeitschrift Merkur über den Zeit- Luft und drei Meter zurück vor Wut. schriftenmarkt („Unsere Presse. Schöne Aber ganz abhauen konnte er natürlich bunte Welt“) in der Bundesrepublik. Aus- nicht.“ zug:

Y Der SPIEGEL äußert grundsätzlich den ehrabschneidenden Verdacht, daß die Industrie (die chemische zumal, die Atomindustrie erst recht) notfalls über Leichen geht; daß Politiker, Gewerk- schafter, Verbandsfunktionäre korrupt sind; oft genug behält er recht damit. Aus der Frankfurter Rundschau Für Focus ist das alles nicht so wichtig, Y denn man will ja nicht immer so nega- tiv sein. Aus der Westdeutschen Allgemeinen Der SPIEGEL hatte zu Ostern Glück, Zeitung: „Nach dem neuen Recht bleibt denn der Stern, dem sich Eduard eine Abtreibung in den ersten zwölf Mo- Zwick zunächst angeboten hatte, war naten straffrei, wenn sich die Frau einer darauf nicht eingegangen, und so Beratung unterzogen hat.“ konnte der SPIEGEL nach bewährter Weise, genüßlich, hämisch und eindeu- Y tig, Strauß und der CSU ihre gesam- melten Verfehlungen vorwerfen. Das „graue Blatt“ (Helmut Markwort über den SPIEGEL), durch Focus gezwun- gen, mehr Farbe zu verwenden, bril- lierte auch hier noch mal, zeigte in al- lerschönster Ekelhaftigkeit, wie sich Aus einer Einladung des Lübecker unter den häßlichen, breitgestreiften Frauenbüros Freizeithemden von Zwick und Strauß die unzweifelhaft mit Steuermillionen Y angefressenen Bäuche wölbten. Nein, Aus dem Hamburger Abendblatt: so negativ wäre Focus nie. „Frisch, preiswert und a` point im Ange- Focus liebt das Untergriffige, das sicht des Gastes zubereitet . . .“ schmutzige Geschäft des Journalismus nicht, sondern hält es lieber mit den Y Mächtigen. Ist ja auch besser für uns alle, weil unbehindert wirtschaftende Politiker für gute Rahmenbedingungen sorgen, in denen die Wirtschaft . . . Industriestandort Deutschland . . . Lohnstückkosten . . . und überhaupt. Die Gauweiler-Affäre kam in Focus lieber kaum vor (schließlich ist der gu- te Peter auch Focus-Gastautor und Aus dem Mindener Tageblatt durfte der Info-Elite die dunklen Sprü- che von Botho Strauß ausdeutschen), Y und zu den Zwick-Enthüllungen über Aus einer Zusammenfassung der Fortbil- Strauß und die CSU wurden die CSU- dungsveranstaltung der Referenten für Würdenträger Erwin Huber und Georg Anglistik in der Fachzeitschrift Biblio- von Waldenfels befragt. Focus ist nicht theksdienst: „Schließlich bot Prof. Dr. negativ, sondern eine Zeitschrift für Nugel (Universität Münster) mit seinem die ganze Familie. Anders der SPIE- anregenden Vortrag zur englischen Lite- GEL, und das strengt an. Man könnte raturtheorie, mit ,words (Literaturtheo- auch sagen, daß der Leser überfordert rie) about words (Literaturkritik) about wird, dem Politiker nur immer im words (Literatur)‘ einen Ausblick auf die Hemde präsentiert werden. Sollen sich nach der Kontroverse um die Dekon- doch andere drum kümmern, nicht je- struktion der achtziger Jahre inden neun- der Leser will ständig daran erinnert ziger Jahren sich abzeichnenden Strate- werden, daß die Welt schlecht und De- gien der Literaturtheorie, welche er als mokratie schwer ist . . . Ein „Kampf- defensiv-poststrukturalistisch, vorpost- blatt“ und gar ein linkes, das ahnt strukturalistisch bzw. als Synthese aus auch die info-elitäre Leserschaft von vorpoststrukturalistischen Positionen Focus, das ist ganz, ganz schlimm, das und poststrukturalistischem Skeptizis- wird Focus ganz bestimmt nicht wer- mus beschrieb.“ den, Ehrenwort.

230 DER SPIEGEL 23/1994